Ernst von Wolzogen
Der Thronfolger – Zweiter Band
Ernst von Wolzogen

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Neuntes Kapitel.

Im Trauerhause. Zwei Kabinettsschreiben. Wie sie es alle tragen.

Kospoth war nach dem Wortwechsel mit dem Erbgroßherzog um die Hofjägerei herumgegangen, um das Haus unauffällig durch die Vorderthür betreten zu können. Dann hatte er oben bei Treysas angeklopft und von dem Dienstmädchen erfahren, was sich soeben hier zwischen erstem Stockwerk und Bodenraum zugetragen. Das gnädige Fräulein sei eben noch zurecht gekommen, um den letzten Blick und den letzten Seufzer ihrer Mutter aufzufangen.

»Ja, ist denn der Tod so plötzlich eingetreten?« fragte Kospoth, um die Geschwätzigkeit des Mädchens abzulenken und sich selbst dem Vorwurfe zu entziehen, als ob er durch Dienstbotenklatsch hinter Melanies Geheimnisse zu kommen gesucht habe. »Fräulein Melanie hat wohl nicht ahnen können, daß es so schnell zu Ende gehen würde, sonst wäre sie doch gewiß nicht vom Krankenbette gewichen.«

»Ja, es ist freilich rascher gegangen, als wir alle gedacht haben – das heißt: der Doktor hat schon heute mittag gesagt, er konnte nicht dafür stehen, daß die Frau Generalin die Nacht noch überlebten. Wie das gnädige Fräulein aus der Stube gingen, weil sie sagten, sie könnten sich nicht mehr aufrecht halten und müßten sich durchaus etwas hinlegen, da waren Frau Generalin gerade ein bißchen eingeschlafen – es ist aber wohl nur die große Schwäche gewesen. Ich blieb so lange bei ihr – ich dachte mir ja wohl gleich, daß das kein richtiger gesunder Schlaf sein könnte! Ich sage Ihnen, es flog alles nur so an ihr, und Frau Generalin warfen sich auf den Kissen hin und her, daß es reine gar nicht mitanzusehen war! Und der Herr General – ach nein, wissen Sie, der Herr General überleben die gnädige Frau nicht lange! Es war schon den ganzen Tag, mit Respekt zu sagen, nicht ganz richtig mit ihm. Er lief immer hin und her und 'nein in die Krankenstube und wieder 'naus und brummte immer so was vor sich hin, daß man kein Wort verstehen konnte. Reine zum Fürchten war's! – Und nachher auf einmal machten die Frau Generalin die Augen so weit auf und guckten um sich, als ob sie was suchen thäten. Und wie ich ihr was zu trinken geben wollte, da sahen sie mich so erstaunt an, als ob sie mich gar nicht mehr kännten, und verlangten nur immer nach dem gnädigen Fräulein. Na, da half's doch nichts, da mußt' ich doch wohl hingehen und sie wecken, so leid mir's auch that um das gnädige Fräulein, das die ganze Nacht nicht ins Bett gekommen waren und schon selber wie so eine halbe Leiche aussahen. Ach Gott, Herr Baron, ich kann Ihnen sagen: wie ich Sie das gnädige Fräulein nicht auf ihrem Bette fand, da kriegte ich Sie keinen schlechten Schreck. Und dann war mir auch so graulich, weil der Herr General sich immer so auf dem Kopfe kratzten und vor sich hin sprachen und aus seiner großen Pfeife qualmten – im Krankenzimmer mit der Pfeife! Und wie ich 'nauskomme, da hör' ich drüben den Herrn Kammerherrn brüllen wie närr'sch, mit Respekt zu sagen: er wollte e Pferd haben. Denken Sie bloß: e Pferd, e Pferd! ich gebe wer weiß was für e Pferd! schrieen der Herr Kammerherr immer. Na, ich sage! Wo doch unser Herr Kammerherr gar nicht reiten thun bei ihre Korpulenz! Und wie sie mich dann anschnauzen thaten und das Fräulein Doris mit 'nem Gesichte wie 's reine Wachs. . . . Nein, ich kann Ihnen sagen, Herr Baron, da wurde mir's so dummrich! . . .«

Sie hätte in ihrer Redseligkeit ihm den Vorgang auf der Treppe sicherlich gern noch einmal erzählt, wenn er ihr nicht mit der Frage ins Wort gefallen wäre, ob die Generalin bei Bewußtsein gewesen, ob sie die Tochter noch erkannt hätte, ehe sie starb.

»Ja, das kann ich nicht 'mal genau sagen,« antwortete das Mädchen. »Das gnädige Fräulein rannten in die Stube mit ganz wilden Haaren und schmissen sich förmlich auf die Kniee vorm Bett. Wie ich 'neinkam, hielten sie die Hand von der gnädigen Frau gefaßt und schluchzten zum Erbarmen. Nein, Herr Baron, so 'was von Weinen hab' ich nie gehört, mein Lebtag nicht! Und unsre gnädige Frau hatten immer die Augen weit auf und sahen das gnädige Fräulein an, in einemzu bis zum letzten Seufzer. Und nachher, wie's vorbei war, da ist das gnädige Fräulein ohnmächtig geworden, und wir haben sie auf ihr Bett getragen. Ich mach' ihr kalte Umschläge.«

»Nun, dann gehen Sie nur wieder hinein, versäumen Sie sich nicht! Was macht der Herr General?«

»Der sitzt immer noch und raucht seine Pfeife. Denken Sie bloß, Herr Baron: bei der Leiche sitzt er und raucht! Nein, nein, der Herr General machen's nicht mehr lange! Der Doktor hat auch gesagt: der Friedrich soll sich immer um ihn halten und ihn nicht aus 'm Auge lassen, weil's ihm so vorkäm', als ob der Herr General nicht recht bei sich wären.«

»Ich danke Ihnen, Marie. Wenn Fräulein Melanie besser ist, sagen Sie ihr doch, daß ich hier gewesen bin. Wenn die Herrschaften meine Hilfe nötig hätten, dann sollten sie nur zu mir schicken, ich bliebe den ganzen Abend zu Hause, und morgen früh spräche ich auf jeden Fall bei ihnen vor.« – – –

Als etwa eine halbe Stunde später, dem Wunsche seines Vaters Folge leistend, Georg Friedrich sich in die Gemächer des Großherzogs begeben hatte, da war ihm schon im Vorgemach der Flügeladjutant Prinz Usingen entgegengetreten und hatte ihn gebeten, sich wieder zurückzuziehen, da die Aerzte jeden Besuch, der aufregend auf den hohen Kranken wirken könnte, streng untersagt hätten.

