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Ein hoher Kondolenzbesuch
Am andern Nachmittage erst raffte sich Melanie zu dem Entschlusse auf, ihre Freundin Doris wiederzusehen. Sie hatte mehr als den halben gestrigen Tag und die ganze Nacht in festem Schlafe verbracht, und dadurch hatte ihre gesunde Natur die Folgen der Überanstrengung, sowie der fürchterlichen Aufregungen wenigstens äußerlich überwunden. Als sie am Morgen zum erstenmal wieder dem treuen Hans Joachim die Hand reichte – er hatte die überstürzte Abreise aufgegeben, da der Erbgroßherzog durch seine Flucht ihm zuvorgekommen war – da wollte es den armen Freund bedünken, als habe er sie noch niemals so schön gesehen. Das tief in ihrer Seele weiter glühende Fieber des leidenschaftlichsten Schmerzes hatte ihre Lippen und Wangen aufs neue mit dem zartesten Karmin frischester Lebenslust überhaucht, und aus den dunklen Schatten, welche selbst der lange Schlaf nicht aus ihren Augenhöhlen zu verscheuchen vermocht hatte, schimmerte das Weiß und leuchteten die großen braunen Sterne nur um so glänzender hervor.
Holde Träume von dem überschwenglichen Glück einer nahen Zukunft hatten sie im leiseren Morgenschlaf umgaukelt, und an diesen Träumen rankten sich, wie die zarte Zaunwinde an frisch strotzendem Ufergebüsch, neuer Lebensmut und süßeste Hoffnung empor. Noch krampfte sich ihr das Herz zusammen, noch füllten sich ihre Augen mit Thränen, wenn sie an den letzten Blick der Mutter dachte, der mit so gramvoller Anklage das stumme Geständnis ihrer schweren Schuld gefordert hatte; aber schon regten sich Stimmen in ihr, welche sie gegen die grausame Anklage in Schutz nehmen und die Schuld auf die unglückliche Verkettung der Umstände abwälzen wollten. Auch die Notwendigkeit, sich den ganzen Vormittag über mit praktischen Dingen, mit der Sorge für die Trauerkleidung und dergleichen zu beschäftigen, trug viel dazu bei, ihr Denken und Empfinden von dem harten Drucke des Schuldbewußtseins zu entlasten.
Als sich am Nachmittage da oben im Atelier die beiden Mädchen zum erstenmal nach jener letzten peinlichen Begegnung wieder gegenüberstanden, bekamen sie beide einen Schreck: Melanie vor dem totenbleichen, verstörten Aussehen der kleinen Malerin, und diese vor der frisch erblühten Schönheit der bis dahin angebeteten Freundin, die Angst und Gram abgeschüttelt zu haben schien, wie eine junge Schwalbe die Tropfen von ihren Flügelspitzen schüttelt, wenn sie im Fluge mutwillig die Wasserfläche berührt hat.
Am ganzen Körper zitternd, stand Doris da und stützte sich mit einer Hand schwer auf den Tisch, auf dem sich immer noch die verschiedenen Gegenstände des fürstlichen Geschenkes befanden. Melanie trat raschen Schrittes auf sie zu, ergriff ihre freie Hand mit ihren beiden Händen und begann, sie warm drückend: »Doris, liebe, gute Doris, kannst du mir verzeihen!?«
Es drängte Doris, zu erwidern, daß sie ihrer Verzeihung kaum mehr zu bedürfen scheine; aber wie sie diese schönen strahlenden Augen so innig flehend, und doch halb lächelnd dabei, auf sich gerichtet fühlte, da wagte das arme schwache Wesen mit keinem Worte dem Gefühle bitterster Enttäuschung Ausdruck zu geben, das ihr mit einem Schlage ihr bißchen Lebensfreude so grausam vergiftet hatte.
