Xenophon
Sokratische Gespräche aus Xenofons denkwürdigen Nachrichten von Sokrates
Xenophon

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3.
Sokrates, Lamprokles, sein Sohn

Sokrates bemerkte einst, daß sein
ältester Sohn Lamprokles über seine Mutter
ungehalten war. Dies veranlaßte
folgendes Gespräch zwischen dem Vater
und dem Sohne.

Sokrates. Sage mir, mein Sohn, hast du je Gelegenheit gehabt, Menschen kennen zu lernen, die man undankbar nennt? –

Lamprokles. O Ja.

Sokrates. So wirst du vermuthlich auch wissen, wodurch sie sich diesen Namen zuziehen? –

Lamprokles. Allerdings; wer Gutes von einem andern empfangen hat, und es ihm nicht vergilt wenn er Gelegenheit dazu bekommt, wird undankbar genennt. –

Sokrates. Denkst du, es geschehe den Undankbaren zu viel, wenn man sie mit den Ungerechten in Eine Linie stellt? –

Lamprokles. Ich denk' es nicht.

Sokrates. Aber sollte nicht vielleicht ein Unterschied in Rücksicht auf Freund oder Feind Statt finden? Es wäre unrecht, unsere Freunde zu unterjochen, aber unsere Feinde zu Sklaven zu machen, wird für recht gehalten. Verhält es sich etwa eben so mit der Undankbarkeit? Ist Undank nur gegen Freunde ungerecht, gegen Feinde hingegen gerecht? Hast du je hierüber nachgedacht?

Lamprokles. O Ja, und mich däucht, wer es auch sey, von dem man Gutes empfangen hat, Freund oder Feind, es bleibt immer unrecht, wenn man ihm nicht Dankbarkeit zu beweisen sucht.

Sokrates. Wenn dem so ist, so wäre also Undankbarkeit deiner Meinung nach, offenbare Ungerechtigkeit?

Lamprokles. Ich bin gänzlich dieser Meinung.

Sokrates. Und je größer die empfangenen Wohlthaten wären, die einer nicht zu vergelten suchte, desto größer das Unrecht?

Lamprokles. Unläugbar.

Sokrates. Wo fänden wir nun wohl den Menschen, der von einem andern größere Wohlthaten empfangen hätte, als Kinder von ihren Eltern? Wem sonst als unsern Eltern haben wirs zu danken, daß wir da sind, uns des Anblicks so vieles Schönen erfreuen, so vieles Gute genießen, das die Götter den Menschen darreichen, und worauf wir einen so hohen Werth legen, daß wir nichts so sehr fürchten als es zu verlieren. Daher haben alle bürgerlichen Gesellschaften auf die größten Verbrechen die Todesstrafe gesetzt, weil sie kein größeres Uebel kannten, um durch die Furcht desselben ihre Bürger von frefelhaften Thaten abzuschrecken. Solltest du dir etwa einbilden, man zeuge Kinder der Befriedigung des Geschlechtstriebs wegen, so würdest du dich sehr irren; denn von Gelegenheiten diese Lust zu büßen sind Straßen und Häuser voll. Offenbar zeigt sich schon in der Wahl der Gattin, daß wir auf die künftigen Kinder Rücksicht nehmen, und uns um eine solche bewerben, mit welcher wir starke und gesunde Kinder zu zeugen hoffen.Sokrates scheint hier und im nächstfolgenden sich selbst und seine Gattin im Sinne gehabt zu haben, wiewohl er mit gutem Bedacht so spricht, als ob das was er sagt von allen Vätern und Müttern gelte. Daß unter βελτιστα (τεκνα) hier gesunde, wohlgestaltete, dauerhafte Kinder zu verstehen seyen, hat Hr.  Weiske sehr richtig bemerkt. Daher nimmt der Mann die Sorge auf sich, das Weib, das zu diesem Zweck mit ihm übereingekommen ist, zu ernähren, und alles, was den künftigen Kindern zum Leben und Fortkommen nöthig ist, so reichlich, als er nur immer vermag, anzuschaffen. Wie lästig ihm aber diese Sorge seyn mag, das Weib übernimmt dennoch die schwerere Last.Diesen Satz habe ich des deutlichem Zusammenhangs wegen eigenmächtig eingeschoben. Nachdem Sie empfangen hat, trägt sie die Bürde mit großer Beschwerde, entzieht sich, um ihr Kind zu nähren, einen Theil ihrer eigenen Nahrung, und nachdem sie es endlich mit Schmerzen und Lebensgefahr gebohren hat, säugt sie es, wartet und pflegt seiner mit der mühsamsten Sorgfalt, und alles das, ohne den geringsten Vortheil von ihm zu haben, und zu einer Zeit, da das Kind noch nicht weiß, wer ihm so viel Gutes erweißt, und noch unvermögend ist seine Bedürfnisse zu erkennen zu geben: Aber Sie erräth was ihm gut seyn oder Vergnügen machen kann, versucht bald dies bald jenes, und läßt sich Tag und Nacht keine Mühe dauern, ohne zu wissen, welchen Dank sie dafür empfangen werde. Und dabey lassen es die Eltern nicht bewenden, sondern sobald sie sehen, daß die Kinder im Stande sind etwas zu lernen, geben sie ihnen Unterricht, und wenn sie einen andern wissen, von dem sie dieses oder jenes besser lernen können, so schicken sie dieselbe zu diesem, und sparen keine Kosten, um ihnen die beste Erziehung zu geben.

