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Sie traten in das Haus.
Herr von Göchhusen, der immer gern seinen Launen gefolgt war, hatte eines Tages Lust verspürt, sich ländlich anzukaufen. Aber es sollte nur ein kleines Gut sein: in der Nähe Berlins, leicht zu bewirtschaften und leicht wieder loszuschlagen, wenn man der Sache überdrüssig geworden wäre. Das fand sich denn auch, und zwar in der Umgebung des Schwielowsees, und hieß Zochin. Zochin war ein Dörfchen wie andere am Ufer des Schwielow, hatte aber eine berühmte Kirche, deren Grundstein noch die Kurfürstin Dorothea gelegt, und einen gleichfalls berühmten Geistlichen, den Pastor Krempel. Er war so berühmt, daß man zuweilen aus Potsdam und Spandau, auch aus Berlin herüberkam, um ihn predigen zu hören: aber weniger aus frommer Lust an innerer Erbauung als aus Neugier. Denn Krempel war ein eigenartiger Prediger; er sprach wie Abraham a Santa Clara und wie die geistlichen Herren des Mittelalters, liebte kräftige Wendungen und eine ungemein ausdrucksvolle Mimik, die er durch lebendige Gestikulation unterstützte, und verstand es, die Themen der Bibel auf eigentümlich realistische Weise zu modernisieren und der Gegenwart nahe zu bringen.
Er war auch sonst ein origineller Kauz, kein Eiferer, aber ein Wetterer, immer im Kampfe mit dem Konsistorium, ein Schulmann von seltsamen pädagogischen Prinzipien, ein passionierter Imker und ein großer Fischfreund, der halbe Tage lang im Boot auf dem Schwielow liegen konnte, um seine Netze zu werfen oder die Angel in das Wasser zu hängen. Dieser Pastor, der ein riesiger Mann war mit eckigen Schultern und quadratischem Kopf, hatte ein ganz, kleines, zierliches Frauchen geheiratet. Es hatte damals einen Skandal gegeben, denn das Mädchen, Dionysia Madersteg, die Tochter eines Inspektors der Königlichen Porzellanfabrik, war katholischer Konfession, und es hieß, Krempel habe sie zum Übertritt gedrängt. Der Santa Clara von Zochin hatte anfänglich schlimme Tage; die Eltern seiner jungen Frau klagten wider ihn, das Konsistorium setzte ihm zu, schließlich kam die Sache auch an den zuständigen Minister. Ein riesiges Aktenmaterial häufte sich auf; aber Krempel verteidigte sich gut, und da seine Frau bei dem Zeugenverhör unter rinnenden Tränen erklärte, sie sei aus freien Stücken und innerster Überzeugung evangelisch geworden, so schlug man den Prozeß endgültig nieder. Im Pfarrhause zu Zochin begann nun ein glückliches Leben, und als die Ehe im fünften Jahre durch einen gesunden Jungen gesegnet wurde, ein Sonntagskind, hielt Krempel eine so schöne Predigt, daß sämtliche Weiber schluchzten und selbst die alten Fischer des Torfes in zarte Rührung kamen, sich heftig schnäuzten und mit ihren braunen Fäusten über die Augen wischten.
Damals lachte auch über der Göchhusenschen Ehe noch blauer Himmel. Der Legationsrat (er hatte den Titel zum Abschied aus dem ihm langweilig gewordenen. diplomatischen Dienst bekommen) verlebte immer die Sommermonate in Zochin, stand sich mit seinem originellen, trinklustigen Pastor auf du und du und hatte nichts dagegen, daß auch die Kinder sich anfreundeten. Dionys war der älteste unter der kleinen Gesellschaft, was ihn aber nicht behinderte, bei allen Dummheiten der Anführer zu sein: sei es bei der Erstürmung der Kalkgrube, bei der die Kleider der Mädchen eine wunderliche Färbung annahmen, oder auch bei Wasserpartien, die nie ohne vollständige Durchfeuchtung abschlossen, oder bei halsbrecherischen Touren über Heuböden, in den Kirchturm, durch Holzställe und Kellerverließe oder bei sonstigen Extravergnügungen, wie sie die Kinderphantasie mit Märchenschreck, Räuberromantik und Prinzessinnenglück unaufhörlich auszuhecken pflegt. Dann wuchs Dionys heran, lernte zunächst in der Dorfschule die Grundzüge allgemeiner Bildung und kam hierauf unter die väterliche Fuchtel lateinischer Deklination und griechischer Grammatik. Allmählich wurde er so gelehrt, daß er schon selber den Präzeptor spielen konnte: Herr von Göchhusen berief ihn für die Unterrichtung Beates, bis sich später der Born seines Wissens auch über die beiden andern Kleinen im Schlosse ergoß. Denn die drei Mädchen hatten zu Beginn ihrer geistigen Entwicklung zwar eine englische Governeß und eine französische Bonne, der sich auch noch eine pikante Italienerin anschloß (so pikant, daß Frau von Göchhusen sie in Rücksicht auf ihren Gatten bald wieder entließ), aber keine deutsche Erzieherin mit gründlicher Vorbildung. So kam es, daß die Kinderfreundschaft zwischen dem Trio und Dionys auch die Studentenzeit überdauerte und daß das herzliche Verhältnis blieb, als die Mädchen zu ansehnlichen Jungfrauen herangeblüht waren und Krempel sich als Lehrer des Joachimsthalschen Gymnasiums »Herr Doktor« nennen lassen konnte. –
Das Göchhusensche Dreiblatt war also in den Torweg eingetreten und hielt sich nach dem Vorschlage Maxes rechtsseitig, um nicht links in den durch eine Marmorvase und einen Läufer gekennzeichneten Aufgang für Herrschaften zu geraten. Man durchquerte einen Hof mit einem abgezirkelten Rasenstück, einer großen Müllkiste und einem reckartigen Aufbau, der dem Teppichklopfen nützte, und beschritt hierauf das sogenannte Quergebäude, in dem die Treppe keinen Läufer besaß und die Fenster auch nicht so schön bunt verglast waren wie vorn.
Beate bemerkte dies sofort, aber Maxe verteidigte die Schlichtheit der Ausstattung.
»Teppiche sind Bazillenfänger,« sagte sie, »und helle Fenster lassen das Licht ein. Ich für mein Teil würde immer eine Gartenwohnung vorziehen, wenn man den Garten auch auf einem Schiebkarren forttragen könnte. Bemerkt ihr nicht die köstliche Ruhe in diesem sogenannten »Quergebäude rechts« und den guten Geruch, der durch die Spalten der Küchentüren strömt? Unten war es Schmorbraten mit Rotkohl, während hier ein gesunder Odem nach frisch, gekochtem Kaffee vorwaltet.«
»Es sind auch noch Nebenströmungen dabei,« erwiderte Elfriede und schnüffelte, »aber ich will nicht differenzieren. Außerdem glaube ich, daß wir am Ziele sind, und da vier Treppen unter uns gähnen, können wir hinzufügen: auf der Höhe der Situation.«
Sie standen vor einer Korridortür, auf die mittels vier Reißnägel eine Visitenkarte mit dem Namen »D. Krempel, Dr. phil.« geheftet war. Maxe drückte auf den Klingelknopf.
Es verstrichen ein paar Minuten, ehe geöffnet wurde, und dann sahen sich die Damen ihrem alten Freunde gegenüber, doch trug dieser zu ihrer Verwunderung einen blauen Livreerock mit Silberbesatz und verbeugte sich fremdartig.
»Ich bitte einzutreten,« sagte er. »Der Herr Doktor Krempel werden sofort erscheinen. Wollen die Damen die Güte haben, inzwischen abzulegen.«
Er half ihnen, sich von Jacken und Hüten zu trennen, ohne das Kichern der Mädchen zu beachten, und verschwand dann rasch mit den Worten: »Ich werde den Herrn Doktor benachrichtigen – wenn die gnädigen Damen freundlichst solange im Antichambre verweilen wollen ...«
»Es fängt gut an,« sagte Beate.
»Höchst verrückt,« ergänzte Elfriede. »Also dies ist das Antichambre oder besser die Diele. Oben Japan und unten deutsches Bauernhaus.«
So konnte man den Stil bezeichnen. Von der Decke herab hing ein großer japanischer Papierschirm, sonst bestand das Mobiliar aus drei Holzstühlen, einer Truhe und einem Garderobenständer.
Nun aber öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer, und in dem blendenden Kerzenlicht, das von dort in das Vorgemach fiel, erschien abermals Krempel, diesmal in schwarzem Rock und auch sonst sonntäglich gekleidet.
»Eine große Freude,« sagte er, »auch eine Ehre, euch in meinem bescheidenen Heim bewillkommnen zu dürfen. Hat mein Diener euch schon die Mäntel abgenommen? Er war zuletzt bei dem Grafen Schuwaloff engagiert, macht aber trotzdem immer einen etwas befangenen Eindruck. Deshalb habe ich ihn fortgeschickt. Darf ich euch bitten, in den Salon zu treten, ohne Rücksicht auf den echten Perserteppich und das Polareisbärfell am Boden.«
Er hatte jeder der Damen die Hand gegeben, auch die Veilchen mit Dank entgegengenommen und wartete nun mit strahlender Miene ab, was seine Gäste zu der erleuchteten Pracht des Salons sagen würden. Sie waren des besseren Überblicks halber in der Nähe der Tür stehengeblieben und machten große Augen. Es war wirklich sehr schön. Die Rouleaux vor dem Fenster waren herabgelassen worden, um eine künstliche Nacht zu erzeugen. Dafür brannten auf dem Spiegeltisch zwei Kerzen in altertümlichen silbernen Leuchtern und auf dem Sofatisch eine sogenannte Astrallampe, wie sie in den sechziger Jahren Mode gewesen war. Alle Möbel im Zimmer stammten aus dieser Zeit; sie waren zum Teil aus gemasertem Birkenholz, zum Teil aus Mahagoni, aber die Stillosigkeit tat dem behaglichen Eindruck des Ganzen keinen Abbruch. Der echte Perser am Boden war nur Tapestry und der Polareisbär ein Ziegenfell, doch auch das schadete nicht. Über dem Sofa mit seinen gehäkelten Schutzdeckchen hingen ein paar Familienbilder und an der Wand gegenüber gekreuzte Schläger unter einem durchlöcherten Cerevis und einer alten Pistole. Der Tisch war sauber gedeckt mit weißen Tassen, die einen feinen Goldrand hatten; in der Mitte stand eine große Nußtorte und daneben eine Schüssel mit leuchtender Schlagsahne.
»Bravo, Krempelius,« sagte Beate, »es ist überwältigend.«
»Es ist mehr,« fügte Elfriede hinzu. »Der erste Eindruck blendet, das gestehe ich ein, aber dann kommt das Gefühl schöner Ruhe und einer gewissen traulichen Geschlossenheit.«
Maxe sagte anfänglich gar nichts. Sie war an die Bilder über dem Sofa getreten und betrachtete sie mit Rührung: den Mann im Lutherrock mit einem starken quadratischen Schädel und schauspielerhaft ausgearbeiteten Zügen und die Frau mit ihrem zierlichen Köpfchen unter merkwürdig altmodischem Haubenputz.
