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In friedvolleren Tagen stand weit draußen vor den Toren ein Komplex von einander völlig gleichen eintönigen Baulichkeiten: da herrschte die Landwehrbezirksinspektion.
Ein offenes Automobil fuhr an einem schönen Märzmorgen mit sichtlichem Zögern die Front dieser großen roten Häuser entlang. Der Chauffeur schien nicht recht zu wissen, wo er halten sollte; er äugte umher, um die Nummern über den Portalen erkennen zu können, brummte etwas Unverständliches vor sich hin und wandte sich endlich fragend nach rückwärts:
»Wo denn nu? Gebäude eins, zwei oder drei?«
Die Damen, die sich im Fond des Wagens gegenübersaßen, schienen sich darüber aber selbst nicht im klaren zu sein. Es war eine Mutter mit ihren drei Töchtern: Frau von Göchhusen mit Fräulein Beate, der ältesten, mit Fräulein Elfriede (gewöhnlich Friede oder Friedelchen genannt) und mit Fräulein Maxe Erdmuthe Tugendreich, der jüngsten im Trio. Im alltäglichen Dasein rief man sie Maxe; wenn die Mutter böse war, aber setzte sie – des herberen Ausdrucks wegen – den Namen Erdmuthe hinzu, und wenn, Elfriede sie ärgern wollte, nannte sie die Schwester immer nur Tugendreich.
»Maxe, welches Gebäude?« fragte Frau von Göchhusen.
»Ja, wenn ich das ahnte,« antwortete Maxe und zog die Schultern hoch.
»Aber, Kleining,« sagte Beate, die neben der Mutter saß und ihr außerordentlich ähnlich sah, »das steht doch wahrscheinlich in deiner Einberufung.«
»J ja – das ist möglich,« rief Maxe. Und während, das Automobil sich kaum noch von der Stelle bewegte, dafür aber um so lebhafter rasselte, durchkramte sie hastig ihr Handtäschchen, packte ihrer Mutter ein kleines, zackig und farbig besäumtes Schnupftuch, ein winziges Portemonnaie, ein Notizbüchelchen und drei Blätter Puderpapier auf den Schoß und förderte hierauf einen häßlichen graugelben Zettel zutage, auf dem allerlei gedruckt und verschiedenes geschrieben stand.
»Gebäude drei,« sagte sie energisch. »Gebäude drei!« rief sie dem Chauffeur zu, der sofort seine bremsende Tätigkeit aufgab. »Das hab' ich mir gleich gedacht.«
»Bestreite ich,« entgegnete Elfriede (es war die mittelste, die Blonde). »Ich behaupte sogar, daß du dir gar nichts gedacht hast. Oder du hast wieder gedichtet, was ich nicht denken nenne.«
»Ich dichte nie in einem Automobil, Friedelchen.«
»Tugendreich, du wirst noch deinen Herrgott erkennen lernen. Paß mal auf, wie sie dich im Dienste herannehmen werden. Da geht die Poesie heidi. Wenn du zur Artillerie kommst, mußt du schon morgens um viere die Haubitzen putzen.«
»Ich werde Franzer,« sagte Maxe.
»Weiß schon, warum,« warf Beate ein.
»Na, warum denn?«
»Das werde ich dir gelegentlich ins Ohr flüstern, wenn Mama nicht dabei ist. Aber du kommst gar nicht zu den Franzern. Du hast nicht das Gardemaß –«
»Und kein Grenadiergefüge,« sagte Elfriede.
»Nicht die Spur, du bist höchstens leichte Kavallerie. Vielleicht bringen wir dich bei den Husaren unter. Aber Reserveoffizier wirst du doch nicht. Du kannst ja nicht mal ein Monokel ins Auge klemmen.
»Kinder, nun hört mit euern Albernheiten auf!« rief die Mutter. »Maxe, laß sie reden. Sie ärgern sich bloß, daß die Militärverwaltung dich bevorzugt hat. Schade – Beate wäre ein stattlicher Kürassier geworden.«
»Bitte, Mamachen – seit ich keine Kartoffeln mehr esse, magre ich sichtlich ab. Vier Pfund Verlust in vierzehn Tagen. Ich werde noch dürr wie eine Hopfenstange.«
»Davor sorge ich mich nicht. Aussteigen, Kinder! Und nun bitte ich mir Ernst aus. Der Dienst beginnt.«
»Richtig,« sagte Beate. »Das hat uns Krempel besonders eingeschärft: von dem Augenblicke ab, da wir den Boden des Militärfiskus betreten, stehn wir auch unter militärischer Disziplin. Sonst fliegen wir ins Loch.«
»Hätten wir Krempel nur mitgenommen,« seufzte Maxe. »Ich graule mich. Wenn sie mich nun für tauglich befinden und gleich dabehalten?«
Frau von Göchhusen lachte. Man war ausgestiegen. Die Mutter bezahlte den Kutscher; die drei Töchter, bestaunten das große rote Haus und den davor auf und ab marschierenden Wachtposten.
»Du mußt das Gewehr schultern,« sagte Elfriede.
Maxe probierte dies mit ihrem Regenschirm. Aber die Mutter verbat sich die Possen.
»Würde, Kinder! Und setzt die Füße auswärts. Beate, du nimmst den rechten Flügel. Ob uns die Schildwache überhaupt durchläßt?«
Sie tat es. Die vier Damen traten zunächst auf einen großen Hof und sahen sich von neuen Baulichkeiten umgeben. In einem Winkel schaufelten ein paar Soldaten den letzten Schnee zusammen. In der Mitte des Hofes stand ein dicker Oberst und ließ einen schwarzen Pudel über seinen Säbel springen.
Frau von Göchhusen war unschlüssig. »Wo denn nun hin?« fragte sie.
»Erkundigen wir uns,« riet Elfriede. »Bei dem dicken, Oberst da drüben. Dicke Menschen sind gewöhnlich gefällig.«
In diesem Augenblick schritt ein Sergeant an ihnen vorüber, und da faßte Frau von Göchhusen einen raschen Entschluß.
»Entschuldigen Sie,« sagte sie, riß Maxe den graugelben Zettel aus der Hand und zeigte ihn dem Sergeanten, » – wo müssen wir damit hin?«
Der Soldat warf einen Blick auf das Papier und entgegnete sofort: »Da müssen Sie hier herauf« – er deutete auf das nächste Portal –, »zwei Treppen und dann links. Da ist die Kontrolle.«
Er grüßte und ging weiter.
Maxe nickte. »Das gefällt mir. Kurz und bündig. Das Verwunderliche imponiert dem Mann nicht weiter. Er gibt einfachen Bescheid auf die einfache Frage. Ich, fühle, daß mich bereits ein starker militärischer Geist durchdringt.«
»Quack,« sagte die Mutter. »Also, gehen wir. Zwei Treppen und dann links.«
Sie betraten das große Haus und hielten sich an die Vorschrift. Ein riesenlanger Korridor durchquerte das zweite Stockwerk. Man wandte sich links, an zahlreichen geschlossenen Türen vorüber, die durch Papptafeln gekennzeichnet waren, und gelangte in einen Vorraum, in dem Bänke an den Wänden standen. Hier wartete eine Anzahl junger Leute. Neugierige Augen starrten die Damen an.
Die vier wurden verlegen. Sie paßten nicht hierher, das war ihnen klar. Dieses Haus gehörte dem stärkeren Geschlecht. Sie empfanden in ihren eleganten Frühjahrstoiletten zwischen den kahlen, abgeschabten Mauern auch ein Gefühl unerträglichen Widerspruchs.
»Es riecht hier so merkwürdig,« wisperte Elfriede und rümpfte das Näschen.
»So maskulin,« setzte Beate hinzu. »Auch nach Pferdestall.«
»Nein, nach Centauren,« sagte Maxe. »Ich wünschte doch, wir hätten Krempel mitgebracht.«
Frau von Göchhusen zuckte mit der rechten Achsel, »Haberei. Wir werden ohne deinen Krempel auch fertig werden.«
»Mein Krempel ist gut, Mama –«
»Na, ja. Unsinn, daß wir gleich zu viert angezogen kommen –«
»Das war Beates Idee. Sie war für eine ›Phalanx‹.«
»Natürlich,« sagte Beate. »Sollten wir dich allein in die Löwenhöhle lassen? Unsre zarte Poetin in das Heim rauher Krieger? Unsre –«
Sie brach ab. Eine Tür hatte sich geöffnet, und ein schnurrbärtiger Unteroffizier trat auf den Korridor. Er hielt eine Liste in der Hand und las mit befehlshaberischer Stimme vor:
»Wilhelm Kawalke –«
»Hier!« rief eine Stimme. Von einer der Bänke erhob sich ein junger Mann und trat vor..
»Ernst Feuereisen,« las der Unteroffizier weiter.
»Hier!«
»August Dingeldei –«
»Zur Untersuchung!«
Frau von Göchhusen hatte wieder Mut gefaßt. Sie trat, noch immer den graugelben Zettel in der Hand, tapfer an den Unteroffizier heran. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte sie höflich, »kann ich nicht einen der Herren Offiziere sprechen? Es handelt sich nämlich um mein Kind.«
Der Unteroffizier nahm den Zettel und überflog ihn. »Ist der junge Mann hier?« fragte er.
»Ja, aber es ist –«
Der Unteroffizier hatte es eilig. Er ließ Frau von Göchhusen nicht erst aussprechen, drückte ihr den Zettel wieder in die Hand und entgegnete: »Da muß er warten, bis er aufgerufen wird ...«
Die drei Mädchen hatten sich inzwischen verschüchtert an das große Fenster am Ende des Flurs zurückgezogen.