»Ja, aber mein Vater hat mich doch selbst zu sehen gewünscht,« wandte der Erbgroßherzog ein. Worauf Prinz Usingen versetzte, die Frau Großherzogin habe es selbst übernommen, ihn zu entschuldigen.

»Wer ist jetzt augenblicklich beim Großherzog?«

»Die Frau Großherzogin und Prinzessin Eleonore.«

»Könnten Sie nicht vielleicht meine Schwester davon benachrichtigen, daß ich hier bin und sie zu sprechen wünsche?«

»Ich will es versuchen – wenn Königliche Hoheit hier warten wollen?«

Der Erbgroßherzog schaute der hohen Gestalt des prinzlichen Flügeladjutanten ein wenig befremdet nach. Die gemessene Förmlichkeit seines Wesens und sein ernster, fast vorwurfsvoller Blick hatten ihn stutzig gemacht. Offenbar hatten die Herren vom Hofe von seinem Auftreten gegen den Vater Wind bekommen. Das konnte er niemand anderm als dem Grafen Worbis zu verdanken haben! Sein blondes Schnurrbärtchen zwischen zwei Fingern zwirbelnd, schritt er ein paarmal auf dem dicken Teppich auf und ab und setzte sich dann in der dunkelsten Ecke des Gemaches auf einen Polstersessel, um nachzudenken. Eigentlich kam es ihm doch sehr erwünscht, daß die Unterredung mit seinem Vater noch einmal hinausgeschoben werden konnte. Er wußte ja, daß er ihm nicht zu Willen sein konnte, daß er fest auf seinem Entschluß beharren würde, lieber seine Ungnade über sich ergehen zu lassen, ja sogar lieber dem Throne zu entsagen, als der Geliebten sein Wort zu brechen.

Aber der Skandal, der unvermeidliche, abscheuliche Skandal! Es war kaum denkbar, daß nicht von dem peinlichen Vorfall in der Hofjägerei eine, wenn auch noch so dürftige Kunde in die Oeffentlichkeit dringen sollte, mochte der Baron von der Rast die Sache auch noch so diplomatisch zu vertuschen suchen und selbst Kospoth trotz seiner rasenden Eifersucht dem hohen Range des Freundes die Rücksicht angedeihen lassen, daß er seinen gerechten Zorn vorderhand noch in sich verschloß. Welch eine unglückselige Fügung der Umstände, daß an diesem Tage, der über das Schicksal zweier Liebenden entscheiden sollte, sein Vater krank werden, ihre Mutter sterben mußte! Wurde die Scene von heute ruchbar, dann stand er in den Augen seiner künftigen Unterthanen nicht mehr nur als leichtfertiger, galanter Prinz, sondern als ein schlechter, herzloser Sohn da, und sie – o, er wagte nicht auszudenken, welchem Schicksal sie entgegenging! Durch seine Schuld würde sie in den Augen jedes anständigen Menschen, nicht nur einer prüden, vorurteilsvollen Gesellschaft als ein Geschöpf dastehen, das die Herzlosigkeit so weit getrieben hatte, die sterbende Mutter zu verlassen, um zu einem heimlichen Stelldichein zu eilen. O Gott! Er wußte ja selbst am besten, wie sehr gerade die Betäubung all ihres Denkens und Empfindens durch das Vorgefühl des schmerzlichen Verlustes seiner wild erregten, rücksichtslosen Leidenschaft in die Hände gearbeitet hatte; wie sie nur darum sich auf einen Augenblick von dem Krankenbette hinweggestohlen hatte, damit er ihr den Schwur der Treue noch einmal mit bebenden Lippen ins Ohr raunen sollte, bevor es Ereignis ward, was ihrem fröhlichen Mädchendasein ein so rasches Ende zu bereiten drohte – den frohen Mut, den Kospoths Warnung ihr zu erschüttern versucht hatte und dessen sie so dringend bedurfte, um das Leid zu ertragen, das nun über sie hereinbrechen mußte, den sollte die Gewißheit seiner Liebe ihr geben! Darum nur war sie gekommen, und er – er hatte die Hilflose, Trostsuchende mit hineingerissen in den Gefühlssturm, den verzweiflungsvoller Trotz und heiße Sehnsucht in seiner Brust entfachten, in die Raserei der Sinne, welcher ihr keuscher Stolz bisher immer siegreich widerstanden hatte.

Oh, er wollte sein Wort halten! Kospoth sollte nicht Recht bekommen mit seinem schimpflichen Zweifel! Aber jetzt gleich vor seinen Vater hinzutreten, gerade heute, an diesem fürchterlichen Tage des allgemeinen Aufruhrs – wo sollte er, der Schuldbeladene, die Kraft finden, dem gütigen Fürsten Trotz zu bieten, dessen Wille so rein war wie sein Leben!? – Nur Zeit gewinnen, bis die erste rohe Kraft des Sturmes gebrochen war! Starb die Mutter wirklich – er mußte ja nicht, daß sie schon tot war – so würde Melanie sicherlich mit ihrem Vater nach Treysa zurückkehren; sie würde der skandalsüchtigen Gesellschaft und dem zürnenden Vater aus den Augen entrückt werden – und seine unwandelbare Treue wie die Allheilerin und Trösterin Zeit würde ihm das Herz des Vaters endlich doch versöhnen und selbst die Gesellschaft seine Liebe achten lehren. Nur Zeit gewinnen, nur Zeit!

