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Eine ernste Stunde.
Es war dem Erbgroßherzog zu Ohren gekommen; daß Graf Worbis gestern nach dem zweiten Akte mit dem Großherzog nach dem Schlosse gefahren und noch über eine Stunde mit ihm zusammen gewesen sei. Als ihn daher am nächsten Morgen sein Vater zu sich rufen ließ, da trat er den Gang nach den großherzoglichen Gemächern nicht ohne ein gewisses banges Herzklopfen an – und daß er diese Nacht schlecht geschlafen habe, konnte ihm jedermann an seinen umränderten Augen ansehen.
Der Großherzog liebte seinen einzigen Sohn und Thronerben aufs zärtlichste und pflegte ihn nie anders als mit einem freundlichen Lächeln zu begrüßen. Heute jedoch . . .
Georg Friedrich stutzte, als er, das dunkel getäfelte, mit wundervollen altvenetianischen Möbeln ausgestattete Arbeitszimmer seines Vaters betretend, ihn mit so ungewöhnlich ernster, kummervoller Miene in seinem ledernen Armstuhl am Fenster sitzen und nachdenklich in den nebelgrauen Februarmorgen hinausblicken sah.
»Guten Morgen, Papa!« sagte Georg Friedrich, indem er mit einigen raschen Schritten das heute so düstere Gemach durchquerte und seinem Vater die Hand reichte. »Du hast mich rufen lassen . . .«
Nur mit einer leisen, müden Neigung des Hauptes hatte der Großherzog den Sohn begrüßt. Jetzt ließ er seine große Hand mit den vornehm schlanken Fingern etwas nervös auf den Lehnen seines Sessels hin und her gleiten und begann dann, das erwartungsvolle Gesicht des Prinzen mit einem flüchtigen Blicke streifend: »Ich habe dich rufen lassen, Georg, um mit dir über eine Angelegenheit zu reden, die mir heute eine schlaflose Nacht gekostet hat.«
»Oh, Papa! Ich hoffe, daß nicht ich . . .«
»Doch, Georg, gerade du bist die Ursache! Ich glaubte, du seist von deiner Reise ernster zurückgekehrt, mehr . . . äh! von deiner hohen Pflicht durchdrungen. Zu meinem größten Bedauern muß ich da aber gestern hören, daß du schon wieder angefangen hast, dein altes Leben zu führen, deine Zeit in Abenteuern zu vertändeln, welche bereits wieder die Aufmerksamkeit der Bürgerschaft und meines Hofes in einer Weise auf dich lenken, die deinem fürstlichen Prestige nur in hohem Grade nachteilig sein kann.«
Der Prinz wünschte im stillen den spionierenden, angeberischen Oberhofmarschall zum Henker und sich selbst erst wieder glücklich aus diesem düstern Zimmer heraus. In einer Anwandlung von Verzagtheit versuchte er die peinliche Auseinandersetzung, die doch kommen mußte, hinauszuschieben, indem er erwiderte: »Verzeihung, lieber Vater! Dein Tadel erschreckt mich. Ich glaubte, daß du mit dem Anteil, den ich seit meiner Rückkehr an den Regierungsgeschäften nehme, zufrieden sein würdest. Ich arbeite täglich zwei Stunden mit Geheimrat Müller, und ich darf wohl sagen, daß ich die Sache gewissenhaft nehme. Kospoth wird es dir bezeugen, daß ich in Cameralibus gut beschlagen bin, und ich glaube, auch unser Major von Gerstorff ist mit meinen Fortschritten in der Taktik und Strategie ganz zufrieden. Meine Abende widme ich, soweit sie mir selbst und nicht den gesellschaftlichen Verpflichtungen gehören, der Ausarbeitung meiner Reisetagebücher, die ich über kurz oder lang einmal in Druck zu geben gedenke, und die wenigen Stunden, die mir dann noch vom Tage zu meiner Verfügung bleiben, fülle ich mit körperlichen Uebungen oder mit Lektüre aus.«
»Das ist alles sehr schön und gut,« versetzte der Großherzog, »und ich sehe mit Freuden, daß es dir mit all diesen Dingen ernst ist; aber davon spreche ich auch gar nicht. Mein Tadel richtet sich nur gegen den Leichtsinn, mit welchem du eine Dame unsrer Hofgesellschaft kompromittierst, die deine Mutter – wie wir alle – durch ganz ungewöhnlich wohlwollendes Entgegenkommen ausgezeichnet hat, der wir schon um ihres Vaters willen die rücksichtsvollste Behandlung schuldig wären, selbst wenn sie persönlich nicht so anmutig und liebenswürdig wäre.«
»Du sprichst von dem Fräulein von Treysa,« erwiderte der Thronfolger, die Spitzen seines blonden Schnurrbarts durch die Finger ziehend: »Ich glaube, du hast eben selbst die Unmöglichkeit zugegeben, sich dem Zauber ihrer liebenswürdigen Persönlichkeit zu entziehen.«