»Es ist gräßlich,« sagte Maxe. »Hier wird man rudelweise untersucht.«
Elfriede schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die ganze Geschichte pläsierlicher gedacht,« meinte sie. »Vielleicht wäre es doch praktischer gewesen, Mutter hätte einfach, geschrieben, wie sich die Sache verhält.«
»Selbstverständlich,« fügte Beate hinzu. »Aber Maxe betrachtete die Angelegenheit als eine Sensation, die man ausgenießen müßte. Der Genuß ist bloß ziemlich fraglich.«
Nun kehrte Frau von Göchhusen zu ihren Kindern zurück. »Der junge Mann soll warten, bis er aufgerufen wird,« sagte sie. »Also warten wir, es hilft nichts.«
Man wartete, blieb aber in der Nähe des Fensters. Man traute sich nicht mehr auf den Vorraum mit den Bänken, den immer neue Ankömmlinge füllten. Von Zeit zu Zeit öffnete sich eine der Türen rechts, und die Kommandostimme des Unteroffiziers wurde vernehmbar. »Friedrich Puttfarken ... Karl Schulze ... Jakob Pieper ...« Dazwischen erscholl ein dreifaches »Hier«, und die Tür schloß sich wieder.
Dann und wann lockte die Neugier einen der jungen Männer näher. Die vier Damen erregten immerhin Aufsehen. Alle vier waren hübsch. Die Mutter konnte kaum vierzig sein; ihr frisches Gesicht mit dem lebhaften Spiel der dunklen Augen und dem unbekümmerten Ausdruck hatten Beate und Elfriede geerbt. Maxe, der Schwarzkopf, hatte etwas Sinnigeres im Blick. Sie war auch schlank und ephebenhaft, während die Älteste der Fülle der Mutter zuneigte und Elfriede, als »Mittelstück« und immer dem juste milieu ergeben, das rechte Maß hielt. Die Familienähnlichkeit der vier war groß;, nur die Hautfarbe unterschied sie. Beate war kastanienbraun wie die Mama; Maxe schwarz. Elfriede bezeichnete sich selbst als eine unechte Blondine. Ihr Haar hatte einen rötlichen Schimmer, aber die Augenbrauen wölbten sich dunkel unter der Stirn, und auch der schöne flaumige Teint war der einer Brünette.
Das Warten wurde langweilig. Man schaute auf den Hof hinab. Da gab es nicht viel zu sehen. Dann horchte man auf die Namen, die der Unteroffizier von zehn zu zehn Minuten ausrief. »Franz Thiessen ... Arnold Bönhase ... Gregor Kopetzki ...« Immer drei Namen hintereinander. Die Mädchen wiederholten sie und fanden einige sehr drollig. Sie munterten sich gegenseitig auf, erfanden Witzchen und kicherten leise. Aber das lange Stehen ermüdete auch ihren Humor. Ihre hübschen Gesichter erschlafften. Plötzlich begann Elfriede zu gähnen. »Wenn es noch länger dauert, setz' ich mich auf die Fensterbank,« erklärte sie ... »Mir schlafen die Füße ein,« sagte Beate.
Die Mutter marschierte währenddessen mit kleinen Schritten auf und ab und unterhielt sich damit, die Inschriften auf den Papptafeln der verschiedenen Türen zu lesen. Es waren meist die Namen von Ärzten, Offizieren und Feldwebeln: aber einer darunter, der Frau von Göchhusen interessierte. Sie sprach davon zu ihren Kindern.
»Major von Hartwig,« sagte sie. »Ich kannte einen Hartwig, er hieß Woldemar mit Vornamen – man durfte aber nicht Waldemar sagen, da wurde er ärgerlich, denn er hielt auf das ›o‹. Kinder, der wollte mich sogar einmal heiraten, und ich hätte ihn auch ganz gerne genommen, aber erstens: er war nicht viel älter als ich, und zweitens hatte er kein Geld und ich auch nicht.«
»Vielleicht ist das dein Woldemar mit ›o‹,« entgegnete Elfriede.
»Er stand damals bei den Franzern und war ein sehr hübscher Mensch.«
»Die Franzer sind alle hübsch,« erklärte Maxe. »Wollen wir uns nicht bei Herrn von Hartwig anmelden lassen, Mama? Er wird uns aus der Bredouille helfen – es fängt nachgerade an, trist zu werden. Und wenn es dein Woldemar sein sollte ... es ist ja möglich, daß er noch nicht verheiratet ist – und er kann sich immer noch eine gewisse Stattlichkeit in sein Majorsalter gerettet haben –«
»Dann verheiraten wir die Mama mit Woldemar,« beschloß Beate.
»Kindsköpfe,« sagte Frau von Göchhusen lachend. »Damals war er Leutnant – jetzt kann er schon einen Sohn haben, der Leutnant ist ...« Aber die Erinnerung glitt doch so lebhaft durch ihre Seele, daß der Ausdruck ihres Gesichts sinnender wurde ... »Er war baumlang,« fuhr sie fort, »und sehr brünett. Dabei grüne Augen – ganz hellgrün, lichtgrün, wassergrün. Das stand ihm ausgezeichnet. Er hätte eigentlich dunkle Augen haben müssen, aber die Anomalie machte ihn interessant.«
»Liebtet ihr euch sehr?« fragte Maxe.
»Schäfchen, so etwas fragt man nicht ... Ich weiß noch, wie er um mich anhielt. Mein Vater sagte rundweg ›nein‹. Ich habe drei Tage geheult und wollte Gift nehmen.«
»Und dann?«
»Ich nahm keins und habe die Tränen getrocknet ...«
Nun hörte man wieder die Stimme des Unteroffiziers, den dröhnenden Baß, der in dem langen Korridor ein Echo erwecken zu wollen schien: »Gottlieb Hiersekorn!«
»Hier!« ... Die Leute auf den Bänken erhoben sich.
»Friedrich Wendland!«
»Hier!«
»Immer kommen Sie näher!« rief der Unteroffizier, »ich beiße Sie nicht ...« Dann neigte er den Kopf von neuem über die Liste und verlas noch einen Namen, der vielleicht undeutlich geschrieben war oder seiner Zunge ungeläufig schien: »Max von Göch – Göchhausen ... nein, Göchhusen.«
Niemand antwortete.
»Ist Max von Göchhusen nicht da?« fragte der Unteroffizier. »Mir ist doch so, als ob ich vorhin –«
»Hier,« unterbrach ihn eine zarte und piepsige Stimme.
Der Kriegsmann schaute erstaunt den Korridor hinab. Alle jungen Leute schauten den vier Damen entgegen, die sich raschen Schrittes, näherten, diesmal paarweise: die Mama mit Maxe voran, Beate und Elfriede hinterher. Man verstand die Situation noch nicht recht unter den Gestellungspflichtigen. Auch der Unteroffizier war sich unklar, doch schmunzelte er: eine Ahnung des Begreifens dämmerte immerhin in ihm auf.
Nun stand Frau von Göchhusen mit Maxe dicht vor ihm und holte wieder ihren Zettel hervor.
»Der Vatersname ist richtig,« sagte sie, »aber der Vorname ist falsch. Nicht Max, sondern Maxe – mit einem ›e‹ am Schlusse ...« Sie lächelte ... »Mein Sohn ist nämlich eine Tochter – diese hier.«
Sie deutete auf ihre Jüngste, die rot geworden war, aber den Sinn für die Komik der Situation noch nicht verloren hatte.
»Ich glaube nicht, daß ich dienstpflichtig bin,« meinte sie mit einer niedlichen Wölbung der Lippen.
Nun wurde leises und lautes Lachen im Kreise der jungen Männer vernehmbar, auch eine kecke Bemerkung. Aber das litt der Unteroffizier nicht. »Ich bitte mir Ruhe aus,« sagte er ernst. Dann machte er vor Frau von Göchhusen eine kurze Verbeugung. »Also ein Irrtum, gnädige Frau. So etwas passiert. Im vorigen Jahre sollte eine siebzigjährige Witwe eingestellt werden. Es lag ein Schreibversehen vor. Hier wohl auch.«
»Jedenfalls. Der Name Maxe ist wenig gebräuchlich. Und statt Erdmuthe steht Edmund auf dem Zettel.«
Der Unteroffizier nickte. »Richtig – Edmund. Und Tugendreich steht auch noch da. Warum denn Tugendreich?«
»So heißt sie.«
»Ich denke Göchhusen.«
»Tugendreich ist ein Vorname – so ein alter – aus früheren Jahrhunderten.« Der Unteroffizier schwieg einen Augenblick, als wollte er diese neue Seltsamkeit erst geistig verarbeiten. »Na,« sagte er sodann, »jedenfalls müssen wir die Sache protokollieren. Wollen Sie so gut sein, mich zu dem Herrn Major begleiten.«
Er ging voran bis an die Tür, die eine Papptafel mit dem Aufdruck »Major von Hartwig« trug.
»Gedulden Sie sich einen Augenblick,« wandte er sich an Frau von Göchhusen zurück, »ich werde dem Herrn Major die Sache vortragen. Vielleicht sind Sie gar nicht nötig. Haben Sie den Geburtsschein Ihres Fräulein Tochter zur Hand?«
»Alles da,« rief Maxe, öffnete ihr Handtäschchen und gab dem Unteroffizier das Gewünschte. Er verschwand damit hinter der Tür.
»Nun bin ich neugierig, ob es, wirklich Woldemar ist,« sagte Elfriede.
Die Mutter zog die Stirne kraus. »Laß das, Elfriede. Einmal kann man sich so ein Witzchen erlauben, aber nicht öfter. Es schickt sich nicht. Hoffentlich läßt er uns nicht zu lange warten.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich schon wieder die Tür öffnete. Ein langer Offizier stand vor den Damen, über das ganze braune Gesicht lachend, die Hände ein wenig erhoben: wie zu herzlicher Begrüßung.
»Na, das muß ich sagen,« begann er, »so sieht man sich wieder! Gnädigste Frau, kennen Sie mich denn noch?«
»Aber natürlich, Herr von Hartwig. Als ich vorhin Ihren Namen an der Türe las, überlegte ich gleich: ist er's oder ist er's nicht? Und nun sehe ich, daß er's ist – und freue mich von Herzen darüber.«
Er zog ihre Hand an die Lippen. »Ich nicht minder ...« Sein Blick glitt rasch über den Braun-, den Blond- und den Schwarzkopf ... »Die Fräulein Töchter? – Und welches ist unser neuer Rekrut?«
»Maxe, tritt vor.«
Maxe tat es mit militärischem Anstand. Sie schlug sogar die Absätze aneinander.