»Deine Eltern, Krempel – oh, ich entsinne mich ihrer noch gut!«
»Ja, das sind die Alten,« sagte Dionys; »sind sie nicht ähnlich? Ich habe sie nach kleinen Photographien vergrößern lassen – das macht man heute ohne Schwierigkeit. Sieht Vater nicht aus, als ob er lebte und eben mit einer Predigt losdonnern wollte? Denn er donnerte eigentlich immer mehr, als er sprach ... Wenn ich hier sitze, bilde ich mir manchmal, ein, ich wäre im Pfarrhause von Zochin. Ich habe mir alle Möbel der Eltern vom Speicher kommen lassen; die birkenen sind neu aufpoliert, bei den Mahagonis reichte es nicht ganz. Mein Stolz ist das Sofa. Es stand daheim in der guten Stube und hatte noch mehr gehäkelte Deckchen. Mutter häkelte beständig solche Deckchen, die einem gewissen Schonungsbedürfnis entsprangen. Aber der modernen Zeit sind sie unbequem, deshalb habe ich mich auf die zwei beschränkt, die der Pietät Rechnung tragen sollen.«
Er strich zärtlich über die gehäkelten Naivitäten und fuhr dann rasch fort: »Also nun bitte ich Umschau zu halten, ehe wir zur Tafel schreiten. An dem großen Schreibtisch arbeitete Vater seine Predigten, die Myrten darüber stammen vom Brautkranz meiner Mutter. Im Pfeifenständer in der Ecke seht ihr noch die mit dem alten Blücher auf dem Porzellankopf, die letzte Pfeife, die Vater geraucht hat. Das Zimmer ist eigentlich ein Museum. Aber wir wollen uns bei Einzelheiten nicht aufhalten, sonst wird die Schokolade kalt. Nur noch einen Blick in die Flucht der Nebengemächer...« Er öffnete eine Tapetentür, die in ein winziges Zimmerchen führte, in dem ein Bett, ein Waschtisch, ein großer Schrank und ein Regal mit Büchern standen ... »Das Schlafzimmer,« sagte Krempel und deutete auf das Bett; »das Ankleidezimmer« – er zeigte auf den Schrank –, »das Bibliothekzimmer« – dabei wies er auf das Bücherregal – »und schließlich das Badekabinett« – er verbeugte sich vor dem Waschtisch ... »Die Wohnung ist für einen einzelnen ja etwas geräumig, aber ich liebe die langen Enfiladen. Nun verbleibt noch die Küche ...« Es ging über einen schmalen Flur, in dem man sich kaum umwenden konnte, und dann in die Küche, in der eine dicke Frau am Herde hantierte... »Frau Brendicke,« sagte Krempel mit einer Handbewegung, »meine Haushälterin, ein kulinarisches Genie, namentlich bedeutend in falschem Hasen und in Brühkartoffeln, aber auch in feineren Sachen erfahren. Wie steht's mit der Schokolade, Frau Brendicke?«
Frau Brendicke hatte vor den jungen Damen einen Knix gemacht und zu dem Lobe Krempels etwas schämig geäußert: »Aber, Herr Doktor ...« Dann kehrte sie zu der Schokolade zurück. »Sie ist fertig, soll ich sie 'reinbringen?«
»Bitte zu servieren,« entgegnete Krempel. Nun trat man wieder in den Salon.
»Das Dienerzimmer haben wir noch nicht gesehen,« sagte Maxe.
Krempel lachte. »Ich will die Illusion fallen lassen. Es sollte wie bei wahrhaft vornehmen Leuten sein, ein Empfang in großem Stil. Deshalb habe ich mir von euerm Genander eine Livree geborgt und wandelte mich zunächst in einen Levkoien aus gutem Hause um. Aber jetzt bin ich wieder ich und bitte euch, Platz zu nehmen« Beate auf das Sofa, Elfriede rechts und Maxe links ...«
Nun trat Frau Brendicke wieder in die Erscheinung und trug auf einem Brett eine stattliche weiße Porzellankanne, goldumrändert wie die Tassen und mit einer kleinen goldenen Puschel auf dem Deckel. Die Schokolade floß in die Tassen, und Krempel setzte kunstgerecht einen Inselberg von weißer Schlagsahne auf die braune Flut. Dann schnitt er die Torte und versah auch hierbei ein jedes Stück mit einer Schlagrahmkrönung, so daß man nunmehr an die Tätigkeit des Vertilgens gehen konnte.
Während die jungen Damen mit angeregtem Appetit speisten (nur Beate ihrer Neigung zur Fülle halber etwas vorsichtiger), ging das Gespräch hin und her. Krempels frisches Jungengesicht, das sich die Harmlosigkeit der Kindheit bewahrt hatte und in dem der kleine blonde Schnurrbart beinahe ein befremdliches Element bildete, glänzte vor Freude, die Freundinnen bei sich zu haben. Er war ein Mensch glücklicher Illusionen, für den es einen Nullpunkt des Empfindens eigentlich gar nicht gab. Über das Bescheiden mit dem Notwendigen stieg bei ihm immer ein Augenblickswohlsein, das zu einer förmlichen Kette von Frohgefühlen wurde. Er war ein ausgesprochener Optimist, für den die These des Aristoteles, daß das Glück den Selbstgenügsamen gehöre, zur Wahrheit wurde. Kleinlicher Ärger, der in seinem Lehrerdasein ja auch nicht ausblieb, fiel von ihm ab wie rasch rinnende Regentropfen. Er kannte im Wechselspiel des Lebens die Unlust nicht.
Im Laufe der Unterhaltung, die vom Hundertsten zum Tausendsten sprang, fiel das Niveau in der Schokoladenkanne: der Schlagrahmberg war abgetragen und die Nußtorte zu einem fragmentarischen Gebilde geworden. Maxe hielt es angesichts der Überwindung der Materie nunmehr für an der Zeit, mit dem Plane herauszurücken, für den man Krempel als Hilfskraft gewinnen wollte. Sie wischte mit dem Taschentuch über ihre Lippen, erbat sich eine Zigarette, rauchte ein paar Züge und begann also:
»Krempel, wie du siehst, sind wir deiner gefälligen Einladung gern gefolgt und haben auch auf dem Altar, den du uns errichtet hast, nach besten Kräften geopfert., Jetzt müssen wir dir aber sagen, daß du uns doch noch etwas anderes als nur die Lust an Schokolade und Nußtorte bewog, zu dir zu kommen: wir haben die Absicht, dich an einem Unternehmen zu beteiligen, dessen Gewagtheit dich vielleicht im ersten Augenblick erschrecken dürfte, dem du aber gewiß zustimmen wirst, wenn du in Ruhe unsre Gründe gehört und deren Nützlichkeit erwogen hast.«
Dionys machte ein verwundertes Gesicht, und zugleich flackerte in seinem Auge die Neugierde auf.
»Alle Wetter,« meinte er, »das klingt feierlich.«
»So sollte es auch, denn es liegt heiliger Ernst in der Sache.«
»Also schieß los.«
Maxe atmete stark auf und sagte dann mit Betonung:
»Wir wollen unsre Mama verheiraten ...«
Krempel klappte die rechte Ohrmuschel um, als habe er nicht recht verstanden und als wolle er noch einmal die Antwort hören. Aber das war nur eine unwillkürliche Bewegung, denn er hatte schon richtig vernommen, und da das Drollige der Äußerung nach dem ersten Stutzen in sein Bewußtsein trat, huschte zunächst ein Schmunzeln über sein Gesicht, dem leises Kichern und dann ein herzliches Lachen folgte.
»Entschuldigt,« rief er, »aber das ist wirklich ... Nehmt mir's nicht übel, aber ... Bitte, Maxe, wiederhole noch einmal: ihr wollt eure Mutter verheiraten?« »Das ist unser fester Wille,« antwortete Maxe, und Elfriede sagte: »Ich weiß nicht, weshalb du das so fürchterlich komisch findest, Krempel. Wenn die Mama uns verheiraten möchte, würde dir das ganz selbstverständlich erscheinen. Warum nicht auch umgekehrt?«
Nun nahm auch Beate das Wort. »Krempel, bemühe dich, die Sache ernsthaft aufzufassen. Es handelt sich keineswegs um einen frivolen Scherz – wahrhaftig nicht. Seit wir erwachsen sind und die Mama sich nicht mehr um uns zu sorgen hat, haben wir das Gefühl, daß sie sich nach einer neuen Ehe sehnt ... Jawohl, so ist es. Sie hat die Trennung von ihrem Manne verschmerzt, sie ist innerlich wieder frei geworden, und da sie noch nicht alt genug ist zu freiwilliger Entsagung, so ist die Hoffnung auf ein zweites Liebesglück doch etwas ganz natürliches. Selbstverständlich hat sie uns das nicht anvertraut. Mitteilung von Gefühlen hat immer seine Schwierigkeit. Vielleicht spricht bei ihr auch etwas Unbewußtes mit, aber die Übertragung in das Bewußte wird schon kommen, wenn erst der Bewußte sich zeigt.«
»Natürlich,« sagte Elfriede. »Krempel, wir sind verständige Mädchen und brauchen uns nicht hinter alberner Prüderie zu verkriechen. Wir wollen dir gegenüber auch ganz ehrlich sein. Wir sind immer noch Mutterkinder. Verstehst du, was ich damit meine? Wir müssen immer noch am Schürzenzipfel unsrer Mutter hängen, weil sie uns nicht freigeben will. Sie hat uns vernünftig erziehen lassen. Jede von uns hat etwas gelernt, aber sie verwehrt es uns, das Erlernte praktisch auszunützen. Warum? Weil sie eine etwas philiströse Angst vor der Öffentlichkeit hat.«
»Das hat sie,« rief Maxe. »Da wir doch einmal bei Konfessionen sind, müssen wir auch offen zugeben, daß diese in vieler Beziehung sehr unbefangen urteilende Mutter in manchen Dingen noch recht rückständig ist. Warum muß ich beim Abiturium haltmachen? Warum läßt sie mich nicht weiterstudieren?«
»Und warum darf ich,« fügte Beate hinzu, »mich nicht nach einer Stellung als Bibliothekarin umsehen? Warum hat sie Elfriede plötzlich die Malkarriere unterbunden? Weil sie Furcht hat, uns in Freiheit zu setzen, und diese Furcht ist nichts weiter als die Scheu, uns ohne Männer ins Leben treten zu lassen.«
Maxe schlug mit zwei Fingern auf den Tisch. »Und aus allen diesen Gründen,« sagte sie, »halten wir es für eine Notwendigkeit, die Mama schleunigst zu verehelichen.«
Krempel hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört und dabei abwechselnd den Kopf geschüttelt und genickt. Aber er lachte nicht mehr: er war wirklich ernsthaft geworden.
»Ich verstehe schon,« entgegnete er, »daß ihr euch nach einer gewissen Selbständigkeit sehnt, nachdem ihr quasi zu solcher erzogen worden seid. Aber wer gewährleistet sie euch denn für den Fall, daß eure Mutter sich wieder verheiraten sollte? – Der künftige Stiefpapa? Das ist doch noch sehr die Frage.«
»Wir werden unsre Bedingungen stellen,« rief Maxe.
»Sei nicht vorlaut, Maxe,« sagte Beate. »Bedingungen stellen ist Unsinn. Wir brauchen gar keine Zwangslage zu schaffen.. Es ist klar, daß eine Wiederverheiratung der Mama auch für uns entscheidend sein würde.«
»Das scheint mir durchaus nicht so klar,« antwortete Krempel. »Es wird der Wunsch eurer Mutter sein, euch auch noch weiterhin im Hause behalten zu können. Und ihr Gatte wird nachgeben.«
»Und dann ist die Zwangslage da,« sagte Elfriede., »Gewiß, Beate, es kann immerhin zu einer solchen kommen. Was schadet es auch? Wir wollen ja der Mama nicht durchgehen. Wir wollen uns nur auf unsre persönlich gewachsenen Füße stellen. Das erlaubt uns nicht nur unsre Erziehung: wir haben auch eignes Vermögen und können von den Zinsen recht gut leben.«
»Gott sei Dank,« rief Maxe. »Rechne mal, Krempel. Jede von uns hat hundertfünfzigtausend Mark. Wenn wir nun –«
»Ach Gott, Maxe,« fiel Beate ein, »laß doch die Albernheiten. Wir brauchen gar nicht erst zu rechnen. Es langt. Wenn wir uns eine gemeinschaftliche Wohnung nehmen, können wir einen fürstlichen Hausstand führen.«
»Wenn,« sagte Krempel mit Betonung. »Ich begreife ja, daß es einen großen Reiz für euch haben würde. Es ist wenigstens eine relative Freiheit. Aber wißt ihr denn, daß die die Mama sie euch gewähren würde?«
»Wir werden es durchzusetzen verstehen. Ich glaube auch nicht einmal, daß das so schwer halten würde. Mutter selbst wird sich ihrer jungen Freiheit freuen. Natürlich – es muß ja für sie ein peinliches Empfinden sein, sich von den eigenen Töchtern in ihrer Liebe beobachtet zu wissen. Und auch für uns wäre es unangenehm. Es ginge nicht. Wir sind zu groß geworden.«
Krempel sah das ein. »Also schön. Rekapitulieren wir: eine neue Ehe eurer Mutter wäre für alle Teile gut. Wollt ihr nun die Gewogenheit haben, mir zu erklären, wie ich euch dabei helfen könnte. Mit Heiratsvermittlungen habe ich mich noch nie befaßt, weiß nicht einmal, ob ich Talent dazu habe. Aber es kann schon sein. Mein angeborener Optimismus würde mich zum Glücksstifter befähigen. Auf Prozente verzichte ich.«
Die drei Mädchen huben gleichzeitig zu sprechen an.
