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Junger Sommer blühte, blau überdachter, lichtgetränkter, grüner Sommer. Seine Säfte verschwendeten sich in prallen Zweigen und satten, vollgesogenen Blättern, rot und blau und gelb waren die Blumen. Über alles liebte Lena diese Zeit, den Übergang vom Frühling zum Sommer, sie fieberte nach Bäumen, Büschen und samtigem Rasen. Trotz aller Unruhe, die in ihr war und sie nicht mehr verließ seit ihrem Besuch in der Bank, streifte sie alle Parks der großen Stadt ab, war jeden Vormittag irgendwo, mal im Tiergarten, mal im Schloßpark in Charlottenburg oder im Schöneberger Stadtpark oder draußen in Dahlem. Sie war nicht mehr verzweifelt, sondern von einer verbohrten, gespannten Entschlossenheit. Ihr kleiner, schlanker Körper, der von fraulich welliger Süße war, straffte sich in Bereitschaft auf etwas, das sie überall umlauerte. Sie fühlte sich ganz allein, ganz auf sich gestellt, ohne Hilfe von irgendeiner Seite. Mochte diese lauernde Gefahr, von der sie wußte, daß sie wieder überall gegenwärtig war, wo sie den Fuß hinsetzte, kommen. Es war zwecklos, ausweichen zu wollen. Sie blickte sich nicht mehr verstohlen um, wenn sie auf der Straße ging, lief nicht mehr zum Fenster, wenn sie in der Wohnung war. Jetzt würde Gontard wieder auftauchen, an einem Tag, in einer Stunde, in einem Augenblick, der heute, morgen oder in Tagen eintreten konnte, sie wußte es mit vollkommener Gewißheit. Und sie wartete darauf.
Tage vergingen. Nichts geschah. Zu Hause hatten sich die Wogen der Erregung über ihr Verhalten bei der Vorstellung geglättet. Kröning konnte bei Gontard keinerlei Veränderung feststellen, die Szene schien keinen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. Gott sei Dank. Er war es offenbar gewohnt, daß Menschen vor ihm in Verwirrung gerieten und zurückwichen. Auch Lena war nicht mehr so nervös. Das Leben war eine glatte Wasserfläche, die kaum eine Brise kräuselnd überstrich.
Dahlem lag in Grün gebettet. Einige Minuten vom Bahnhof Thielplatz war eine einfache Konditorei, mehr eine kleine Waldschänke, mit zwei runden Tischen rechts und links vor dem Eingang. Je ein großer Gartenschirm, mitten durch die Tischplatten geführt, warf Schatten auf den ungeschützten Platz. Einer von diesen Tischen, der linke mit dem roten Schirm, war Lenas Lieblingsaufenthalt geworden. Jetzt konnte man es sich ja leisten, ohne vorher nachzurechnen, ob es lange, ein Stückchen Kuchen zu nehmen, sogar mit Schlagsahne, wenn es einen danach gelüstete.
Kein Mensch kam vormittags hierher. Und der eine, der sie suchte und den sie hier wie überall erwartete, würde sie zu finden wissen. Vor ihm gab es kein Versteck.