Und Melanie schien zu ahnen, was in ihr vorging. Sie, die der schwer Gekränkten hätte zu Füßen fallen sollen, maßte sich das Recht des Mitleids an, indem sie die Zitternde sorglich, mit sanftem Zwange nach dem Diwan geleitete und sie dort Platz nehmen hieß. Dann setzte sie sich selbst dicht an ihre Seite, faßte ihre beiden Hände und begann aufs neue: »Ach, Doris, gutes Herz, du weißt ja nicht, wie ich ihn liebe! Und die Liebe macht so furchtbar selbstsüchtig. Ich habe wahrhaftig nicht daran gedacht, dich zu kränken, dein Vertrauen zu täuschen, du Arme – ich habe eben an gar nichts gedacht als an mich selbst und an ihn, der mich bestürmte, ihm hier im Hause ein heimliches Stelldichein zu gewähren. Du siehst doch ein, nicht wahr, daß es für uns gar keine andre Möglichkeit gab, miteinander allein zu sein? Und wir mußten uns doch hin und wieder sehen! Kannst du dir nicht vorstellen, welche furchtbare Qual zwei Liebende erdulden müssen, die da wissen, daß sie einander für Zeit und Ewigkeit angehören und sich dabei doch nur immer auf flüchtige Minuten nahe sein dürfen, von hundert Argusaugen beobachtet, auf Schritt und Tritt belauscht! Und als dann dein guter Vater Georg den Vorschlag machte . . . ach, Doris, ich habe mich ja so dagegen gesträubt, wahrhaftig! Ich traute meiner Schwäche nicht, denn ich liebe ihn ja so wahnsinnig – und man ist machtlos, wenn man so liebt! – Daß dein Vater ihm einen zweiten Schlüssel hatte machen lassen, das habe ich erst gar nicht gewußt. Ich bekam auch einen solchen Schreck, als ich es hörte, und ich wollte es dir gleich sagen und überhaupt dich ins Vertrauen ziehen. Aber Georg verbot es mir – er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es dann doch vielleicht mit unsrer süßen Heimlichkeit ein Ende nehmen müßte, – viermal sind wir ja überhaupt nur hier zusammengekommen. – Ach, Doris, ich sage dir, du glaubst nicht, wie lieb und gut er war! Ich mußte mich selbst auslachen wegen meiner dummen, kindischen Angst. Und vorgestern . . . Ach, Doris, ich war ja schon halb von Sinnen durch die Nachtwachen, durch die Angst um die arme Mama – und da kam Georg, um mich aus meiner Verzweiflung aufzurichten. Hier lag er zu meinen Füßen und hielt mich umfaßt und erzählte mir, wie er dem Großherzog seinen festen Entschluß, mich zu seiner Frau zu machen, eröffnet hätte, und daß ihn keine Macht der Erde davon zurückbringen könnte. Ich wäre ihm teurer als Eltern, Thron und Reich, schwur er mir, und er könnte ohne mich nicht leben. Mir zuliebe wollte er der Thronfolge entsagen, ja sogar, wenn der Vater unerbittlich bliebe, einen bürgerlichen Namen annehmen und für mich arbeiten . . . ach, ich hörte kaum, was er alles sagte, so brauste es mir in den Ohren! Ich habe es ja von Anfang an gefühlt und er auch, daß wir füreinander geboren sind – und jetzt gehöre ich ihm ganz! Das Schlimmste ist ja schon überstanden: der Bruch mit seinem Vater! Jetzt kann uns ja keine Macht der Erde mehr trennen! – Wir gehen jetzt nach Treysa, und du wirst sehen, er kommt mir dahin nach, um mich zu holen. Ach, vielleicht kommt er heute noch her, um das Notwendige für die nächste Zukunft zu besprechen. Nicht wahr, Herz, einmal gewährst du uns noch Gastfreundschaft? Es ist ja bestimmt das letzte Mal! Und nicht wahr, du verzeihst mir, du bist mir nicht mehr böse? – Freust du dich denn gar nicht ein bißchen über mein Glück?«
Doris seufzte tief auf und sagte endlich, traurig mit dem Kopfe schüttelnd: »Ich verstehe wohl nichts von solchem Glück!«
»Du wirst es verstehen, wenn du uns als Mann und Frau siehst. Wir laden dich auch bestimmt zur Hochzeit ein.«
Wer könnte der holden Schwärmerei eines verliebten glücklichen Mädchens widerstehen! Doris stimmte diese Schwärmerei nur noch trauriger: aber sie löste wenigstens ihre Verbitterung in Wehmut auf, und zürnen konnte sie der schönen, vertrauensseligen Freundin nicht länger. O, wie gerne hätte sie die Zuversicht Melanies geteilt! Aber sie wußte ja, daß Kospoth, der doch den Erbgroßherzog genau genug kannte, an die Standhaftigkeit seiner redlichen Absichten nicht glaubte – wenigstens hatte sie sich das hinterher aus der Erinnerung an sein Wesen und seine Worte zusammengereimt; und dann sagte ihr auch selbst ihr bißchen Welt- und Menschenkenntnis, daß ein Liebesverhältnis, bei welchem ihr Vater die Hand im Spiele hatte, wohl schwerlich auf den reinsten Absichten beruhen könnte. Und wie sie sich dem starken, siegesbewußten Mädchen so nahe und dabei doch in ihrer krüppelhaften Schwäche so weit entfernt fühlte, hätte sie nie gewagt, den Essig irgend eines Zweifels in den feurigen Wonnewein des herrlichen Geschöpfes zu schütten. So schmerzlich sie eben noch die Kränkung empfunden, die Melanie ihr angethan hatte, nun, da sie wieder neben ihr sitzen, sich von ihren Händen berühren, von ihren Worten umschmeicheln lassen durfte, beglückte sie diese Herablassung fast ganz wie früher, und sie bemühte sich, um nicht undankbar zu erscheinen, auf Melanies Versuche, sie wieder heiter zu stimmen, lächelnd einzugehen.