Der Großherzog legte die hohe Stirn in Falten. »Weiche mir nicht aus!« sagte er kühl abweisend. »Du weißt sehr gut, Georg, daß ich dir eine jugendliche Schwärmerei für dieses reizende Mädchen in keiner Weise verübeln würde. Aber du bist im Ausdruck dieser Schwärmerei entschieden wieder viel zu weit gegangen. Man spricht bereits davon, daß du in der Dämmerstunde dich heimlich in die Hofjägerei einschleichst – nein, bitte, leugne nicht – eine gewisse Person hat dich durch die Hinterthür und den Garten hinausschleichen sehen, und diese Person hat den Skandal in der ganzen Stadt verbreitet. – Ich finde es im höchsten Grade tadelnswert, mein Sohn, daß du deine fürstliche Stellung dazu mißbrauchst, Töchter aus unsern ersten Familien zu verführen. Ich weiß, du hast leider das Temperament deines Urgroßvaters geerbt, der, wie dir vielleicht bekannt sein dürfte, zugleich der Großvater des Fräuleins von Treysa ist – ich will ja auch durchaus nicht etwa von dir verlangen, daß du wie ein Mönch leben sollst – aber du sollst und darfst nicht vergessen, daß wir nicht mehr in dem sittenlosen achtzehnten Jahrhundert leben und daß die Moral unsrer Zeit den leichtfertigen Lebenswandel eines Prinzen nicht anders beurteilt als den jedes gewöhnlichen Sterblichen.«
»Glaube mir, lieber Vater,« versetzte Georg Friedrich sichtlich erregt, »wenn es heute irgend einen Thronfolger gibt, der sich ernstlich bemüht hat, die gegen früher so gänzlich veränderten Forderungen seiner Zeit zu verstehen, so bin ich es. Ich habe das seltene Glück gehabt, zwei Jahre hindurch die Welt durchstreifen zu dürfen in Gesellschaft eines Mannes, der mit genialem Tiefblick in das innerste Wesen seiner Zeit eingedrungen ist und der auch mir die Augen geöffnet hat, in einer Weise, wie sie einem Fürsten wohl nur sehr selten geöffnet werden können. Ich glaube mich frei gemacht zu haben von den unglückseligen Vorurteilen, die uns bisher außer Zusammenhang mit unsrer Zeit setzten – die gerade heute uns den wirklich treibenden Kräften des natürlichen Fortschritts gegenüber zur Ohnmacht verdammen.«
Wider die Absicht des Prinzen kam diese Rede etwas einstudiert, fast theatralisch heraus. Er hatte ja allerdings auch schon mehr als einmal sich die Worte im Kopfe zurecht gelegt, mit denen er vor seinem Vater, wenn es einmal zur Aussprache kam, seine Ideen entwickeln wollte. Aber als der Fürst jetzt mit einem etwas ironisch verwunderten Blicke zu ihm aufschaute, ward er mit Beschämung inne, daß er hier vor seinem Vater ein wenig posierte – und er schlug errötend seine Augen zu Boden.
»Es wird mich sehr interessieren, gelegentlich Näheres über deine oder vielmehr Baron Kospoths Ansichten von den wahren Forderungen unsrer Zeit zu erfahren,« versetzte der Großherzog, etwas malitiös die Augenbrauen hochziehend. »Dein Freund soll ja, wie man mir sagt, so eine Art Sozialist sein. Ich muß gestehen, daß ich seine Schrift über das soziale Königtum, welches ihm als Ideal vorschwebt, nicht recht goutieren kann; aber ich schätze ihn hoch als einen jungen Mann von ungewöhnlichen Kenntnissen und großer Begabung. Von ihm kann ich es mir, offen gestanden, am allerwenigsten denken, daß er dir die souveräne Mißachtung des guten Rufes einer vornehmen jungen Dame als eine moderne Fürstenpflicht dargestellt haben sollte!«
»Vater!« brauste Georg Friedrich auf, »das ist . . . o, verzeih! ich will ruhig bleiben. Laß dir versichern, daß ich Kospoth in meinen Herzensangelegenheiten nicht zu Rate ziehe!«
»Das muß ich in diesem Falle aufrichtig bedauern!« rief der Großherzog streng und erhob sich dabei von seinem Sessel, um, die Hände auf dem Rücken, langsam auf und ab zu schreiten.
Der Prinz suchte sehr erregt nach Worten, dann eilte er mit ein paar großen Schritten dem Vater nach und nötigte ihn dadurch, still zu stehen. »Vater, es ist mir sehr ernst mit dieser Sache! Ich bitte dich, mich ruhig anzuhören,« sagte er mit leichtem Beben der Stimme. »Ich liebe Melanie von Treysa.«
Der Großherzog blickte seinen Sohn mit stummer Frage an.
»Ja, bei Gott, ich liebe sie!« fuhr der Prinz in warmer Begeisterung fort, »nicht mit einer flüchtigen, bloß sinnlichen Leidenschaft, sondern mit der Hingabe meines ganzen Wesens an sie, in der ich volles Verständnis für mein Denken und Empfinden und das gleiche Bedürfnis des Ineinanderaufgehens unsrer Seelen zu finden glaube!«
Der Großherzog trat an seinen Schreibtisch und stützte sich mit der Rechten darauf. Die Hand zitterte heftig, als die Finger so rückwärts nach der Tischplatte tasteten. »Wie weit bist du mit ihr gegangen?« fragte er, und seine Stimme hatte plötzlich einen heiseren Klang angenommen.