Der Major freute sich. »Ach, wenn wir doch lauter solche Rekruten hätten,« sagte er. »Ich bin sonst eigentlich gegen die Frauenemanzipation, aber ... darf ich um Vorstellung bitten, gnädige Frau?«
»Nicht nötig – die Kinder wissen schon ... Lieber Herr von Hartwig, ich möchte nicht lange stören – sehe auch, daß der Unteroffizier wartet –«
»Er kann gehen. Gehen Sie, Westermann, ich bringe die Sache in Ordnung. Ja, Ordnung muß sein, gnädige Frau, und deshalb muß ich Sie schon bitten, einen Augenblick näherzutreten. Verhör, Protokoll und Unterschrift – anders läßt sich's nicht machen. Meine verehrten Damen, erschrecken Sie nicht über die Kleinheit und Ausstattung meines Zimmers; der Fiskus gibt's uns nicht besser. Herrgott, wenn ich nur vier Stühle habe!...«
Sie fanden sich gerade noch, aber von zweien mußten Stapel blau broschierter Aktenstücke auf die Erde gelegt werden. Für den Major selbst war kein Sitz mehr da, und nun stritten die Mädchen, wer von ihnen stehen bleiben wollte.
»Der Rekrut,« entschied die Mama. »Maxe, stell' dich an die Wand.«
»Kein Gedanke,« protestierte Herr von Hartwig. »Machen Sie mich nicht böse, gnädiges Fräulein. Oder nein: vorläufig haben Sie noch zu gehorchen. Noch sind Sie nicht in den Listen gestrichen. Aber ich will Sie als Freiwilligen behandeln. Nehmen Sie Platz, Freiwilliger.«
Maxe setzte sich. Dieser Major gefiel ihr. Allen drei Mädchen gefiel er. Majore neigen vielfach zur Korpulenz. Es ist das Übergangsstadium zum Kommandeur, bei dem der Ärger die Fettanschoppung wieder vertreibt. Doch, dieser war schlank, und Elfriede, die Malerin war, fand es hübsch, wie von der Taille aufwärts der Oberkörper des Mannes frei und kräftig zu starken Schultern emporwuchs. Auch in bezug auf die Augen hatte die Mama recht: sie wirkten pikant. Sie standen mit ihrem hellen Grünlicht wie zwei offene Fragen in dem Dunkel seines Gesichts.
Herr von Hartwig war hinter seinen breiten, mit Papieren bedeckten Schreibtisch getreten. »Also nun zuerst das Geschäftliche,« sagte er. »Der Geburtsschein erklärt alles ...« Er las absatzweise vor: »›Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Königliche Legationsrat a. D. Franz Friedrich Erich von Göchhusen – wohnhaft daundda, evangelischer Religion – und zeigte an, daß von der Magda von Göchhusen, geborenen Tarrach ...‹ der Name weckt alte Erinnerungen in mir an Ihr Vaterhaus, gnädige Frau ... ›wohnhaft bei ihm, am dritten März achtzehnhundertundsechsundachtzig, vormittags zwölfeinhalb Uhr, ein Kind weiblichen Geschlechtes geboren worden sei, welches die Vornamen Maxe Erdmuthe Tugendreich erhalten habe. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben ...‹ Stimmt. Und da ich dies Kind weiblichen Geschlechts in persona vor mir habe, kann ich nach bestem Gewissen beeidigen, daß es, für den königlichen Dienst nicht zu brauchen ist – leider ...« Er schob mit einem Fußtritt ein hohes zusammengeschnürtes Aktenpaket neben sich, ließ sich trotz des Protestes der aufspringenden Damen darauf nieder, warf ein paar Zeilen auf einen Foliobogen und bat Frau von Göchhusen dann um ihre Unterschrift.
»Abgemacht,« sagte er. »So, meine verehrte gnädige Frau – aber so rasch lasse ich Sie nicht wieder fort. Herrgott, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Und nun hab' ich Sie gleich vierfach vor mir ...« Keine Söhne, gnädige Frau?«
»Nein. Und Sie, Herr von Hartwig?«
»Auch nicht. Dieweil ich noch immer nicht die Rechte gefunden habe. Nun habe ich's aufgegeben. Ich glaube, ich habe den Zeitpunkt verpaßt.«
»Das sagen alle, denen das Junggesellenleben bequemer dünkt.«
»Ach Gott, gnädige Frau, das Junggesellenleben ...? Es klingt so nach unbeschränkter Freiheit und ist eigentlich das kläglichste Gebundensein. Bursche und Waschfrau sind die rollenden Punkte. Die Abhängigkeit wird zum Gesetz. Man verliert sein Ich und wird doch zum Egoisten. Nein, es ist nichts.«
»Warum sind Sie nicht bei den Franzern geblieben?« fragte Frau von Göchhusen.
»Ich hatte mir den Fuß gebrochen. Eine komplizierte Geschichte mit Sehnenzerreißung und derlei. Kurzum: auch nach der Heilung blieb noch eine Schwäche zurück – ich konnte nicht mehr marschieren, und an das vorschriftsmäßige Beinewerfen beim Parademarsch war gar nicht zu denken. Da hieß es denn: entweder zur Kavallerie oder Abschiednehmen. Für die Reiterei fehlte es mir am Nötigsten, und zum Abschiednehmen hatte ich keine Lust. Schließlich wurde meine gute Konduite zum Vermittler: man steckte mich unter die Bezirksoffiziere – und so sitze ich denn hier draußen in Schöneberg, was ja auch eine ganz hübsche Gegend ist. Und Sie wohnen noch immer in der Regentenstraße?«
»Jawohl. Aber woher wissen Sie –«
»Ich weiß alles. Nein, nicht alles – natürlich nicht. Aber doch viel ... Ja – immerhin ...« Seine hellen Augen wurden etwas unruhig, und ihr klarer Ausdruck verwischte sich – »Nämlich – ich hatte zu meiner Rekonvaleszenz ein Jahr Urlaub und verlebte ihn in Italien – teils in Rom, teils an den Seen –«
»Ah ...« Ein warmer Ton glitt über die Wangen der Frau Magda ... »Und da sind Sie mit meinem – mit Herrn von Göchhusen zusammengetroffen?«
»Jawohl, gnädige Frau. Es war zuvörderst ein Zufall. Aber der Zufall festete sich und gewann Halt. Was soll ich leugnen, daß ich ihm befreundet wurde! Er war immer ein guter Freund.«
»Gewiß, das war er. Das haben mir andere auch gesagt. Aber –«
Sie brach ab und neigte ein wenig den Kopf, während ein leises Zucken durch ihre Schultern ging.
Der Major verstand das stumme Spiel und suchte nach einem anderen Thema der Unterhaltung. Er war sichtlich verlegen geworden; unter dem kurz gestutzten schwarzen Schnurrbart vibrierte die Oberlippe. Dummheit, daß er von Göchhusen angefangen hatte! Wie war er nur darauf gekommen? ... Freilich, sie selbst hatte zuerst den Namen genannt – und ohne Befangenheit ... Dennoch: es war unangenehm ... Er wandte sich lächelnd an die Mädchen.
»Die jungen Damen wohnen natürlich bei der Mama?« fragte er und fühlte sofort die Albernheit der Frage. Er hatte überhaupt nur etwas sagen wollen und wußte kaum, was er sprach.
Doch die Frage fand Anklang. »Jetzt ja,« antwortete Maxe, »aber ein paar Jahr lang waren wir allsamt verstreut. Ich bin in Hannover erzogen worden – auf dem Mädchengymnasium –«
»Alle Hochachtung.«
»Habe sogar mein Abiturium gemacht ...« Sie lachte und hatte ein hübsches Lachen, nicht hell und zwitschernd, eher guttural; aber es klang melodiös. Und dabei krauste sich ein wenig ihre Oberlippe, und im Kinn zeigte sich ein Grübchen wie der Druck eines Nagels.
»Es ist die Möglichkeit,« sagte der Major. »Da hätten wir Sie also ohne weiteres als Freiwilligen einstellen können. Gott sei Dank, daß Sie keinen gelehrten Eindruck machen.«
»Nein, das macht sie nicht,« entgegnete Frau von Göchhusen heiter. »Sie möchte freilich gern weiterstudieren, aber das will ich nicht. Vorderhand wenigstens nicht. Mir kam es nur darauf an, den Kindern eine gewisse Selbständigkeit zu schaffen – für alle Fälle. Beate hat ihr Examen als Bibliothekarin gemacht, und Elfriede war zwei Jahre auf der Kunstschule in Weimar.«
»Also Malerin,« sagte der Major und wandte sich an Beate.
»Das bin ich,« rief Elfriede und tippe mit dem Zeigefinger auf ihre Brust.
»Tausendmal Verzeihung – jetzt weiß ich Bescheid. Beate, Elfriede, Maxe – die Namen gefallen mir alle drei. Nur über das Tugendreich der gnädigsten Jüngsten bin ich mir noch nicht völlig im klaren. Ist das ein Beiname? Er würde ja sicher bezeichnend sein –« »Es ist ein greulicher Name,« fiel Maxe unwillig ein, »ich werde so viel damit geneckt.«
»Ich glaube, er hat auch Ihren Unteroffizier erschreckt,« sagte die Mutter, »oder zum mindesten etwas nachdenklich gestimmt. Es ist ein Göchhusenscher Name. Sie wissen: rheinisches Patriziat und früher katholisch. Sie heißen alle Tugendreich und immer abwechselnd: mal die männlichen und mal die weiblichen Sprossen. Aber sie waren es wohl nicht alle.«
Nun stand Frau von Göchhusen auf. »Es ist Zeit, Herr von Hartwig. Hübsch, daß ich Sie bei Gelegenheit dieser Irrung einmal wiedergesehen habe.«
Der Major verneigte sich. »Die Freude ist auf meiner Seite. Darf ich der gnädigen Frau meine gehorsamste Aufwartung machen?«
»Oh, das wäre sehr nett ...« Der Ton lag auf dem »sehr« ... »Und damit Sie nicht vergebens kommen: zwischen vier und sechs sind wir immer daheim.«
Man verabschiedete sich. »Prachtvolles Haar,« sagte Hartwig, als er Elfriede die Hand reichte. »Verzeihen Sie den Enthusiasmus, gnädiges Fräulein, aber ich habe eine Schwärmerei grade für diese Farbe. Vielleicht bloß, weil sie so selten ist. Es ist nicht rot und nicht blond und nicht einmal rotblond. Es ist ein verlorengegangener Ton, den man sonst nur noch auf Bildern findet. Ingres liebte ihn auf seinen Kostümgruppen.«
»Interessieren Sie sich auch für Malerei?« fragte Elfriede lebhaft.