So wühlten die Gedanken, die Selbstanklagen, die Wünsche in seinem Hirn, und er merkte gar nicht, daß über so schmerzlichem Sinnen fast eine halbe Stunde verflossen war, als endlich seine Schwester eiligen Schrittes, mit weich rauschenden Gewändern das Gemach betrat.

»Ah, bist du noch da, Georg? Das ist gut! Ich konnte nicht früher kommen – Papa hätte sonst etwas gemerkt.« Mit diesen Worten war sie zu ihm in die dämmerige Ecke getreten.

Er hatte sich rasch erhoben, sobald ihn ihre Stimme aus seinem bangen Traume weckte, und erkundigte sich nun eifrig, wie es dem Vater gehe.

»Er fühlt sich etwas besser nach dem Schlaf, den ihm die Mittel des Arztes verschafft haben,« antwortete die Prinzessin; »aber eine neue Aufregung könnte ihn töten. Ich glaube, Georg, du hast Ursache, mir dankbar zu sein, daß ich dich verhindert habe, ihm heute wieder vor die Augen zu kommen. Ich weiß, daß ich ein gutes Recht habe, so zu handeln, wie ich's gethan habe. Ich habe gelogen, Georg; aber ich habe damit ein gutes Werk gethan, und du wirst es mir danken – bald vielleicht schon,«

»Was hast du gesagt? Doch nicht etwa . . .«

»Ich habe ihm gesagt, du wärest tief erschüttert durch das Unheil, das dein unbesonnener Trotz heute morgen angerichtet habe.«

»Eleonore! Das hast du ihm gesagt – nachdem du mir vor ein paar Stunden erst versichert hast, du wolltest zu mir stehen, was auch kommen möge!?«

»Ich werde zu dir stehen, verlaß dich drauf! Aber höre nur, ich habe noch mehr gethan: Ich habe Papa versichert, daß du bitter bereutest und daß du morgen früh schon abzureisen gedächtest – was fährst du so auf? Nicht gleich zur Brautschau! Vorläufig nur zu deiner eignen Beruhigung und Zerstreuung. Aber ich habe ihm versprochen, du würdest nicht eher wieder vor sein Angesicht treten, als bis dein Gemütszustand dir erlaubte, mit ihm wieder zu reden, wie ein Sohn zu seinem Vater reden muß, dem er die aufrichtige Verehrung und die dankbarste Liebe entgegenbringt.«

»Eleonore, das ist ja . . . ah, das hast du mit Kospoth abgekartet! Du läßt dich dazu benutzen, ihm die Geschäfte seiner eifersüchtigen Rachsucht zu besorgen. Vortrefflich ersonnen, Freund Hans Jochen!«

Die Prinzessin zuckte die Achseln und lächelte verächtlich, »Möglich, daß er dergleichen mit mir vorhatte; aber da hat er sich gründlich in mir getäuscht. Nein, Georg, verlaß dich drauf, ich meine es gut mit dir! Wir beide müssen zusammenstehen – jetzt mehr als je!«

»Aber, Eleonore, begreifst du denn nicht,« rief der Prinz vorwurfsvoll, »daß deine Lüge . . .«

»St! Du wirst laut! Usingen ist nebenan. Komm, laß uns gehen.« – – – – –

Kospoth hatte die Nacht sehr schlecht geschlafen und erst gegen morgen die ersehnte Ruhe gefunden. Es war bereits zehn Uhr vorüber, als ein wiederholtes Klopfen an seiner Thür ihn endlich aus einem unruhigen Traume erweckte. Auf sein Herein trat ein großherzoglicher Jäger ins Zimmer und überreichte ihm einen Brief in großem amtlichen Format.

»Sollen Sie auf Antwort warten?« fragte Hans Joachim gähnend vom Bett aus.

»Nein, Herr Baron, nur zu eignen Händen übergeben, auf Befehl Seiner Excellenz des Oberhofmarschalls.«

»Ach, wollen Sie so gut sein, die Vorhänge zurückzuschlagen?«

»Sehr wohl, Herr Baron!«

Es hatte sich gestern ausgeregnet. Die helle Sonne strömte zu beiden Fenstern hinein, so daß Kospoth geblendet den Kopf in die Kissen zurücksinken ließ und mit dem Schreiben die Augen beschattete.

»Wie geht es dem Großherzog heut?« erkundigte er sich noch, als der Jäger schon auf der Schwelle stand.

»Königliche Hoheit haben eine ziemlich ruhige Nacht verbracht. Ihre Hoheit, Prinzessin Eleonore, hat die eine Hälfte der Nacht bei ihm gewacht und die Frau Großherzogin die andre Hälfte.«

»Und der Erbgroßherzog?«

»Seine Königliche Hoheit sind heute morgen um acht Uhr vierzig mit dem fahrplanmäßigen Zuge abgereist.«

»Abgereist? Wohin?« Kospoth richtete sich halb im Bett auf und starrte den Jäger groß an.

»Das weiß ich nicht, Herr Baron. Ich glaube, Seine Königliche Hoheit belieben im strengsten Inkognito zu reisen. Es ist nur Herr Graf Bracke mit ihm, und beide Herren waren in Zivil.«

»Weiß man im Schlosse schon, daß gestern abend die Frau Generalin von Treysa gestorben ist?«

»Jawohl! Der Diener des Herrn Generals überbrachte die Trauernachricht noch spät am Abend; ich habe sie selbst den höchsten Herrschaften übermittelt.«

»Es ist gut; ich danke Ihnen.«

Sobald der Jäger die Thür hinter sich geschlossen hatte, riß Kospoth mit zitternden Fingern den Briefumschlag auf und entfaltete das Schreiben. »Kabinett Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs . . . was ist das?« und sein Auge flog über die Zeilen dahin.