Melanie wandte nun auch dem photographischen Apparat ihre wißbegierige Teilnahme zu und veranlaßte dadurch auch Doris, ihre Abneigung gegen die Annahme dieses Geschenkes zu überwinden. Mit der ihr eignen raschen Fassungsgabe war Melanie sehr bald die Handhabung der Camera klar geworden, und dann begann sie der kleinen Freundin aus der beigegebenen Anleitung vorzulesen. Sie wollte sich sogleich daran machen, die verschiedenen Bäder nach den gegebenen Vorschriften herzustellen, und freute sich ganz besonders über die hübsch gearbeitete Wage und das polierte Kästchen mit dem Satze blanker Messinggewichte.
»Komm, jetzt wollen wir gleich 'mal ein bißchen Gift mischen,« rief sie heiter. »Hu! Da ist ja sogar Cyankali! Wie viel wohl nötig ist, um ein kräftiges Frauenzimmer meines Schlages umzubringen?« Sie öffnete die Glasbüchse und führte sie im Uebermut ganz dicht an ihre Lippen.
Wahrhaft entsetzt riß Doris sie ihr aus der Hand und schrie auf: »Um Gottes willen! Laß das!«
Aber Melanie griff aufs neue nach dem Glase und sagte bittend: »Nein, laß es mir noch ein bißchen! Weißt du, schon als kleines Mädchen hat mich immer Papas Gewehrschrank magnetisch angezogen, und Hans Jochen konnte mir keine größere Liebe erweisen, als wenn er mich 'mal seine Pistole abschießen ließ. Ich habe mich zwar immer schrecklich vor dem Knall gefürchtet und den Kopf ganz weggedreht beim Losdrücken; aber ich mußte es trotzdem immer wieder versuchen. Und nachher, wie ich aus der Pension nach Hause kam, hat mir Papa auch wirklich ein Tesching geschenkt! O, ich sage dir, ich schieße jetzt famos – Eierschalen, weißt du, die an einem Faden im Winde baumeln. Aber ein so starkes Gift habe ich noch nie in der Hand gehabt. Ich finde das furchtbar interessant. Weißt du, du könntest mir ein bißchen davon abgeben – für alle Fälle!«
»Melanie, du! – Was meinst du damit?«
»O, ich meine nur, es ist so schön zu wissen, daß man es in der Hand hat! Das finde ich wenigstens. Mit dem Leben spielen – das ist doch das spannendste und vornehmste Hazard! Danach müßten freilich die Akrobaten sehr vornehme Leute sein, haha! – Ach, geh, lache mich aus! Das ist ja alles nur Unsinn!« Sie blickte ein paar Sekunden lang, ernst sinnend, über den Tisch hin. Dann flog plötzlich ein flüchtiges Rot über ihr Gesicht, sie strich sich mit der Hand über die Stirn und griff wieder zu dem photographischen Leitfaden, um die Vorlesung fortzusetzen.
Schon nach wenigen Minuten wurden sie unterbrochen durch den alten Diener, welcher die Meldung überbrachte, daß Ihre Hoheit die Prinzessin Eleonore unten im Wohnzimmer das gnädige Fräulein erwarte.
»Ah! siehst du! Ist das nicht hübsch von ihm, daß er seine Schwester zu mir schickt?« flüsterte Melanie Doris zu, küßte sie auf die Wange und verließ rasch das Zimmer. – –
Prinzessin Eleonore saß wartend auf einem Stuhl in dem bescheidenen Salon, dem man den vorläufigen Charakter der Einrichtung, das eilig und leihweise Zusammengestoppelte gar sehr ansah. Das Fräulein von Katz stand hinter ihrer Herrin und horchte mit lächelnder Miene nach dem Nebenzimmer hin, von wo her man den alten General dumpf murren und murmeln hörte. Er hatte die Hoheit um Entschuldigung bitten lassen, daß er sie nicht sogleich empfangen könnte; denn er befand sich just in einem derartigen Bequemlichkeitszustande, daß er unmöglich ohne ziemlich tiefgreifende Umgestaltung seines äußeren Menschen sich vor ihren Augen blicken lassen durfte. Und nun war er eben dabei, sich von Friedrich in ein gestärktes Oberhemd hineinhelfen zu lassen.