So selbstverständlich, so vertraut war ihr dieser Gedanke in den vielen Stunden des Alleinseins geworden, bis eines Tages, nachdem sie eine halbe Stunde hier geruht hatte, wie schwarzes Flügelrauschen ein starker, großer Wagen, ganz geschlossen, die Straße entlanggefahren kam. Gontards Wagen. Der Lenker sprang vom Sitz und öffnete mit gehobener Kappe den Schlag. Der Bankier stieg aus. Ohne Blick nach Lena, murrte er ein halblautes, kurzes Wort, das nicht bis zu ihr drang. Die lautlose Maschine setzte sich wieder in Bewegung. Gontard stand einen Augenblick still. Er war dunkel gekleidet wie immer, der steife, schwarze Hut deckte den Schädel. In unbeweglicher Gespanntheit verharrte die Frau. Sie saß – den Körper halbseits aus der Richtung gedreht, aus der sie den Angriff des Feindes ahnte – vom weißen Sommerkleid umflossen, menschgewordenes Bild dieses jungen Sommers. Durch den dünnen Stoff schimmerte das lebendige Elfenbein der Arme und Schultern. Auf dem blonden Haar, das vom Hut befreit war, lag schräg ein spielender Sonnenstrahl. Schritte knirschten. Lena fühlte, daß sie plötzlich ganz im Schatten saß. Eine Gestalt, noch ungesehen, stand neben dem Tisch, und es war, als ob sie alles in ein lichtloses Grau hüllte. Die Gestalt sagte nichts, und dieses Schweigen hatte für die Frau, die mit abgekehrtem Gesicht im Stuhl lehnte, etwas Beklemmendes. Sie spürte auf einmal wie ein dumpfes Hämmern ihr Herz schlagen. In der Brust, im Hals, in den Schläfen. Eine Stimme neben ihr sprach, nach Sekunden, rauh, doch mit qualvoll deutlichem Bemühen, sich Weichheit abzuringen:
»Ich stehe wie ein Bettler hier – –«
Lena hatte erwartet, daß der Feind sich ihr mit der Sicherheit des Eroberers, der die ausgehungerte Festung betritt, nähern würde. Sie hatte sich genau zurechtgelegt, wie sie ihm begegnen wollte. Seine Worte brachten sie aus der Fassung. Gontard stand noch immer säulengleich. Die eifrige Kellnerin erschien und steuerte auf den Tisch zu. Man mußte etwas sagen. Alles sah so auffällig aus. Mit erkünstelter Leichtigkeit machte Lena mit einer Wendung nach dem Stehenden eine einladende Handbewegung, während die Kellnerin schon in Hörnähe war:
»Nehmen Sie Platz, Herr Gontard.«
Gontard setzte sich. Er nahm der Kellnerin, die ihm die Karte reichte, das weiße Blatt nicht aus der Hand, sondern bestellte in seiner gewohnten Art, kurz und befehlend, ein Getränk. Schwieg wieder, nachdem sich das Mädchen entfernt hatte. Lena hatte sich ihm voll zugewandt.
»Das haben Sie sehr geschickt gemacht, Herr Gontard«, sagte sie verhalten.
Ihre Sicherheit war ins Wanken geraten, aber sie empfand keine Furcht mehr. Entscheidung, klopfte es in ihr, Entscheidung! Es konnte ihr jetzt nicht mehr rasch genug gehen. Gontard antwortete nicht gleich. Sein Stierschädel war über den Tisch wie zum Stoß gesenkt. Die Hände hielt er unter dem Tisch verschränkt zwischen den Knien, als wollte er sie verbergen. Keine Gebärde der Verbindlichkeit lockerte seine Stellung, kein Lächeln, eine Frau zu gewinnen, hellte sein Gesicht, das die Farbe ausgedörrter Erdschollen trug.
»Sehr ungeschickt. Weiß es«, sagte er endlich heiser.
»O nein. Sehr fein haben Sie sich das ausgeklügelt.«
Jetzt, da sie dem Gegner gegenübersaß, allein mit ihm am gleichen Tisch, das Gesicht kaum einen Arm lang von dem seinen entfernt, so daß sie fast seinen Atem in der dünnen, zittrigen Luft zu spüren vermeinte, erfüllte sie seltsamerweise ein scharfer, kleiner, angriffslustiger Mut, der Mut der Angst.
»Sehr fein. Jetzt wissen Sie ja, daß ich es mir gefallen lassen muß, wenn der hohe Chef meines Mannes mir die Ehre erweist – jetzt ist es doch sogar eine Ehre, nicht, Herr Gontard – –?«
Irgend etwas ging in dem Mann vor, obzwar kein Muskel die fahle Wüste seines Gesichts erschütterte. Er löste nur die Hände unter dem Tisch aus ihrer Verschlingung und legte die Rechte auf das bunt gewürfelte Tuch der Platte. Die weiße, breite Pranke mit den etwas angezogenen Würgefingern ruhte, wie von Atemzügen bewegt. Es war eine undeutbare Geste.