Das amtliche Schreiben lautete also:

»Nachdem Seine Königliche Hoheit der Großherzog am gestrigen Vormittage mit dem Thronfolger eine Unterredung gehabt, in deren Verlaufe einschneidende Meinungsverschiedenheiten zwischen Seiner Königlichen Hoheit und dessen durchlauchtigstem Sohne hervorgetreten sind, konnten Seine Königliche Hoheit Sich zu Höchstseinem Bedauern der Ueberzeugung nicht verschließen, daß sich der Herr Erbgroßherzog Beeinflussungen zugänglich gezeigt habe, welche Seine Königliche Hoheit in Hinsicht auf die gegenwärtigen und zukünftigen Pflichten des Thronfolgers nur als verderbliche bezeichnen können. Seine Königliche Hoheit glaubt diese Beeinflussungen auf Ew. Hochwohlgeboren zurückführen zu müssen und erwartet demgemäß, daß Sie, Seinem Allerhöchsten Wunsche nachkommend, den vertrauten Umgang mit dem Herrn Erbgroßherzoge auf möglichst nicht verletzende Weise abzubrechen bemüht sein werden. Da Höchstdesselben Gesundheitszustand ihm für die nächste Zeit verbieten dürfte, andere als nur die wichtigsten Audienzen zu erteilen, so haben Serenissimus mich zu beauftragen geruht, Ew. Hochwohlgeboren Allerhöchst seinen gnädigsten Dank für die Seiner Königlichen Hoheit dem Erbgroßherzog während Hochdesselben Reise erwiesenen hochschätzbaren Dienste sowie Seine besten Wünsche für Ihr ferneres Wohlergehen zu übermitteln.

Im Allerhöchsten Auftrage

gez. Graf Worbis, Generaladjutant
und Oberhofmarschall.«      

Als Kospoth das Schriftstück zu Ende gelesen hatte, warf er es, höhnisch auflachend, auf die Bettdecke und knirschte halblaut vor sich hin: »Also ausgewiesen aus der Residenz – nur in etwas höflicherer Form als irgend ein Sozialdemokrat, dessen Mundwerk unbequem wird! Bravo, Excellenz Worbis! In diesem stilistischen Meisterwerk erkenne ich Ihr diplomatisches Genie. Warum ist auch der Mohr nicht gleich gegangen, sobald er seine Arbeit gethan und den allerdurchlauchtigsten Sprößling frisch und gesund wieder zu den Stufen des Thrones abgeliefert hatte. Nun, meinetwegen freut euch eures Triumphes, ihr Großwürdenträger des Reiches! Wäre der Großherzog diese Nacht gestorben, so würdet ihr höchst wahrscheinlich heute morgen schon bei mir antichambrieren.«

Eine Stunde später hatte Kospoth bereits seine Toilette beendet, sein Frühstück zu sich genommen und seinen Koffer gepackt. Es war halb zwölf Uhr, als er sich in der Hofjägerei bei dem General von Treysa melden ließ.

Der alte Herr saß in einem bequemen Lehnstuhl am Fenster seines Zimmers und las einen Roman. Waldmann und Diana räkelten sich zu seinen Füßen in der Sonne. Sein scharfes Jägerauge, das er sich bis in sein hohes Alter in ungeschwächter Kraft erhalten hatte, vermochte sogar noch die mächtige Tabakswolke zu durchdringen, die sich zwischen seinem Haupte und dem Buche gelagert hatte. Das war alles ganz wie gewöhnlich – und wie gewöhnlich auch raffte sich der Greis bei Kospoth's Eintritt mit einem kräftigen Ruck von seinem Sessel empor und ging ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, »'n Morgen, Hans Jochen! Freut mich, daß Sie kommen – mwa!«

Jener drückte kräftig die dargereichte Hand und sagte ernst: »Ich brauche wohl keine Worte zu machen, Herr General. Sie wissen, wie aufrichtig ich an allem teilnehme, was Sie und Ihr Haus betrifft.«

»Weiß ich! Mummummumm – danke! Dumme Geschichte das! Meine gute Frau! Hna, muß auch 'runtergewürgt werden und so weiter! Ich werde Ihnen nichts Vorflennen . . . mummummumm.« Und dabei fuhr er sich mit der zitternden Rechten über die Augen und wischte sich mit einer ärgerlichen Grimasse zwei kleine Thränenperlen weg, die, funkelnd im hellen Sonnenstrahl, an seinen Wimpern hingen.

»Ich hoffe, Sie werden mir erlauben, mich Ihnen nützlich zu machen,« begann Hans Jochen wieder, nachdem er der Aufforderung des Generals, sich zu ihm zu setzen und eine Cigarre zu rauchen, gefolgt war.

»Ja, ja, weiß schon: Totenschein, Sarg, Leichenweiber, Anzeigen, Begräbnis und so weiter – kenn' ich, kenn' ich, mwa! Hab' ich alles schon durchgemacht, x-mal. Scheußlich alles – mummummumm! Aber das Niederträchtigste ist – jetzt geht das verdammte Heiraten schon wieder los!«