Die Prinzessin hatte ein schwarzseidenes Kleid angelegt und darüber einen pelzbesetzten Samtdolman, wodurch ihre schlanke Figur vorteilhaft hervorgehoben wurde. Ein großer Samthut mit wallenden schwarzen Straußenfedern beschattete ihr etwas blasses Gesicht. Auch die kleine Hofdame war der Uebereinstimmung halber in Schwarz erschienen.
Da trat Melanie herein und begrüßte ihren hohen Besuch mit einer tiefen Verbeugung. Ehe sie noch den Mund zu einer Entschuldigung aufthun konnte, war die Prinzessin ihr bereits entgegengetreten. Sie legte ihre Arme ganz lose um ihre Schultern und küßte sie flüchtig auf die Wange,
»Mein herzlichstes Beileid, meine liebe Melanie!« begann sie kühl und griff nach Melanies kleiner, weicher Hand, um sie nach einem raschen Druck gleich wieder los zu lassen. »Die Großherzogin ist durch die Krankheit des Großherzogs selbst sehr in Anspruch genommen; aber ich habe den Auftrag, Ihnen und Ihrem Herrn Vater den Ausdruck ihrer vollen Teilnahme an Ihrem schmerzlichen Verluste zu überbringen.«
Melanie lud zum Sitzen ein, und dabei ging ihr der Gedanke durch den Kopf, wie förmlich und ungeschickt doch selbst die geistvollsten Menschen sich zu benehmen pflegen bei dergleichen traurigen Anlässen. Die Prinzessin hatte doch sonst auf vollkommen freundschaftlichem Fuße mit ihr verkehrt und von Anfang an einen Ton anzuschlagen gewußt, der, ohne ganz das Bewußtsein des Standesunterschiedes aufzuheben, dennoch einen ungezwungenen Gedankenaustausch, wie zwischen gleichstehenden Freundinnen, ermöglichte. Und nun auf einmal diese eisige Kälte! Unwillkürlich wirkte sie ansteckend, und auch Melanie fand auf die landläufigen Redensarten und Erkundigungen nach dem Leiden und den letzten Augenblicken der Dahingeschiedenen nur die landläufigen Antworten.
Und während das Gespräch so einförmig, kühl betrübt hin und her ging, hob die Prinzessin von Zeit zu Zeit ihr langgestieltes Lorgnon an die kurzsichtigen Augen und forschte mit schlecht verhohlener Neugier in dem blühenden Gesichte Melanies nach den Spuren all der Aufregungen. Ihr Bruder hatte ihr in seiner Offenherzigkeit nicht verschweigen können, welch unliebsame Vorgänge sich in jener verhängnisvollen Dämmerungsstunde abgespielt hatten. Ja, kannte denn dieses Mädchen gar keine Scham, daß sie trotz alledem so auszusehen, mit den großen braunen Augen so stolz und frei um sich zu blicken wagte?!
Auch Eleonore mußte sich, gerade so wie Kospoth am Morgen, sagen, daß sie das Fräulein von Treysa nie so verführerisch schön gesehen habe wie heute, und sie konnte nicht umhin, sich einzugestehen, daß der Mann, der sich um dieses Mädchen in Liebe verzehrte, zum mindesten einen guten Geschmack bewies. Um ihretwillen also verschmähte man selbst die Liebe einer Prinzessin, die obendrein eine Dame von seinem Geist und, wo sie liebte, voll warmer Teilnahme für die weit ausschauenden Pläne des Erkorenen war. Aber das galt ihm alles nichts – dieser blühende Körper hielt seine Sinne in Bann und ließ ihn alles andre darüber vergessen, auch wohl gar die hohe Lebensaufgabe, die er sich gesteckt hatte – ja, sie ließ ihn sich selbst so weit erniedrigen, zu den Füßen dieses gedankenlosen Geschöpfes weiter zu schmachten, trotzdem es sich aus Eitelkeit und moralischer Haltlosigkeit einem andern hingegeben hatte! O, wie sie diesen Mann jetzt verachtete, diesen modernen Marquis Posa, für den sie geschwärmt hatte wie ein thörichter Backfisch für irgend einen Theaterprinzen, der sich vermittelst Schminke, Perücke und falscher Waden des Abends aus einem hageren Kahlkopf in einen Adonis verwandelt! Und wie haßte sie dieses Mädchen! Sie wußte, daß sie ihr aller Wahrscheinlichkeit nach heute zum letztenmal gegenüberstände, und darum hob sie immer wieder die Gläser an ihre Augen, um sich jeden kleinsten Zug in der Erscheinung dieses Geschöpfes, welches so unheilvoll in ihr und ihres Bruders Leben eingegriffen hatte, fest ins Gedächtnis zu prägen.