»Ich habe ihr meine Liebe gestanden und das Geständnis ihrer Gegenliebe empfangen.«
»Und was . . . was folgt daraus?«
»Was daraus folgt? Welch eine Frage! – daß ich sie zu meiner rechtmäßigen Gemahlin erheben will und muß, wenn anders ich ein Ehrenmann bleiben will.«
»Ah, du hast also doch das unglückliche Mädchen . . .«
»Nein, Vater,« unterbrach Georg Friedrich den Großherzog rasch, indem er noch einen Schritt näher an ihn herantrat. »Ich habe nicht schlecht an ihr gehandelt, ich habe ehrlich um sie geworben, wie es jeder andre auch gethan haben würde.«
Der Großherzog ließ sich matt in den Drehsessel vor seinem Schreibtisch sinken. »Und du hast ihr die Ehe versprochen?«
»Nein, das habe ich nicht gethan. Das wollte ich nicht thun, ehe ich mich dir nicht freimütig eröffnet hätte, mein Vater! Schrankenlos wie ihre Liebe ist auch ihr Vertrauen zu mir!«
»Das klingt ja sehr romantisch. Aber du wirst es mir wohl nicht übelnehmen, wenn ich in meinem Alter für dergleichen kein Verständnis mehr besitze.« Der Großherzog sagte es sehr gereizt und begann nervös mit den Fingern auf seiner Schreibmappe zu trommeln.
Der Prinz erhaschte seine herabhängende Linke und rief in fast kindlich flehendem Ton: »Ach, glaube mir doch, lieber Papa, dies ist keine romantische Grille von mir! Es ist wirklich das Glück meines ganzen Lebens! Ich fühle es zu tief, als daß ich mich täuschen könnte, ich bin ein ganz andrer Mensch geworden durch diese Liebe. Und glaube mir auch, es ist wirklich an der Zeit, daß wir Fürsten anfangen, Menschen zu werden in einem andern Sinne als bisher. Was kann denn Gutes entspringen für einen zukünftigen Herrscher aus dieser Verleugnung der heiligsten Empfindungen, der reinsten Menschlichkeit, die das unsinnige Vorurteil der Ebenbürtigkeit von uns fordert? Glaubst du wirklich, daß eine solche Selbstverleugnung den Charakter stählt oder . . . Was ist dir, Vater?«
Den Großherzog schien ein leichter Schwindel anzuwandeln, sein grauer Kopf senkte sich hintenüber und fiel gleich darauf mit einem plötzlichen Ruck wieder nach vorn. Besorgt legte der Sohn seinen Arm um seine Schultern.
»Es ist nichts! Laß nur!« sagte der Großherzog, sich zusammenraffend. »O, ich bin noch kein schwacher Greis, wie du vielleicht glaubst! Ich fühle mich noch stark genug, deinen unreifen Plänen meinen fürstlichen Willen entgegenzusetzen!« Er erhob sich bei diesen Worten und richtete seine schlanke, vornehme Gestalt hoch auf, als er nun fortfuhr: »Deine romantischen Ideen scheinen mir mehr aus der Schule deiner Tante Georgine zu stammen, als aus der deines sozialistischen Freundes. Aber ich wünsche mit aller Entschiedenheit, daß der Skandal, den der ridiküle Schritt der Prinzessin erst gestern verursacht hat, wenigstens solange ich noch am Leben bin, keine Nachahmung mehr finde. Georgine ist alt genug, um selbst darüber zu entscheiden, ob sie sich lächerlich machen will oder nicht – deine Heirat aber zieht Folgen nach sich, für die ich als regierender Fürst verantwortlich bin, und du darfst mir nicht zumuten, daß ich gleichgültig zusehe, wenn du wie ein thörichter Knabe meine Krone zum Spielzeug deiner verliebten Laune benutzest.«
Georg Friedrich war kreidebleich geworden, seine Lippen bebten, und seine Hände mußte er fest gegen seinen Körper drücken, um sie still zu halten. »O, es kann leicht kommen,« rief er, unfähig, seinen Groll hinunterzuwürgen, »daß unsre Kronen bald von den Völkern zum Spielzeug gemacht werden, wenn wir uns nicht beizeiten darauf besinnen, daß wir Menschen sind – Menschen am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts!«
»Georg!« rief der Fürst entsetzt und blickte den Thronfolger starr an. »Das ist die Sprache eines Rebellen –«
Der Prinz wollte sich über die Hand des Vaters beugen, um sie, Verzeihung erflehend, zu küssen, als jener einen Schritt zurücktrat und in ernstem, gemessenem Tone fortfuhr: »Ich will vergessen, daß sie hier in diesen Räumen gesprochen wurde, wenn du dich bereit findest, meinem Willen nachzukommen.«
»Was verlangst du von mir, Vater?«
»Ich habe gestern abend noch mit Worbis Rücksprache genommen und beschlossen, auf das dir bekannte Heiratsprojekt mit deiner Cousine Clementine zurückzukommen. Der Graf hat heute morgen eine chiffrierte Depesche an den dortigen Hofmarschall abgehen lassen. Sobald die Antwort kommt, daß dem Könige dein Besuch angenehm sei, wirst du abreisen. Indessen werde ich durch beschleunigte Ernennung eines neuen Hofjägermeisters unserm alten General Treysa die Kränkung zu ersparen suchen, daß man ihn nötigt, wegen der Abenteuer seiner Tochter meine Residenz zu verlassen.«