Kospoth traute seinen Ohren nicht. Er starrte dem wunderlichen Greise ins Gesicht und wußte nicht, ob er diese Aeußerung für eine Art Galgenhumor oder für Verrücktheit halten sollte. Das ehrwürdige weiße Haupt schwebte geisterhaft über der dichten Tabakswolke, und die große fleischlose Hand, die unten aus dieser Wolke hervorschaute, spielte ganz behaglich mit Dianas Schlappohren. Er wußte absolut nicht, was er erwidern sollte, und wartete deshalb schweigend, bis der alte Sonderling wieder kopfschüttelnd zu mummeln begann: »Ja, die Weiber, hehe! Ich habe immer ein großes Penchant für sie gehabt – hna! – und so weiter. Waren alle dreie gut, sehr gut – sehr gut, mummummumm! Eine immer besser wie die andre – mwa, wird schwer halten, wieder eine zu kriegen! Kann aber ohne nicht leben – – und das Mädel, die Melanie, will tanzen und so weiter – kann ich nicht machen – Ballvater und so weiter . . . niederträchtig! Jetzt bin ich – hna! vierundachtzig Jahr', alter Knackstiefel – mummummumm! Aber vor fünf Jahren – jawohl fünf Jahren . . . da unten – Dingsda Karpaten und so weiter, da hab' ich noch einen Bären geschossen! Lichter rein ausgeblasen, hoho! Das ist nämlich immer das beste – dann kann die Bestie nichts mehr machen. Weidwund schießen ist gefährlich – dann geht Petz auf den Menschen! Aber wenn man ihm die Lichter ausbläst, dann hat man ihn. Folgen Sie meinem Rate: Auf der Bärenjagd immer einen Lauf voll Schrot und dann zwischen die Augen halten: probatum est, hehehe! Die Bestie kam auf mich los – ich konnte nicht schnell genug zur Seite springen, und da hat sie mir noch eins ausgewischt – sehen Sie, da!« Dabei knöpfte er mit seinen zittrigen Fingern seinen linken Hemdärmel auf und streifte ihn ein gut Stück den sehnigen, dicht behaarten Arm hinauf, um seinem jungen Freunde die Narben von der Bärenklaue zu zeigen.

Kospoth hatte, wie alle seine berühmten Jagdgeschichten, so auch diese schon öfters gehört und die Narben mit gebührendem Respekt bewundert. Heute aber lag ihm doch so viel Wichtigeres am Herzen, daß er den alten Herrn sich nicht in seine weidmännischen Erinnerungen verlieren lassen mochte, und darum warf er rücksichtslos die Frage dazwischen, wo das Begräbnis der Generalin stattfinden sollte.

»Begräbnis? Mwa! In Treysa natürlich! Habe ja auch meinen Abschied schon in der Tasche.«

»Ihren Abschied?« rief Kospoth sehr erstaunt, indem er aufsprang und mit den Händen die Tabakswolke fortzuwehen suchte, um das Gesicht des Generals sehen zu können.

Der zog aus seiner Rocktasche ein Schreiben, genau von demselben Aeußern, wie Kospoth heute früh eins erhalten hatte, und reichte es ihm stumm durch den wallenden Nebel entgegen.

Hans Jochen entfaltete es hastig und las. Es war gleichfalls von Graf Worbis im allerhöchsten Auftrage und auch in demselben lächerlichen Kurialstile verfaßt. Der Großherzog ließ ihm darin seine Teilnahme für den erlittenen schmerzlichen Verlust aussprechen und enthob ihn sodann – in Rücksicht auf eben dieses traurige Ereignis, das ihm doch wohl den ferneren Aufenthalt in der Residenz verleiden würde – in Gnaden seines Amtes als Oberhofjägermeister. Auch er wurde zum Schluß wegen der Krankheit Seiner Königlichen Hoheit von der Verpflichtung des förmlichen Abschieds entbunden. Titel und Uniform seiner Hofcharge sollten ihm, wenngleich er sie nur provisorisch verwaltet hatte, als Zeichen besonders gnädiger Gesinnung seines allerhöchsten Herrn belassen werden.

»Die haben's sehr eilig, mich los zu werden – natürlich, mummummumm – weil mein Mädel jetzt nicht mehr tanzen kann. Mwa! Schranzenpack!« knurrte der alte Herr, als Kospoth ihm das Schreiben wieder überreichte.

»Ich fürchte, Sie haben recht, Herr General,« rief Hans Joachim ironisch. »Ich habe auch so ein Kabinettsschreiben in der Tasche, auch einen Abschied, aber keinen so gnädigen. Nun, es ist wenigstens ein Zeichen, daß es nicht gar so schlimm um den Großherzog stehen kann; aber ich glaube, gewisse Leute werden seine Schwäche benutzt haben, um ihm diese Entschließungen abzulocken. Meine radikalen Ansichten sind den Herren Ministern und andern Würdenträgern ein Gräuel, und ich fürchte, Fräulein Melanie ist einigen einflußreichen Damen zu gefährlich.«

»Ja, ja, das hab' ich auch schon gedacht. Sie sieht ihrer Großmutter ähnlich,« nickte der General. Und dann paffte er mächtige Wolken von sich und schien in Nachdenken zu versinken, während dessen er von Zeit zu Zeit unverständlich vor sich hin mummelte.

Kospoth rief ihn endlich wieder zu sich durch eine Frage nach Melanies Befinden.

»Schlecht! Schlecht!« antwortete der alte Herr trübselig. »Zwei Nächte nicht geschlafen, geweint und so weiter – mwa! Gestern war sie wie toll, wollte sich nicht von mir anrühren lassen – hna, Unsinn und so weiter! Gehen Sie mal hinein in das – Dingsda – Sterbezimmer; vielleicht finden Sie die Melanie dadrin.«

Ohne etwas zu erwidern, erhob sich Kospoth und schritt aus dem qualmerfüllten Zimmer des Generals hinaus und dann, langsam und tief Atem holend, durch den Empfangssalon hindurch. Er klopfte an die gegenüberliegende Thür des Schlafzimmers an – kein Herein.

Er öffnete zögernd die Thür und sah sich der Leiche der Frau von Treysa gegenüber. Sie lag, die Hände über der Brust gekreuzt, im Bette, das feine Gesicht mit dem tief eingegrabenen Leidenszuge noch immer zur Seite gekehrt und eingerahmt von einem breiten schwarzen Bande, welches man ihr bereits umgebunden hatte, um das Herabfallen der Kinnlade zu verhüten. Das Fenster war geöffnet, und die kalte, feuchte Februarluft erfüllte das nicht eben große Gemach. Das Bett des Generals war für diese Nacht in dessen Arbeitsstube hinübergesetzt worden; an seiner Stelle stand ein alter Armstuhl mit hoher Lehne, und in diesem saß schlafend, den Kopf nach vorne gesenkt, eine Decke über den Knieen und einen kostbaren Sorti de bal, einen Umhang von weißem Atlas, mit Zobelpelz gefüttert, um die Schultern – Melanie!