»Sprechen Sie doch, Herr Gontard, sprechen Sie nur. Sie haben es ja geschafft, ich muß es mir anhören. Sagen Sie, was Sie wollen? Decken wir die Karten auf.«
Die Hand bewegte sich. Die Finger krümmten sich, zogen sich zusammen, rollten sich unter den Ballen. Einer Klammer ähnlich legte sich der Daumen von der Seite um die Faust. Zwischen den vorgenommenen Schultern füllte sich der breite Brustkorb mit Luft, daß der Rücken sich rundete. Gontard hob den schweren Kopf, die Gegner kreuzten die blanken Degen ihrer Blicke. Eine schmale, abwehrbereite Klinge aus bläulichem Stahl kreuzte sich mit breitem, weißlich blitzendem Schwert.
»Lassen Sie Ihren Mann. Lassen Sie Berlin. Teilen Sie mein Leben. Ich brauche Sie.«
Er sprach eindringlich. Seine Worte hatten den pressenden Druck des Dampfes, der an den Wänden des Kessels den Ausgang sucht.
Lena hielt dem Blick des Mannes stand. Alle Furcht und Befangenheit war von ihr abgefallen. Nur Empörung kochte in ihr. So einfach machte man es mit ihr? Hob sich die Pranke und legte sich auf sie? Sie schüttelte sich, als müßte sie ihre Schulter von einem Griff befreien. Durfte man es wagen, ihr jedes Anerbieten zu stellen, weil man sie und ihren Mann in Abhängigkeit gebracht hat? Einfach kaufen? Kaufen wie – – –? Ihr Mund zeigte das entblößte Weiß der Zähne. Rücksicht? Rücksicht auf Stellung, auf Geld? Hier gab es keine Rücksicht mehr. Einerlei war alles. Sie zog sich in ihren Stuhl zurück. Der Abstand zwischen ihnen mußte ganz groß sein.
»Sie sind sehr kurz und klar, Herr Gontard, das muß man Ihnen lassen. Hier Geld, hier Ware, nicht wahr? Streng kaufmännisch. Sogar nobel, nicht? Sie haben meinen Mann angestellt, das ist schon ein Vorschuß. Sie haben mich ausspionieren lassen, haben mir Ihre Kreaturen auf den Hals gehetzt. Da kann ich mir am Ende noch etwas darauf einbilden, daß Sie sich soviel Umstände gemacht haben. Aber Geld spielt ja bei dem Bankier Gontard keine Rolle, er kann sich das Vergnügen leisten. Wissen Sie, wie das alles ist? Schmutzig, schmutzig! Schmierig!«
Ihr Atem stieß. Ihr Hals blähte sich vor Ekel. Gontards Rücken rundete sich unter ihren Worten noch gewölbter, als hielte er ihn Schlägen hin. Die Degen beider Blicke waren noch gekreuzt. Und zum erstenmal in diesem Gefecht verwandelte sich das große, graue Gesicht Gontards. Langsam, langsam, als leckte schmelzend ein unterirdisches Feuer die hartgefrorenen Züge aus ihrer Erstarrung. Und es war qualvoll anzusehen, wie diese Verwandlung vor sich ging, wie die Mundwinkel sich vertieften, bis von ihnen breite Furchen zum Kinn liefen und es zwischen ihre Zangen nahmen, wie sich das Fleisch im Aufeinanderbiß der Kiefer bis zur Verzerrtheit zerspannte. Es hatte etwas Gewaltsames, als Gontard nach langer Pause die Verklammerung der Kiefer auseinanderriß, um eine Frage zu stellen:
»Sie lieben Ihren Mann sehr?«
Lena fühlte eine Schwäche des Gegners. Und sie hieb fast mit Wollust nach dieser Blöße:
»Ja, sehr, sehr. Über alles. Und niemanden sonst. Und jetzt, nicht wahr, Herr Gontard, jetzt werden Sie meinen Mann hinauswerfen? Nur keine falsche Scham, Herr Gontard, keine Scham. Es geht um Ihr Geld, um Ihr kostbares Geld.«