»Ruhe,« sagte Beate, »ich bin die Älteste. Ich bin die Sprecherin, ihr seid nur der Chorus. Die Sache liegt so, Krempelius. Bis jetzt haben wir nur einen Mann auf Lager, der für die Mama geeignet sein könnte. Er heißt Woldemar mit Vornamen – mit ›o‹ – und ist eine alte Jugendliebe von ihr. Also ein beachtenswertes Objekt, wenn ich mich so ausdrücken darf. Aber das genügt nicht. Wir müssen das Lager komplettieren. Wir müssen uns eine reichere Auswahl schaffen. Unter den Leuten, die bei uns verkehren, ist nichts Passendes.«
»Nein,« setzte Elfriede hinzu, »gar nichts. Die meisten kennst du ja. Unser Verkehr ist sowieso nicht sehr groß. Ich bin schon auf eine ganz verwegene Idee gekommen, aber ich ängstige mich beinahe, sie euch mitzuteilen, weil sie ein bißchen frivol ist. Wie wär's mit einem Inserat?«
»Aber Elfriede!« rief Beate, und auch Krempel schüttelte abermals mißbilligend den Kopf. »Das ist zu gewagt. Und zuviel Risiko dabei. Und hat einen unangenehmen Beigeschmack. Nur keine Dummheiten.«
»Herrschaften, erlaubt,« sagte Maxe, »was wäre dabei? Es wird ja kein Name genannt. Ich denke mir das höchst ulkig. Wir könnten auf dem Inseratenwege auch um die Photographien der Heiratslustigen bitten. Dann kriegten wir eine hübsche kleine Galerie zusammen –«
»Maxe, was redest du für Unfug!« fiel Beate ein, »Wir wollen abenteuerliche Ideen beiseite lassen und praktische Ziele verfolgen. Krempel hat recht: bloß keine Dummheiten! Krempel, hör' zu – du bist der einzig Verständige. Hast du keine geeigneten Herren in deiner Bekanntschaft, die du uns zuführen könntest?«
»Das wäre zu überlegen,« antwortete Dionys. »Unter meinen Kollegen nicht. Ein Philologe paßt auch nicht zur Mama. Wir müssen da sehr vorsichtig sein und neben allen Äußerlichkeiten Charakter, Gemüt und Herz berücksichtigen. Mein Direktor ist Witwer, ganz passable Erscheinung, hat neulich den Kronenorden dritter bekommen – aber er ist ein bißchen verknöchert und schnupft Tabak. Also fort! Apropos: Adel ist doch nicht unbedingt notwendig?«
»Nein,« sagte Maxe. »Mama ist nicht so. In solchen Dingen sind wir sehr liberal.«
Krempel schnippte mit den Fingern und sprang auf. »Ich hab's!« rief er. »Ich habe einen Kandidaten für unsre Zwecke, wie man sich ihn nicht besser denken kann! Einen, den ihr auch kennt und der sowieso bei euch Besuch machen wollte: den Superintendenten Warmuth.«
»Warmuth?!« rief Elfriede. »Den langen Herrn, den wir neulich bei Geheimrat Hegler trafen?«
»Denselben. Ein charmanter, liebenswürdiger Mann von Ernst der Gesinnung, dabei mehr weltfreudig als Asket – von recht gutem Sichgeben, vielleicht fünfzigjährig, stattlich, geliebt bei Gemeinde und Konsistorium – und außerdem heiratslustig.«
»Weißt du das?« fragte Elfriede.
»Nein. Aber warum soll er es nicht sein?«
»Wenn einer schon fünfzig geworden ist ... Zudem Geistlicher. Die heiraten immer frühzeitig.«
»Vielleicht hat er als Kandidat eine unglückliche Liebe gehabt. Aber das ist so lange her, daß er sie zweifellos schon wieder verschmerzt hat. Jedenfalls hegt er eine große Schwärmerei für eure Mutter.«
»Ich glaube, du schnurrst, Krempelius,« sagte Beate.
»Auf mein Wort nicht. Er hat mich bei Hegler förmlich ausgefragt nach der Mama. Alles wollte er wissen. Fand sie entzückend – und seine Augen folgten ihr, wo sie stand und ging ... Das wäre der eine. Nun kommt Nummer zwei.«
»Herrjeh,« rief Maxe, »hast du noch einen in petto?«
»Noch etwas Hervorragendes. Einen Witwer. Sozusagen ein Gegengewicht zur Theologie: einen Großkaufmann. Einen Kommerzienrat von schönen Einkünften: Herrn Friedrich Wilhelm Brökelmann.«
»Kenne ich nicht,« sagte Elfriede.
»Ich auch nicht,« setzte Beate hinzu. Doch Dionys rief lachend: »Natürlich kennt ihr ihn, wenn auch nicht persönlich. Ihr trinkt ja alle Tage seine Milch!«
Die Damen schwiegen einen Augenblick, dann lachten sie fröhlich auf, und Maxe rief: »Ach, den meinst du?! Den Brökelmilchmann!? ... Hör' mal, da glaube ich doch, daß Mama das geistliche Element vorziehen würde.«
»Das ist die Frage, Ihr dürft euch unter diesem Brökelmenschen nicht einen vulgären Milchmann vorstellen, der immer weiß beschülpert ist. Das ist ein halber Agrarier – mit industriellem Einschlag und von bedeutendem Unternehmungsgeist. Ein früherer pommerscher Gutsbesitzer – hat auch noch etwas von der Rasseneigentümlichkeit jener Landschaften beibehalten, aber großstädtisch abgeschliffen und durch häufige Besuche des Metropoltheaters geistig verfeinert. Ein Mann von Bildung und Lebensart, mit Hunderten von Kühen, die unablässig gemolken werden, um die Milch der frommen Denkungsart in unserm verpöbelten Zeitalter zu verbreiten. Außerdem ist er doch euer Nachfolger – was auch von einem gewissen Interesse ist.«
»Nachfolger – wieso und inwiefern?«
»Na ja – das wißt ihr auch wieder nicht. Er hat Zochin gekauft und dort seine Meierei angelegt. Aber diese Meierei, liehe Kinder, ist ein Institut, kein gewöhnlicher Rindviehstall. Ist eine ganze Stadt für sich, eine Sehenswürdigkeit: das Chicago des Schwielow. Das müßt ihr kennen lernen.«
»Wollen wir auch,« sagte Elfriede. »Nimm uns doch einmal mit!«
»Gern. Der Kommerzienrat hat einen Sohn; den unterrichte ich – einen prächtigen Bengel, mit dem ihr als Stiefbruder ganz zufrieden sein könntet. Durch den brauchen wir uns bloß anmelden lassen. Sein Vater hat übrigens auch eine Stadtwohnung, gar nicht weit von euch: in der Bendlerstraße. Außerdem ist er ein Jugendfreund des Superintendenten Warmuth, was wiederum eine niedliche Zufälligkeit ist.«
»Oder auch nicht,« warf Beate ein. »Wenn sich nun beide in die Mama verlieben und ihre Eifersucht zu gräßlichen Taten führt?«
»Ausgeschlossen,« rief Maxe. »Ganz unmöglich. Vergeßt nicht, daß der eine mit Milde, der andre mit Milch handelt.«
»Das ist frivol, Maxe, aber man verzeiht dir, weil es nicht unrichtig ist. Sie werden sich weder boxen noch schießen; der eine wird dem andern mit Anstand zuvorkommen. Also seid ihr einverstanden, daß wir den Kommerzienrat auf die Liste der Papabili setzen?«
Die Damen bejahten einstimmig: Beate mit der Einschränkung, daß man ihn erst einmal kennenlernen müßte. Aber Dionys erklärte nochmals, daß dies ein leichtes sein würde. Er wollte schon morgen dem kleinen Berthold, dem Sohne Brökelmanns, einen Brief mitgeben und um die Erlaubnis bitten, mit einigen befreundeten Damen die Meierei besichtigen zu dürfen.
»Gut,« sagte Elfriede. »Vielleicht kommt die Mama mit, dann finden sich gleich die ersten Anknüpfungspunkte. Sonst fordert ihn eine von uns aus Dankbarkeit auf, uns gelegentlich mit seinem Besuche erfreuen zu wollen ... Nun haben wir drei, die in Frage kämen: einen Offizier, einen geistlichen Herrn und einen Industriellen. Das dünkt mich vorderhand genug. Man soll nicht übertreiben. Bei allzuviel neuen Bekanntschaften könnte die Mama stutzig werden. Auf den Kommerzienrat rechne ich am wenigsten.«
»Und ich am meisten,« versetzte Krempel. »Ihr malt euch noch immer ein falsches Bild von ihm. Ihr denkt an Butter, Quark und dicke Milch. Aber er ist ein Gentleman, auch ein großer Mäcen mit einer schönen Bildergalerie und allerhand auserlesenen Kunstwerken in seinem Hause. Ihr werdet euch wundern, wenn ihr einmal zu ihm kommt.«
»Ist er denn äußerlich einigermaßen ansehnlich?« fragte Beate.
»Aber wie!« rief Krempel eifrig. »Denkt euch eine Mischung zwischen dem Farnesischen Herkules, dem alten Wrangel, dem Apoll von Belvedere und dem seligen Minister Miquel, dann habt ihr ihm vor euch. Er ist kraftvoll wie Herkules, geschmeidig wie Apoll, militärisch wie Wrangel und hat die buschigen Augenbrauen Miquels. Das Gesicht bartlos bis auf zwei Raupen auf den Backen. Die Augen etwas klein und zugekniffen, aber der Blick schelmisch und verliebt – ja entschieden verliebt. So ein Blick voll zärtlicher Gourmandise.«
»Nun bin ich aber wahrhaftig neugierig,« sagte Maxe. »Vor allem freue ich mich, daß wir so weit sind. Jetzt heißt es, die Mama mit Lang- und Sanftmut und großer Delikatesse auf das Kommende vorzubereiten. Sobald die Herren Besuch bei uns gemacht haben, müssen wir eine Gesellschaft geben. Und zwar schlage ich vor, daß jede von uns eins unsrer Opfer übernimmt, sich mit besonderer Liebe an den Betreffenden heranschlängelt und ihm das Lob der Mama in hellen Tönen singt.«
»Da bitte ich um den Major,« entgegnete Elfriede.
»Warum?«
»Weil er auch malt und wir uns gut verstehen werden.«
»Schön, ich habe nichts dagegen. Ich werde die Geistlichkeit übernehmen. Die Bearbeitung ist am schwierigsten, aber ich traue sie mir zu.«
Beate protestierte. »Erlaubt,« rief sie, »da bleibt ja für mich nur der milkman übrig? Wovon soll ich mit ihm sprechen? Ich habe keine Ahnung von Buttermaschinen und Zentrifugen, und eine Molkerei ist für mich wie das Bild zu Saïs.«
Maxe wurde ärgerlich. »Sei doch keine Spielverderberin! Du hörst ja von Krempel, daß die Bildung des Mannes hoch über das Melken geht.« »Du kannst beruhigt jedes Thema bei ihm anschlagen,« sagte Dionys, »sogar aus der alten Welt. Sprich mit ihm über die Pythia oder die Äpfel der Hesperiden – er wird Bescheid wissen. Nur den Stall des Augias und die heilige Kuh der Inder erwähne nicht, weil er das für Anspielungen halten könnte ...«
Der Plan wurde noch lange und in allen Einzelheiten durchgesprochen. Krempel amüsierte sich über den Ernst, mit dem die Mädchen auf ihr Ziel losmarschierten: es war beinahe so, als ob sie eine neue Ordnung der Dinge erstrebten und vom Hochzeitstage ihrer Mutter an den Beginn einer besseren Gegenwart erwarteten. Das reizte seine Spottlust, für die er sowieso Vorliebe und Verständnis hatte; aber er hütete sich, ihr die Zügel schießen zu lassen. Er machte das Spiel mit, weil es ihn harmlos dünkte und weil er diese prächtigen Mädel lieb hatte, die ja auch in ihrem guten Rechte waren, wenn sie die Forderung stellten, den Bau ihrer Erziehung nicht in Untätigkeit zerbröckeln zu lassen. Sie waren alle drei heitere Freiheitsvögel, und man konnte es verstehen, daß sie sich aus dem Neste heraussehnten. Gewiß: sie hatten es gut unter den Fittichen der Mutter und ihrer liebenden Sorglichkeit. Aber die Mutter selbst hatte die Antriebe zu einer kräftigeren Entfaltung ihrer Individualität in ihnen geweckt, und nun hielt es schwer, wieder zum Stillstand zu bremsen.