Hans Joachim hatte kaum einen Blick für die so friedlich ausruhende Tote. Der Ausdruck tiefen Seelenleidens, der die Züge der Geliebten, selbst im Schlummer noch, entstellte, war viel schrecklicher anzusehen, als das starre Dulderantlitz der Erlösten. Von Zeit zu Zeit lief ein Frösteln durch die ganze lieblich üppige Gestalt; es zuckte in ihrem Gesicht auf wie im Schmerz, und das dunkle Köpfchen schnellte unruhig empor, um dennoch gleich wieder matt herabzufallen. Es that ihm leid, ihr den langentbehrten Schlummer stören zu sollen, aber er konnte endlich doch nicht umhin, sie beim Arme zu ergreifen und ihr ihren Namen ins Ohr zu rufen.

Sie öffnete die Augen und blickte verstört zu ihm auf. Sie schien ihn nicht zu erkennen,

»Melanie!« rief er abermals, indem er ihr unter die Achseln griff und sie so aufzuheben suchte. »Du darfst nicht schlafen hier, du erkältest dich ja auf den Tod!«

Nun stand sie auf den Füßen; aber er mußte sie mit Kraftanstrengung stützen, damit sie nicht wieder zurücksank. Er legte einen Arm um ihren Oberleib und versuchte sie mit sich fortzuziehen, indem er ihr immer wieder zuredete.

Der Frost schüttelte ihre Glieder, Sie fuhr sich mit den Händen an den Kopf, rieb die Augen, und dann sagte sie, ihm ängstlich ins Gesicht blickend: »Du, Hans Jochen? Ach, laß mich! Rühre mich nicht an – mich soll keiner anrühren! – Es ist so furchtbar kalt hier.«

»Ja gewiß! und du sollst zu Bett und schlafen. Komm, ich will das Mädchen rufen.« Damit umfing er sie aufs neue und drängte sie mit sanfter Gewalt in ihr Schlafzimmer, welches, nach hinten zu gelegen, an das Sterbezimmer anstieß. Der Rollvorhang war noch herabgelassen, es herrschte tiefe Dämmerung in dem ganzen Gemach, aus welcher nur das Linnen des noch ungemachten Bettes matt hervorleuchtete. Er nötigte sie, sich darauf auszustrecken, und breitete das Deckbett über sie. Dann wollte er eilen, das Mädchen herbeizurufen.

Aber sie hielt seine Hand fest und sagte, in Thränen ausbrechend: »Du bist so gut zu mir, Hans Jochen! Ich verdiene es nicht, wahrhaftig, ich verdiene es nicht! Ach, du weißt ja nicht . . . Oh, wie Mama mich ansah – bis sie starb, unausgesetzt! Ich bin gewiß, sie hat es in meinem Gesichte gelesen – und mit dem Gefühl ist sie in die Ewigkeit gegangen!«

Kospoth krampfte sich das Herz zusammen. Auch er las jetzt in ihrem Gesichte, ahnte aus ihren unzusammenhängenden Worten, was geschehen war. Aber nur Mitleid, heißes Mitleid mit dem unglücklichen Mädchen erfüllte seine Seele, und seine ganze Empörung richtete sich gegen den, der heute morgen davongeflohen war und sie mit ihrem namenlosen Schmerz allein gelassen hatte. Seine Finger zitterten, indem er ihr beruhigend über das wirre Haar strich, und auch die Stimme zitterte, mit der er ihr zuflüsterte: »Weine nicht, Melanie! Ruhe dich jetzt aus! Ich will unterdessen alles besorgen, was es hier noch zu thun gibt, damit ihr so bald wie möglich fortkommt nach Treysa. Dort wird dir wieder wohl werden.«

Sie lallte eine Antwort, die er nicht verstehen konnte, und seufzte tief auf. Ihre Sinne verwirrten sich unter dem Einfluß seines Streichelns, und der bleierne Schlaf der Uebermüdung hielt sie aufs neue gebannt. Eine ganze Weile noch fuhr er fort, ihr langsam und gleichmäßig über den zierlichen runden Hinterkopf zu streichen; dann steckte er ihre kalten Hände unter die Decke, beugte sich noch einmal mit einem langen, schmerzlich liebevollen Blicke über sie und verließ endlich auf den Fußspitzen das Schlafgemach. – – – –

Den ganzen Tag über war er beschäftigt mit den Vorbereitungen zur Ueberführung der Leiche und der Uebersiedelung nach Treysa. Der alte General saß, scheinbar teilnahmlos, über seinem Roman oder nickte in seinem Lehnstuhl ein. Er schien es ganz selbstverständlich zu finden, daß Kospoth ihm alle dringenden Geschäfte abnahm, und gab zu allen seinen Anordnungen sogar ungeduldig seine Zustimmung. Bei Tische waren die beiden Herren allein, denn Melanie schlief immer noch. Der alte Friedrich wartete auf und mußte sich von Zeit zu Zeit, sich hinter seinem Herrn verbergend, die großen Tropfen von den lederartigen Wangen tupfen. Er hatte gegen den jungen Baron schon seine Besorgnisse um den Verstand seines lieben Herrn Generals ausgesprochen; denn, meinte er, es sei doch zu unnatürlich, daß ein Mann sich gar nicht um die Leiche seiner Frau bekümmere, sondern nur immerzu dasäße, wie ein Schornstein qualme und Romane läse!

Als Friedrich zum Schluß des sehr eiligen Mittagsmahles den Kaffee und die Schnäpse auf den Tisch gesetzt und sich wieder entfernt hatte, brachte der alte General, der über Tische nur von ganz gleichgültigen Dingen geredet hatte, endlich etwas heraus, was auf die Ereignisse des Tages Bezug hatte: »Wär' doch eigentlich . . . hna! anständig gewesen, wenn der Großherzog seinen Sohn hergeschickt hätte zum – zum Dingsda – Kondolieren!«

»Der Erbgroßherzog ist heute morgen abgereist,« sagte Kospoth, langsam betonend, und blickte dabei, aufmerksam forschend, zu dem alten Herrn hinüber.