Sich fest auf die Lippen beißend, hatte der Prinz die Eröffnung seines Vaters hingenommen. Als er nun, Antwort heischend, zu ihm herabblickte – Georg Friedrich war um einen Kopf kleiner als sein Vater – da sagte er langsam, mit erzwungener Festigkeit: »Ich werde Prinzessin Clementine nicht heiraten – weder sie noch eine andre! Verzeihung, Vater, aber ich kann dir keine andre Antwort geben!«
»Dann haben wir jetzt nichts mehr miteinander zu reden. Ich gebe dir Bedenkzeit bis übermorgen.«
Georg Friedrich verbeugte sich gemessen und verließ tief aufseufzend das Zimmer. Der Großherzog aber brach, sobald jener die Thür hinter sich geschlossen hatte, wieder auf seinem Schreibtischsessel zusammen und berührte mit zitternder Hand den Knopf der elektrischen Leitung, um seinen alten Kammerdiener herbeizurufen. – –
Wenige Minuten später betrat Georg Friedrich die Gemächer seiner Schwester. Es war ihm so weh ums Herz nach der heftigen Aufregung, daß es ihn, den von klein auf von Frauen Gehätschelten und Verzogenen, wie in seinen Kindertagen drängte, sein Haupt an den Busen einer Frau zu lehnen und die ganze Fülle seines Leibes in eine mitleidvolle weibliche Seele auszuschütten. Sein erster Gedanke war der gewesen, sich seiner Mutter zu Füßen zu werfen und sie um ihre Vermittlung in dem traurigen Zwist mit dem Vater anzuflehen. Aber er wußte, daß die Großherzogin weit mehr noch als ihr Gemahl sich im Banne althergebrachter Anschauungen befinde und daß ihr besonders der Skandal einer Mißheirat des Thronfolgers als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen müßte, mit der weder vernünftige Ueberlegung noch ihre mütterliche Zärtlichkeit sie jemals aussühnen würde. Sie war auch bei aller Warmherzigkeit doch eine viel zu nüchtern denkende Frau, als daß er hätte hoffen dürfen, sie je zu einer romantischen Ueberschwenglichkeit zu bekehren.
Auch Prinzessin Eleonore war im Grunde eine kühle Natur, die für alles, was ihr in Ideen und Gefühlen als überspannt erschien, immer nur Spott und Verachtung gehabt hatte. Aber sie war auch ein eigensinniger Kopf, der sich besonders darin gefiel, Anschauungen, die ihrer Umgebung für revolutionär oder jedenfalls bedenklich frei gelten mochten, mit großer Zähigkeit festzuhalten. Der Umgang mit dem jungen Freigeist Kospoth hatte den Kreis solcher Anschauungen noch erheblich erweitert und die Kampflust ihres Geistes verstärkt. Seiner Schwester hatte ja Georg Friedrich zuerst seine Liebe zu der schönen Melanie bekannt. Sie war durch öftere vertrauliche Aussprache wohl vorbereitet für die überraschende ernsthafte Wendung, welche seine Liebesgeschichte heute genommen hatte, und er durfte sich endlich auch überzeugt halten, daß Eleonore, die selbst schon mehrfach durch die Abweisung guter, standesgemäßer Partieen gezeigt hatte, wie sie das Recht ihres Herzens zu verteidigen gesonnen sei, auch wohl ihm tapfer zur Seite stehen würde in dem Kampfe gegen die Macht des Vorurteils, welches seinen heiligsten Gefühlen Gewalt anthun wollte.
Er fand die Prinzessin in ihrem kleinen Salon. Sie saß am Flügel und begleitete den Baron Kospoth, der neben ihr stand, zum Gesang. Auf einem niedrigen Sessel am Fenster saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, Wally von Katz, die beim Eintritt des Erbgroßherzogs aufsprang, um ihre vorschriftsmäßige Verbeugung auszuführen. Auch Kospoth wollte ihm mit ausgestreckter Hand entgegenschreiten, aber der Prinz bedeutete ihm durch Handwink, daß er seinen Vortrag nicht unterbrechen möge, und begab sich geräuschlos auftretend in die dunkelste Ecke des Gemachs, um sich in das weiche Polster des dort befindlichen kleinen Kosesofas hineinzudrücken und das Gesicht in der aufgestützten Rechten zu vergraben.
Kospoth trug mit seiner angenehmen Barytonstimme ohne viel Schulung, aber mit natürlichem, gutem Geschmack eine Löwesche Ballade vor. Als er geendet hatte, bat ihn der Prinz um noch ein Lied. Die Musik that seiner Seele so wohl, beruhigte seine aufgeregten Nerven so angenehm, daß er am liebsten stundenlang in seiner dämmerigen Ecke gesessen und halb im Traum den weichen Klängen gelauscht hätte. Die Prinzessin sowohl wie der Baron wußten, daß Georg Friedrich sich im allgemeinen sehr wenig aus Musik machte, und waren daher nicht wenig erstaunt, ihn in anscheinend so tiefer Ergriffenheit lauschen zu sehen. Sie glaubten ihm einen besondern Gefallen damit zu thun, wenn sie etwas besonders Heiteres zum Vortrag brächten, und wählten darum die harmlose Ballade »Kleiner Haushalt«.