Und Wally von Katz schien den Auftrag zu haben, ihr hierin nach Kräften beizustehen, um ihre Beobachtungen durch die ihrigen zu ergänzen.
Melanie konnte nicht umhin, dieses Angestarrtwerden seitens der beiden Damen unangenehm zu empfinden. Der Aerger darüber begann ihre Wangen dunkler zu färben, und ihre Antworten auf die teilnahmlos hingeworfenen Fragen der Prinzessin fielen immer kürzer aus.
»O, Sie gedenken uns also wirklich schon in diesen Tagen zu verlassen?« versetzte die Hoheit auf eine bezügliche Aeußerung Melanies. »Es wird meinem Bruder sehr leid thun, sich nicht mehr persönlich von Ihnen verabschieden zu können. – Ach, richtig! Bald hätte ich vergessen, Ihnen den Ausdruck seines Beileids und seinen Abschiedsgruß zu überbringen.«
»Abschiedsgruß?!« stammelte Melanie erbleichend und schaute die Prinzessin aus großen Augen fragend an.
»Nun ja! Hat man Ihnen denn nicht gesagt, daß er gestern früh abgereist ist?«
»Abgereist? Darf ich fragen: wohin?« stammelte Melanie, sich mit aller Gewalt zur Ruhe zwingend.
Und die Prinzessin lächelte boshaft und erwiderte zögernd, indem sie den schmalen Kopf geziert zur Seite neigte: »Das ist eigentlich wohl noch ein Staatsgeheimnis. Ich bin selbst nicht eingeweiht – ich habe nur so meine Vermutungen. Unter uns gesagt, liebe Melanie: Der Großherzog wünscht, daß mein Bruder endlich Anstalten treffen soll, sich zu verheiraten. Es ist ihm die Hand einer königlichen Prinzessin angetragen worden, und da dürfte man wohl nicht fehl gehen . . .«
Melanie ließ sie gar nicht ausreden. Mit flammenden Blicken sprang sie auf, streckte ihre Rechte gebieterisch vor sich aus und rief mit halberstickter Stimme: »Das ist nicht wahr!«
Nun erhob sich auch Eleonore, und die kleine Katz folgte, ganz Ohr und ganz Auge, ihrem Beispiel.
Die Prinzessin nahm ihren Muff vom Tisch und sagte mit eisiger Ruhe: »Sie vergessen sich, Fräulein von Treysa!«
»Und Sie, Hoheit, sind gekommen, um mich . . . Oh, jetzt ahne ich, weshalb Sie gekommen sind!« Unfähig, ihre Leidenschaft zu bemeistern, drückte Melanie die geballten Hände gegen ihren heftig wogenden Busen und stand mit vorgebeugtem Haupte wie eine zum Sprunge sich duckende Tigerin vor der Prinzessin.
»Gehen Sie, Wally! Erwarten Sie mich unten im Wagen,« sagte Eleonore, zu ihrer Begleiterin gewendet.
»Verzeihung! Wollten Hoheit nicht lieber . . .« wagte die kleine Hofdame einzuwenden. Sie an der Stelle der Prinzessin hätte Angst gehabt, mit Melanie allein zu bleiben.
Aber ihre Herrin gab ihr nur einen befehlenden Wink und rief ihr noch leise zu: »Kein Wort von dem, was Sie gehört haben! – Zu niemand!« – –
Trotz dieses strengen Befehls hatte Wally von Katz die allergrößte Lust, sofort zu dem dicken Kammerherrn von der Rast hinüberzuhuschen und dem in aller Geschwindigkeit das frische Geheimnis anzuvertrauen, in der Erwartung, daß sie als Gegengabe von diesem etwas Näheres über die Vorgänge am vorgestrigen Abend erfahren werde, über welche zu ihrem großen Leidwesen aus Wölfchen Bracke so gut wie nichts herauszubekommen gewesen war.