Der zog die buschigen weißen Brauen drohend zusammen, stürzte einen Cognac hinunter und brummte alsdann, sich mit grimmiger Miene die Lippen leckend: »Abgereist?! Aha, kein Interesse mehr für Damen in Trauer! – hna, gesegnete Mahlzeit!« Und damit raffte er sich empor und schlurrte eiligst aus dem Zimmer hinaus. Ahnte er doch vielleicht, welche Beziehungen zwischen dem Thronfolger und seinem Kinde bestanden? Hatte der alte Diener ihm etwa einen Wink gegeben, der doch sicherlich durch das schwatzhafte Dienstmädchen von allem unterrichtet war, was sich Verdächtiges im Hause zugetragen hatte? Kospoth beschloß, ihn auszuforschen, sobald es auf ungezwungene Art und Weise geschehen könnte.

Seine Abneigung gegen den dicken Kammerherrn von der Rast schien übrigens Friedrich zu teilen; denn als er ihm befohlen hatte, diesen Herrn auf keinen Fall vorzulassen, hatte der alte Mann gar verständnisvoll mit dem Kopfe genickt.

Uebrigens war diese Maßregel, wenigstens für den heutigen Tag, überflüssig, da der Kammerherr denn doch das Zartgefühl oder auch die Scheu besaß, Melanie nach der unglückseligen Entdeckung des gestrigen Abends nicht sogleich wieder vor Augen treten zu wollen. Er hatte, wie so mancher gewissenlose Cyniker, doch auch so etwas wie ein Gemüt. Er war zum Beispiel bei einem Rührstück im Theater immer der erste, der zum Taschentuch greifen mußte, und wenn kleine Kinder am Weihnachtsabend fromme Sprüchlein herbeteten, konnte er die bittersten Thränen vergießen. So traf es ihn denn auch in Wirklichkeit schmerzhaft ins Herz, daß er seine unglückliche Tochter durch seine Schuld leiden sehen mußte. Zwar hatte der Schreck für Doris außer einer kurzen Ohnmacht weiter keine üblen Folgen gehabt; aber aus ihrem gramverstörten Gesicht am andern Tage, aus der ängstlichen Scheu, mit der sie seiner Berührung, ja selbst seinem Blicke auszuweichen suchte, mußte er erkennen, wie tief der Mißbrauch, den er mit ihrer Harmlosigkeit getrieben hatte, sie empört und verletzt habe. Mit der demütigen Miene eines reuigen Sünders machte er sich zärtlich besorgt um sie zu thun und bemühte sich, ihr seine Handlungsweise als Eingebung eines gutherzigen, romantischen Mitgefühls mit den Liebenden darzustellen, denen ja die größte Heimlichkeit durch die hohe Stellung des Liebhabers geboten gewesen sei. Des Prinzen Edelsinn und Melanies gute Erziehung und Herzensreinheit hatten ihm eine sichere Bürgschaft dafür gewährt, daß er die moralische Verantwortung ruhig übernehmen dürfe. Ein ganz gutes Gewissen hatte er freilich bei solchen sophistischen Rechtfertigungsversuchen nicht – und Thränen, Seufzer und Kopfschütteln waren die einzige Antwort, die Doris für ihn hatte.

Dem Treysaschen Dienstmädchen wußte er durch Geld und gute Worte das Versprechen ihres Schweigens abzunötigen; doch war er freilich nicht so vertrauensselig, das gefährliche Geheimnis nunmehr wirklich für begraben zu erachten. Er ging sogar am andern Tage mit der bangen Sorge nach dem Schlosse, daß man dort vielleicht schon mit Fingern auf ihn weisen werde. Wenn der Großherzog von der Geschichte erfuhr, so war nichts wahrscheinlicher, als daß er seiner Stellung und des damit verbundenen Einkommens verlustig ging – und deshalb konnte er nicht umhin, seinem allergnädigsten Herrn im stillen das Gegenteil einer raschen Genesung zu wünschen. Man empfing ihn im Schlosse zwar ganz wie gewöhnlich, allein die überraschende Nachricht von der plötzlichen Abreise des Erbgroßherzogs trug nicht dazu bei, seine bange Sorge zu verscheuchen. Bedeutete diese Reise eine Verbannung, dann wußte der Großherzog wahrscheinlich auch schon, was gestern in der Hofjägerei vorgefallen war. Graf Worbis aber, dem er auf der Treppe begegnete, begrüßte ihn mit lächelnder Zuvorkommenheit wie immer, versicherte ihm, daß der Erbgroßherzog aus eigenem Entschluß gereist sei, und entließ ihn mit dem wohlwollendsten Händedruck.

»Aha, ich sehe schon, dem alten Fuchs ist da irgend ein kecker Streich geglückt!« dachte der Kammerherr, als er den hageren Würdenträger so ungewöhnlich elastischen Schrittes davoneilen sah. »Die Freude über Serenissimi Genesung allein hat das nicht zuwege gebracht.«

Als er eine Viertelstunde später, da man seiner Dienste nicht weiter benötigte, das Schloß wieder verließ, sah er vor dem Portal die Prinzessin Eleonore im Begriff, zu Pferde zu steigen. Sobald sie seiner ansichtig wurde, winkte sie ihn heran, trat ein paar Schritte beiseite und fragte so leise, daß der Reitknecht und der zur Begleitung befohlene Kavalier sie nicht vernehmen konnten, ob er nicht wisse, wann die Treysas abzureisen gedächten; denn sie nehme an, daß sie doch wohl vorziehen würden, wenigstens die erste Trauerzeit auf ihrem stillen Gute zu verbringen.