Dem scharf beobachtenden Fräulein von Katz, welchem das Aussehen und Benehmen des Erbgroßherzogs natürlich sogleich aufgefallen war, entging es nicht, daß gerade bei dieser heiteren Musik eine seltsame Rührung ihn übermannen zu wollen schien. Er hatte sogar ein paarmal tief aufgeseufzt und die Finger in verdächtiger Weise in die Augenhöhlen gedrückt. Als der Gesang beendet war, schneuzte sich der Prinz mit einer Heftigkeit, wie sie nur bei starkem Schnupfen und bei starker Rührung am Platze ist. Dann erst erhob er sich, um der Schwester und dem Freunde den Morgengruß zu bieten.
»Mein Gott! Georg, wie siehst du aus!« rief Prinzessin Eleonore. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt, das hat mich angegriffen,« versetzte der Prinz und warf einen Blick nach dem kleinen Hoffräulein hinüber, welchen seine Schwester sofort verstand.
»Ich danke Ihnen für jetzt, liebe Wally,« sagte sie gegen die Katz gewendet, mit einer entlassenden Handbewegung. »Wollen Sie sich, bitte, um zwölf Uhr bereit halten, mit mir nach dem Bazar des Frauenvereins zu fahren!«
Das Fräulein zog sich nach einer raschen Verbeugung zurück und dachte im Abgehen: »Wenn es nicht so gefährlich wäre, möchte ich jetzt gern ein bißchen horchen. Jetzt wird er ihnen gewiß erzählen, was Papa Großherzog gesagt hat.« – –
»Nun sage doch nur, was dich so furchtbar aufgeregt hat,« begann die Prinzessin, sobald sich die Thür hinter dem Fräulein geschlossen hatte. »Du siehst ja ganz verstört aus!«
Baron Kospoth machte Miene, sich zu verabschieden, um die Aussprache der Geschwister nicht zu stören. Aber der Prinz hielt ihn zurück und sagte: »Nein, bleibe nur, Hans Jochen! Es ist mir sogar sehr angenehm, daß ich dich hier gefunden habe. Ich wollte so wie so deinen Rat hören. – Also denkt euch: Papa hat mir soeben eröffnet, daß ich unweigerlich dieser Tage zur Brautschau abzureisen habe.«
»Ah! Und wen haben die Herren Geheimen Räte der Krone in Vorschlag gebracht?« spottete die Prinzessin.
»Base Clementine, Königliche Hoheit – natürlich! On revient toujours à ses premiers amours!« Er sagte es mit einer Bitterkeit, welche deutlich den Zustand seines Herzens verriet.
»Kränkt dich das so sehr? Sie ist doch so übel nicht!« versetzte die Prinzessin.
Und Georg Friedrich höhnte: »Ja gewiß, man hat's noch schlimmer!« Er ließ sich dabei auf den Klavierstuhl fallen und schlug mit der Rechten auf die Tasten, daß es einen abscheulichen Mißklang gab.
Kospoth legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »Aber, Prinz, wie kann man so . . . Du wußtest doch, daß dies an dich herantreten mußte. Ein Thronfolger hat doch nun einmal die Pflicht, so früh und so verständig wie möglich zu heiraten.«
»Ach was! Quält euch doch nicht mit Redensarten ab! Ihr wißt alle beide ganz gut, was dieser väterliche Befehl für mich bedeutet. Aber ich habe Papa offen erklärt, daß ich ihm den Gehorsam verweigern muß, weil ich mich bereits gebunden habe. Ich habe ihm gesagt, daß ich Melanie von Treysa zu meiner Frau machen werde,«
»Das hast du gewagt!« rief Eleonore, und sie konnte nicht umhin, ihren kühnen Bruder mit einer gewissen scheuen Bewunderung zu betrachten. Und als sie sich dann nach etlichen Sekunden mit erstaunter Frage im Blick Kospoth zuwandte, da hatte dieser bereits seine Fassung soweit wiedergewonnen, daß die Spuren der Erregung auf seinem dunklen Gesicht keine verräterische Bedeutung mehr hatten. Es trat ein kurzes Schweigen ein, da es Hans Joachim, trotzdem er sich äußerlich so männlich beherrschte, doch unmöglich war, sogleich ruhig zu dem Zerstörer seiner immer noch trotz aller Qualen der Eifersucht zäh bewahrten Hoffnung zu sprechen.
»Na, so sag' doch endlich etwas!« fuhr Georg Friedrich ungeduldig auf. »Habe ich mir denn nicht ein bißchen Lob verdient, alter Freiheitsmann?«
Kospoth wandte sich ab und ging zum Fenster, um sich zu einer Antwort zu sammeln.
Wieder trat ein bängliches Schweigen ein, welches diesmal durch die Prinzessin unterbrochen wurde, die sich mit ängstlicher Spannung danach erkundigte, wie der Vater die Sache aufgenommen habe. Und nun berichtete der Erbgroßherzog getreulich den ganzen Verlauf der Unterredung.