Aber nein, das war doch zu gefährlich! Denn Ihre Hoheit konnte ja jeden Augenblick die Unterredung mit Melanie abbrechen und dann . . . nein, den Kammerherrn mußte sie ein andermal abzufassen suchen. Und sie stieg langsam die Treppe hinunter. Als sie aber eben aus der Hausthür treten wollte, öffnete sich diese und vor ihr stand – Baron Kospoth.
»Ah, Sie Baron!« rief die kleine Hofdame und klammerte sich in ihrer Aufregung gleich an seinen Arm. »Denken Sie nur, was da oben bei Treysas vor sich geht! Die Melanie ist gegen meine Hoheit ausfallend geworden. Nein, ich sage Ihnen, ich traute meinen Ohren nicht! Und darauf hat sie mich gleich hinausgeschickt. Na, die werden einander viel Liebenswürdiges zu sagen haben!«
»Was? Die Prinzessin ist oben bei Melanie? Allein mit ihr?« rief Kospoth zusammenzuckend.
»Ja gewiß! Ach, mein lieber Baron, ich fürchte, Sie haben da einen schönen Unfug angerichtet, und ich habe es doch so gut mit Ihnen gemeint und Sie rechtzeitig gewarnt! Aber Sie müssen vorgestern abends einen ganz dummen Streich gemacht haben – nehmen Sie mir's nicht übel. Die Prinzessin ist seitdem . . . na, ich weiß doch, wie schlimm sie sein kann; aber so habe ich sie noch nie gesehen! Nehmen Sie sich in acht! Sie ist eine gefährliche Feindin, und mit ihrer Energie beherrscht sie den Großherzog und sogar ihren eigensinnigen Bruder. Was sie will, das setzt sie durch.«
»Ah, dann habe ich ihr auch wahrscheinlich meine Ausweisung zu verdanken!«
»Wie? Man will Sie ausweisen aus der Residenz? Sie, den Duzfreund des Thronfolgers? Natürlich hat das die Prinzessin veranlaßt hinter dem Rücken des Erbgroßherzogs – darauf möchte ich wetten!«
»Und jetzt ist sie gekommen, um der armen Melanie schadenfroh ihre kühnen Hoffnungen zu zerstören. Oh, ich bin auch noch da! Ich will doch . . .« So knirschte er vor sich hin und stürmte, ohne Wally von Katz, die ihm ängstlich nachrief, er möge sie ja nicht verraten, weiter zu beachten, die Treppe hinauf.
Ohne sich erst anmelden zu lassen, betrat er den kleinen Salon.
Und ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, fühlte er Melanies Arme auf seinen Schultern. Den dunklen Kopf gegen seine Brust drückend, sprach sie atemlos auf ihn ein: »Ach, Hans Jochen, Gott sei Dank, daß du da bist! Sie beleidigt mich – oh, sie . . . Ich glaube, ich werde wahnsinnig! Sag du ihr, daß sie lügt, daß Georg kein treuloser Verführer ist! Du kennst ihn ja auch – ach, sag du es ihr!«
Sie brach in Thränen aus, und er strich ihr beruhigend über das Haar und bat sie, ihn mit der Prinzessin allein zu lassen.
Aber sie hörte nicht auf seine Bitte. Ihr glühendes Gesicht voll Haß der Feindin zukehrend, rief sie lauter: »Und denke dir: meine Großmutter hat sie mir vorgeworfen! Ich sei eine würdige Enkelin der schönen Caffarelli. Ach, Hans Jochen, das ertrag' ich nicht!« Und wieder erstickte ihre Stimme in Schluchzen, und sie barg ihr flammendes Gesicht an seiner Brust.
Die Prinzessin trat einen Schritt auf die beiden zu und sagte, ironisch mit den Achseln zuckend: »Wie können Sie sich darüber so ereifern? Fragen Sie doch diesen Darwinisten einmal, was man unter Atavismus versteht. – Uebrigens: Sie fliegen ja von einem Arm in den andern! Da darf man ja wohl hoffen, daß Sie nicht untröstlich sein werden.«
»Ah!« schrie Kospoth auf, »ist das Ihre Rache, Prinzessin? Ich denke, Sie können mit diesem Erfolg vorläufig zufrieden sein. Ich wüßte nicht, was Hoheit hier sonst noch zu verrichten hätten.«
»Sie sind impertinent, Herr Baron!« entgegnete die Prinzessin, sich hoch aufrichtend, mit leise bebender Stimme. »Wenn Sie glauben, daß man in Ihrem idealen Zukunftsstaate in diesem Tone zu Fürsten reden darf, dann hoffe ich, Ihr goldnes Zeitalter nicht mehr zu erleben. Bitte, geben Sie den Weg frei!«
Kospoth trat mit Melanie einen Schritt von der Thür zurück, und die Prinzessin schickte sich an, hoch erhobenen Hauptes an ihnen vorbeizuschreiten, als sich die gegenüber liegende Thür aufthat und der alte General, in langem schwarzen Gehrock, in untadelig gestärkten Vatermördern und schwarzseidener Krawatte auf der Schwelle erschien.