»Sehr. Ich ruiniere in meiner freien Zeit zuweilen selber saubere Linnenflächen.«
»Geht voran, Kinder,« sagte Frau von Göchhusen, »ich habe noch eine Frage an den Herrn Major... Ja, noch eine Frage,« wiederholte sie, als die Mädchen hinaus waren, »die Sie nicht mißverstehen werden, Herr von Hartwig. Wie lange ist es her, daß Sie mit Herrn von Göchhusen zusammen waren?«
»Im Winter vor zwei Jahren, gnädige Frau.«
»Ich frage nämlich deshalb... Früher schrieb er mir zuweilen – es gab noch allerhand Geschäftliches zu ordnen, und dann wollte er auch immer über die Kinder Bescheid wissen... aber seit ungefähr Jahresfrist bin ich ganz ohne Nachricht, und was das Merkwürdigste ist: mein letzter Brief an ihn – nach Pallanza, an seine alte Adresse – kam als unbestellbar zurück. Ich verstehe das gar nicht.«
»Möglich, daß ein Brief verlorengegangen ist, gnädige Frau. Ich weiß auch nur, daß er gleich nach dem Tode seiner Gattin –«
Ein schwacher Ausruf unterbrach ihn. Da erschrak der Major: er hatte unwissentlich eine neue Dummheit begangen. Die Wangen der Frau von Göchhusen waren kalkig geworden; der fahle Ton ging bis in die Lippen. Die Lippen bewegten sich, aber sie sprachen nicht. Die Brauen stiegen höher, die Augen vergrößerten sich. Dann flüsterte sie etwas, etwas Unverständliches, und wiederholte es noch einmal, diesmal lauter, aber mit einer Stimme, die einen Sprung zu haben schien:
»Tot? ... Wanda – ist – tot?...«
Herr von Hartwig nahm ihre Hand. »Gnädigste Frau, ich bin untröstlich ... ich ahnte ja nicht, daß Sie das noch nicht wußten... Verzeihen Sie –«
Sie hatte sich schon in der Gewalt. Die Nervenspannung löste sich. In ihrem hübschen Gesicht, dessen frische Haut allen Jugendreiz bewahrt hatte, sammelten sich wieder die Farben.
»Ich bin kindisch,« sagte sie. »Im Grunde genommen...« Aber sie führte den Satz nicht zu Ende. Sie fragte kurz: »Wann ist sie gestorben?«
»Im Juni vorigen Jahres. Sie war lange leidend. Göchhusen schrieb mir nur ein paar flüchtige Zeilen, daß sie erlöst sei und daß er zur Erbschaftsregulierung nach Mexiko wolle. Seitdem habe ich auch nichts mehr von ihm gehört.«
Sie nickte. »Ich danke Ihnen. Jetzt bin ich wieder ganz verständig. Es war nur die Augenblickswirkung. Wanda hat mir auch einmal nahegestanden... Also ich darf auf Wiedersehn sagen, lieber Major?«
Er küßte ihre Hand und öffnete die Tür.
Frau von Göchhusen war wieder die alte. Sie liebte keine Szenen und ärgerte sich, daß sie für einen Augenblick ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatte. Die Kinder sollten jedenfalls nichts davon merken. Sie lächelte ihnen zu.
»Da bin ich wieder,« sagte sie. »Also, Maxe, du bist frei. Das hätten wir bequemer haben können, wenn wir den Irrtum schriftlich aufgeklärt hätten.«
»Dann hättest du aber deinen Woldemar nicht wiedergesehen.«
»Maxe-Erdmuthe, nun laß diese Späßchen...« Sie schritten den Flurgang und die Treppe hinab... »Der Major verdient allen Respekt.«
»Es störte mich,« sagte Beate, »daß er von Papa anfing.«
»Mein Gott, warum denn? Die Sache liegt ja so weit zurück und braucht doch auch wahrhaftig nicht als Geheimnis behandelt zu werden.«
»Sicher nicht,« gab Elfriede zu. »Beate ist gern ein bißchen altjüngferlich. Mir hat Herr von Hartwig ausgezeichnet gefallen.« »Ja natürlich,« entgegnete Maxe. »Weil er dir eine Schmeichelei gesagt hat. Das Haar mit dem verlorenen Ton. Siehe Teerseife.«
»Mama, ist Tugendreich nicht schändlich? – Teerseife bleicht außerdem das Haar, aber färbt es nicht. Im übrigen: Schmeicheleien fangen mich nicht, liebe Maxe. Mir gefällt der Major, weil er Kunstverständnis hat. Er ist kein Durchschnittsmensch.«
»Kinder, nun hört von dem Major auf!« rief die Mutter. »Sagt mir lieber, wie wir nach Hause kommen sollen. Kein Auto, keine Droschke. Und dabei sieht es ganz so aus, als ob es gleich schneien würde.«
»Es schneit sogar schon,« entgegnete Beate, »ich habe eben eine Flocke auf meiner Nase gespürt.«
Sie standen auf der Straße und schauten sich um. Das Wetter hatte sich verändert. Der Himmel war stahlgrau geworden und tiefer gerückt. Die Sonne hatte keine Leuchtkraft mehr; sie hing wie eine rote Metallscheibe im Märzendunst. Über dem Einschnitt der Eisenbahn quoll eine graue Dampfwolke. Die ersten Straßenreihen jenseits der Brücke umgitterte schon streifiger Nebel. Die Atmosphäre hatte eine beingraue Färbung; weiße Kristalle tanzten wie Federn durch die Luft.
Die elektrische Bahn klingelte heran,
»Wohin fährt sie?« fragte Beate.
»Ganz gleich,« erwiderte die Mutter. »Wir steigen ein und fahren mit, bis wir in belebtere Gegend kommen. Da werden wir ja eine Droschke finden.«
Die Elektrische hielt. Der Schaffner war höflich und wollte Frau von Göchhusen beim Aufsteigen die Hand reichen. Aber ein junger Mann mit einem großen Schlapphut auf dem Kopfe und, einem Schal um den Hals kam ihm zuvor.
»I, Krempel!« rief Frau von Göchhusen, »wo kommen Sie denn her?!«
»Herrjeh, Krempel!« rief auch Maxe und ebenso Elfriede, während Beate etwas feierlicher sagte: »Guten Tag, Krempelius; es ist merkwürdig, daß man dich überall findet, wo man dich durchaus nicht erwartet.«
Dann kletterten alle in den Wagen, mit Unterstützung Krempels, der jede der Damen an den Arm faßte und ihr beim Aufsteigen einen leichten Schwung, gab, wobei sein seltsam rundes pausbackiges Gesicht vor Freude glänzte, ohne daß er jedoch ein Wort sprach.
Früher hatten die Göchhusens ein ganzes Haus in der Regentenstraße bewohnt, aber seit der Scheidung der Frau Magda von ihrem Mann beschränkte sie sich auf die erste Etage. Es war ja richtig: ihr Gatte hatte sie und die Kinder nicht auf dem Trockenen sitzen lassen. Er hatte sie mit einer runden Million Mark abgefunden, und das konnte er auch ganz gut, denn er stammte aus reicher Familie, und seine zweite Frau war eine Espinosa del Mercado, eine Tochter des berühmten Generals, der nach der Erschießung Kaiser Maximilians durch einen jener merkwürdigen Zufälle, die man Eilboten des Glücks nennen könnte, die Silber- und Bleierzminen bei Queretaro entdeckt hatte. Aber auch mit den Zinsen dieser Million konnte Frau von Göchhusen das Leben im großen Stil, wie man es ehedem gewohnt war, nicht weiterführen. Sie hatte ursprünglich daran gedacht, das Haus in der Regentenstraße ganz zu verkaufen und sich irgendwo eine Mietswohnung zu nehmen. Doch sie hing an diesen Räumen, in denen sie so viel Glück und auch so bittere Stunden verlebt hatte, und in einer ihrer sentimentalen Anwandlungen, von denen sie bei aller sonstigen Realistik in der Daseinsbewegung nicht frei war, hatte sie beschlossen, sich nicht von dem alten Hause zu trennen.
Ein altes Haus war es freilich: zu einer Zeit erbaut, der das moderne architektonische Raffinement noch fremd war und die nicht einmal Dampfheizung und Warmwasserversorgung kannte. Aber sein altmodisches Äußere hatte doch auch einen Zug von großväterlicher Liebenswürdigkeit; der Stil erinnerte an die friderizianischen Jahre, und beim Anblick der girlandentragenden Putten über dem Gesims des ersten Stockwerks konnte man, an die bescheidenen Anakreontiker der brandenburgischen Mark denken. Zudem standen zwei alte Kastanienbäume vor dem Portal, die alle Frühjahr ihre roten Blütenkerzen entfalteten und im Herbst ihre Früchte verloren, so daß sich die Schulkinder mit den braunen Früchten ganze Schlachten liefern konnten. Auch lag hinter dem Hause, von hohen Mauern umschlossen, die mit Geißblatt und Efeu verkleidet waren, ein hübscher Garten, den die Mädchen um so mehr schätzten, als sie ihre Kindheit auf dem Lande verbracht hatten und auch ererbter Veranlagung nach Natursinn besaßen. Von diesem Gärtchen aus, dessen Hauptzier ein Tulpenbaum war, den man als Seltenheit einschätzte, weil er mit seltsamer Unregelmäßigkeit blühte, führte eine steinerne Treppe zu einem verdeckten Balkon, der den rückwärtigen Abschluß der Göchhusenschen Wohnung bildete.