In Hans Joachims Seele tobte unterdessen ein grausamer Kampf. Sollte er den Prinzen, wie er jedenfalls erwartete, in seinem Entschluß bestärken, in diesem Entschluß, der, wenn er wirklich zur Ausführung kam, ein Opfer von ihm verlangte, wie es auch der festesten Freundschaft nicht zugemutet werden darf? Oder sollte er alle Kraft der Ueberredung aufbieten, um den Prinzen von einem Schritte zurückzuhalten, dessen Folgen die vernünftige Ueberlegung nur als höchst unheilvolle erkennen konnte? Wenn Melanie dem Prinzen verraten hatte, daß er, Kospoth, um sie geworben, so konnte jede Abmahnung nur als von Neid und Selbstsucht eingegeben erscheinen. Und riet er ihm zu, auf seinem trotzigen Plane zu beharren, so spielte er dem Prinzen gegenüber eine Rolle, die seiner wahrhaftigen Natur im Innersten widerstreben mußte. Denn das fühlte er in diesem Augenblicke deutlicher als alles andre: daß er den Mann, der ihm die Heißgeliebte raubte, hassen würde bis an sein Lebensende. Wohl forderte seine strenge Moral die Erfüllung des christlichen Gebotes: Liebet eure Feinde! in dem Sinne, daß ein ethisch reifer Mensch nicht seine Gerechtigkeit gegen andre abhängig machen dürfe von persönlicher Zu- oder Abneigung oder gar von Klassen- oder Rassengegensätzen; aber er fühlte auch in diesem Augenblicke die ganze Gewalt der menschlichsten aller Herzensregungen, und daß er so gut wie jeder andre leidenschaftliche Mensch zum Heuchler werden müßte, wenn er sich und andern etwa einreden wollte, er sei erhaben über solche Schwäche.
Endlich, als der Prinz seinen Bericht beendet hatte und abermals ungestüm seine Meinung zu hören verlangte, raffte sich Kospoth zu einer Antwort auf.
»Der Großherzog,« sprach er, »wird jetzt wahrscheinlich glauben, daß mein Radikalismus es war, was dich zu deiner kühnen Auflehnung gegen die Pflichten deines Standes getrieben hat. Du wirst dich aber wohl erinnern, daß ich im Prinzip immer die berechtigte Pflicht über die Neigungen des Herzens gestellt habe. Wer wollte auch den dauernden Bestand solcher Neigungen mit Sicherheit voraussagen! Die heißeste Liebe ist oft die flüchtigste – sagt man – ich habe ja keine Erfahrung darin.«
Georg Friedrich sprang auf und rief unwillig dazwischen: »Ach, wirklich, du weiser Herr! Aus diesem höchst einleuchtenden Grunde wäre man also ein für allemal berechtigt, ein Mädchen sitzen zu lassen. Ich danke schön für den guten Rat!«
Kospoth biß sich auf die Lippen, zwang sich jedoch, alsbald ruhig fortzufahren: »Es versteht sich, daß es jeder mit sich selbst abzumachen hat, ob er seine Liebe für dauerhaft und tief genug halten will, um ihr selbst die ernstesten Pflichten seiner gesellschaftlichen Stellung zum Opfer zu bringen. Ich maße mir durchaus nicht an, deinen Entschluß durch solche nüchterne Erwägung beeinflussen zu wollen; aber da du einmal meine Ansicht hören willst, so muß ich dich doch an das erinnern, was ich dir schon immer gesagt habe, seit du dich so bereit zeigtest, auf meine Ideen über die Stellung der Fürsten im sozialen Zukunftsstaate einzugehen: du kannst meiner Meinung nach in diesem Zukunftsstaate dir deine ersprießliche Wirksamkeit nur dadurch sichern, daß du dich ängstlich davor hütest, deine freiheitlichen Maßnahmen als aus selbstsüchtigen Regungen hervorgegangen verdächtigen zu lassen. Es ist die Aristokratie des Charakters, welche mir für die Zukunft zur Herrschaft berufen erscheint. Der vernünftige Mensch wird immer nur die Herrschaft dessen anerkennen, der sich selbst zu beherrschen weiß. Wenn du nun lediglich aus Liebe zu einem schönen Mädchen unter deinem Stande alles über den Haufen wirfst, so wirst du in den Augen der Welt auf einer Stufe stehen mit den Revolutionären, die da begeistert mitthun, um eine einträgliche Stellung in der neuen Regierung zu erhalten. Aber abgesehen davon ist es, praktisch gesprochen, doch ganz klar, daß du durch intime Beziehungen zu einem Königshause unsrer Sache einmal in ganz andrer Weise nützen kannst als wie als Großherzog ohne zur Erbfolge berechtigte Nachkommenschaft.«
Mit wachsendem Erstaunen und wachsendem Zorn hatte der Prinz ihn angehört. Als er geendet, lachte er grimmig auf und wollte eben heftig entgegnen, als mit allen Zeichen der Aufregung in dem stark geröteten Antlitz Prinzessin Georgine zur Thür hereinrauschte und die Kunde überbrachte, daß der Großherzog von einem besorgniserregenden Unwohlsein befallen worden sei. Er habe sich geweigert, den Professor Cordell kommen zu lassen, und man habe infolgedessen nach dem zweiten Leibarzt geschickt. Der Großherzog sei seinem alten Kammerdiener ohnmächtig in die Arme gefallen und man befürchte, daß es sich um einen Schlaganfall handle.