Die Prinzessin kehrte um und ging mit großen Schritten auf den weißhaarigen Greis zu. »Ah, mein lieber Herr General!« rief sie, ihm die Rechte entgegenstreckend, die er sich beeilte, galant an seine Lippen zu führen. »Ich stelle mich in Ihren Schutz! Man weist mir die Thür! Darf ich Sie bitten, mich hinauszubegleiten, um mich vor weiteren Insulten zu schützen!«
»Wa? Insultieren – Hoheit!? Mummummum! Unsinn! Ich, ah . . .« Der alte Herr vermochte seinem maßlosen Erstaunen keinen deutlicheren Ausdruck zu geben und bewegte schließlich nur noch, unverständliche Worte kauend, seine Kinnladen.
Eleonore betrachtete ihn mit mitleidigem Lächeln und nahm dann, mit dem Kopfe nach der Richtung deutend, wo Kospoth stand, wieder das Wort: »Dieser Herr da scheint mir zukünftige Rechte antizipieren zu wollen, indem er sich schon jetzt als Hausherrn aufspielt.«
»Was? Was?« brauste der General auf, »Liebesgeschichten und so weiter! Unsinn! Mwa! Lassen Sie die Dummheiten bleiben, Hans Jochen. Lieb' ich nicht – Überraschungen.«
»Also wirklich? Doch so etwas im Wege?« fiel die Prinzessin rasch ein, Kospoth, der eben etwas erwidern wollte, das Wort abschneidend. »Ah, wie liebenswürdig von Ihnen, Herr von Kospoth! Ich beglückwünsche Sie, mein Fräulein. O, der Großherzog wird entzückt sein! Er wird nur bedauern, daß es wahrscheinlich bei Ihren Grundsätzen Ihnen nicht möglich sein dürfte, einen Orden zu acceptieren.«
Kospoth erbleichte vor Empörung über diese boshafte Beleidigung. Er trat auf die Prinzessin zu, die unwillkürlich vor dem drohenden Blick seiner Augen zurückwich und den Arm des Generals ergriff. Der Zorn schnürte ihm die Kehle zusammen, und so konnte er nur tonlos hervorkeuchen: »Ich – ich überlasse Sie Ihrem Gewissen, Prinzessin. Wenn Sie sich wieder zu Ihrem bessern Selbst – zurückgefunden haben werden – dann werden Sie sich schämen müssen über diese – empörende Kränkung, die Sie – einem Manne von Ehre – anzuthun wagten. Komm, Melanie!« Er legte seinen Arm um Melanies Schultern und führte sie rasch hinaus, um sich mit ihr unter den Schutz der toten Mutter zu stellen. – – –
Der General stand immer noch, den Arm der Prinzessin fest an sich drückend, mitten im Zimmer und bewegte in stummem Entsetzen die Kinnbacken auf und nieder.
Auf dem Antlitz der Prinzessin aber wechselten Totenblässe mit dunkler Röte. Kospoths Worte hatten sie aus dem Taumel ihres blinden Hasses erweckt, und sie sah mit Schrecken und Beschämung ein, wozu sie sich hatte hinreißen lassen. Mehrmals mußte der alte Herr an ihrer Seite seine undeutlich hervorgestammelte Bitte um Erklärung wiederholen, ehe sie ihn verstand.