Auch Frau von Göchhusen kannte Dionys seit vielen Jahren und schätzte sie aufrichtig. Sie hatte lange unter dem Druck ihrer Scheidung gestanden. Dann aber kam die Rückbildung um so rascher; sie fand ihren Humor wieder, und ihr altes glückliches Temperament erwachte von neuem. Sicher war es auch nicht nur eine gewisse philiströse Rückständigkeit, die sie veranlaßte, das Studium ihrer Kinder zu unterbrechen: es war zweifellos ein naiver Egoismus dabei im Spiel, der heiße Wunsch, die Mädchen bei sich zu behalten. Es war ihr schon schwer geworden, sie wechselweise von sich zu lassen; aber während Maxe in Hannover in Pension war, um sich für die Weihe des Abituriums vorzubereiten, verblieben wenigstens die beiden anderen bei ihr, und als Elfriede zu Weimar den Urgrund zu berühmter Zukunft legte, behielt sie doch immer noch Beate, die bei einem zoddelbärtigen Berliner Professor die Mysterien der Bibliothekwissenschaft mit leichter Mühe erlernte. Und nun wollten alle drei auf einmal in die Welt hinaus. Natürlich war das hart für die Mutter, der um ihre Küken bangte. Aber nein: vielleicht bangte sie sich gar nicht einmal. Sie war ihrer Mädel sicher: sie hatte ja doch selbst dafür Sorge getragen, daß in diesen jungen Seelen das Verständnis für die Umwelt mit allen ihren Kontrasten, dem Zusammenstoß der Kräfte, ihren moralischen Versuchungen und auch der Verschiebung ihrer sittlichen Begriffe Wurzel schlug. Sie hatte fünf Kindern das Leben gegeben. Die ältesten, Zwillingsmädchen, ein schwächliches Paar, waren bald nach der Geburt gestorben. Aber dann ging es weiter: wieder ein Mädchen, und wieder eins und nochmals ein Mädchen – und da hatte ihr Mann sie die »Mädelmama« getauft und ihr scherzend vorgeworfen, wie schwer es halten würde, diese umherkrabbelnde Weiblichkeit mit allem Komfort der Gegenwart zu erziehen.
Freilich – solange der Legationsrat noch mitzureden hatte, wurde der sogenannte Komfort jedweder praktischen Betätigung vorgezogen, und Miß und Mademoiselle hatten nur darauf zu achten, daß die Kleinen artig waren und Englisch und Französisch besser zu lernen verstanden als die eigene Muttersprache. Aber dann kam es anders, und zwar kam es so, daß diese verständige Mädelmama sich ihrer Erziehung nicht zu schämen brauchte und zugleich wissen mußte: in dieser Erziehungsmethode ruhten die Triebkräfte zu einer späteren Selbständigkeit. Sie war zu klug, um das nicht einzusehen; was sie fürchtete, war sicher nur die Einsamkeit.
Also gut: da mußte man sie verheiraten. Dionys Krempel sprach nicht davon, daß es ihm noch sehr zweifelhaft erschien, ob alle gescheite Berechnung nicht doch etwas Falsches ergeben würde. Er ging nie einer humoristischen Wendung im Leben aus dem Wege; es gefiel ihm auch, daß die drei Mädel so forsch zuzupacken verstanden, alles Sentimentale ausschalteten und ohne heuchlerisches Pharisäertum auf die Entscheidung losmarschierten. Sie wollten ihre Mutter verheiraten, um sich selbst eine freiere Bewegung im Dasein zu schaffen. Das war die Hauptsache: der Egoismus der Kinder prallte gegen den der Mutter. Verständlich. Was sonst noch kommen konnte, war in Nebel gehüllt. Vielleicht verliebte sich wirklich einer der drei Auserwählten in die stattliche Frau. Vielleicht dachte keiner daran. Vielleicht erwiderte sie die Neigung dieses oder jenes; vielleicht gab sie allen dreien den Laufpass. Jedwede Hoffnung stand auf diesem »Vielleicht«. Aber gerade das machte Herrn Doktor Krempel Spaß.
Maxe sah die Zukunft bereits in rosigstem Lichte.
»Es bleibt dabei,« sagte sie, »unmittelbar nach Mutters Hochzeit nehmen wir uns eine gemeinschaftliche Wohnung. Das denke ich mir wundervoll. Dein Atelier hinten heraus, Elfriede, damit deine Modelle uns nicht beständig in die Quere kommen. Beate kriegt als Älteste das schönste Zimmer vorn, und meine Studentenbude gliedert sich an. Zur Einweihung laden wir Krempel ein: das ist die Revanche für heute.«
»Ich danke im voraus,« entgegnete Dionys, »und akzeptiere schon jetzt. In der Tat: es muß behaglich sein, wenn ihr drei erst zusammen haust. Aber das Trio kann sich bald in ein Duo verwandeln, und wenn von dem Duo eine von dannen zieht, wird sich die Übriggebliebene etwas verlassen vorkommen. Kinder, denkt ihr denn nicht an die eigene Heirat!?«
Eine aufgeregte Gegenwehr hub an. Aber die Stimme Beates durchdrang das Chaos.
»Krempel, wozu dieser Einwurf?!« rief sie. »Wir haben alle drei schon unsre Freier gehabt und haben kaltlächelnd gedankt. Muß denn immer geheiratet werden?«
»Nimm an, deine Mutter stellt die gleiche schwer zu beantwortende Frage.«
»Ach was, die Mutter,« sagte Elfriede, »hier handelt es sich um uns. Wir haben gar keine Ursache, uns in Abhängigkeit zu begeben, weder materiell –«
»Noch sonstwie,« ergänzte Maxe. »Wir gehören nicht zu den törichten Jungfrauen, die ihre Herzen nicht in Zucht zu halten verstehen, mein guter Junge.«
»Na, na – renommiere nicht. Es könnte doch einmal einer kommen –«
»Er soll nur! Er soll nur. Haha, wir lassen uns nicht überrumpeln! Ein bißchen vorsichtige Kaltschnäuzigkeit haben wir aus Mutters Erbe. Eine wird die andere beraten. Eine wird Schutz der andern sein. Wir halten zusammen.«
»Hoffentlich,« setzte Beate hinzu. »Krempel, es ist merkwürdig, wie du uns verkennst. Wir reißen uns nicht um die Männerwelt. Du weißt, ein bissel Pessimismus hat immer in mir gelebt. Ich glaube nicht an die wolkenlose Reinheit der Liebe. Wir haben ein vorbildliches Beispiel an der Ehe unsrer Mutter.«
»Die ihr aber trotzdem rasch wieder unter die Haube bringen möchtet.«
»Gott, Krempel,« rief Elfriede, »wirf die Motive doch nicht geflissentlich durcheinander. Es gibt Zweckessen und Vergnügungsdiners, du verstehst wohl. Ich bin minder pessimistisch angehaucht als Beate, aber ich gebe ihr recht: wenn man die Liebe nicht als eine reale Macht anerkennen will, gegen die es kein Wehren gibt, dann ist sie in hundert Fällen neunundneunzigmal ein Possenspiel, eine törichte Schnurre oder gar ein Verbrechen.«
»Huhu!«
»Nee – mach' nicht huhu, es ist schon so. Ich bin nicht eingebildet genug, um zu behaupten, daß ich nie hereinfallen könnte. Natürlich kann auch ich mich mal verlieben. Da werden die Schwestern kommen und mir raten, was verständig ist: ob es nicht besser sei, zu entsagen, als auf die Gefahr hin zu heiraten, meine Freiheit gegen ein vermeintliches Glück einzutauschen ... Du mußt doch einsehen, daß wir drei viel vergnügter und vor allem sorgenloser leben können, wenn wir unter uns bleiben, als wenn wir uns in eine, ihrer Entwicklung nach vielleicht zweifelhafte Ehe stürzen.«
Maxe schüttelte den Kopf. »Er sieht es partout nicht ein,« sagte sie, »er ist ja selber ein Mann. Der Hochmut seines Geschlechts sitzt ihm im Nacken ... Krempel,« rief sie, »bist du der Ansicht, daß unsre irdische Seligkeit am Manne hängt? Ja oder nein?«
»Jawohl,« entgegnete Krempel, »erstens wegen eurer im Stadium der Verliebtheit sich proportional steigernden Illusionsfähigkeit und dann wegen der polarischen Ergänzung.«
Da wurde Maxe sehr ärgerlich. »Nun hört ihr's! Es ist die alte Geschichte: jedesmal, wenn er mich übertrumpfen will, fängt er mit Fremdwörtern an. Aber die verstehe ich auch, und auf deine polarische Ergänzung pfeife ich. Und wenn du nun noch ein Wort sagst, dann heirate ich überhaupt nie ...« Sie wurde verwegener und schlug wieder mit zwei Fingern auf die Tischkante. »Deshalb wollen wir ja eben zusammenziehen, damit eine von uns nicht von einem Manne fortgekapert wird! Jawohl, mein Teurer, wir bilden ein Schutz- und Trutzbündnis: keine wird heiraten, ohne daß die andern ihre Zustimmung geben – und daran halten wir fest. Wir stellen unsre Freundschaft über die Flüchtigkeit der Liebe und die polarische Übereinstimmung unsrer Seelen über deine Ergänzungstheorie. Wir sind freie Mädchen. Ja, mein Herr!«
Diese Rede gefiel Beate und Elfriede so wohl, daß sie lachend applaudierten. »Du bist geschlagen, Krempelius,« sagte Beate, »also schweige.«
»Vorläufig ja,« entgegnete Dionys, »aber wenn die Gelegenheit kommt, werde ich um so lauter sprechen. Ihr habt zu viel in den Schopenhauer geguckt und das Gelesene schlecht verdaut. Doch das macht nichts. Euer Pessimismus wird sich in das Gegenteil verkehren, sobald ihr beim Anblick eines gewissen Jemand das erste Herzklopfen spürt. Und dann bin ich sehr neugierig, wie die Schwestern das Herzklopfen der dritten beurteilen werden. Ich taxiere, daß in solchem Fall das berühmte Bündnis schmählich reißen wird ... Was darf ich euch noch anbieten? Frau Brendicke versteht es mit Meisterschaft, ein schlichtes Brötchen durch Aufputz von kaltem Ei und seltsam gekreuzten Sardellen förmlich ausländisch zu gestalten. Würde es euch danach gelüsten? Das Material ist zur Hand.«
Doch man dankte. Es war auch Zeit, allmählich an den Aufbruch zu denken. Krempel wurde noch einmal in ein Kreuzfeuer von Bitten, Fragen und Vorschlägen genommen, und dann empfahl man sich. Nun verschwand Dionys für einen Augenblick im Nebengemach und kehrte hierauf im Livreerock Genanders zurück, verbeugte sich tief und sagte:
»Wollen die gnädigen Damen die Güte haben, in das Antichambre zu treten ...«
Ein paar Tage später, in der sechsten Nachmittagsstunde, ließ der Major von Hartwig seine Karte im Göchhusenschen Hause abgeben. Die Mädchen waren gerade bei einer Freundin auf Besuch, und so mußte Frau Magda den Major allein empfangen. Er war im Überrock hatte aber den Helm in der Hand.