Aber sie hatte kaum die Worte aus dem Gefäß des Mundes über ihn hingeschüttet, erschrak sie über die Wirkung auf ihren Tischgenossen. Aufgetaut war die eisige Gebanntheit der Muskeln, und ein so leidvoll trauriges Gesicht starrte ihr entgegen, daß sie meinte, nie wieder dieses Bild schmerzlicher Zerrissenheit aus dem Gedächtnis wischen zu können. Gontard stützte die Ellenbogen auf den Tisch, seine ungeheuren Hände legten sich stützend um das schwarze Gekraus des Kopfes, und diese Hände, denen man zutraute, Eisen brechen zu können, bewegten sich in rascher, kurzzuckender Schwingung. Gontards Hände zitterten. Er öffnete zwei-, dreimal die ausgedörrten Lippen, ehe die Stimme Laut bekam, einen ausbrechenden Laut, der aus einer zweiten, zutiefst verschütteten Seele des Mannes aufgestiegen schien und noch erschütternder war als der Schmerzenskrampf seines Gesichts:
»Kann ich denn etwas tun, was für Sie ein Schmerz wäre?«
In jähem Schrecken verglaste der blaue Blick Lenas. So erschrak jemand, der mit einem unberechneten Streich der Abwehr einen Menschen erschlägt, und dem nun aus der von Todesangst entstellten Maske eines Sterbenden das verhallende Gurgeln der Erstickung entgegenröchelt. Zaghaft, nur um die furchtbare Stille, die den Tisch wie eine schleimige Masse umwogte, zu zerreißen, fragte Lena leise, stockend:
»Was haben Sie denn – an mir?«
Er löste die Hände aus dem Haar, ließ sie die Wangen entlanggleiten, als könnte er die Verwühltheit der Züge glätten. Etwas schwebte ihm auf den Lippen, das er nicht aussprach. Er, der in Aufsichtsratsversammlungen, im Kampf mit den gewiegten und fintenreichen Streitern des Großkapitals die schärfste Klinge schlug, dessen Antworten mit kurzen, klatschenden Schlägen den überraschten Gegner an die Wand nagelten, suchte verzweifelt nach einer Antwort und fand nur eine, die ewige, die schönste, wenn sie aus der Tiefe aller Tiefen kommt und das Herz ausbreitet mit der demütigen Geste der Hingabe:
»Ich liebe Sie.«
Er sagte es so einfach, so tonlos, so verschämt wie eine Frau, die immer noch angstvoll – den schüchternen Mut des ersten, tiefen Bekenntnisses findet. Und doch wieder, wie nur ein Mann verschämt sein kann, dessen zehnfach überlagerte Härte aufgesprengt wird von der Urkraft des Gefühls und aus dem Spalt zerborstenen Granits eine zarte, blasse Blume aufsprießen läßt.
»Ich liebe Sie«, wiederholte er und lauschte selbst, den ungewohnten Klang ins Ohr zu schlürfen. Seine Hand, ein weißer Hund mit weichen Gelenken, kroch bittend zutraulich auf den Tisch, näherte sich ihrer kleinen, die die Sonne schon mit einem Hauch lichter, flaumiger Bräune bemalt hatte, bis auf Spannweite und getraute sich nicht vor. Die furchtbare Hand Gontards mit den flachen, hornbewehrten Kuppen an den starken Fingern lag gebändigt und friedlich gespreizt neben der zierlichen, gestreckten Frauenhand. Lena rührte sich nicht. Sie hatte in der ersten Überraschung den Kitzel einer spöttisch leichten Antwort verspürt, aber bevor noch der geschürzte Mund die Worte formen konnte, begann Gontard, wie aus einer Verzauberung heraus, zu reden. Der Knappe quoll von Worten über, die, hungrig nach Freiheit und Licht, aus dem aufgerissenen Spalt den Weg zu den Lippen bedrängten:
»So wie Sie mich vom ersten Augenblick an gefürchtet haben, so habe ich Sie geliebt vom ersten Augenblick. Ich mußte, mußte, wie ich mein ganzes Leben alles gemußt habe, was ich tat. Nur – dieses eine habe ich gern gemußt.«
Das Gestein, das sein Herz belagert hatte, klaffte breit auseinander, und er senkte selbst flackernde Fackeln hinein, die Tiefe auszuleuchten. Sprechen können, sprechen dürfen, sprechen müssen. Unausschöpfbare Wonne eines Mundes, der sich seit den Tagen des ganz jungen Menschen zu nichts anderem aufgetan hatte, als zum Handeln und Feilschen, zum Überreden und Erzwingen, Zahlen zu sprechen, Befehle zu geben. Der sich gewaltsam in schmerzhafter Selbstbeherrschung geschlossen hatte, sobald Menschliches, Schwaches, Weiches in die Kehle stieg.