»Ah so, Pardon! Sie wissen ja nicht, was vorhergegangen ist,« versetzte sie, sich mühsam zu einem ruhigen Tone zwingend. »Nun, mein lieber General, es wird Ihnen doch vielleicht nicht entgangen sein, daß die Schönheit Ihres Fräuleins Tochter auf meinen Bruder einen lebhaften Eindruck gemacht hat – dem er vielleicht etwas allzu deutlich Ausdruck verliehen hat. Man soll, wie ich höre, in der Gesellschaft bereits seine Glossen über das Verhältnis gemacht haben. Mein Bruder ist jedenfalls etwas unvorsichtig gewesen – mein Gott! bei seinem feurigen Temperament – Sie begreifen! Kurz und gut, Fräulein Melanie gefiel sich in der Einbildung, daß der Erbgroßherzog ihr seine Hand reichen werde – wenn sie auch vermutlich nur auf die linke hoffte. Bei meiner lebhaften Teilnahme für Fräulein Melanie hielt ich es für meine Pflicht, sie, bevor sie uns verläßt, auf dies Mißverständnis aufmerksam zu machen, da es doch leicht unliebsame Folgen haben könnte – für beide Teile. Das unerwartete Dazwischentreten des Barons Kospoth, seine etwas eigentümliche Parteinahme für Ihre Tochter hat mich gereizt. Ich gestehe, daß ich zu weit gegangen bin – es thut mir leid. Bitte, führen Sie mich fort, Herr General!«
Der alte Herr setzte sich mechanisch in Bewegung und geleitete die Prinzessin kavaliermäßig aus seiner Wohnung hinaus und die Treppe hinunter. Aber er war den ganzen Weg über außer stande, seine Gedanken zu ordnen oder gar Worte zu finden. Als er mit ihr aus der Hausthür trat und die wenigen steinernen Stufen hinabsteigen wollte, blieb die Prinzessin, plötzlich zusammenzuckend, stehen, und er fühlte deutlich, wie ihr Arm in dem seinen zitterte.
Zur Seite des Weges, in dem kleinen Vorgarten, standen, mit den Mützen in der Hand, einige Tischlergesellen und schienen mit ihren Körpern den Handwagen hinter ihnen verdecken zu wollen, auf welchem der Sarg stand, der mit seinem noch nicht ganz trockenen Lack und seinen Blechbeschlägen aufdringlich glitzerte. Auch einige Bedienstete der Hofjägerei standen mit verlegenen Mienen, sich tief verneigend, herum.
Aber die Prinzessin hatte in ein paar Sekunden ihre Schwäche überwunden und schritt vollends die Treppen hinunter und an den Wagen. Der Lakai hielt den Wagenschlag geöffnet, mit dem Hut in der Hand. Etwas zur Seite stand Wally von Katz und blickte mit neugierigem Mitleid zu dem greisen Kavalier empor.
»Nochmals mein aufrichtiges Beileid und herzlichstes Lebewohl in unser aller Namen!« sagte die Prinzessin und drückte dem General bewegt die Hand.
Dann bestieg sie das Coupé. Die Hofdame sprang ihr elastisch nach, der Diener schloß die Thür, schwang sich auf den Bock, nochmals verneigten sich alle Anwesenden, die Prinzessin beugte hinter dem offenen Fenster noch einmal den Kopf vor – und dann rollte der Wagen davon. –
Der alte Friedrich war seinem lieben Herrn gefolgt. Er sah ihn, an allen Gliedern zitternd, mühsam die Treppe hinaufsteigen und beeilte sich, ihm seinen Beistand anzubieten.
Als die beiden Alten zwei Minuten später den Salon im ersten Stock wieder betraten, stürzte die weinende Melanie, ohne die Anwesenheit des Dieners zu beachten, ihrem Vater entgegen, ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen.
Der General raffte sich gewaltsam zum Sprechen auf. »Was ist das? Was hab' ich da gehört – mummummum!? Liaison mit . . . Königliche Hoheit und so weiter!«
»Nein, Vater, nein! Keine Liaison! Die Prinzessin lügt. Ich bin seine Braut!«
»Braut – mwa! – Unsinn! Gibt's nicht, so was – mummummum! Niedertracht!«
Sie sank ihm zu Füßen. »Mein lieber, lieber Papa! so höre mich doch! Er hat es mir geschworen – ich bin sein.«
»Was? Sein bist du? – Aha – – Caffarelli! Fort, fort! – Geh weg – Will dich nicht mehr sehen! – Friedrich – ausziehen! hna! schnell! – Meine Pfeife! – Cognac!«
Er hielt seine heftig zitternde Rechte fortweisend über dem Kopf der Tochter ausgestreckt, mit der Linken griff er, nach einem Halt suchend, in der Luft umher.
Kospoth und der alte Diener beeilten sich, ihn zu stützen und in sein Zimmer zu führen.
Melanie blieb mitten im Salon auf ihren Knieen liegen und horchte, mit weit geöffneten Augen nach der noch offen stehenden Flurthür starrend, hinaus. Von der Treppe her erscholl ein dumpfes Poltern. Die Männer trugen den Sarg hinauf.