Ein Thränenausbruch schloß ihren Bericht, und sie jammerte laut auf: »Ach! wenn ich hätte denken können, daß es ihn so erschüttern würde! Ach Gott! ich wage gar nicht, ihm vor die Augen zu treten! Sage du ihm doch, Eleonore, daß ich bereit bin, mich für ihn zu opfern!«
»Beruhige dich, liebe Tante!« beeilte sich der Erbgroßherzog der aufgeregten kleinen Dame zuzurufen, und er vermochte trotz seiner eignen Erregung ein Lächeln nicht zu unterdrücken über die drollige Art, wie sich der Schmerz des braven alten Mädchens äußerte. »Beruhige dich, liebe Tante! Ich kann dir versichern, daß dich keine Schuld trifft. Ich war heute morgen schon bei Papa und weiß positiv, daß es nicht deine Verlobung ist, die ihn dermaßen aufgeregt hat.«
»Wirklich? Und du glaubst, daß er nichts dagegen hat?« rief die kleine Prinzessin, indem der neue Hoffnungsschimmer ihr Antlitz purpurn verklärte.
»Nun, du kannst dir wohl denken, daß er nicht übermäßig entzückt ist von dem Gedanken; aber . . . er wird sich eben darein finden.«
»Du glaubst wirklich, er erlaubt's? Er wird mich nicht ganz verstoßen, weil ich der Stimme meines Herzens gefolgt bin? Ach Gott, wie bin ich bloß glücklich!« Und die Anwesenheit Kospoths völlig außer acht lassend, äußerte Prinzessin Chochotte ihre Herzensfreude in einer nahezu kindlich ausgelassenen Weise, indem sie ihrer hochgewachsenen, etwas schmalschulterigen Nichte förmlich an den Hals hüpfte.
Auch Prinzessin Eleonore ward es schwer, der Tante nicht laut ins Gesicht zu lachen. Sie küßte sie flüchtig auf die Wangen und sagte: »Nun ja, beruhige dich nur, Tantchen, glaube nur, daß wir alle dir dein Liebesglück von Herzen gönnen; aber jetzt laß mich los! Ich habe solche Sorge um Papa! Die große Krankheit voriges Jahr hat seine Widerstandsfähigkeit besonders gegen Gemütserschütterungen so sehr herabgesetzt, daß man nicht ängstlich genug sein kann.« Und zu Hans Joachim gewandt fügte sie entschuldigend hinzu: »Es thut mir leid, Herr von Kospoth, aber Sie sehen selbst . . .«
Er beugte sich schweigend über die ihm entgegengestreckte Hand der Prinzessin und drückte einen flüchtigen Kuß darauf. Dann ging er, den beiden Prinzessinnen die Thür zu öffnen, und schickte sich eben an, ihnen nachzufolgen, als er plötzlich des Erbgroßherzogs Hand auf seiner Schulter fühlte.
»Einen Augenblick, Hans Jochen!« bat der Prinz und nötigte ihn dadurch, ihm nochmals in das Zimmer zurückzufolgen. Er ergriff seine beiden Hände und sagte, mit seinem brennenden Blick das Auge des Freundes suchend: »Sei ehrlich, Hans Jochen! Hast du mir wirklich nichts andres zu sagen? Es ist doch wahrhaftig, so wie ich dich kenne, nicht zu glauben, daß du über meine Herzensangelegenheit so kalt, so praktisch nüchtern denken solltest wie ein Hofmarschall oder Hausminister. Sag's nur, du hast vor meiner Schwester nicht mit deiner wahren Meinung herausgewollt.«
»Du irrst dich, ich habe dir meine ehrliche Meinung gesagt,« entgegnete Kospoth, sich mühsam zur Ruhe zwingend. »Es ist eben der alte Kampf zwischen Pflicht und Herzensneigung. Ein dritter kann nur immer sagen: Thue deine Pflicht; ob die Liebe wirklich so stark und echt ist, daß sich auf ihr ein neues Leben mit neuen Pflichten aufbauen läßt, das müssen die Beteiligten eben selber wissen.«
»Ich kann dich versichern, diese Liebe ist so stark! Du kennst ja Melanie. Sage doch selbst: Ist es denn möglich, dies herrliche Geschöpf nicht zu lieben, oder jemals aufzuhören, es zu lieben?«
»Da magst du wohl recht haben,« versetzte Kospoth, kaum fähig, den Sturm, der in seinem Innern tobte, nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. Er entwand seine Hände ungeduldig dem Griff des Prinzen und sagte: »Laß mich gehen, Georg – laß mich überhaupt gehen! In Liebesdingen bin ich ja doch ein schlechter Berater; du weißt, ich habe ja darin keine Erfahrung! Und wenn du wirklich es durchsetzest, die Melanie zu heiraten, dann wird in deinem Herzen doch kein Platz für die Freundschaft übrig sein.«
»Ah! du bist eifersüchtig. Das ist kostbar!« rief der Erbgroßherzog und machte einen schwachen Versuch, zu lachen. »Nein, im Ernst, lieber Freund, jetzt habe ich dich erst recht nötig. Willst du mich in dem aufreibenden Kampfe allein lassen, der mir jetzt bevorsteht?«