»Das dürfte allerdings wohl der Fall sein, Hoheit,« versetzte der Baron, »Herr von Kospoth ist heut schon früh heraufgekommen, wahrscheinlich um bei der Uebersiedelung behilflich zu sein. Ich selbst habe allerdings noch keine Gelegenheit gehabt, die Herrschaften nach dem gestrigen traurigen Ereignis zu sprechen, aber . . .«

»Sehr begreiflich!« fiel die Prinzessin spitz ein. »Ich weiß alles . . . o, beruhigen Sie sich! Ich billige zwar durchaus nicht die Rolle, die Sie dabei gespielt haben; aber ich habe auch keine Veranlassung, Sie zu verraten. Es liegt mir sogar meines Bruders wegen viel daran, daß der Großherzog nichts davon erfahre.«

»Oh, ich versichere Hoheit, nur meine Ergebenheit gegen Seine Königliche Hoheit den Erbgroßherzog . . .«

»Bitte, keine Entschuldigungen! Mein Bruder ist abgereist, aus Achtung vor dem frischen Schmerz des Fräuleins – Sie begreifen! Sollte Fräulein von Treysa darüber in Unruhe geraten, so sagen Sie nur . . . oder nein, besser, bereiten Sie sie darauf vor, daß ich ihr in den nächsten Tagen einen Kondolenzbesuch abstatten würde. Und im übrigen strengste Diskretion, mein lieber Baron – wenn anders Sie auf die meinige einigen Wert legen!«

Der Kammerherr verbeugte sich tief und verließ den Schloßhof mit bedeutend angenehmeren Gefühlen, als mit welchen er ihn betreten hatte. Zwar war es ihm durchaus nicht klar geworden, ob die kluge Prinzessin die romantische Leidenschaft ihres Bruders unterstützen, oder ihr entgegenarbeiten wollte; aber unter ihrem hohen Schutze durfte er sich doch wenigstens vorläufig wieder sicherer fühlen.

Seine gute Laune erfuhr noch eine erhebliche Steigerung, als er daheim eine große, an seine Tochter adressierte Kiste vorfand, welche laut Frachtbrief den ihr vom Erbgroßherzog als Geschenk versprochenen photographischen Apparat enthielt. Er ließ die Kiste sofort in das Atelier hinauftragen und machte sich, vor Eifer glühend, daran, sie auszupacken. Aber er hatte nicht daran gedacht, wie peinlich gerade jetzt dem Zartgefühl der armen Doris die Annahme eines Geschenkes sein mußte, welches eine so verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Kuppelpelze besaß.

»Nein, Vater, nein! pack es nur wieder ein!« rief Doris, mühsam einen neuen Thränenausbruch unterdrückend, als er ihr die funkelnd neue Camera mit den sauber gearbeiteten Messingschrauben und Beschlägen vergnüglich lächelnd vor Augen hielt. »Du mußt es alles wieder zurückschicken, ich nehme nichts von ihm an – ich kann nicht!«

»Aber, liebes Kind, wie du nun wieder bist!« versetzte er bekümmert. »Einem solchen Geber darf man keine Geschenke zurückschicken. Das wäre ja ein Affront – Gott bewahre, nein! Der Erbgroßherzog meint es doch so gut mit dir. Wie kannst du nur seine Absicht so verkennen! Und dann sieh mal, jetzt, wo du deine Freundin verlierst, wird dir eine neue Zerstreuung so gut thun. Komm, wir wollen mal gleich die Anleitung zusammen studieren, und morgen fangen wir tapfer an zu photographieren. Ich borge mir vom Theater ein Kostüm, und dann nimmst du mich als Richard den Dritten auf! Du schüttelst den Kopf? Ja, warum denn nicht – ach so, ja freilich! Na, dann meinetwegen als Falstaff –: So lag ich aus, so führt' ich meine Klinge! – ahähäh!«

Sie hatte nur ein Seufzen als Antwort; aber er achtete nicht darauf und fuhr, munter plaudernd, fort, die übrigen Gegenstände auszupacken und vor ihr auf den Tisch zu stellen.

»Alle Wetter!« rief er, die Aufschriften der Chemikalienflaschen buchstabierend. »Was ist denn das für heilloses Giftzeug! Hier Quecksilbersublimat zum Verstärken – Cyankali zum Abschwächen – Gift! Gift! Gift! Totenkopf! Zwei Knochen! Scheußlich! Das nehme ich dir fort, das ist kein Spielzeug für kleine Mädchen!«

»Nimm nur alles fort, Vater, alles fort, ich mag nichts davon sehen!« rief Doris tonlos, indem sie sich erhob und matt zum Fenster schleppte.

Er ging ihr nach, er streichelte sie über die Arme, er redete ihr abermals gut zu – aber es half alles nichts! Er sah ein, daß er ihren Schmerz durch das alles nur vergrößere, und überließ sie endlich sich selbst.

Sobald sie sich allein sah, humpelte sie wieder an den Tisch und suchte mit zitternder Hand die Flasche mit dem Cyankali heraus. Sie entfernte mit Anstrengung den eingeschliffenen Glasstöpsel und führte vorsichtig das Gefäß an ihre schmale, spitze Nase. Dann schloß sie die Augen und holte tief Atem, als wollte sie versuchen, sich durch den bittersüßen Geruch zu betäuben. Als sie aber keine Wirkung spürte, setzte sie das Glas wieder nieder, ging nach der Thür, riegelte sie zu und suchte dann aus der Tischlade ein leeres Medizinschächtelchen hervor. Da hinein schüttete sie einen kleinen Teil des farblosen Pulvers und verschloß dann die Schachtel in dem sichersten Fache ihres Schreibtisches.

»Für alle Fälle!« murmelte sie leise vor sich hin und dann brach sie in krampfhaftes Schluchzen aus, ließ sich auf den Stuhl am Schreibtisch sinken und vergrub ihr wachsbleiches Gesicht in die langen, schmalen Hände.



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