Wie durch einen Wolkenriß blitzten Seele und Leben des Mannes auf. Elendsjugend, Waten durch Schmutz, der bis ans Herz gespritzt hat, sengender, unverlöschlicher Haß gegen Vater und Mutter, Haß gegen alle, alle, gegen die ganze menschliche Gesellschaft, die ihn getreten hat, wie sie sich jetzt vor ihm krümmte. Brutaler Aufstieg über Leichen, Ellenbogen nach außen, wie ein Tank Schwierigkeiten niedermalmend. Hart vorbei an der äußersten Linie des Gesetzes. Der Arme gierend nach Geld, der Machtlose gierend nach Macht, zielgerichtet der ganze Mensch mit Hirn und Muskeln, ganz auf sich gestellt, ganz aus sich heraus, einsam bis an die letzte Grenze des Ertragbaren. Und in der Wüste dieser Einsamkeit steht eines Tages ein Gesicht. Nein, eine Erinnerung, die zugleich das Gesicht ist. Bildnis einer Toten, keiner Geliebten, sondern eines kleinen, hustenden Mädchens, eines Kindes, mit dem man als Zwölfjähriger gespielt hat, in einer hochkant gestellten Kiste. Die hatte in einer finsteren Hofecke gestanden und war Haus und Wohnung. Mit einem großen Astloch in der Rückwand. Das Astloch war das Fenster. Dieses hüstelnde, verhungerte Kind war das einzige Wesen, das einen nicht haßte, nicht fürchtete, das ein Streicheln und eine Liebkosung übrig hatte.
Da war ein bestimmtes Ereignis. Der Junge schlief in der Kiste. Oben in der Wohnung war nie Ruhe, immer Lärm, Streit, Trunkenheit. In der Kiste konnte man schlafen. Das kleine Mädchen spielte »Hund« und paßte auf. Machte »wau wau«, wenn jemand kam. Der Junge muß im Schlaf gefroren haben, der Hund zog das Kleidchen aus und deckte den Kameraden zu. Saß im Hemdchen daneben, mit schwindsuchtsdünnen, nackten Armen, zitternd und hüstelnd und machte »wau wau«, weil die große Schwester kam, die Fünfzehnjährige. Die vermutete etwas anderes, kreischte schimpfend, schlug –
»– – – schlug mich und die Kleine. Ich war ihr schon am Hals, mit der Hand an der Kehle und drückte zu. Sie zerriß mir mit den Nägeln das Gesicht und stieß mich mit den Füßen. Ich drückte zu. Ein Mann kam gelaufen und riß meine Finger von ihrem Hals, aber da war sie schon ohnmächtig.«
Die Hand Gontards krümmte sich auf dem Tisch, Daumen und Zeigefinger bildeten eine wilde Zange, die sich erbarmungslos um etwas krallte, das nicht da war. Die kleine, gestreckte Frauenhand lag ohne Angst spannweit neben ihr und war in Versuchung, an die würgende Zange heranzukriechen, sie in einer schmeichelnd beruhigenden Bewegung zu berühren.
Das Gesicht ist eines Tages da, das alles wieder aufrührt, das einen zwingt nachzulaufen, zu spionieren, zu lauern, weil einem die Worte innen gegen die Brust klopfen und hämmern und hinauswollen.
»Das war Ihr Gesicht.«
»Sehe ich denn der Kleinen ähnlich?«
»Gar nicht. Es ist etwas anderes. Weiß es nicht.«
Sie schwiegen wieder. Sein Blick war verloren auf das gewürfelte Tischtuch gesenkt. Lenas Augen umkreisten Gontards Kopf. Das war der große, gefürchtete Bankier, der Mann mit der Pranke, Herr ungemessener Reichtümer, der im Vorzimmer Staatsmänner warten ließ, von dem man erzählte, daß er in absichtlicher Mißachtung gesellschaftlicher Formen Fürstlichkeiten im Straßenanzug besucht hätte. Seltsam. Sie würde hinter diesem großen Gesicht und den Quaderschultern immer den zwölfjährigen Jungen sehen. Der Junge war groß geworden, deshalb war er doch der Junge aus der Kiste, den das Streicheln eines schwindsüchtigen Kindes gebändigt hat. Plötzlich – mitten aus ihren Gedanken heraus, ganz ohne Zusammenhang, fragte sie:
»Und Fräulein von Gernsheim?«
Er wunderte sich nicht, daß sie es wußte. Schien ihre Frage erwartet zu haben.