»Glaubst du, ich würde mich mit meiner theoretischen Weisheit zwischen Vater und Sohn drängen? Und nun gar in diesem Falle, wo der Vater einen durchaus berechtigten Standpunkt vertritt!«
»O, das verlange ich nicht, ich bin nicht feige! Meine Liebe wird mir die Kraft geben, diesen schwersten Kampf allein auszufechten. Ich will sogar dem Throne entsagen, wenn es durchaus nicht anders geht – wir haben ja ein großes, starkes Deutschland; was ist also daran gelegen, ob mein kleines Vaterland selbständig fortbesteht oder nicht! Ich werde auch als Privatmann für die Zukunft arbeiten können – vielleicht mehr denn als Fürst. Aber was soll ich von deiner Freundschaft halten, wenn sie davon abhängt, ob ich meinen Thron oder mein Menschenrecht höher schätze! Nein, nein, wenn du es wirklich gut mit mir meinst, dann muß dich der Kampf, dem ich entgegensehe, meinem Herzen nur noch näher bringen. – Uebrigens würde mir es auch Melanie nicht verzeihen, wenn ich dich jetzt gehen ließe. Ich kann dich versichern, sie schätzt dich ungemein hoch, sie liebt dich wie einen Bruder, – sie hat es mir selbst gesagt!«
Jetzt vermochte Kospoth nicht mehr an sich zu halten. Seine braunen Wangen überzog eine dunkle Glut, seine Fäuste ballten sich krampfhaft, und fast tonlos stieß er hervor: »Sie hat es dir selbst gesagt? Nun, dann wird es ja wohl wahr sein! Aber ich muß dir leider bekennen, daß ich meine Lebensaufgabe unbescheidenerweise höher stelle als die Ehre, bei euch als Hausfreund meine kostbare Zeit versimpeln zu dürfen. Leb wohl! Ich wünsche dir alles Gute. Aber hier bin ich wahrhaftig überflüssig!«
»Hans Jochen, du bist . . .« rief ihm der Prinz nach – aber er war schon zur Thür hinaus.
Georg Friedrich griff sich an die Stirn. Jetzt sah er plötzlich klar. Nicht allein des Vaters, auch des Freundes Herz hatte er tödlich verwundet – mit furchtbarer Wucht umkrallte die plötzliche Erkenntnis seine Seele wie mit Tigerklauen. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, während ihm ein eisiger Schauder den Rücken hinunterlief. Und langsam, aus weitgeöffneten Augen starr vor sich hinblickend wie ein Schlafwandler, schritt er durch eine Reihe leerer Zimmer hindurch, ohne zu wissen, wohin er wollte, und als er die letzte Thür öffnete, befand er sich in dem durch Oberlicht trübe erleuchteten Treppenhause. Mechanisch stieg er die teppichbelegten Marmorstufen empor, sich an dem vergoldeten Geländer förmlich hinaufziehend.
Da kam ihm von oben eine plumpe Gestalt entgegen.
»Wissen Königliche Hoheit schon? Ich suche Königliche Hoheit überall. Der Großherzog ist nicht unbedenklich erkrankt. Doktor Burtscheidt ist bei ihm. Der ganze Hof ist in größter Aufregung. Wenn Königliche Hoheit vielleicht . . .«
Erst jetzt erkannte Georg Friedrich in dem Manne, der ihn in kurzatmiger Hast also anredete, den Kammerherrn von der Rast, und unterbrach ihn mit einem abweisenden: »Ich weiß, ich weiß! Ich bin selbst . . . Sagen Sie, daß ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen habe, falls man nach mir sucht.«
Er machte eine entlassende Handbewegung und stieg einige weitere Stufen hinauf. Da blieb er stehen, wandte sich rasch um, rief den Kammerherrn leise beim Namen und raunte ihm, der eilfertig die Stufen wieder hinaufgesprungen war, ins Ohr: »Sehen Sie doch zu, daß ich heute gegen Abend auf eine halbe Stunde allein sein kann. Sie verstehen?«
»Vollkommen, Königliche Hoheit!« flüsterte der dicke Baron unterwürfig zurück. »Aber ich weiß nicht . . . wenn Königliche Hoheit mir gestatten wollen, Sie darauf aufmerksam zu machen: man hat spioniert – Graf Worbis scheint zu wissen und hat vielleicht schon gestern abend im Theater dem Großherzog Mitteilung davon gemacht – es ist vielleicht gefährlich . . . wenn ich mir erlauben dürfte, gerade heute davon abzuraten.«
»Gleichviel, ich weiß, was ich wagen darf! Ich muß sie heut noch sprechen – hören Sie – ich muß!« Einen strengen Blick unter finster zusammengezogenen Brauen hervor warf der Prinz noch auf den sich tief verbeugenden Höfling, dann stieg er rasch die Treppe vollends hinauf, um sich in seine Gemächer zu begeben.
Der Kammerherr von der Rast aber blieb pustend auf dem nächsten Treppenabsatz stehen, betupfte sich mit seinem rotseidenen Taschentuche die Stirn und sprach dabei zu sich selbst: »Wenn der regierende Herr jetzt das Zeitliche segnet, dann ist mir der Theaterintendant gewiß!«