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Xenofon, der uns dieses Gespräch zu Anfang des zweyten Buchs seiner Sokratischen Denkwürdigkeiten mittheilt, führt es als ein Beyspiel auf, wie Sokrates diejenige, die sich vor andern zu ihm hielten und durch ihn besser zu werden wünschten,Τους συνοντας. Sokrates machte nie den Lehrer von Profession, was man damals σοφιστευειν nannte; er hatte also auch, im gewöhnlichsten Sinne der Worts, keine Schüler, oder Lehrlinge; und dies ist eben der Grund, warum Xenofon das Wort συνειναι gebraucht, um das Verhältniß zwischen Sokrates und den, die seinen Umgang vorzüglich suchten, zu bezeichnen. Es ist daher immer noch besser gethan, συνοντες durch Freunde als durch Schüler zu geben, wiewohl nicht alle, die von seinem Umgang zu profitiren suchten, seine Freunde in der engern Bedeutung des Wortes waren. von allem Uebermaß in sinnlichen Genüssen und Befriedigung natürlicher Triebe abzuhalten, und dagegen zur Nüchternheit, zur Thätigkeit, und zum Ausdauren unter allen Arten von Beschwerlichkeiten, denen man im Leben durch Noth oder Pflicht unterworfen werden kann, anzugewöhnen sich beflissen habe. Da er wußte (so fährt Xenofon fort) daß einer von denen, die sich zu ihm hielten, in diesem Punkt (nemlich im Hang zur Ueppigkeit, und in der Abgeneigtheit sich irgend eine sinnliche Befriedigung zu versagen) wenig Gewalt über sich selbst habe, legte er ihm einst diese Frage vor, – und nun folgt die vorstehende Unterredung mit Aristipp, die, wie man sieht, durch diese kleine Vorrede Xenofons auf eine dem guten Aristipp eben nicht sehr rühmliche Art herbeygeführt wird. Auch in dem Gespräch selbst läßt Xenofon seinen Meister dem jungen Mann einige sehr harte Dinge sagen. Die Versicherung des Diogenes von Laerte, daß Xenofon dem Aristipp nicht günstig gewesen sey, möchte also wohl ihren guten Grund gehabt haben, wiewohl er hierin bloß gemeine Sache mit den übrigen Sokratikern machte; daß er aber (wie der besagte Kompilator vorgiebt) diesen Diskurs gegen die Wollust dem Sokrates blos aus Haß gegen Aristipp beygelegt, d. i. angedichtet habe, scheint mir ohne Grund zu seyn, oder bedürfte wenigstens eines stärkern Beweises. Ob ich nun gleich keine Ursache sehe, zu zweifeln, daß dieses Gespräch, dem Hauptinhalt nach, zwischen Sokrates und Aristipp wirklich vorgefallen sey, so ist mir doch eben so wenig zweifelhaft, daß Xenofon sich, wenigstens in einzelnen Stellen, die Freyheit genommen von dem seinigen hinzuzuthun und den Sokrates so reden zu lassen, wie er glaubte, daß es seiner Denkart und seinem Karakter am gemäßesten sey; und da könnte dann wohl die persönliche Abneigung gegen Aristipp nicht ohne allen Einfluß auf den Ton des Gesprächs überhaupt und besonders auf einige auffallende Stellen, die im folgenden bemerkt werden sollen, geblieben seyn.
Sokrates. Sage mir, Aristipp, wenn dir ein paar junge Leute übergeben würden, um den einen zum regieren, den andern so, daß er weder Lust noch Vermögen zum regieren habe, zu erziehen, – wie wolltest du es anstellen? – Machen wir, wenn dirs recht ist, gleich mit der Nahrung als dem unentbehrlichsten, den Anfang.
Aristippos. (lächelnd) Die Nahrung möchte allerdings, da man ihrer zum Leben nicht wohl entbehren kann, der erste Punkt seyn.
Sokrates. Ohne Zweifel werden unsre beyden Zöglinge um Essenszeit zu Tische gehen wollen?
Aristippos. Man sollt' es denken.
Sokrates. Nun könnte aber gerade um diese Zeit ein dringendes Geschäfte abzuthun seyn: welchen von beyden wollten wir so gewöhnen, daß er lieber die Befriedigung seines Magens aufschieben möchte, als ein nöthiges Geschäft?
Aristippos. Freylich wohl den ersten, der zum Regieren erzogen werden soll, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß die Staatsgeschäfte unter seiner Regierung ungethan bleiben.
Sokrates. In diesem Fall hat es wohl mit dem Trinken dieselbe Bewandtniß? Er wird sich auch gewöhnen müssen, Durst leiden zu können?
Aristippos. Keine Frage!
Sokrates. Und wie ist es mit dem Schlafe? Welchen von beyden wollen wir so erziehen, daß er spät zu Bette gehen, früh aufstehen, und, wenn's nöthig ist, die ganze Nacht wach bleiben könne?
Aristippos. Immer noch den ersten, versteht sich.