Sie war genügend geräumig für die vier Damen und die drei Domestiken, die zum Haushalt gehörten. Zwei von diesen Dienstboten waren altes Göchhusensches Inventar: nämlich Genander, der Koch (der aber bei Gelegenheit auch als Diener fungierte), und seine Frau Lina, die sich Wirtschafterin nannte, deren Tätigkeit jedoch mehr die eines Berliner »Mädchens für alles« umfaßte. Genander hatte Frau von Göchhusen nach ihrer Scheidung eigentlich entlassen wollen, weil sie sich sagte, daß zu einem Koch die Voraussetzung einer üppigeren Lebensführung gehörte, als sie sich eine solche künftighin zu leisten gedachte, während eine Köchin mehr im Ganzen bürgerlicher Schlichtheit steht. Aber Genander hatte dringend gebeten, ihn wenigstens noch ein Jahr zu behalten, und als das Jahr um war, sah Frau von Göchhusen ein, daß auch die beste Köchin diese Perle nicht zu ersetzen imstande sein würde: oder vielmehr diese Doppelperle, denn Lina war unzertrennlich mit ihrem Manne verbunden, und beide führten die Wirtschaft mit so viel Umsicht, daß die dritte im Bunde, die Zofe, eigentlich überflüssig geworden wäre. Aber dieser Zofe bedurften die jungen Damen dringend, zumal Elfriede, die etwas koketten Sinnes war und mit den Geheimnissen ihrer Toilette nie so recht fertig werden konnte. Und da sie aus Schönheitsgefühl nur hübsche Gesichter um sich haben wollte, so wurden auch immer nur niedliche Krabben engagiert. Dies hatte aber den Fehler häufigen Wechsels, denn erstens war die alte Lina eine Frau von stark eifersüchtigen Wallungen und Genander trotz seiner Jahre ein Mann, der für alles lebendig Frische und Rundliche viel Empfänglichkeit besaß, so daß es jenseits des großen Flurs häufig zu dramatischen Szenen kam, deren Rückschlag sich auch im Vorderhause ärgerlich bemerkbar machte. Und zweitens wohnte über den Göchhusens ein Generalstäbler, der zwei Burschen sein eigen nannte, und es dauerte niemals lange, so hatten sich zwischen diesen soldatischen Eroberern und der Zofe in der ersten Etage zarte Fäden angesponnen, die fast immer zum schrillen Zerreißen kamen. Nur die Letzte schien ihr Herz festhalten zu wollen und hieß dafür auch Johanna, wie das gepanzerte Mädchen aus Orleans.
Da Frau von Göchhusen sich trotz der Einschränkung ihres Haushalts von den meisten ihrer alten Mobilien nicht hatte trennen wollen, so waren ihre Zimmer fast überfüllt. Es gab da namentlich einen Salon mit gelben Damasttapeten, in dem ein mit den gepolsterten, gepufften und verschnürten Untiefen dieses Raumes nicht hinlänglich Bekannter sich nur nach forschender Übersicht und bedeutsamer Überlegung langsam hindurchwinden konnte. An diesen Salon, den Maxe den »Irrgarten der Mutter« getauft hatte, schloß sich auf der einen Seite das Speisezimmer, auf der anderen, nur durch Portieren getrennt, ein kleineres Wohngemach, in dem ein uralter, sehr struppiger und immer heiserer Papagei als Besitzer eines riesigen Messingkäfigs den Gnadenmais verzehrte. Das sogenannte Frühstückszimmer (mit einem fast schwarz gedunkelten altholländischen Stilleben an der türfreien Querwand) bot die Verbindung mit den drei Gemächern der Mädchen, die sie sich nach eigener Laune und individuellem Empfinden ausgestattet und eingerichtet hatten.
In jedem dieser Zimmer stand ein Himmelbett mit fröhlich geblümten Gardinen, sonst aber unterschieden sie sich wesentlich voneinander. Bei Beate herrschte ein sichtlicher Ernst; es überwogen hier die Regale mit Büchern, und eine Büste Gutenbergs zeugte für den freiwillig erwählten Beruf der Inwohnerin, der ihr freilich nichts nützte, da sie ihn nicht ausüben konnte. Elfriedes Zimmer dagegen war in ewiger Unordnung, allerdings – so behauptete sie wenigstens – immer in malerischer. Es ging nach Norden hinaus und hatte ein großes, halb verhängtes Fenster, vor dem die Staffelei stand, und auch sonst bewiesen zahlreiche Dinge, wie die Skizzen an der Wand, die dicken Mappen, eine japanische Vase, in der Pinsel steckten, und mancherlei andere Requisiten, daß hier ein künstlerischer Geist waltete, der es allerdings mit den Gesetzen kosmischer Ordnung nicht streng nahm und ohne Bedenken einen vereinzelten Strumpf, einen Brennapparat, eine Rechnung von Gerson und Lenaus lyrische Gedichte in traulicher Gemeinschaft liegen ließ.
Durch Maxes Zimmerchen ging immer Blumenduft. Sie liebte das Blühende und verschwendete ihr Taschengeld für Rosen, Veilchen, Narzissen und Flieder und namentlich für Orchideen, von denen gewöhnlich ein ausgewählt kapriziöses Exemplar in einem schlanken venezianischen Kelche auf ihrem Schreibtische stand. Denn an diesem Schreibtische saß Maxe viel, schrieb Märchen, verfertigte Gedichte und hatte sogar eine schöne Novelle begonnen, in der sie aber stecken geblieben war, weil die Heldin so stark von den Pfaden bürgerlicher Tugend abzuweichen begann, daß die Verfasserin selbst es mit einer gewissen schämigen Angst bekommen hatte. Außerdem wußte sie auch sonst nicht, wie die Geschichte eigentlich weitergehen sollte, und ließ es deshalb lieber, was ihr übrigens keinerlei Weh verursachte, da sie von literarischem Ehrgeiz durchaus nicht angekränkelt war und den Pegasus nur zu eigenem Vergnügen bestieg. Das Zimmer Maxes war das letzte in der Reihe und lag schon nach dem Garten hinaus; auch das Fenster war immer mit Blumen besetzt und das Gesims unaufhörlich von piepsenden Spatzen umlagert, die ganz genau wußten, zu welcher Zeit im Göchhusenschen Hause gefrühstückt wurde.
Heute war Schneidertag bei den Damen. Zwischen Küche und Zofenzimmer lag eine Stube, die offiziell den Namen Fremdenzimmer führte und sich dadurch auszeichnete, daß in sie alles das hineingelegt und gestellt wurde, was man in den anderen Räumlichkeiten nicht brauchen konnte: von aus der Mode gekommenen Makartbuketts und angestoßenen Nippes an bis herab zu dem ersten Zeichenbuche Elfriedes und einem Poesiealbum Beates in abgeschabtem Sammet, das noch aus der Schulzeit stammte. Hier thronte die Vegesack, die Schneiderin, Gemahlin des Hausportiers Herrn Vegesack, eines robusten Mannes mit den Gliedmaßen eines Giganten, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die sich noch als Dreißigerin die schmale Zierlichkeit ihrer Mädchenzeit erhalten hatte. Sie stammte aus besserem Hause, was sie gelegentlich auch gern betonte; ihr Vater war Bahnhofsvorsteher in Krebsjauche bei Frankfurt an der Oder gewesen, doch als sie sich in den Bierfahrer Vegesack verliebt hatte, war sie freiwillig von ihrer Höhe gestiegen, und die Mesalliance hatte ihr auch nicht weiter geschadet. Nun hatte Vegesack das Bierfahren längst aufgegeben, das eines ehemaligen Gardekürassiers auch nicht recht würdig war, und den Ruheposten in der Portiersloge des Göchhusenschen Hauses angenommen, wo er nichts weiter zu tun hatte, als die Türe zu öffnen, den Schnee vom Trottoir zu schippen und den Garten in Ordnung zu halten. Seine Frau aber hatte das Schneidern erlernt und war, wie Elfriede erklärte, namentlich eine Größe im Wenden. Es gab nichts, was ihr des Wendens nicht wert erschien, und es war geradezu erstaunlich, wie sie beispielsweise einen blauen Grund mit grauen Tupfen in einen grauen Grund mit blauen Tupfen zu verwandeln imstande war.
An diesem Tage handelte es sich zunächst um die geniale Umformung einiger Frühlingstoiletten vom vorigen Jahre, von denen man glaubte, daß sie noch, fähig sein würden, einige kurze Wochen des neuen Lenzes siegreich zu überdauern. Die drei Mädchen hatten vielerlei herangeschleppt, und so daß denn die Vegesack an ihrer Nähmaschine inmitten einer heiteren Farbenpracht, die ihren Glanz auf Stühlen und Tischen ausbreitete, und prüfte mit scharfem Auge und fühlendem Finger Stoff, Futter und Besatz.
»Vegesack,« sagte Maxe, ein blaßbläuliches Gewandstück in der Hand haltend, »es wäre doch eine Lächerlichkeit, wenn ich das nicht noch ein paar Wochen tragen könnte. Für Ostende und Scheveningen ist natürlich die Möglichkeit ausgeschlossen, aber in Zoppot und auf der Halbinsel Hela nimmt man es nicht so genau.«
Die Vegesack schüttelte den Kopf. »Gnädiges Fräulein,« entgegnete sie, »ich bin auch für Sparsamkeit, und wenn Vegesack so manchmal sagt: ›Tilde, dein Schwarzes ist unten ganz aus gefusselt, so kannst du nicht mehr gehen‹ – dann mache ich einen neuen Saum, und es geht doch noch. Aber was ich kann, können die gnädigen Fräuleins nicht. Das Blau ist verschossen, es hat keinen rechten Ton nicht mehr, es ist auch brüchig geworden, es war ein billiger Stoff.«
»Wenden!« rief Elfriede.