»Untertänigst Verzeihung, gnädigste Frau,« sagte er, »daß ich nicht ganz genau die übliche Visitenstunde einhalten konnte. Der Aktendienst nimmt mich so in Anspruch, daß ich oft genug nur den Abend frei habe –«
»Sie wären uns auch abends willkommen gewesen, Herr von Hartwig, und hätten dann ein Butterbrot mit uns essen können. Ich gebe zwar viel auf den ›guten Ton in allen Lebenslagen‹, aber wenig auf allzu strengen Formalismus. Und außerdem sind wir ja alte Freunde.«
Hartwig verbeugte sich. »Es ist schmeichelhaft für mich, daß Sie sich der Freundschaft von einst erinnern, gnädige Frau. Das Haus Ihrer Eltern steht mir noch lebhaft im Gedächtnis. Sie wohnten damals, in der Königgrätzer Straße, ungefähr der Christuskirche gegenüber, und ich weiß, daß Sie den kleinen Salon, in dem gewöhnlich die Besuche empfangen wurden, die ›Laterne‹ zu nennen pflegten, weil er einen achteckigen Ausbau mit zahllosen Fenstern hatte. Rechts davon lag Ihr Zimmer und links das der Frau Geheimrat, Ihrer Mutter, das mich stets besonders traulich angemutet hat, weil auf dem sogenannten Tritt in der Fensternische der Nähtisch stand und auf dem Fensterbrett immer Begonien blühten: wie in einem Interieur von achtzehnhundertdreißig.«
Frau von Göchhusen lächelte wehmütig. »Ja, so war es, Herr von Hartwig, genau so. Meine Mutter war eine prächtige Frau, aber kein Gegenwartsmensch. Sie liebte die Affekte von gestern, und wenn Paulus Cassel in der Christuskirche predigte, fehlte sie nie, weil der es ganz besonders verstand, die Augen feucht werden zu lassen – und so wollte es die Mama: eine Predigt ohne Rührung und reichlichen Tränenfluß hätte bei ihr den Zweck verfehlt. Mir selbst gefiel Paulus Cassel nicht. Er war mir zu dick – und ich ein spillriges Mädelchen. Das hat sich freilich geändert,« fügte sie heiter hinzu.
Der Major machte eine Kopfbewegung, die eine stumme Schmeichelei bedeuten konnte.
»Wie lange ist es her? Zweiundzwanzig – dreiundzwangig Jahre ... aber zuweilen erscheint mir auch diese so weit zurückliegende Vergangenheit wie ein Tag von gestern und vorgestern, und seit ich Sie neulich wiedergesehen habe, ist mir, als ob sich die Empfindungen, die sich am Faden der Erinnerung aufreihen, noch stärker ausprägten. Ich entsinne mich mit fast farbiger Lebendigkeit gewisser Einzelheiten, die an sich kleinlicher Natur sind, aber eine feste Vorstellung in meinem Bewußtsein bilden, wie beispielsweise des Zimmers Ihrer Frau Mutter und des Korridors in Ihrer elterlichen Wohnung, in dem immer ein dunkler und ein erbsengelber Überzieher nebeneinander hingen und rechts und links vom Spiegel zwei bunte Lithographen: Ansichten von Teplitz ...«
Während er noch weiter sprach, erschienen Johanna, die Zofe, mit dem Theeservice, und Genander, der in den Besuchsstunden immer zum Diener avancierte, mit einem schönen alten Samowar, unter dem er die Flamme anzündete, um sich dann wieder zurückzuziehen. Das tat auch Johanna, und nun bereitete Frau von Göchhusen den Tee selbst, füllte die Tasse ihres Gastes, schob ihm den Teller mit Sandwichs zu und sagte:
»Ja, du lieber Gott, die Erinnerung! Es ist mir ja ganz ähnlich ergangen wie Ihnen, Herr von Hartwig. Als Sie neulich von dem Tode der zweiten Frau meines Mannes sprachen, haben Sie wohl gemerkt, wie heftig ich zusammenschrak. Das geschah aber, glaube ich, weniger zufolge der unerwarteten Plötzlichkeit der Nachricht, als aus einer blitzartigen Aufpeitschung des Gedächtnisses heraus. Ich sah in diesem Augenblick Wanda leibhaftig vor mir und hörte sie sprechen – hörte sie ganz deutlich sprechen: die Worte mit gewölbten Lippen prononzierend und mit dem scharfen Akzent, den sie sich trotz ihrer deutschen Erziehung nie abgewöhnen konnte.«
»Es hat mir noch nachträglich schmerzlich leid getan, gnädige Frau, daß ich eine wunde Stelle berührt habe.«
Er sprach das im Tone innigen Bedauerns, und mit einem merkwürdig hilflosen Gesicht, das in fast komischem Widerspruch zu dem Stattlichen seiner Erscheinung und der Ausdrucksenergie seiner Züge stand. Aber Frau von Göchhusen erhob abwehrend ihre Hand. »So ist es nicht, lieber Major,« sagte sie, » – Sie haben gar keine Ursache, sich Vorwürfe zu machen. Ich kann über diese Dinge so ruhig sprechen, als handele es sich um etwas sehr Gleichgültiges. Vergessen Sie nicht, daß zwischen heute und damals eine Zeit liegt, in der ich meinen vollen Frieden wiedergefunden habe. Jawohl, meinen vollen inneren Frieden. Ich gestehe, es gehörte ein wenig Selbstzucht dazu – aber es ist mir gelungen, und ich bin sehr froh darüber. Und da wir doch einmal bei dem Thema sind – ich wußte übrigens, daß es sich nicht umgehen lassen würde, und war darauf vorbereitet: es würde mich interessieren, von Ihnen zu hören, wie Sie mit Herrn von Göchhusen bekannt geworden sind –?«
Er warf, während er die kleine Teeserviette auf den Tisch zurücklegte, einen raschen, forschenden Blick aus seinen hellen Augen auf Magda, einen Blick, in dem man Erkennen und Wollen hätte lesen können, der aber auch gütig war, und antwortete hierauf ohne weiteres:
»Das kam so, gnädige Frau: Ich erzählte neulich bereits Ihrer Fräulein Tochter Elfriede ... apropos, wo ist Ihr reizendes Dreiblatt? Es hätte mir doch Freude gemacht, die Damen begrüßen zu dürfen.«
»Sie können jeden Augenblick zurückkommen, Herr von Hartwig. Besuch bei einer Freundin – aber es sollte nur eine Sprungvisite sein.«
»Also ja ... wie ich schon Ihrer Fräulein Tochter erzählte, vertreibe ich mir meine müßige Zeit zuweilen durch harmlose Malereien. Pour passer le temps, wirklich nichts weiter, und ohne Ruhmbegierde, selbst, ohne Hoffnung auf steigende Qualitäten. Na – und da strich ich denn auch während meiner Rekonvaleszenz in Pallanza zu öfterem hie und da mit meinem Skizzenbuch herum und sah eines Tages durch das Parkgitter der Villa Esperenza eine Partie, die mir außerordentlich gefiel. Ein paar Boecklinsche Zypressen als Hintergrund eines Rasenplatzes, darauf eine alte Platane mit seltsam gescheckter und zerrissener Rinde, ein Weiher mit dem obligaten Schwanenpaar und allerhand Schilfgewächsen am Ufer. Aber die Szenerie hatte auch Staffage. Unter der Platane stand ein sogenannter TriumphstuhI, und auf ihm lag eine sorglich in Decken gehüllte Dame –«
»Wanda,« fiel Frau von Göchhusen ein.
»Ja, gnädige Frau – und war in die Lektüre eines Tauchnitzbandes vertieft. Zu ihren Füßen ein Barsoi, rechtsseitig ein Tischchen mit einer Schale voll Früchte. Das alles sah so hübsch und malerisch aus, daß ich indiskret genug war, den Leseeifer der jungen Dame auszunützen und von der Straße aus das Ganze zu skizzieren. Nun wurde ich selbst eifrig, bis der Hund mich entdeckte und anschlug und die Dame erstaunt und, wie ich glaubte, auch mißbilligend aufschaute. Da stellte ich mich vor und bat um Entschuldigung – immer durch das Parkgitter – und muß bei dieser Gelegenheit wohl einen ganz netten Eindruck gemacht haben, denn die Dame lud mich freundlich ein, näher zu treten, um meine Skizze in größerer Beschaulichkeit beenden zu können. Das tat ich denn auch – und ich gestehe unbefangen ein: ich witterte damals so etwas wie ein hübsches Abenteuer –kein tannhäuserhaftes, Gott bewahre, aber doch immerhin eins, das die Langeweile von Pallanza angenehm zu unterbrechen imstande sein würde.«
Frau Magda lachte. »Merkwürdig, wie die Männer sich gleich sind,« sagte sie.
»Ja, das sind wir wohl, gnädige Frau: jedenfalls ist der Einschlag der Art immer unverkennbar, sobald uns das Ewigweibliche in gottgesegneter Fassung entgegentritt. Nur – – aber ich will bei meiner Geschichte bleiben. Mit dem Abenteuer war es in diesem Falle nichts: das merkte ich schon nach den ersten fünf Minuten meiner Unterhaltung mit Frau Wanda. Im übrigen erschien auch bald der Herr des Hauses der über die Abwechslung sichtlich erfreut war und mich zum Frühstück lud – und von diesem Tage ab war ich häufiger Gast in der Villa Esperenza und wurde schließlich ein Duzfreund Erichs.«
»A – ah ... so nahe sind Sie sich getreten?«
»Er bot mir das Du an. Ich hätte es nicht getan, weil ich – ich taxiere, well ich temperierter veranlagt bin. Aber ich akzeptierte, denn ich war Erich aufrichtig freundschaftlich zugetan. Das Gegensätzliche der Naturen bildete wohl auch hier die Anziehungskraft. Ich habe immer Neigung für hastige Phantasiemenschen gehabt, die mit dem Leben häufig in Widerspruch geraten – für intelligente Querköpfe, die einen Reiz in der Erschwerung des Daseins sehen – auch für die Noblesse des Gebens und Gewährens, wenn sie sich mit einem gewissen geistigen Raffinement vereint: also wenn sie von Kultur zeugt. Alles das, weil ich selber das Gegenteil bin: trotz meiner Liebe zur Kunst ziemlich nüchtern, von guter, aber schwerfälliger Logik, und nicht reich genug, um mir Genüsse zu gönnen, die ich zu schätzen weiß. Ästhetische Genüsse, doch auch materielle, falls sie eine Mischung von Griechentum und römischer Lebenslust sind...«
Frau Magda saß schweigend in der Sofaecke und hörte zu. Dieser Major aus dem Bezirksbureau hatte eine Art zu sprechen, die sie fesselte. Das hatte er schon als junger Leutnant gekonnt: und was sie damals mehr noch als der Inhalt seiner Worte bezaubert hatte, das war der gefällige und melodiöse Wohlklang seiner Stimme gewesen. Dies Organ bestach; aber zweifellos, es gehörte zum Menschen, vor allem zum Ausdruck der Augen, die in ihrer Klarheit jedes Empfinden auf den Punkt seiner Stärke zu bringen schienen. Es gehörte nur nicht zur Uniform.