Lamprokles. Wohl! Und wenn sie (meine Mutter) auch alles was du sagtest und noch viel mehr dergleichen gethan hat, so ists doch nicht menschenmöglich eine Gemüthsart wie die ihrige auszustehen.

Sokrates. Du denkst doch nicht, daß eine Mutter noch ärgere Mucken haben könne als ein Thier?

Lamprokles. Eine solche Mutter ganz gewiß.

Sokrates. Hat sie dich denn jemahls gebissen oder gegen dich ausgeschlagen?

Lamprokles. Das eben nicht, aber sie machts noch ärger; sie sagt Einem Dinge, die kein Mensch in seinem ganzen Leben hören möchte.

Sokrates. Und du denkst nicht wie viel unangenehme Augenblicke du ihr von Kindesbeinen an gemacht hast? Wie oft sie vor deinem Geschrey bey Nacht kein Auge zuthun konnte? Wie manchen Verdruß und Aerger du ihr den ganzen Tag über durch deine Unarten gemacht, und wie viel sie mit dir ausstehen mußte, wenn du krank warst?

Lamprokles. Ich hab ihr doch in meinem Leben nichts gesagt noch gethan, wodurch sie sich für beschimpft hätte halten müssen.

Sokrates. Warum, meynst du, solltest du das, was sie dir sagt, nicht eben so gelassen anhören können, als die Schauspieler, die einander in Tragödien oft die abscheulichsten Dinge ins Gesicht sagen?

Lamprokles. Das ist ein anderes; die können das leicht ertragen, da sie wissen, daß es nicht böse gemeynt ist, und daß ihnen alle diese Vorwürfe und Drohungen keinen Schaden thun werden.

Sokrates. Und du, der du deiner Mutter eine harte Rede so übel nimmst, weißt nicht auch du recht wohl, daß sie nicht nur nichts böses gegen dich im Sinne hat, sondern im Gegentheil es so wohl mit dir meynt als mit keinem andern in der Welt? Oder glaubst du, daß deine Mutter dir wirklich übel wolle?

Lamprokles. Das glaub' ich nicht.

Sokrates. Wie? und du nennst eine Mutter unerträglich, die dir wohl will, und nach ihrem besten Vermögen dafür besorgt ist, daß du, wenn du krank bist, wieder gesund werdest, und daß es dir überhaupt an nichts, was du nöthig hast, fehle, und die überdies täglich für dich zu den Göttern betet, und Gelübde thut daß es dir wohl gehen möge? Wahrlich, wenn du eine solche Mutter nicht ertragen kannst, so weiß ich nicht wie du in der Welt fortzukommen hoffen kannst. Glaubst du etwa, du werdest nie in den Fall kommen, einem Andern mit Ehrerbietung begegnen zu müssen? Oder legst du es darauf an, keinem Menschen gefällig seyn oder nachgeben zu wollen, auch nicht im Kriege deinem Officier, oder sonst einer obrigkeitlichen Person?

Lamprokles. Das ist keinesweges meine Meinung.

Sokrates. Mußt du nicht auch mit deinem Nachbar auf einem guten Fuß stehen, damit er dir erlaube Feuer von seinem Heerde zu nehmen, wenn du dessen bedarfst, oder dir andere kleine Gefälligkeiten erweise, und dir in einem Nothfall mit Rath und That zu Hülfe eile? Wenn du jemanden zu Land oder zu Wasser zum Reisegefährten bekommst oder sonst mit ihm zusammentriffst, ist dirs gleichviel, ob er dein Freund oder Feind ist? Oder glaubst du nicht, es sey wohlgethan, wenn du dich auch bey solchen Personen beliebt zu machen suchst?