Sokrates. Und der Afrodisischen BefriedigungenDas Wort Liebe sollte, däucht mich nie so sehr mißbraucht und herabgewürdiget werden, um καθ' υποκρισμον die von den Griechen mit dem Worte αφροδισια bezeichnete, oft sehr unsittliche Befriedigung eines Triebes zu verschleiern, für welchen, sobald er von dem reinen Zweck der Natur getrennt wird, keine Sprache ein anständiges Wort hat. Da der Name Afrodite, für Venus, allen deutschen Lesern bekannt ist, so däucht mich, es geschehe durch den Ausdruck Afrodisische Befriedigungen (αφροδισια, res venereae) der Pflicht, sich dem Leser verständlich zu machen, ein hinlängliches Genüge, und es werde zugleich die höhere Pflicht beobachtet, ungleichartige Dinge nicht mit einander zu vermengen, und einem Worte, das den schönsten und edelsten Affekt der menschlichen Seele zu bezeichnen bestimmt ist, durch einen, obgleich wohlgemeinten, Mißbrauch eine so leicht vermeidliche Zweydeutigkeit zuzuziehen. Ein ausländisches Wort, in so fern es nur verständlich genug und überhaupt so beschaffen ist, daß es unter gesitteten Menschen gehört werden kann, dünkt mich hiezu immer das schicklichste. sich enthalten zu können, um auch von diesen sich nicht an pflichtmäßigen Geschäften verhindern zu lassen?
Aristippos. Eben denselben.
Sokrates. Ferner, keine Arbeiten noch Beschwerlichkeiten zu scheuen, sondern sie vielmehr freiwillig zu übernehmen, welchen von beyden wollen wir dazu anhalten?
Aristippos. Unläugbar den, der zum Regieren gebildet werden soll.
Sokrates. Und überhaupt alles zu lernen, was man wissen und können muß, um über seine Gegner Meister zu werden, welcher wird dessen wohl am meisten bedürfen?
Aristippos. Freylich der künftige Staatsmann; denn ohne diese Kenntnisse und Geschicklichkeiten würde ihm alles übrige zu nichts helfen.
Sokrates. Dünkt dich nicht, einer der so erzogen ist, werde von seinen Gegnern nicht so leicht gefangen werden können, wie andre Thiere? Denn unter diesen giebt es einige, die ihr Magen so kirre macht, daß sie, ihrer natürlichen Schüchternheit ungeachtet, dem Reiz der Lockspeise nicht widerstehen können, und dadurch gefangen werden; andere, denen man durch (betäubende) Getränke nachstellt; noch andere, wie z. B. die Wachteln und Repphühner, die, sobald sie von der Stimme eines Weibchens gelockt werden, in brünstiger Begierde herbey geflogen kommen, und, über der gehofften Lust alle Gefahr vergessend, sich ins Netz des Vogelstellers stürzen.
Aristippos. Dagegen ist nichts zu sagen.
Sokrates. Dünkt dich nicht auch, es gereiche einem Menschen zur Schande, sich von einem blinden Trieb wie die unverständigsten Thiere überwältigen zu lassen? Die Ehebrecher, zum Beyspiel, wissen, indem sie andern ins Gehege gehen, recht gut, daß sie Gefahr laufen, in die Strafe des Gesetzes zu fallen, und was für schreckliche und schmähliche Mißhandlungen ihrer warten, wenn sie ertappt werden; und doch ist weder Schaden noch Schande vermögend, den Ehebrecher zurückzuhalten, daß er sich nicht blindlings in die größte Gefahr stürze, um einen Trieb zu befriedigen, zu dessen Stillung ihm so viele gefahrlose Wege offen stehen. Muß ein solcher Mensch nicht ganz und gar von einem bösen Dämon besessen seyn?Hr. Weiske (ein geschickter Lehrer an der berühmten Schulpforte, aus welcher so manche der vorzüglichsten Schriftsteller, Dichter und Filologen unsers Jahrhunderts hervorgegangen sind) der i. J. 1795. eine sehr brauchbare Uebersetzung der Xenofontischen Apomnemoneumaten, mit schätzbaren Sacherläuterungen und kritischen Anmerkungen (bey C. Fritsch in Leipzig) herausgegeben hat, ist, so viel ich weiß, der erste, der die Bemerkung gemacht, daß Sokrates hier nicht nur »auf einmahl aus seiner natürlichen Sprache, durch einen plötzlich entstandenen Unwillen gegen die Ehebrecher, in einen rednerischen Ton fällt, sondern sich auch von seinem vorgesteckten Ziel entfernt,« indem dieser pathetische Ausfall gegen die Ehebrecher in der That, wie jedem Leser (wenigstens nach dieser Erinnerung) in die Augen fallen muß, ein Auswuchs ist, der die schöne Symmetrie der ganzen Komposizion verunstaltet. Er hält daher für sehr wahrscheinlich, daß die ganze Stelle von ωσπερ οι