Eine kurze Pause trat ein. Frau von Göchhusen schaute vor sich hin, mit einem Blick der Verinnerlichung, als streife durch ihr Gedächtnis eine Reihe von Vorstellungen, deren Bruchstücke sie im Bewußtsein zu ordnen sich mühte. Und dann zuckte sie ein wenig zusammen, zuckte gleichsam aus einem Halbtraum auf, und sagte:
»Seltsam, wie ausgezeichnet Sie Erich mit wenigen Worten zu charakterisieren verstehen. Er war ein Grandseigneur und auch ein Kulturmensch, ganz richtig – und ich will Ihnen zugeben, nicht nur in äußerem Sinne: er strebte immer aus der Enge heraus und hätte sich in einer Welt lebendiger Schönheit am wohlsten gefühlt. Und das war zugleich der Grund seiner ewigen Unruhe und, ich muß es sagen, auch des Unglücks unsrer Ehe: daß ihm das Behaglichkeitsgefühl für kleine Kreise absolut abging und daß ihm jedes Beharrungsvermögen fehlte. Er sollte ursprünglich Kaufmann werden und die Farbwerke seines Vaters übernehmen. Daran war gar nicht zu denken. Dann studierte er Chemie: auch das behagte ihm nicht. Er sattelte um und wurde Jurist, kam ins Auswärtige Amt, zur Gesandtschaft nach Bukarest und wieder zurück nach Berlin – aber die Diplomatie langweilte ihn wie jeder andre feste Beruf, so daß er schließlich den Abschied nahm, um ganz sich selbst leben zu können ... Lieber Freund, es ist das gewiß eine schöne Sache, ›sich selbst‹ leben zu können; aber dann muß man ein geborener Egoist sein und völlig in seinem Selbst aufgehen. Dann muß man allein sein und auch in seinem Alleinsein eine frohe Festigkeit besitzen. Erich hätte nicht heiraten dürfen. Die Ehe ist immer nur eine umgrenzte Welt, und mich dünkt, es ist gut, daß es so ist. Er war in gewissem Sinne auch Herrenmensch. Was er liebte, wollte er besitzen. So nahm er mich – und als Wanda in seine Kreise kam und ein neuer Schönheitsrausch ihn verwirrte, nahm er sie. Ich glaube aber, auch mit ihr hat er kein volles Glück gefunden.«
Der Major schüttelte langsam den Kopf. »Nein, gnädige Frau – kein volles Glück. Er hat mir selbstverständlich nicht anvertraut, wie er in seiner zweiten Ehe lebte – aber ich spürte überall die Gegensätze: vor allem, ich spürte einen Verlauf ins Leere. Ich kann nichts gegen Frau Wanda sagen; sie war schon leidend, als ich sie kennenlernte, von einer eigentümlich rührenden Schönheit, sehr liebenswürdig und mit dem Weltschliff einer großen Dame, die sich viel auf internationalem Boden bewegt hat. Alles in allem: sie hat Eindruck auf mich gemacht. Aber für Erich war sie nicht mehr die Fülle seines Lebens – vielleicht auch nie gewesen. Ich möchte sagen, sie war für ihn zu einem Seitenbilde geworden. Zweifellos, daß er sie einmal sehr geliebt hat. Das mag auch noch in der Zeit gewesen sein, da er mit ihr in der Welt herumzigeunerte, denn wie Sie ganz richtig äußerten, war die Stabilität nie seine Sache. Dann begann sie zu kränkeln, und es kam das Muß der Ruhe. Und damit auch die Entthronung, die Entgötterung, der notwendige Sturz des Idols. Denn wenn er sie auch mit aller Sorgfalt umgab und selbst bei ihren mannigfachen kleinen Launen nie die Geduld verlor – es lag wohl in dem Ästhetizismus seiner Lebensauffassung, daß er selten rauh werden konnte: Zum Krankenpfleger war er nicht geschaffen.«
»Nein,« sagte Frau von Göchhusen, »dazu war er zu sehr Bewegungsmensch ...« Dann schwieg sie einen Augenblick, als wolle sie die begreiflichen Erörterungen gewaltsam abbrechen, und fragte endlich: »Woran ist Wanda gestorben?«
»Sie war lungenleidend.«
Wieder trat eine Pause ein. Der Major merkte, daß Frau Magda stark bewegt war. Er sah auch eine helle Träne in ihrem Auge. Diese Träne genierte sie sichtlich: Magda breitete ihr Gemütsleben nicht gern vor anderen aus. Aber es nützte nichts; die Träne ließ sich nicht halten: sie glitt die Wange hinab.
Frau von Göchhusen zog ihr Taschentuch. »Verzeihen Sie,« sagte sie. »Sonst habe ich mich besser im Zaume. Es war auch nur eine Träne, und die gönne ich Wanda – trotz allem. Ich habe nie hassen können – eine Schwachheit der Natur –, auch sie nicht: auch nicht in dem Augenblick, da ich wußte, daß sie mein Bestes nahm. Denn sie war keine Diebin; sie wurde geraubt. Sie war schon sein, als sie sich das erstemal sahen ... Aber ist es nicht seltsam, daß ich nie Nachricht von ihrem Tode erhalten habe? Und wenn wirklich ein Brief verlorengegangen sein sollte: warum schrieb er mir nicht aus Mexiko?«
Die elektrische Klingel an der Entreetür schrillte. »Das sind die Mädchen. Nun lassen wir das Thema fallen, lieber Major. Ich halte die Kinder gern im unklaren über das Gewesene. Wehmütige Retrospektiven sind nichts für ein junges Gemüt; sie verwischen die Eindrücke der Gegenwart – sie irritieren auch ...«
Die Tür ging auf, und Elfriede trat ein: mit luftgeröteten Wangen und glänzenden Augen.
»Tag, Mama,« rief sie. Dann stutzte sie, und der rosige Flaum ihres Gesichts tönte sich tiefer ab. »Ah – Herr von Hartwig ...«
Er hatte sich erhoben. »Gnädiges Fräulein.«
Sie gab ihm die Hand. »Hübsch, daß Sie Wort halten ... Mama, ich komme als Abgesandte von Beate und Maxe. Wir haben Herrn von Emmingen getroffen, und der hat sie in eine Konditorei verschleppt. Ich bin vorangestürzt, damit du nicht glaubst, wir seien in den Kanal gefallen oder unter der Elektrischen verunglückt.«
»Ich finde, daß Ihr Herrn von Emmingen häufig trefft.«
»Es liegt nicht an uns. Er gehört zu den Menschen, denen man immer begegnet. Es gibt solche Leute. Man entgeht ihnen nie.«
Nun trat die Zofe ein und meldete, ein Monteur von der Gasanstalt sei da und möchte die gnädige Frau sprechen.
»Hauswirtschaftliches,« sagte der Major. »Ich kenne das. Bei mir ist der Bursche die oberste Instanz. Er hat auch den Gaskocher unter sich, und Gnädigste Frau, ich empfehl mich zu Gnaden.«
»Warum so eilig, lieber Hartwig?« Der ›Jas‹ nimmt mich nur für ein paar Minuten in Anspruch. Sehen Sie sich solange das sogenannte Atelier Elfriedes an.«
»Das könnte mich locken ....« Der Major verneigte sich leicht vor Elfriede.
»Und wird mir eine Ehre sein,« erwiderte diese. »Ich habe freilich auch Furcht. Seien Sie kein allzu strenger Kritiker ....«
Sie ging voran, und Hartwig folgte ihr durch das Papageienzimmer. Frau von Göchhusen blieb noch einen Augenblick stehen und schaute ihm nach. Sie schaute einem Stück ihrer Vergangenheit nach und dachte daran, wieviel Schranken und Hemmnisse doch ihr Leben gefunden hatte. Dachte auch unwillkürlich an ihres jungen Herzens erste Liebe und wurde weich. Und seufzte ganz leise auf. Der Mann ihrer ersten Liebe hatte sich in Stattlichkeit erhalten – und sie war dick geworden. Es fand sich wieder etwas Unwillkürliches ein: sie schaute in den Spiegel. Da wurde der Wille zum Inhalt einer Vorstellung, und sie sagte sich, daß sie noch recht hübsch sei. Sie lächelte, und das Spiegelbild lächelte zurück und gab auch eine Antwort. Sie konnte noch immer einen Mann bezaubern, wenn sie wollte. Sie wollte es. Der Wille wurde stärker und zu positivem Empfinden: der Herzmuskel zuckte. Mein Gott, sie war ja noch nicht alt! – Dann ging sie zu dem Mann von der Gasanstalt: elastischen Schrittes und Sonnenschein im Auge, als ob sie auch diesen armen Monteur bezaubern wollte. –
Indessen hatte Elfriede den Major in ihr Zimmer geführt. Unterwegs sorgte sie sich ein wenig. War alles in Ordnung da drinnen? Manchmal hing ein Korsettschoner über der Staffelei, und manchmal lagen ein paar Stiefel mitten in der Stube. In hastender Eile glitt ihr Blick durch das Gemach, als sie die Tür öffnete, Gott sei Dank, es ließ sich so leidlich an. Vor dem Stuhl neben dem Bett ringelten sich zwar zwei seidne Strümpfe, aber der Major sah weder nach Bett noch Strümpfen, sondern schritt direkt auf die Staffelei los und blieb hier stehen: Elfriede merkte es, fast, etwas verblüfft.
Das Bild auf der Staffelei war eine Ölskizze, die sie schon im letzten Herbst vollendet hatte: ein freies Feld mit einer schlanken Birke im Vordergrund. Sie hatte damals die Worpsweder besucht, und die Landschaft hatte sie angezogen. Vor kurzem war noch ein Berliner Modell dazugekommen: ein kleines Mädchen in dürftiger Kleidung, das sich mit gefalteten Händen gegen den Baumstamm lehnt.
Hartwig sagte anfänglich gar nichts; aber er prüfte sichtlich mit großer Aufmerksamkeit, trat etwas zurück, dann seitwärts, kniff ein wenig die Augen zusammen und nickte befriedigt.
»Gut, gnädiges Fräulein. Stimmung und Wahrheit – ohne romantische Beschönigung. Der rotbraune Boden mit seiner aufgerissenen Oberfläche, hie und da das blaffe, glanzlose Gras und dazu das Weiß der Birke – das ist famos. Auch das Kind ... ja, das ist das einzige, das ich aussetzen möchte: das geflickte Kleid mit seinen schmutzigen Tönen und die rauhe, wie vom Wind durchplusterte Jacke – prachtvoll; aber das Gesichtchen gehört nicht in die Landschaft. Es trägt fremde Züge: einen verschmitzt großstädtischen Ausdruck, der nicht zur Schwermut der Umgebung paßt.«
»Richtig,« entgegnete Elfriede. »Es ist ein Portierskind aus der Nachbarschaft, das ich kostümiert habe. Aber dem Gesicht der kleinen Range konnte ich keine Maske geben. Sie sind ein scharfer Beobachter.«
»Mehr Beobachter als Selbstkönner. Das macht mich nicht unglücklich. Ein andrer würde daran zugrunde gehen, nicht über die Schranken seiner Begabung hinauszukommen. Ich bescheide mich in dem Troste, daß die Kunst schließlich nur ein Winkelchen meines Lebens ausfüllt – ein freies Eckchen, das ich mir für den Mußestand zur Disposition halte. Darf ich noch mehr sehen?«
»Aber mit Freuden ....« Hastig ging Elfriede an die Arbeit, ihre Mappen zu leeren. Da gab es Bleistiftstudien und Gouachen, Akte, Kostümstücke, Landschaftsausschnitte, Figürliches. Dann kletterte sie auf einen Stuhl und räumte den Schrank ab; dort waren ungerahmte Ölskizzen in Massen aufgestapelt. Sie staubten, als Elfriede sie herabnahm.
»Vorsicht!« rief sie, da der Major ihr helfen wollte. »Fassen Sie nur mit zwei Fingern zu: meine Galerie ist nicht auf Beschaulichkeit eingerichtet ....« Endlich kramte sie auch noch hinter der Kopfseite ihres Bettes ein paar aufgespannte Leinwandstücke hervor und riß einige Bilder von der Wand.
»Das ist mein Oeuvre,« sagte sie. »Notabene das, was ich davon übriggelassen habe. Alles Sonstige habe ich verbrannt. Aber was da liegt, wird Ihnen genügen, um mir sagen zu können, daß mein Talent nicht der Farben lohnt.«
»Ich würde kein Hehl daraus machen, wenn es wirklich so wäre. Die Akte zeugen von guter Schule – das ist alles! Viel bedeutsamer erscheint mir das Landschaftliche ...« Er stellte eine Ölskizze auf die Staffelei .... »Da – das hier – dieser simpelblaue Kohlgarten mit der grotesken Vogelscheuche im fernen Haferfelde ist prachtvoll. Und die perlfarbige Wolke am Himmel, die das Sonnenlicht abtönt und der Szenerie alles Krasse und Fettige nimmt – dazu gehört schon eine Feinfühligkeit, vor der ich den Hut ziehe.«
Elfriede war dunkelrot geworden. Dieses Lob eines Nichtzünftigen erfreute sie mehr, als wenn irgendeine fachmännische Berühmtheit sich schmeichelhaft über ihre Malerei ausgesprochen hätte. Sie wurde verwirrt. Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Bild auf der Staffelei austauschte.