»Es lohnt sich nicht. Ich fahr mit der Hand hinein, da ist auch schon ein Loch da. Den Besatz kann man abnehmen, aber er müßte erst gereinigt werden. Und was das Reinigen kostet, dafür kriegt man's schon ebensogut auf neu.« »Also nichts,« sagte Maxe. »Ich habe heute kein Glück bei Ihnen, Vegesack. Das Blaue ist verschossen, und für das Halbseidene scheinen Sie auch keine rechte Meinung zu haben. Aber ich trage Ihnen das nicht nach. Ich ruiniere viel, ich weiß es. Das ist Charakterveranlagung. Fräulein Elfriede ist sanfter und Fräulein Beate die gediegenere. Ich bin zu stürmisch, ich zerreiße gleich alles ...«
Nun hatte Beate noch eine ernsthafte Aussprache mit der Vegesack zweier Blusen wegen, die vermittels! neuer Garnituren auf den Stand von heute gebracht werden sollten, und dann kam Elfriede mit dem wichtigen Anliegen, die vorjährige weite Glockenform eines, prunefarbigen Cheviotrocks in mondäne Enge zu verwandeln.
»Ich weiß bloß nicht, ob Sie sich das trauen werden, Vegesack,« sagte Elfriede besorgt; »da müssen Sie ganz ehrlich sein, denn ehe der Rock verschnitten wird, geb' ich ihn lieber zu Gerson. Er ist ja noch tadellos.«
»Ist er,« entgegnete die Schneiderin. »Ein Stoff wie Leder; gnädiges Fräulein kaufen immer besser ein als wie Fräulein Maxe. Aber er braucht nicht erst zu Gerson. Ich schneide unten einfach ein Stück ab, krause ihn um die Knie rum ein und setze ein Halbstück wieder an. Das ist keine Kunst.«
»Herrjeh!« rief jetzt Maxe, die nach der Uhr gesehen hatte, »Kinder, es ist Zeit – wir müssen zu Krempel. Wir sind doch zu vier geladen!«
»Ja, zu vier,« antwortete Beate. »Aber die Mama weiß noch nichts.«
»Hält sie noch Mittagsschlaf?«
»I wo. Sie räumt mit Lina und Johanna den Balkon auf.« Das tat sie. Es geschah immer um diese Jahreszeit. Da wurde der Balkon durch Lina erst unter Wasser gesetzt und gründlich gesäubert und empfing dann seinen Frühlingsschmuck. Johanna hatte die Korbmöbel aufgestellt und war soeben dabei, ein paar Knoten in der Schnur der Marquise aufzulösen, während Frau von Göchhusen blauweiße Tontöpfe mit eingepflanzten Primeln und Maiglöckchen auf dem Balkonsims arrangierte. Da stürmten die Töchter heran.
»Wir wollen nun gehen. Mutterchen,« rief Maxe, »adieu!«
»Wo wollt ihr denn schon wieder hin?«
»Zu Krempel.«
»Zu Krempel? Warum denn?«
»Er hat uns eingeladen, Mama,« sagte Beate, »zu Schokolade mit Schlagsahne und Nußtorte. Letztere nur, weil Maxe sie so gern ißt.«
Frau von Göchhusen schüttelte den Kopf. »Ist denn sein Geburtstag?« fragte sie.
»Nein,« entgegnete Maxe, »der fällt in die Hundstage. Es handelt sich um die feierliche Einweihung seiner neuen Wohnung. Er hat jetzt zwei Zimmer und einen Vorflur, den er Diele nennt. Dort werden die Gäste empfangen.«
Frau von Göchhusen wiegte immer noch den Kopf hin und her. »Hört mal, das scheint mir doch nicht ganz passend,« meinte sie. »Drei Mädchen allein bei einem jungen Mann?«
Elfriede lachte. »Du legst den Ton fälschlich auf das Wort ›Mann‹, Mama. Für uns ist er ein neutrales Wesen.«
»So ist es,« bestätigte Beate. Und etwas nichtachtend setzte sie hinzu: »Gott, Krempel!« »Krempel hin, Krempel her. Ich kann mir nicht helfen: ich finde, ihr seid ein bißchen zu intim mit ihm geworden. Wenn ich nicht wüßte, was er für ein braver Junge ist ... Na also, da ihr mal zugesagt habt, geht in Gottes Namen. Aber um halb acht seid ihr wieder zurück.«
»Pünktlich, Mama ...« Nun empfing Frau von Göchhusen drei lebhafte Küsse, dann sprangen die Mädchen davon, Maxe voran: man hörte ihren flüchtigen Schritt in dem langen Korridor.
Ein Viertelstündchen später standen sie auf der Straße: gleichförmig gekleidet, in englischen Kostümen mit runden Blumenhüten. Bei Beate saß der Hut korrekt, Elfriede hatte ihn ein wenig in die Stirn gerückt, Maxe trug ihn seitwärts wie eine Ulanenczapka.
»Moppel, Droschke oder Elektrische?« fragte Elfriede.
»Ich schlage vor: einen Bummel zu Fuß,« antwortete Maxe. »Es ist erst viertel vier. Übrigens – stiften wir gar nichts?«
Das fiel allen dreien schwer auf die Seele. Natürlich forderte es der Anstand, daß man zu Krempels neuer Wohnung eine Kleinigkeit beisteuerte.
»Heut ist der Achtundzwanzigste,« seufzte Elfriede, »ich bin ganz blank.«
»Ich habe noch ein Fünfmarkstück,« sagte Beate, »das will ich opfern. Was bekommt man dafür? Eine Vase, einen hübschen Aschenbecher, ein Bücherbrett – alles mögliche. Aber da müßten wir zuerst zu Wertheim.«
»Lassen wir's,« erklärte Maxe. »Wir machen es so: wir kucken uns heute erst um, was er gebrauchen könnte. Und dann legen wir zusammen zu einem anständigen Geschenk.«
Elfriede nickte. »Ja natürlich; das ist das Praktischste. Vielleicht ein Teeservice – oder einen Regenschirmständer. Heut bringen wir ihm jede bloß einen Veilchenstrauß.«
»Anmutig und billig,« sagte Beate. »Aber in Anbetracht unsrer Notlage will ich nicht widersprechen. Im Übrigens bitte ich um eins: die Angelegenheit mit der Mama muß seriös behandelt werden. Vollkommen ernsthaft – sonst macht Krempel nicht mit.«
»Ernsthaft,« wiederholte Elfriede. »Selbstverständlich. Sie ist uns ja auch vollkommener Ernst.«
Maxe gab das zu. »Gewiß – trotz ihres etwas drolligen Beigeschmacks. Ein dreifacher Schrei nach dem Mann; aber wir schreien nicht für uns, sondern für die Mama. Leider sind ein paar Wenns dabei. Zunächst: wenn wir nur den Richtigen finden, Und dann: wenn sie bloß rangeht.«
»Abwarten,« sagte Beate. »Der Richtige ist die Hauptsache. Das ist eben unsre Sache, den zu finden. Ich weiß ganz genau, daß die Mama schon ein paar Freier abgewiesen hat.«
»Wen denn?« rief Maxe neugierig.
»Ein paar. Den Geheimrat von Lossow bestimmt. Seit vorigem Mai ist er nicht mehr bei uns gewesen; da hat er seinen Korb gekriegt. Und den Oberst Trittmann ebenso bestimmt. Den hatte sie auch sehr gern. Aber erst will sie uns versorgt wissen.«
»Das ist das Unglück« – und Elfriede neigte zustimmend den Kopf –, »das ist der einzige Haken. Mutter hat's ja auch ganz offen erklärt. Sie hat mir einmal in einer gemütlichen Stunde ihr Herz ausgeschüttet. Sie hätte gerne wieder geheiratet – mein Gott, sie ist ja doch noch jung und lebenslustig und eigentlich bildhübsch. Ist sie das nicht?«
»Bildhübsch. Sie hat einen so prachtvollen Teint.«
»Und eine Figur! Manchmal« – Maxe wurde ordentlich eifrig –, »wenn ich euch beide so von weitem kommen sehe, dich, Beate und die Mama – ihr seht wahrhaftig wie Schwestern aus. Seid euch ja auch fabelhaft ähnlich.«
»Jedenfalls steht das eine fest,« sagte Beate, »daß sich in die Mama bisher mehr Männer verliebt haben als in mich. Bis auf den kleinen Eggebrecht, den Piesematz mit dem Bürstenschnurrbart, hat bei mir noch keiner anbeißen wollen – und für den danke ich ...«
Während dieser Unterhaltung waren die drei in die Tiergartenstraße eingebogen und schritten nun westwärts hinauf, nicht auf der Häuserseite, sondern den Promenadenweg neben der Reitallee verfolgend, die Rousseauinsel rechts liegen lassend.
Der Lenz war dies Jahr früh ins Land gekommen: er spann seinen lichtgrünen Zauber über Bäume und Buschwerk und lockte aus der Erde des großen Parks den Duft fruchtreicher Hoffnung. Der wolkenüberflatterte Himmel strahlte ein sanftes Umbralicht aus, das den geschorenen Rasenflächen in den Vorgärten der Tiergartenpaläste einen feinen Ton matten Goldes gab. In diesen schön gepflegten Gärten blühten auch schon die ersten Frühlingsblumen: Maiglöckchen und Märzveilchen in oval geschweiften, oblongen und sternförmigen Rabatten, von der Hand des Gärtners in Ornamente gezwängt, oder in architektonischen Linien den Rasen umsäumend. Lenzfreude blickte aus den Fenstern: alle Blumenkästen waren frisch gefüllt, und zwischen hängendem Grün leuchteten heitere Farben. Nur ein großer Christusdorn war noch ängstlich mit Stroh und Bast umwickelt und sah wie ein frierender alter Mann inmitten seiner fröhlichen Umgebung aus.