Lamprokles. Ich denke nicht anders.

Sokrates. Nun, wenn das ist, wie kannst du dich selbst von der Pflicht, deine Mutter, die dich liebt wie kein andrer dich jemahls lieben wird, zu ehren, frey sprechen wollen? Wisse, wenn du es noch nicht weißt, daß die Gesetze, die von andern Arten der Undankbarkeit keine Kenntniß nehmen, auf den Undank gegen die Eltern die Strafe gesetzt haben, den, der sich dessen schuldig gemacht hat, vom Archontat auszuschließen; in der Voraussetzung, daß ein solcher Mensch weder den Göttern ein gefälliges Opfer für die Stadt bringen, noch irgend ein anderes Geschäfte gehörig und gedeihlich verrichten könne; ja es ist sogar eine von den Fragen, die den künftigen Archonten, bey der öffentlichen Untersuchung ihrer Wahlfähigkeit vorgelegt werden: ob sie auch dem Grab ihrer verstorbenen Eltern die gebührende Ehre angethan haben? Du hast also, wenn ich von deinem Kopf und Herzen gut denken soll, große Ursache, mein Sohn, die Götter um Verzeihung alles dessen zu bitten, womit du dich etwa gegen deine Mutter vergangen hast, damit nicht auch sie dich für einen Undankbaren ansehen und dir ihre Wohlthaten entziehen. Auch hüte dich wohl, die Menschen nicht merken zu lassen, daß du dir nichts aus deinen Eltern machst; alle würden sich mit Verachtung von dir zurückziehn, und dich freundlos und allein in der Welt stehen lassen. Denn wenn sie einmal die Meinung von dir gefaßt hätten, du seyest ein undankbarer Sohn gegen deine Eltern, würde Niemand glauben, daß du es ihm Dank wissen würdest, wenn er dir Gutes bewiese.

Erläuterung

Ohne itzt in eine Betrachtung des innern Werths dieses kleinen Dialogs einzugehen, (worüber Hr.  Weiske viel richtiges und fein gedachtes gesagt hat) bemerke ich hier bloß, daß er auch deswegen interessant ist, weil er die gemeine und zu einem beynahe unauslöschlichen Vorurtheil verjährte schlimme Meinung von der Gattin des Sokrates, die sich hauptsächlich auf eine Stelle in Xenofons Gastmahl und etliche alberne Anekdoten im Diogenes LaertiusIch habe nie begreifen können und begreife noch nicht, wie man den ohne Ordnung, Kritik und Geschmack zusammengetragenen Kollektaneen dieses unbekannten Autors aus dem 3ten Jahrhundert nach Chr. Geb. den Nahmen von Lebensbeschreibungen der Filosofen hat geben mögen, da es doch in die Augen fällt, daß es bloß unordentliche Materialien zu einem Werke sind, das er vielleicht künftig einmahl zu schreiben im Sinne hatte. Auch so, wie sie sind, haben sie freylich noch immer einigen Werth, nur einen unendlich geringern, als ihnen von den Filologen gewöhnlich beygelegt wird. stützt, zu berichtigen dienen kann.

Was der junge Lamprokles in diesem Gespräch von dem unerträglichen Wesen seiner Mutter sagt, bestätigt Antisthenes, einer der wärmsten Anhänger des Sokrates, durch die Frage, die er in besagtem Gastmahl an seinen Meister thut: »Wenn, wie du sagst, ein Mann seine Frau bilden kann wie er will, Sokrates, warum hast denn du die deinige, die von allen Widerbellerinnen, die ehemals lebten, jetzt leben, und künftig leben werden, die unerträglichste ist, nicht zu einem zahmem und mildern Wesen umgebildet?« – Aber die scherzhafte WendungWiewohl eine Menge platter Herren, die seiner Antwort erwähnen, sie für bittern Ernst nehmen. wodurch Sokrates eine direkte und ernsthafte Antwort auf eine so unbescheidene Frage von sich ablehnt, ob sich gleich aus ihr schließen läßt, daß er die gute Xantippe, von dieser Seite für unverbesserlich gehalten habe, sagt doch deutlich genug, daß er selbst sich sehr wohl mit ihr habe vertragen können; und der Begriff, den man sich aus der gegenwärtigen Unterredung mit seinem Sohn von ihr zu machen bewogen wird, scheint mir nicht nur jene Vertragsamkeit ganz begreiflich zu machen, sondern überzeugt mich sogar, daß Sokrates vielleicht in ganz Attika keine Frau hätte finden können, die besser für ihn getaugt hätte, und ihm sogar zur Aufrechterhaltung seines Hauswesens unentbehrlicher gewesen wäre als Sie.