μοιχοι (die Ehebrecher zum Beyspiel) bis zu Ende der Rede ein fremder Zusatz sey. Dies möchte ich ihm gleichwohl ohne die größte Noth nicht zugeben, – es wäre denn, wenn er hätte sagen wollen, daß Xenofon der Urheber desselben gewesen sey, welches aber seine Meynung keineswegs zu seyn scheint. Mich dünkt ich sehe hier zwey Auswege, den Text, wie er ist, zu retten. Aristipp war um die Zeit, daß dieser Dialog gehalten seyn mochte, wahrscheinlich nicht älter als höchstens fünf und zwanzig JahreSokrates starb im ersten Jahre der 95sten Olympiade, und Aristipp, dessen Geburts- und Todesjahr unbekannt sind) lebte noch im 2ten Jahr der 109ten Olympiade (also noch über 60 Jahre nach dem Tode des Sokrates) zu Athen, wohin er sich kurz vor der Deportazion des jüngern Dionysios nach Korinth, vom Hofe des letztern zurückgezogen hatte. Die feinen und mäßigen Wollüstlinge (deren Aristipp einer war) werden zwar gewöhnlich sehr alt; aber 80 bis 90. Jahre sind auch ein ganz hübsches Alter; und Aristipp müßte wenigstens 84. alt worden seyn, wenn er im Todesjahr des Sokrates 25 Jahre gelebt hätte. Da aber Hoffilosofen von 80. Jahren zu allen Zeiten seltene Vögel waren, so bin ich geneigter zu glauben, daß Aristipp, als er mit dem alten Sokrates lebte, wenig über 20 Jahre alt gewesen seyn dürfte. und also (nach der Pythagorischen Angabe der Horen des menschlichen Lebens) noch ein ADOLESCENTULUS, dem, bey seinen ohnehin nicht allzustrengen Grundsätzen, zu Athen (wo die Frauen zum Theil noch laxere Grundsätze hatten als er, und sich auf die Verführungskunst meisterlich verstanden) leicht etwas menschliches begegnen konnte. Hr. Weiske meint zwar, »wenn Aristipp des gerügten Verbrechens verdächtig gewesen wäre, so hätte Sokrates unklug gehandelt, itzt, da er den jungen Mann gewinnen wollte, dawider zu deklamiren,« und dies ist ihm, wie es scheint, ein neuer Grund, diese Stelle für unächt zu halten. Aber Sokrates könnte ja auch Nachricht gehabt haben, daß irgend eine athenische Kalonike oder Lampito ihr Netz nach ihm stelle, und ihn durch diesen gelegenheitlichen Ausfall nur habe warnen wollen. Auch muß ich gestehen, daß ich in der Rede, die dem S. hier in den Mund gelegt wird, zwar einen, der Sache angemessenen und bis zum Eifer gehenden Ernst, aber keine Deklamazion sehen kann, und im Gegentheil nicht wohl begreife, wie er, um einen seine Person und sein Vergnügen liebenden Jüngling abzuschrecken, weniger hätte thun, oder die Strenge seiner ohnehin nicht auf das Kantische Sittengesetz sich stützenden Moral gefälliger hätte mildern können, als indem er ihm eine PARABILEM VENEREM FACILEMQUE wenigstens CONNIVENDO zu erlauben scheint.
Mein zweyter Ausweg ist: anzunehmen, daß die angefochtene Stelle zwar nicht von Sokrates, aber doch von Xenofon herrühre, und dabey vorauszusetzen, daß seine aus Verschiedenheit der Denkart, Sitten und Lebensweise leicht erklärte, und mit Verachtung vermischte Abneigungen gegen den Filosofen für die Welt, QUEM OMNIS DECUIT COLOR ET STATUS ET RES, sich in die Darstellung eines ehmals wirklich zwischen ihm und ihrem gemeinschaftlichen ehrwürdigen Freund vorgefallenen Gesprächs gemischt habe. Der Unterschied zwischen Xenofon, der beynahe in allen Lagen und Verhältnissen des öffentlichen und Privatlebens das Sokratische Ideal eines καλου και αγαθου praktisch darstellte, und Aristipp, der sich eine eigene, nur für ihn selbst und wenige, QUOS AEQUUS AMAVIT JUPITER, passende Filosofie der Grazien gemacht hatte, war zu groß, als daß der erste (der überdieß um zwanzig Jahre wenigstens älter war) den andern in einem freundlichem Lichte hätte sehen, geschweige gar mit Schonung hätte behandeln können, wenn sich ihm eine so gute Gelegenheit, wie hier, anbot, die Denkart und Lebensweise Aristipps mit der Sokratischen in einen recht auffallenden Kontrast zu setzen. – In der Uebersetzung der letzten Worte ουκ ηδη τουτο πανταπασι κακοδαιμονωντος εστιν; habe ich den ganzen Nachdruck des Hauptworts auszudrücken gesucht, und hierin den eleganten französischen Uebersetzer der Memorabilien, Levesque, zum Vorgänger gehabt – L'ON DIROIT QU'ILS Y SONT POUSSÉS PAR UN MAUVAIS GENIE.
Aristippos. So dünkt michs.