Er sprach indessen ruhig weiter: verständig und gleichmütig. Ein Strich Moorland mit einem metallisch schillernden Tümpel bei Sonnenuntergang gefiel ihm besonders; ferner eine Gruppe Wacholderbüsche auf erikablühender Heide und ein Stückchen Waldlistère, davor ein finsterer Graben mit blaugrün wuchernden Nesseln und Natternzungen. Aber für das Figürliche hatte er nichts übrig. »Merkwürdig, daß Ihnen das nicht gelingt,« sagte er. »Es ist immer gestellt und bringt ein fremdes Element in die Stimmungen.«
»Das empfinde ich selbst,« entgegnete Elfriede, »ich habe auch eine gewisse Scheu vor der Staffage. Aber ich würde mir zutrauen, sie zu überwinden, wenn die Mama mich mehr nach dem Leben malen ließe.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie ist immer in Sorge – vor Räubern, vor Überfällen, vor allem möglichen ... Herr von Hartwig, ich komme nicht weiter unter diesem Überwachungssystem. Ich möchte mich im Sommer so gern einmal einer Schule anschließen – oder mich mit Kolleginnen zusammentun und nach Holland oder Norwegen reisen, um neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden – Sie verstehen mich –, aber die Mama läßt mich ja nicht fort. Ich muß mich immer damit behelfen, fremde Formen in meine Bilder aufzunehmen, und das gelingt mir nicht – oder aber, ich habe noch nicht die Kraft, das Übernommene passend zu verwerten.«
»Ganz klar,« sagte der Major, »dazu gehört ein intensiveres Studium. Wenn man die Kunst schon hat, kann man alles wagen ... Ich verstehe nur eins nicht: warum macht Ihre Frau Mutter Ihnen Schwierigkeiten? Sie ist doch selbst eine großzügige Natur und ein innerlich freier Mensch.«
»Gewiß ist sie das. Sie ist eine Frau, die ....« Es kam nur eine kurze Pause. Elfriede war bereit, ein hohes Lied auf ihre Mutter zu singen. Aber sie blieb in den Ansätzen stecken. Irgend etwas versagte in ihr. Ein wenig schleppend im Ton ergänzte sie: »Ist eine prächtige Mutter. Jawohl. Nur übertreibt sie in ihrem Mutterempfinden. Die Liebe übertreibt ja gewöhnlich.«
Der Major lächelte, nickte aber zustimmend. »Das ist ein Fehler, der zu ihren Berechtigungen gehört,« entgegnete er und fuhr fragend fort: »Kennen Sie Birkenmüller?«
»Nein.«
»Den Maler Karl August Müller. Vertraute nennen ihn Birkenmüller, weil seine Force in der Wiedergabe von Birkenwäldern liegt. Aber er kann noch mehr. Man lernt bei ihm die Raumverteilung und die Vereinfachung der Umgrenzungslinien. Er hat eine gemischte Klasse, mit der er im Frühling häufig Studienausflüge in die Umgegend macht. Ich taxiere, dagegen würde die Frau Mama nichts haben.« .
»Man weiß es nie –«
»Zudem würde ich mich als Beschützer empfehlen. Meine beiden freien Vormittage in der Woche gehören dem Atelier Birkenmüllers, zuweilen auch noch der Sonntag. Ich habe gebeten, man möchte die Ausflüge auf den Sonntag verlegen, und ich glaube, es wird sich machen lassen. Es wäre doch sehr hübsch, wenn wir wenigstens dann und wann zusammen arbeiten könnten. Ich kann ja viel, viel weniger als Sie – immerhin, eine gegenseitige Beeinflussung ....«
Er brach ab, denn Frau von Göchhusen trat in das Zimmer, und fast zu gleicher Zeit kehrten auch Beate und Maxe zurück: verwundert und erfreut, Herrn von Hartwig vorzufinden, und sehr bedauernd, daß er sich schon empfehlen wolle. Aber der Major erklärte, indem er seine Uhr zog, daß er für eine erste Visitenstunde schon über die Gebühr geblieben sei; indes würde er sich mit gnädigster Erlaubnis bald wieder zeigen – »zwischen vier und sechs« und pünktlicher als heute – und hoffe dann auch, mit seinem verlorenen Rekruten (das galt Maxe) ein wenig plaudern zu dürfen. –
»Er ist der alte geblieben,« sagte Frau von Göchhusen, nachdem der Major sich verabschiedet hatte, »ein Prachtmensch. Nicht wahr, ein Prachtmensch? Er hat so etwas Sonniges – das liegt wohl in seinen Augen. Und dann seine sympathische Stimme. Ich erinnre mich nicht, ob er musikalisch ist; aber wenn man ihn sprechen hört, hat man unwillkürlich das Gefühl, als müsse er einen schönen weichen Bariton haben ....«
Sie hatte sich neben dem Schreibtisch Elfriedes auf einen sogenannten Puff gesetzt und sprach noch weiter von den angenehmen Eigenschaften des Majors, und die Töchter, die sie gleichwie in szenischer Anordnung im Halbkreise umgaben, lauschten mit Aufmerksamkeit und nickten jedesmal, wenn die Mama ein neues Lobwort für den liebenswürdigen Mann gefunden hatte.
Als die drei aber wieder allein waren, hob Maxe den Zeigefinger ihrer rechten Hand und sagte wispernd: »Scht, Kinder, nun Vorsicht! Den einen hätten wir fest. Das Interesse ist da und ist sichtlich stark. Er darf uns nicht wieder entschlüpfen.«
»Das ist Sache Elfriedes,« entgegnete Beates »sie hat ihn übernommen.«
»Also, Friedel, nun zeig', was du kannst.«
Elfriede räumte ihre Skizzen und Studien wieder zusammen. »Das ist rasch gesagt,« entgegnete sie. »Außerdem überlegt gefälligst: das Interesse zeigt sich vorläufig nur bei der Mama, aber nicht bei ihm ...« Sie betrachtete einen Augenblick das Moorbild, das noch auf der Staffelei stand, und fuhr dann rascher fort: »Es käme also darauf an ... ja, so ist es: vorläufig muß er zu öfteren Besuchen veranlaßt werden. Man muß ein Band knüpfen zwischen ihm und uns. Und das läßt sich machen, aber Ihr müßt mich dabei unterstützen. Nämlich: der Major malt im Atelier des Professors Müller und hat mir geraten, da auch noch Unterricht zu nehmen. Müllers Größe liegt in der Raumverteilung, und das ist meine schwache Seite.«
»Ich verstehe,« rief Maxe, »du willst auch bei ihm malen!«
»Ja, aber Ihr kennt ja Muttern. Sie wird erst nachgeben, wenn wir ihr alle drei energisch klarmachen, daß –«
Und Beate fiel ein: »Daß die Kenntnis der Raumverteilung die Grundlage alles malerischen Schaffens ist. Das werden wir tun.«
»Das werden wir mit Eifer verfechten,« ergänzte Maxe; »darauf kannst du dich verlassen. In Sachen, von denen ich nichts verstehe, finde ich immer die schönsten Worte.«
»Gut,« sagte Elfriede. »Aber noch eins ist zu bedenken. Mama könnte mißtrauisch werden, wenn sie gleich erfährt, daß der Major auch bei Müller malt. Wir wollen das also vorläufig unbesprochen lassen. Ich finde schon eine passende Gelegenheit, es ihr zu erzählen ...«
Auch damit waren die Schwestern einverstanden, und es kam zu einer neuen Verschwörung, bei der die Frage der Raumverteilung eine gewichtige Rolle spielte und Elfriede erst einmal erklären mußte, was das eigentlich sei.
Nun war der April gekommen, aber nicht in seiner gewöhnlichen wetterwendischen Garstigkeit, sondern mit mailichen Lüften und einem Himmel, dessen weite Bläue der Glanz der Frühlingssonne mit Umbratönen durchleuchtete. Die beiden Kastanien vor dem Göchhusenschen Hause setzten schon kleine braunlackierte Knospen an, und der Tulpenbaum im Garten sah beinahe so aus, als ob er sich dies Jahr wahrhaftig zum Blühen, entschließen wollte. Aber das konnte auch täuschen: er war immer eilfertig in seinen Versprechungen und hielt sie nachher doch nicht. Ansonst aber hatte Vegesack den Garten bereits ganz sommerlich instand gesetzt: die Buchsbaumrabatten beschnitten, in den Bosketts die trockenen Zweige gekappt und die Wege mit frischem Kies beschüttet, so daß sie sich wie gelbe Bänder durch das junge Grün der Rasenflächen schlängelten.
Im Hause selbst hatte man die alljährliche Frühlingslüftung vorgenommen, die sich von dem sonstigen »Großreinemachen« nur durch einen erhöhten Apparat und durch ein energischeres Zugreifen unterschied. Diese Frühlingslüftung währte immer drei Tage und stand im Zeichen eines allgemeinen Aufruhrs. Dann waren alle Fenster geöffnet, so daß der Wind fröhlichen Durchzug hielt, und sämtliche Möbel veränderten ihre Stellung. Der erste Tag gehörte fast allein dem »Irrgarten der Mutter«, dem großen Salon, der völlig ausgeräumt wurde. Genander klopfte im Hofe die Teppiche und Lina die Polster; Johanna putzte die Fensterscheiben, und Vegesack bohnerte den Fußboden mit Allgewalt. Es ging ein Sturm durch das stille Haus. Auch die behäbige Mama fegte wie eine Windsbraut durch die Gemächer, angetan mit einer weiten Ärmelschürze und mit einer Art Turbantuch um den Kopf, und war nach Ansicht ihrer Töchter unausstehlich, weil deren Hilfsbereitschaft nur wenig Anklang fand und hie und da als gänzlich zweckverfehlend sogar energisch zurückgewiesen wurde. Ein objektiver Beobachter konnte auch nicht bestreiten, daß die Ansicht der Mama in dieser Beziehung zu Recht bestand; es war merkwürdig, wie sehr alle Lebenserfahrung der Mädchen schnöde versagte und beinahe zu einer Verneinung praktischer Arbeit wurde, sobald die Tage des lenzlichen Großreinemachens da waren. Das Problem dieser häuslichen Erschütterung in seiner ganzen Größe vermochte keine von ihnen völlig zu erfassen, und sie retteten sich denn auch am liebsten aus dem Notstand des Augenblicks durch eine Flucht zu Bekannten und Freundinnen.
Diesmal war Dionys Krempel der Erlöser aus der unsicher gewordenen Lebensordnung. Er erschien am ersten Tage der Frühlingslüftung gerade in dem Augenblick, da Vegesack mit einem unerhörten Material von Schrubbern, Besen, Bürsten und Tüchern seinen Einzug in den geleerten »Irrgarten der Mutter« hielt, und erklärte, nun sei es so weit: Punkt elf Uhr Versammlung vor dem Hause des Herrn Kommerzienrats Brökelmann in der Bendlerstraße und dann gemeinsame Automobilfahrt nach dem Schwielow zur Besichtigung der Molkerei in Zochin.
Die Mama hatte von dieser in Aussicht genommenen Tour bereits vernommen und im Prinzip nichts dagegen gehabt, zumal sie begriff, daß es den Kindern Freude machen würde, das liebe alte Zochin einmal wiederzusehen. Als die Spritzfahrt aber nun mit nicht geahnter Plötzlichkeit vor sich gehen sollte, äußerte sie doch mannigfache Bedenken. Warum Automobile? Die Chauffeure können gegen einen Baum fahren oder in einen Graben, ein Reifen kann platzen, das Benzin explodieren, der Steuerhebel versagen. Alle Tage meldeten die Zeitungen gräßliche Dinge von allerlei Unfällen, die zufolge der Übertragung der Pferdekraft auf einen gefährlichen Mechanismus entstanden sind. Krempel erwies sich als Tröster. Es seien keine gemeinen Droschkenautomobile, sondern persönliches Eigentum des Kommerzienrats Brökelmann, das er zur Verfügung stelle: zwei prachtvolle Kraftwagen neuester Konstruktion mit fabelhaft geübten Fahrern, bei denen ein Unfall geradezu ausgeschlossen sei. Außerdem fahre Herr Brökelmann selbst mit, und dessen Leben sei allen seinen Angestellten heilig. »Heilig,« sagte Krempel und erging sich hierauf in einer längeren Schilderung aller Vorzüge des Kommerzienrats, so daß Frau von Göchhusen, um wieder an ihre Arbeit zu kommen, zu der Fahrt nach Zochin endgültig ihren Segen gab.
Die jungen Damen vervollständigten nun in Eile ihre Toiletten unter Berücksichtigung des blauen Himmels und der lenzlichen Witterung, und dann machte man sich mit Krempel nach der nahen Bendlerstraße auf den Weg. Krempel erzählte, daß er durch seinen Schüler, den jungen Berthold Brökelmann, einen Brief an den Kommerzienrat geschickt und daß letzterer sofort und mit größter Liebenswürdigkeit zugesagt habe, die Damen nach Zochin zu geleiten.