Xantippe scheint mir, bloß nach ihrem vornehmen Nahmen,Nach Gewohnheit der Athener bekam sie den Nahmen Xantippe entweder ihrem Vater, oder dem Großvater von väterlicher oder mütterlicher Seite, zu Ehren, deren einer Xantippos hieß; und daß dies ein adelicher Name war, erinnern wir uns aus der ersten Scene der Wolken. Der Vater des Perikles führte diesen Nahmen, und es wäre nicht unmöglich, daß Xantippe eine Anverwandte von ihm und dieser Umstand die Veranlassung gewesen wäre, daß Sokrates in seinen jüngern Jahren den Zutritt im Hause des Perikles erhielt, und mit Alkibiades dem Neffen dieses großen Staatsmannes, in so vertrauliche Bekanntschaft gerieth. zu urtheilen, aus einem guten Hause in Athen gewesen zu seyn; aber vermuthlich ohne Vermögen, was sehr häufig der Fall aristokratischer Töchter zu Athen war, dafür aber, was nicht häufig der Fall war, so häuslich und wirthschaftlich erzogen, daß Sokrates, dessen ökonomische Umstände sehr übel zu einer Dame, wie etwa die Gemahlin des ehrlichen Strepsiades in den Wolken war, gepaßt haben würden, große Ursache hätte sich in ihr glücklich zu preisen. Ich stelle sie mir (nach einem Wink, den Sokrates in diesem Gespräch hierüber zu geben scheint) als eine Frau aus der Klasse der Männinnen vor, die den Mangel an zarter Weiblichkeit und Grazie, durch eine stattliche Amazonengestalt und eine derbe rüstige Leibesbeschaffenheit ersetzen; von raschem, leicht aufbrausendem Temperament, etwas streitlustig und gern das letzte Wort behaltend; übrigens eine fleißige, emsige, auf alles aufmerksame, streng über guter Zucht und Ordnung haltende Hausmutter, die ihre liebe Noth mit drey solchen jungen Bengeln hatte, wie ich mir die Söhne des Sokrates vorstelle, und täglich Gelegenheit genug bekommen mochte, sich über ihre Unarten zu ereifern. Denken wir uns noch die sehr knappen Umstände eines Gelehrten hinzu, der weder Geld verdienen wollte, noch sonst auf eine zulängliche sichre Einnahme rechnen konnte, und wie viele Sorgen eine brave Hausfrau in einer solchen Lage hat, um die Oekonomie im Gang zu erhalten ohne einem Manne wie Sokrates mehr zuzumuthen als recht war; so begreift man um so leichter, wie eine Frau, auf welcher so viele Sorgen liegen, zu einer habituellen Säure kommen kann, die nur kleiner Veranlassungen nöthig hat, um alle Augenblicke in ungestüme Hitze aufzubrausen, und ihrer übeln Laune durch Brummen und Schelten Luft zu machen. Sokrates, der ohnehin nicht viel zu Hause war, konnte sich, bey seiner ihm eigenen Kälte und Gleichmüthigkeit, leicht gewöhnen, den Rauch um des Feuers willen zu ertragen, und einer Frau, die so wesentliche Verdienste um ihn hatte, einige, wiewohl sehr beschwerliche Fehler, ihrer guten Eigenschaften wegen zu übersehen: aber von einem jungen Menschen, wie Lamprokles, der sich wahrscheinlich mehr auf seinen Vater einbildete als er durch seine wenige Aehnlichkeit mit ihm berechtigt war, und der (wie Hr.  Weiske wohl bemerkt) einen guten Theil von seiner Mutter Hitze geerbt haben mochte, war eine so weise Mäßigung nicht zu erwarten, und Sokrates fand es daher für nöthig, ihn seiner Kindespflicht mit Nachdruck und durch solche Vorstellungen zu erinnern, die, wofern nur etwas gesundes an seinem Kopf und Herzen war, wenigstens einen ernstlichen Vorsatz sich zu bessern bey ihm wirken mußten.


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