»Wir trafen uns. Auch das mußte sein. Sie gehörte zu meinem Schicksal, und zu ihrem Schicksal gehörte ich. Das ist erfüllt. Wir waren aneinander gekettet. Die Kette ist zerrissen.«
Nach einer langen Weile begann sie wieder:
»Herr Gontard, unser Gespräch ist anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich gestehe es offen. Ich bin froh, sogar ein bißchen stolz, daß ich Sie kennengelernt habe – – ich meine, von einer anderen Seite, als die anderen Sie kennen. Aber Sie werden verstehen, ich habe um meine Ehe gekämpft, um meine Ruhe, um mein Glück, und ich liebe – – Sie wissen ja auch gar nicht, wie ich bin, Sie reden sich in etwas hinein –«
Er hob so heftig die Hand, daß sie innehielt. Versteht sie denn nicht? Versteht sie nicht, was für ihn abhängt? Er will nichts mehr von ihr, verlangt nichts mehr. Nur sie hin und wieder sehen. Nur ihre Freundschaft. Nein, nicht einmal ihre Freundschaft. Nur ihre Gegenwart.
Welcher Frau würde die demütige Liebe dieses nüchternen, geldgierigen, unbarmherzig mächtigen Mannes nicht schmeicheln, welche nicht irgend etwas empfinden? Erschütterung oder Stolz oder Befriedigung? Sünde oder nicht – es tut gut, das alles zu hören. Er will ja nichts. Nichts, nichts, was andere von einer Frau verlangen. Freundschaft – ja! Hin und wieder treffen – ja. Nichts weiter. Es geschieht doch auch für ihren Mann, der jetzt so glücklich ist, am Ziel zu sein. Nein, es ist nicht wahr, nicht für ihren Mann, sondern für diesen Menschen, der unglücklich ist, dem man helfen kann – mit nichts, mit einer armseligen Stunde wöchentlich.
»Eine Stunde wöchentlich in einem Lokal. Wie zwei Freunde. Und Sie schwören mir, daß Sie nichts weiter verlangen werden. Sie schwören mir bei irgend etwas, das Ihnen heilig ist. Sehen Sie, jetzt schweigen Sie auf einmal. Schwören können Sie nicht, weil Sie es nicht halten wollen.«
Er sprach es leise wie ein Schuldbekenntnis:
»Es ist mir – noch nichts heilig gewesen. So müssen Sie glauben.«
Der kurze Weg nach dem Bahnhof Thielplatz streckte sich in mittäglich warmer Sonne. Bei der Biegung flatterte das lichte Sommerkleid einer Frau, die noch einmal, den Hut in der Hand schwingend, den blonden, schmalen Kopf wandte. Am Ausgang der kleinen Waldschänke stand massig und schulterfest der Mann, der unverwandt der entschwindenden Gestalt nachblickte. Und der Mann, den noch niemand lächeln gesehen hatte, lächelte, lächelte, mit dem Gesicht des zwölfjährigen Jungen aus der Kiste.