Die drei Mädchen schritten rasch fürbaß. Sie liebten einen tapferen Schritt und trainierten sich gern: der Tennisplatz und die Eisbahn hielten ihre Glieder geschmeidig. Maxe war die Kleinste, aber sie brauchte sich nicht anzustrengen, um mitzukommen. Sie pendelte ein wenig mit den Armen, hielt den Kopf in dein Nacken und hatte die Angewohnheit, zuweilen mit geschlossenen Lippen ihren Schleier aufzublasen. Beate dagegen hielt sich kerzengrade und die Ellenbogen wie das Abbild einer Gibson-Girl dicht an den Seiten; sie marschierte auch am regelmäßigsten, während Maxe gewöhnlich im Laufschritt war. Zwischen beiden ging Elfriede, sich leicht in den Hüften wiegend, ihrer pikanten Schönheit bewußt, immer ein anmutiges Lächeln auf den Lippen und auf der Stirn die Ringelflut ihres goldenen Haares. Sie hatte nur einen Fehler: sie setzte die Füße schlecht – »verzwerg« sagte Maxe –, und wenn sie sich Mühe gab, ihren Gang zu korrigieren, stelzte sie zierig wie eine Ballettelevin.
Es war belebt im Tiergarten. Über den Fahrweg glitten die Equipagen, ratterten die Droschken und fauchten die Automobile; daneben, unter dem zartgrünen Buchenschleier, sprengten Reiter einher: ein paar Offiziere, junge Bankiers in schönstem Dreß, Damen von Welt und halber, und ihre langen Röcke wehten. Die Promenade war voller Menschen; ein lebendiger Strom rann die Parklisiere hinab, und auch zwischen den Bäumen weiterhin tauchten wandelnde Farben auf.,
Dem Malerblick Elfriedes, keinem geschulten, doch einem aufnahmefähigen, gefiel das wohl. Es war ein fröhliches Großstadtbild zwischen Häusermeer und Natur: ein Gewirr von geschäftigen und langsam schlendernden Leuten, von schönen Toiletten und Talmieleganz, huschenden Gören und Kinderwagen, blanken Zylinderhüten, blitzenden Uniformen; eine Revue von Gesichtern, frohgemuten und frischen, zermürbten, pastabelegten, lachenden und ernst durchfurchten, von charakteristischen Porträts und Karikaturen.
»Haltet mal!« rief Maxe plötzlich und blieb stehen.
»Was ist los?« fragte Beate; »hast du wieder zu enge Stiebeln und kannst nicht weiter?«
»Ach was...« Sie starrte einem Reiter nach, einem stattlichen Herrn in mausgrauem Rock mit zurückgeschlagenen Schößen; er ritt einen Falben mit buschigem hellem Schweif, den das nervöse Tier wie einen Windmühlenflügel quirlen ließ ... »Habt ihr den gesehen?«
»Wen?«
»Gehn wir weiter ... Es war nur ein Momentbild und selbstverständlich eine Täuschung ... Besinnt ihr euch auf das Ölgemälde von Papa, das früher in Mamas Zimmer hing und dann verpackt worden ist?«
»Aber natürlich,« entgegnete Beate. »Du meinst das von Gussow? Das Reiterbild?«
»Ja, das. Mir hat's immer so gut gefallen, und es ärgerte mich eigentlich, daß Mama es in einem Augenblick der Verstimmung ... Na also, eben ritt ein Herr vorüber, der das Original des Bildes hätte sein können.«
»Ein Doppelgänger Papas? – Lieber Gott, es' gibt manche Ähnlichkeiten in der Welt. Papa war es jedenfalls nicht. Der kommt nicht mehr nach Berlin ...«
Nun sprachen die drei, während sie weiterschritten, ein weniges von ihrem halb vergessenen Vater, Maxe hatte ihn kaum noch in her Erinnerung.
»Nein, kaum,« sagte sie. »Nur in seinem Sportdreß haftet er mir noch im Gedächtnis. Ich weiß, daß unsre Lina mich manchmal auf das Fensterbrett stellte und daß ich ihn abreiten sehen durfte. Seine gelben Kniestiefel imponierten mir immer gewaltig. Ich glaube, er hatte auch ein freundliches Gesicht und hübsche braune Augen wie auf dem Bilde – und gerade solche wie Elfriede.«
»Er war ein schöner Mann,« antwortete Beate, »ich entsinne mich seiner noch gut. Groß gewachsen und sehr elegant und gab viel auf seine Toilette. In seinem Garderobenzimmer habe ich einmal gezählt, wieviel Paar Stiefel er hatte. Es müssen an dreißig gewesen sein.«
»Ich war immer sein Liebling,« erklärte Elfriede. »Mir hat er ja früher auch noch zuweilen geschrieben; ich habe die Briefe aufgehoben und lese sie manchmal durch. Sehr liebe Briefe voller Herzlichkeit – aber auf einmal hörten sie auf. Mama deutete gelegentlich an, seine Frau wäre wohl eifersüchtig auf uns. Das macht das spanische Blut.«
»Sie ist gar keine Spanierin,« sagte Beate; »das weiß ich nun besser. Sie ist eine Mexikanerin, aber ihre Mutter war eine Vollblutpolin, die Tochter eines Adjutanten Kaiser Maximilians – oder eines seiner Hofchargen oder so was, und hat dann einen mexikanischen General geheiratet ... Jawohl. Ich habe auch einmal ein Bild von Papas zweiter Frau gesehen – bei der Mama.«
»Bei der Mama?« rief Maxe erstaunt.
»Ja, bei der Mama. Sie spricht ja nie über derlei. Aber sie räumte einmal ihren Schreibtisch aus, und ich mußte ihr helfen. Da lag in einem Fache die Photographie eines bildschönen jungen Mädchens, und hintendrauf stand: »Ihrer geliebten Freundin Magda Tarrach Wanda von Skawcze.««
Maxe hielt fast den Atem an. »O Gott ... Also so... Also da war sie eine Jugendfreundin Mamas., Das ist ja ein ganzer Roman.«
»Ist es auch ... Mama riß mir das Bild aus der Hand. Und dann fing sie an zu weinen. Und wie ich nun zärtlich wurde, erzählte sie dies und jenes. Aber ich habe ihr versprechen müssen, nicht darüber zu reden. Sie liebt das nicht.«
»Nein, sie liebt das nicht,« wiederholte Elfriede, »und ich finde das eigentlich unrecht. Warum informiert sie uns nicht ruhig über alle diese Dinge? Wir sind doch erwachsene Mädel und können uns allein unser Urteil bilden.«
»Das möchte sie eben nicht, Friedelchen. Ein Mensch vor dem andern. Sie hat wohl viel durchmachen müssen. Denkt euch nur, von seiner besten Freundin betrogen zu werden!«
»Greulich,« sagte Maxe. Aber sie war doch höchlichst interessiert: persönliche Neugier mischte sich mit unklarem romantischem Empfinden. In ihre Augen trat ein schwimmendes Licht. Sie blies mit geschlossenen Lippen ihren Schleier auf. »Beate, da muß doch die – muß doch diese Wanda in Berlin gelebt haben?«
»Ja – bei einer alten Tante. Sie ist ja hier erzogen worden. Ihr Vater war eine Zeitlang aus Mexiko verbannt; er muß da irgendwelche Dummheiten gemacht haben. Sie hat auch in unserm Hause verkehrt, aber ich habe sie nie zu Gesicht bekommen – wenigstens entsinne ich mich nicht. Na – und da hat sich der Papa in sie verliebt – oder sie in ihn –«
»Oder sie taten es gegenseitig« ergänzte Elfriede. »Das kommt ja vor.«
»Vor kommt es,« entgegnete Maxe. »Natürlich kommt es vor und häufig genug und nicht bloß in Romanen und Dramen. Aber ich finde es doch abscheulich. Das sage ich frei heraus, wenn es sich auch um unsern Vater handelt. Wenn man eine reizende Frau und drei reizende Kinder hat, soll man zufrieden sein und sich nicht von einer hübschen Kokette einfangen lassen.«
Elfriede lächelte. »Das klingt schrecklich moralisch, Tugendreich. Aber es ist doch sehr dumm. Es gibt kein Wenn in solchen Dingen. Oder schön: es soll's geben. Auch die Überlegung soll mitsprechen, Pflichtgefühl und sonst alles Gute und Edle. Endgültig bleibt es doch immer fraglich, ob das moralisch Bessere den Sieg davonträgt oder die Unvernunft des Herzens. Nun denke dir, unser Vater wäre dem Pflichtgefühl gefolgt und hätte bei uns ausgehalten: weißt du denn, ob es ihm möglich geworden wäre, seine Wanda zu vergessen? ob er nicht kreuzunglücklich geworden wäre und die Mama mit? ... Na, und wie liegt jetzt die Sache? Mutter hat sich getröstet und würde – das ist meine Überzeugung – längst wieder geheiratet haben, wenn grade der Rechte gekommen wäre. Papa hat sein neues Glück gefunden, und uns – uns fehlt schließlich auch nichts. Seien wir doch ehrlich.«
Aber Maxe war eigensinnig. »Mit dir ist über derlei schwer streiten, Frieda. Du bist die Modernere oder spielst dich darauf auf. Deine Moral wackelt immer, wenn sie auf ein interessantes Problem trifft – weil dir das Problem meist mehr zusagt als die Moral. Nun bin ich wahrhaftig auch nicht der Tugendreich, der ich heiße, aber –«
»Stille, Kinder,« fiel Beate ein. »Euer Gespräch führt zu nichts, und außerdem kommt Herr von Emmingen über den Damm – da wollen wir rasch ein harmloseres Thema anschlagen ... Also: wo gehen wir diesen Sommer hin? Soll's bei Zoppot bleiben, oder wollen wir die Mama mit List und, Tücke auf Ostende dressieren? ...«
Der Herr, der über den Fahrdamm den Mädchen entgegenschritt, schwenkte bereits seinen glänzenden Zylinderhut und machte dabei ein sehr glückliches Gesicht. Es gibt Gesichter, die keiner Maske fähig sind oder auf denen sie immer verunglückt. Man liest in ihnen wie in den Seiten eines Buches, liest alles von ihnen ab, was Herz und Seele bewegt, selbst das Heimlichere und das Stille, wenn man es sonst versteht, ein Menschenantlitz zu deuten. So war es bei Herrn von Emmingen, der sich absolut nicht verstellen konnte, was ihm selber in hohem Grade unangenehm war, da er zum diplomatischen Korps gehörte und der Ansicht huldigte, daß ein Diplomat unbedingt schauspielerisches Können besitzen müßte. Aber es gelang ihm nicht, etwas anderes zu, zeigen als das, was er fühlte. Und da er trotzdem immer gern über sich hinauswollte, so hatte er sich ein merkwürdiges nervöses Zucken angewöhnt und ein gelegentliches kurzes Auflachen, das eigentlich nur ein Verlegenheitsmeckern war. In seinem sonst wenig sagenden Gesicht standen ein paar recht gescheite Augen; das blonde Bärtchen war nach englischer Sitte ganz kurz gehalten und die übermäßig schlanke Figur vom Zylinder bis zu den Stiefeln so elegant equipiert, daß die landläufige Redensart, der Mann sehe aus wie aus einem Modekupfer geschnitten, bei diesem Legationssekretär keine Übertreibung bedeutete.