»Und zwar persönlich, meine holden Damen, was ich als ein besonderes Zeichen gütigen Geschicks preisen möchte. Denn nun sitzt er an der Angelschnur, und wenn Ihr es richtig anfangt, ist er in vierzehn Tagen in euerm Hause eingeführt und kann in drei Wochen um die Hand eurer Mama anhalten.«
»Immer langsam,« sagte Beate, »erst müssen wir ihn kennenlernen.«
»Das wird ja geschehen, und Ihr sollt euch wundern. Ich freue mich nur, daß ich heute einen stundenfreien Tag habe und euch begleiten kann ...» Da stehen schon die beiden Automobile – und da ist auch der, Kommerzienrat –«
»Und Herr von Emmingen!« rief Maxe einfallend, »der Mensch, dem man immer begegnet. Es ist die Möglichkeit!«
Man war in die Bendlerstraße eingebogen und sah vor einem der ersten Häuser die beiden schönen Automobile des berühmten Milchkönigs und ihn selbst auf dem Trottoir in eifriger Unterhaltung mit dem Legationssekretär von Emmingen. Kaum hatte dieser das Nahen der Damen bemerkt, so ließ er Herrn Brökelmann stehen und eilte ihnen mit der ihm eigenen kreisenden Schwenkung seines Hutes entgegen.
»Guten Morgen, meine Gnädigsten,« sagte er. »Habe ich Glück? Ich behaupte: mehr als der selige Beherrscher von Samos – ich fürchte mich eigentlich vor der Götter Neide. Ich wollte soeben nach meinem Bureau, um einem wichtigen Staatsakt die letzte Feile zu geben, und da sehe ich unsern lieben Kommerzienrat, und der ladet mich auch gleich ein, bei ihm in Zochin zu frühstücken. Sollte ich nein sagen, da ich gehört hatte, daß die Damen den Ausgangspunkt jener Materie kennenlernen wollen, die Sie voller Entwicklung beim Morgenkaffee genießen? Solch ›Nein‹ wäre mir schwer geworden. Aber die Entscheidung liegt dennoch bei Ihnen.«
Er hatte sich, während er seine schönen Wendungen drechselte, wie er es immer tat, fast allein an Maxe gewendet, die ihn zunächst mit Krempel bekannt machte.
»Ah – Herr Doktor Krempel,« rief Emmingen; »ist mir eine große Freude, daß ich Sie auch einmal kennen lerne! Gehört habe ich schon von Ihnen, und was man mir erzählt hat, entspricht in seinem Gesamtgefüge durchaus dem Bild der Persönlichkeit. Meine Damen, wir pflegen uns öfters zu begegnen –«
»Eigentlich immer,« warf Elfriede ein.
Herr von Emmingen stutzte. »Wieso?«
»Es gibt keinen Menschen, dem man so häufig begegnet wie Ihnen. Woran liegt das?«
Emmingen zuckte und ruckte mit Schultern und Armen und lachte sein drolliges Verlegenheitsmeckern. »Ja, du lieber Gott, woran? Innerlich angesehen, könnte man sagen, vielleicht an sympathetischen Strömungen, die sich nicht kontrollieren lassen. Äußerlich angesehen, an der Nähe unsrer Wohnungen und an deren topographischem Mittelpunkt: meiner Gesandtschaft. Aber meinetwegen, nennen Sie mich einen Begegnungsmenschen und mischen Sie ruhig eine Dosis Ironie in diese Bezeichnung: ich bin doch sehr glücklich darüber. Und nun kann ich auch meinen angefangenen Satz beendigen. Ich wollte sagen: wir pflegen uns öfters zu begegnen, aber so vergnügt darüber wie grade heute bin ich selten gewesen. Haben Sie nichts dagegen, wenn ich Sie nach Zochin begleite?«
»Aber Gott bewahre,« erwiderte Maxe, »es kommt nur darauf an, ob Ihnen der wichtige Staatsakt, den Sie unter der Feile haben, Zeit dazu läßt.«
»Immer,« erwiderte Herr von Emmingen mit Betonung. »Man soll diplomatische Angelegenheiten nicht über das Knie brechen. Bei diesem unerhört schönen Wetter kommen mir vielleicht noch bessere Ideen, als ich sie bereits fixiert habe. Und ich bitte Sie: die Aussicht auf die Brökelmannsche Milchwirtschaft. Kann da die sinnliche Vorstellung nicht zu schöner und ruhiger Gedankenarbeit werden?«
Maxe lachte herzlich über diesen komischen Diplomaten, bei dem sich alles gegenständliche Denken in seine Selbstbespöttelung aufzulösen schien, und folgte dann den Schwestern, die dem Kommerzienrat bereits durch Krempel vorgestellt worden waren.
»Fräulein Maxe,« sagte Brökelmann, ihr mit einer Verbeugung die Hand reichend, »die Jüngste – ich weiß schon. Ich bin orientiert. Der Brief Doktor Krempels war eine genaue Ausarbeitung und ein dreifaches curriculum vitae. Also, meine Damen, nun geht es nach Zochin. Das ist Ihr Zochin. Sie werden manches verändert finden: der ganze Wirtschaftshof ist erneuert worden und steht unter dem Zeichen meiner brüllenden Gemeinde. Aber von dem reizenden Herrenhause habe ich nicht einen Stein rücken lassen, und im Parke befindet sich noch immer ein geheimnisvolles Denkmal, das die Inschrift ›Montez‹ trägt. Wer liegt da begraben?«
»Ein Hund,« antwortete Beate lächelnd. »Ein großer Bernhardiner, ein prachtvoller Kerl – ich entsinne mich seiner noch gut. Ein Liebling Papas.«
Der Kommerzienrat wiegte den Kopf hin und her. »Man soll wirklich nie seiner Phantasie die Zügel locker lassen,« sagte er. »Ich habe an alles eher gedacht als an einen Bernhardiner. Zuerst natürlich an die berühmte Lola und habe lange darüber gegrübelt, welche Beziehungen die schöne Tänzerin mit diesem Fleck märkischer Erde verbinden könnten. Auch der Name Montezuma fiel mir ein, obwohl das Aztekische eigentlich noch ferner lag – und dann löste ich dies ›Montez‹ in seine Einzelteile auf und versuchte aus den Anfangsbuchstaben einen weisheitsvollen Sinnspruch zu konstruieren – – aber auf den Hund wäre ich sicher niemals gekommen ... Wie wollen wir uns nun verteilen, meine Damen? Ich möchte nach bibliographischem Rezept das Chronologische vorschlagen, so daß also die Fräulein Beate und Elfriede mit mir im ersten Wagen Platz nehmen würden, während Fräulein Maxe mit den beiden jüngeren Rittern sozusagen das Gefolge bildet. Aber ich habe auch nichts gegen eine anderweitige Einteilung ...«
Natürlich erklärte man sich allerseits mit dem Vorschlage einverstanden, und die Fahrt ging los. Man wollte bis zum Wannsee steuern und dann über die Rute in gerader Linie nach dem blauen Ufer des Schwielow.
Beate und Elfriede saßen im Fond, Brökelmann ihnen gegenüber. Die Mädchen fühlten sich wohl, denn es lehnte sich bequem in den weichen Polstern, und der Wagen sauste pfeilgeschwind durch die Straßen der freieren Welt entgegen. Beide hatten sich von dem Kommerzienrat eine irrige Vorstellung gemacht: vielleicht lag das an der kommerziellen Betonung im Titel, die sie auf zahlenmäßige Nüchternheit und einen gewissen trockenen Bureaukratismus schließen ließ. Aber der Mann war wirklich so übel nicht. Elfriede entdeckte in seinem Gesicht höchst malerische Partien und auch eine eigentümliche Unausgeglichenheit zwischen der sanften Herzenswärme der Augen und der sehr energischen Formung des Kiefers, die an den amerikanischen Rassentypus erinnerte. Es war ein ganz interessanter Kopf, mit einem Durcheinandergleiten verschiedener Töne und auch in seinem architektonischen Mißverhältnis von starken Akzenten. Selbst Beate, die gern absprechend war und sich an fremde Erscheinungen immer erst gewöhnen mußte, gefiel der Mann gut, und da ihr die Aufgabe übertragen worden war, ihn im Interesse der Mutter durch Liebenswürdigkeit zu fesseln, so gab sie sich Mühe, sich von ihrer angenehmsten Seite zu zeigen, was ihr denn auch gelang. Zunächst heuchelte sie eine ungemeine Sympathie für die Milch als Volksnahrungsmittel, indem sie gleichzeitig den Branntwein verdammte, und nun wandte sich das Gespräch von selbst den Meiereien des Milchfürsten zu.
»Ich habe klein angefangen,« erzählte Brökelmann, »eigentlich nur versuchsweise, weil ich meine pommersche Klitsche verkauft hatte und mir wieder etwas zu tun schaffen wollte; aber ich kam in einer Zeit nach Berlin, wo das Panschen an der Tagesordnung war und die Milchtechnik noch in den Kinderschuhen lag. Das ist nämlich der Witz des Unternehmens: alle Milch, die ich durch Lieferanten beziehe, wird pasteurisiert, ehe sie in den Handel gelangt. Wenn Sie einmal mein Berliner Geschäft am Kreuzberg besuchen, kann ich Ihnen die Sterilisierungsapparate zeigen, und wenn Sie wissen, daß unter den Kühen die Tuberkulose außerordentlich verbreitet ist, werden Sie sich auch denken können, wie wichtig für die Volksgesundheit dieses Verfahren ist. Natürlich hatte ich Glück, daß grade zur Zeit, da ich anfing, Pasteur mit seiner großen Erfindung an die Öffentlichkeit trat: mit drei Verkaufswagen ging die Geschichte los, und heute habe ich an dreihundert, die täglich gegen hundertfünfzigtausend Liter Milch den Haushaltungen zuführen.«
»Fabelhaft,« sagte Beate. »Bei dem Gedanken an diese milchige Fülle wird mir ganz weich zumute.«
»Ich spüre förmlich den Geschmack auf der Zunge,« setzte Elfriede hinzu, »und bin überzeugt, daß mein ganzes Wesen sich linder und gütiger entwickeln würde, wenn ich beständig in Ihrem Geschäft zu schalten und walten hätte, Herr Kommerzienrat.«
Brökelmann lachte. »Es mag etwas Wahres daran sein,« versetzte er, »daß die gewohnheitsmäßige Tagesbeschäftigung auch den Charakter beeinflußt. Meine Leute sind zum größten Teile Antialkoholiker.«
»Auch Sie selbst?»«
»Noch nicht. Dafür habe ich mit der Materie auch nur indirekt zu tun. Aber in der ersten Zeit bekümmerte ich mich um alle Einzelheiten – und damals habe ich mir das Milchtrinken abgewöhnt. Es zeigte sich also das Gegenteil der Erfahrung, die man bei robusteren Naturen konstatieren konnte. Namentlich der Aufenthalt in den Räumen, in denen die Abfälle in Milchsäure und Caseinpräparate verwandelt werden, fiel mir anfänglich so auf die Nerven, daß ich das Übelbefinden erst überwinden mußte. Der eigentümlich süßliche Geruch –«
Er unterbrach sich und zeigte aus dem Fenster. »Da drüben hat Kleist seinen Tod gefunden,« sagte er. »Wissen Sie, daß mir der alte Grabstein besser gefallen hat als diese moderne Nüchternheit? Der Stein trug eine fast völlig verwischte Inschrift, die ich bei Gelegenheit einmal mühselig entziffert habe. Ich kann sie auswendig; sie hieß: ›Er lebte, sang und litt In trüber, schwerer Zeit, Er suchte hier den Tod Und fand Unsterblichkeit.‹ In der Unbeholfenheit des Ausdrucks lag etwas Rührendes – und in der Abgeschiedenheit der Gräber vom Getümmel der Großstadt, in der Einsamkeit des kleinen Akazienhains eine wundervolle Poesie. Nun ist alles anders geworden; wenn die sogenannte Pietät sich unsrer Dichtergräber annimmt, flüchtet die Poesie gewöhnlich eiligst ...«