Lena drückte sich in eine Ecke des langen Untergrundbahnwagens. Der Tunnel hatte seine ungewissen Schrecknisse verloren, er war kein verschlungener, ausgangsloser Schacht mehr, sondern ein nüchterner, praktischer Verkehrsweg, um rasch nach Hause zu gelangen. Sie war voll widerstreitender Gefühle und Gedanken. Vielleicht war es doch nicht richtig, daß sie nachgegeben hatte. Irgend etwas war daran nicht in Ordnung. Sie hatte doch nicht gewollt und hatte sich nun trotzdem – – – Gut, aus Mitleid. Aber war sie nicht am Ende nur dem stärkeren und geschickteren Gegner unterlegen, der sie an ihrer schwachen Stelle zu nehmen gewußt hatte. Der Junge in der Kiste, das schwindsüchtige kleine Mädchen, das im Hemdchen frierend daneben sitzt – das war Kitsch, auf die Tränendrüsen weichherziger Zuhörer berechnet. Und sie war darauf hereingefallen. Aber das war das Merkwürdige an diesem Menschen, daß in seinem Mund alles besondere Bedeutung erhielt, daß etwas von ihm ausstrahlte, das den Worten ihren alltäglichen, abgenutzten Sinn nahm und ihnen einen neuen, ungewöhnlichen gab. In seiner Gesellschaft schien alles – und er selbst am meisten durch die Doppeltheit seines Wesens – geheimnisvoll und abenteuerlich und gefährlich auf eine bestimmte Art. Lena wußte nicht, wie sie sich Hugo gegenüber verhalten sollte. Das Natürliche, Selbstverständliche dünkte ihr, ihm einfach alles zu erzählen. Alles? Konnte man dem eigenen Mann sagen: »Du, ich werde mich jede Woche einmal mit deinem Brotherrn treffen. Ich tue es aus Mitleid, weil dieser Mensch unglücklich ist und mich braucht. Er braucht mich, weil er mich liebt.« Das konnte man nicht sagen. Der Vertrauensseligste würde argwöhnisch werden, eifersüchtig, würde ihr verbieten – – ach, das wäre vielleicht gut, das wäre vielleicht das Glück. Es wäre viel schlimmer, wenn er sie gehen ließe, blind von kleinlicher Berechnung, fasziniert vom Geld, von der »großen Chance«, die jetzt sein Steckenpferd war. Es war ja so menschlich, daß er vorwärtskommen wollte. Und natürlich wollte er das nicht nur für sich, sondern auch für sie. Im Grunde war er ihr harmloser, großer Junge, anständig im Kern, und sie liebte ihn. Ach, es war alles so schwer. Als sie am Wittenbergplatz ausstieg, hatte sie noch keinen Entschluß gefaßt.
Hugo wartete schon ungeduldig.
»Nanu, so spät? Rasch, bitte, ich habe dringend zu tun.«
Er hatte immer dringend zu tun, hatte es immer eilig, wenn er wartete. Als sie dann bei Tisch saßen, aß er mit breiter Gemächlichkeit, als ob es nichts Wichtigeres gäbe als das Mittagbrot. Lena zerteilte auf ihrem Teller mit spitzen Fingern das Fleisch und sagte beiläufig, ohne den Blick zu heben:
»Was meinst du, wen ich gesehen habe?«
»Na?«
»Gontard.«
»Aber! Wo denn?«
»In Dahlem in einer Konditorei.«
Er legte Messer und Gabel hin vor Erstaunen.
»Ist ja komisch. Das kann man sich gar nicht vorstellen, daß dieser Kannibale Kaffee trinkt und Brötchen ißt wie andere Menschen. Ich habe immer die Vorstellung, er lebt von rohem Fleisch. Hat er dich gesehen?«
Lena klopfte das Herz, sie zögerte mit der Antwort.
»Ich – glaube – ja –«
»Gegrüßt?«
Jetzt – jetzt – müßte man alles sagen. Hatte sie die Farbe gewechselt? Gewaltsam schlang sie den Bissen hinunter, den sie im Mund hatte, als würde das ihre Röte erklären. Sie forschte im Gesicht ihres Mannes. Am liebsten möchte er hören, wir haben uns liebenswürdig unterhalten, dachte sie. Sie las es von seiner gespannten Miene. Es bäumte sich etwas in ihr.
»Nein.«
Das war die erste Lüge in ihrer Ehe. Daß man an dem Wort nicht erstickte, war ihr unfaßbar. Sie erschrak, daß sie es herausgebracht hatte, daß es so leicht gegangen war.
»Flegel bleibt schon Flegel«, sagte er. »Siehst du, wenn du aber geschickt wärst – –«
»Ich bitte dich, hör' auf, Hugo. Hätte ich vielleicht – –?«
»Ich mache dir doch keine Vorwürfe. Es ist ja gut, du kannst so etwas nicht. Susi wäre mit ihm ins Gespräch gekommen, da kannst du dich drauf verlassen. Na ja, ich muß eben alles selber machen.«
Jedes seiner Worte reizte sie über alle Maßen. Am liebsten wäre sie ihm mit der Wahrheit ins Gesicht gesprungen, um sich an seiner Betroffenheit zu weiden. Mit einemmal lag eine besondere Stimmung in der Luft. Ganz unversehens war sie da. Lena wurde sich jetzt erst deutlich bewußt, daß sich mit ihrem Verschweigen ein Geheimnis zwischen sie und ihren Mann geschoben hatte. Daß plötzlich etwas in ihrem Leben war, woran er keinen Teil hatte. Lust, prickelnde Lust am Spiel erfaßte sie. Lust, das Gespräch mit der Wirklichkeit zu mengen.