Er schwenkte seinen Hut zweimal mit kreisender Bewegung der Rechten und war dann bei den Mädchen.
»Meine gnädigsten Damen,« sagte er, »hohe Freude.«
»Höchste Freude, Kerr von Emmingen,« erwiderte Maxe, »wir bitten um den Superlativs wenn schon, denn schon.«
»Also höchste. Es ist auch richtiger. Hierher gehört die Steigerung. Auf Geschäftsgängen, wenn ich fragen darf, oder nur Promenade pour prendre l'air? Wär's letzteres, so würde ich den Mut fassen, gehorsamst zu bitten, die Gnädigsten ein paar Schritte begleiten zu dürfen. Bei einem Geschäftsgang, ob Schneiderin oder Hutmarchandage, wag' ich das nicht. Keinesfalls. Da respektiere ich den Ernst der Gedanken und die Absicht auf das Resultat ...«
Seine Augen kreisten über die drei, tatsächlich hatte er aber nur mit Maxe gesprochen. Die antwortete auch; Herr von Emmingen flirtete lange um sie herum, und die Schwestern hielten sich, diskret zurück: sie überließen ihn der Kleinsten.
»Sie können alles wagen,« sagte Maxe, »und wenn Sie uns bis an das Ende unsres Marsches, begleiten wollen: um so besser für uns.«
Er schloß sich an. Sofort teilte sich die Gruppe: Beate und Elfriede schritten voran, als hätten sie es, so verabredet. Es war aber nur kluger Instinkt.
»Und wohin, geht's, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen immer fragen – auch ohne den Nachsatz. Nach der Lietzenburger Straße – in eine Gegend des freien Feldes.«
»Das gefällt mir. Die Flucht aus der Stadt, Sehnsucht nach der Natur. Ich kenne die Landschaft. Ganz reizend. Wie eine Schilderung Bret Hartes. Steppengras und aufgewühlter Boden, leere Sardinenbüchsen, Küchenabfälle, malerische Fetzen; alles unter dem Zeichen: ›Hier kann Schutt abgeladen werden.‹ Und darüber der Odem der Freiheit.«
Maxe lachte fröhlich. »Sie sind boshaft, Herr von Emmingen. Aber beinah haben Sie recht. Nur streben wir nicht so weit hinaus – nicht bis an die Region der Kjökkenmöddinger. Wir machen schon vorher Halt. Wir sind zu einem Freund geladen.«
»Freund? Ich verstehe doch richtig. Masculini generis?«
»Schaudern Sie. Es ist so. Zu einem jungen Mann namens Krempel.«
Herr von Emmingen nahm sein Monokel aus dem Auge. »Gnädiges Fräulein, das ist nicht möglich. Krempel gibt's nicht. Das wäre vieux jeu: alte Berliner Posse oder gar Kotzebue, nicht einmal Raupach. Ein moderner Mensch kann nicht Krempel heißen.«
»Es ist auch kein ganz moderner. Trotzdem heißt er so. Einer seiner Vorfahren war Magister – liberalium artium magister – und nannte sich Krempelius. Es war die Zeit, da man alles latinisierte. In der Gegenwart klingt Krempel immer noch hübscher als Krempelius. Wenn er nur wenigstens einen dazu passenden Vornamen besäße! Aber auch das ist nicht der Fall. Halten Sie Ihr Monokel fest, Herr von Emmingen, und bleiben Sie Ihrer Sinne Meister: unser Freund heißt Dionys Krempel.«
Der Legationssekretär schwieg zunächst ein kleines Weilchen, und dann sagte er: »Also, das ist der Gipfel. Es ist unter allen Umstanden etwas Ungeahntes. Es ist zunächst eine leichte Schreckwirkung, die sich aber bald zu einem behaglichen Empfinden abdämpft. Ganz gewiß: Dionys Kremsiel verbreitet eine Atmosphäre von Behaglichkeit um sich. Ist er auch selbst ein Original?«
»'n – ja ... halb und halb. Jedenfalls kein Dutzendmensch. Sein Vater war ein ausgesprochener Sonderling, und von dem hat der Sohn mancherlei geerbt. Der Alte war Pastor auf einem Gute, das wir früher besaßen, und der Sohn hat uns alle miteinander in den Anfangsgründen löblicher Wissenschaft unterrichtet. Daher unsre Freundschaft.«
»Daher also. Es ist hübsch, wenn man so anhänglich ist. Ich beneide Krempel.«
»Warum?«
»Wegen der Anhänglichkeit. Und weil Sie so ganz sans gêne zu ihm gehen können – also, weil er Ihnen nahe steht... Wenn ich Sie einmal einladen würde, Sie drei, da würden Sie doch keinesfalls kommen?«
»Weshalb denn nicht? Zu einem Damenkaffee mit Stippe? Ich glaube schon, daß das Mama erlauben würde. Sie sind ja doch kein Oger, der kleine Mädchen frißt. Sie sind ein sehr korrekter junger Herr aus der besten Gesellschaft.«
»Sagen Sie nicht korrekt, gnädiges Fräulein. Man sagt es mir zu oft. Mein Gesandter hält mich dafür, und die Kollegen niederer Art wiederholen es. Vielleicht bin ich es auch: aus Instinkt; aber eine gewisse Warmblütigkeit sträubt sich dagegen. Ja wahrhaftig: ich sträube mich vielfach gegen mich selbst. Es gibt ja solche Zweiseelenmenschen. Das Innere will hütt und das Äußere hü. Wie ist da ein Ausgleich möglich?«
»Der findet sich in der Ehe,« sagte Maxe mit weiser Harmlosigkeit.
Herr von Emmingen zuckte und ruckte mit Schultern und Armen. »In der Ehe – na ja. Da findet sich alles. Bloß die Ehe selbst findet sich manchmal nicht. Ich bin dreißig, unbescholten, habe ein leidliches Nährbrot und noch etwas dazu – aber werde immer allein bleiben. Nämlich weshalb? Wegen des Zweiseelenstands. Die eine Seele möchte gern, und die andre hat Angst. Die eine stürmt lebhaft vor, und die andre wirkt retardierend. Die eine will sprechen, und die andre sagt: halte den Mund. So geht's mir immer und in allem. Sogar in meinem Beruf. Ich bin eigentlich ein sehr unglücklicher Mensch...« Er blieb stehen: dicht am Portal der Gedächtniskirche... »Bemitleiden Sie mich und gestatten Sie mir, daß ich mich gehorsamst empfehle. Jetzt sprechen abermals die zwei Seelen. Die eine möchte Sie gerne bis an die Gegend der Kjökkenmöddinger begleiten, aber die andre weist auf die Uhr und mahnt mich daran, daß ich noch auf der russischen Botschaft eine Karte abzuwerfen habe.«
Maxe gab ihm die Hand. »Adieu, Herr von Emmingen. Ich bemitleide Sie nicht. Seien Sie energisch und würgen Sie die eine Seele ab: welche, müssen Sie wissen, und auch, wann es an der Zeit ist. Dann ist die andre frei.«
Der Legationssekretär hatte noch die Hand Maxes in der seinen und warf ihr einen Blick zu, der sie verwirrte. Er wollte auch sicher eine Antwort geben, aber da traten Beate und Elfriede hinzu, und er ließ es. Er verabschiedete sich mit liebenswürdiger Förmlichkeit und rief ein Auto heran.
Indessen gingen die Mädchen weiter.
»Hat er angebissen?« fragte Beate.
»Er beißt nicht,« erwiderte Elfriede. »Er gehört zu der Spezies je ne sais quoi. Er ist nicht einmal Schmetterling: er tut nur so. Er hat kaltes Blut.«
Aber Maxe verteidigte ihn. »Da irrst du dich. Er ist nur zu zag und steckt zu sehr in der Konvention. Er ist ein braver Mensch und soll auch tüchtig sein. Irgendwer hat mir neulich erzählt, er würde bald Rat werden, und dann kriegt er eine exotische Gesandtschaft. Aber heiraten möchte ich ihn um die Welt nicht.«
»Du bist ein Schäfchen,« sagte Beate. »Er paßt sehr gut zu dir – du könntest froh sein, wenn er um dich anhielte. Auf wen wartest du eigentlich?«
»Sie hat unentwegt ihren Krempel im Herzen,« warf Elfriede ein.
Maxe wurde ärgerlich. »Den Scherz hast du schon öfters gemacht, Friedl! – such' dir einen neuen. Durch eure albernen Anspielungen werdet ihr es dahinbringen, daß die Mama sich eines Tages jeden ferneren Besuch Krempels verbittet. Hätte auch recht so – und mir war's am liebsten. Dann hat der Unfug ein Ende.«
Sie war wirklich böse. Sie blies in ihren Schleier und hatte ein dräuendes Wetter auf der Stirn. Die Schwestern lenkten ein und sagten ihr gute Worte, und da dauerte es auch nicht lange, und das Wetter zog wieder ab. Nun gingen sie noch in einen Blumenladen, um die Geschenkveilchen zu kaufen, und blieben ein paar Minuten später vor einem großen Torweg stehen.
»Hier ist es,« erklärte Maxe. »Krempel hat mir gesagt, rechts von ihm läge ein Kohlenkeller und links eine Bäckerei mit Schrippen im Schaufenster. Das Topographische stimmt also. Im Hausflur müssen wir uns rechtsseitig halten, weil wir sonst zu dem Aufgang für Herrschaften geraten, der uns nichts angeht. Also, nun vorwärts!«