»Im Ernst, wäre es dir recht gewesen, wenn ich Gontard durch Koketterie dazu gebracht hätte, mich anzusprechen und mir von ihm hätte den Hof machen lassen?«
Er spürte undeutlich, wo sie hinauswollte und mochte doch seinen Standpunkt nicht ganz aufgeben.
»Recht?! recht?! Du nimmst alles gleich so tragisch. Es ist doch nichts dabei, wenn ein Mann einer hübschen Frau ein paar Artigkeiten sagt. So etwas schafft, wenn man in geschäftlicher Beziehung steht, eine angenehme Stimmung. Etwas anderes meine ich nicht.«
»Aber es hätte doch auch sein können, daß ich ihm besser gefallen haben würde, als nur so oberflächlich. Wenn er mich nun mit Anträgen verfolgt hätte, mich gebeten hätte, mich mit ihm hinter deinem Rücken zu treffen – –«
Ohne es zu wollen, kam sie in Erregung. Weshalb verstand er nicht, daß sie von ihm erwartete, er solle sich jetzt, gerade jetzt bewähren. Er fand nur ihre Nervosität übertrieben. Schlug einen scherzenden Ton an.
»Wie mein Dummchen sich diesen Menschenfresser vorstellt! Als verliebten Jüngling, der um ein Stelldichein bettelt. Da kann ich nur lachen.«
Seine Frau war heute so komisch. Sie ließ und ließ nicht locker. Von dieser Seite kannte er sie sonst gar nicht.
»Es könnte doch sein. Er wird auch nur sein wie andere Männer, denen mal eine Frau gefällt. Fräulein von Gernsheim scheint ihm doch auch – –«
»Das ist ganz etwas anderes«, fiel er ein. »Diese Frau ist ein so ganz anderer Typ, das kann man verstehen. Aber Gontard und Hausmannskost – nein, nein, da bin ich denn doch ein zu guter Menschenkenner.«
»Aber es könnte doch sein«, wiederholte sie. »Und wenn es so käme?«
»Könnte! Gewiß könnte es! Wenn Gott will, schießt auch ein Besen. Aber Gott will eben nicht, daß die Besen schießen.«
Kröning lachte laut und herzlich. Der Name Evelyne löste Feindseligkeit in Lena aus. Hugo kannte ja kaum noch einen anderen Gesprächsstoff als Gontard und Evelyne. Evelyne und immer wieder Evelyne. Also Evelyne ja, und sie nicht? Daß man sich in Evelyne verliebte, war verständlich. Das war der »Typ«, der reizte, lockte. Aha! Und sie war die biedere Hausmannskost, ohne Würze, wohl ein wenig langweilig. Daß man sich in sie verlieben könnte, war ganz und gar unwahrscheinlich.
»Aber Dummchen, nicht doch. Was du zusammenredest.«
»Ja, natürlich Dummchen! Ich weiß, ich bin das Dummchen.«
Tränen standen in ihren Augen. Hugo konnte sie nicht weinen sehen. Er legte das weiße Mundtuch fort, ging um den Tisch herum und nahm seine Frau in den Arm.
»Ja, willst du denn um jeden Preis, daß Gontard dich liebt. Genügt es dir denn nicht, wenn ich dich liebe?«
Er küßte ihren frischen, schönen Mund in seiner schmeichlerisch schalkhaften Art, die manchmal sehr reizend sein konnte und sie besiegte. Sie sträubte sich noch ein wenig, aber er drehte mit sanftem Druck ihren Kopf zu sich:
»Gleich kommt der böse Gontard und holt dich, wenn du nicht lieb bist.«
Sie mußte zwischen Tränen lächeln.
»Und du wirst mich festhalten, wenn der böse Gontard kommt? Ganz fest?«
»Ganz fest! Wie ein alter Ritter werde ich vor dir stehen mit einem mächtigen Schwert, und wehe, wenn er dich anrührt, wehe!«