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Ilonka, die Gute.
Daß es auch noch gerade regnen mußte, als Florian Mayr am nächsten Morgen später als gewöhnlich erwachte! Die Sterne hatten ihm doch noch so freundlich zugelächelt auf seinem Heimwege – und nun dieser jähe Witterungswechsel; er hatte doch so prachtvoll geschlafen, wie gewiegt – und nun dies Erwachen zu grauem Elend und herber Pein! Mit kalten Wassergüssen schien der Himmel hämisch die Menschheit daran erinnern zu wollen, daß ein ungetrübter Wonnemond eine dumme deutsche Poetenerfindung sei, und auf Florians Bett machte sich, als er mit ungläubigen Augen in das fahle Dämmergrau des Morgens starrte, ein moralisches Katertier von außerordentlichen Dimensionen breit. Er setzte sich aufrecht, fuhr sich verzweifelt mit allen zehn Fingern durch den dünnen Schopf und knirschte halblaut vor sich hin: »Bin ich nicht ein gemeiner Kerl? – Ei wohl, ein hundsgemeiner Kerl bin ich. – Was hast du gethan, elender Schuft? Eines edlen Mädchens Vertrauen hast du schändlich gemißbraucht. – Was verdienst du für deinen Bubenstreich, du erbärmlicher Wicht, du? – Stäupen soll man dich auf offnem Markt und dir ein Taferl um den Hals hängen, wo drauf geschrieben stünd: Dieser ist ein Saumagen! – Wart, du Lotterbub, du miserabler!« Und mit der Rechten versetzte er sich eine Ohrfeige, während er sich zugleich mit der Linken in die Magengegend puffte.
Davon war er ganz munter geworden. Er stieg aus dem Bett und schlich sich zum Spiegel. Neugierig betrachtete er sein Bild; es mußt' es ihm doch jeder ansehen, was er für ein elender Sünder war. – Hm, so also sah so einer aus! – Irgendwo auf der Stirne mußte doch das Schandmal brennen. Er suchte vergebens danach. Er mußte sich sogar gestehen, daß er eigentlich recht wohl und munter ausschaue. Nun, die andern würden ihm seine Schande schon ansehen. – Ein gefallener Mann – oh!! – ein Aufrechter schmählich geknickt – oh!!! So sollte er nun vor seinen lieben Meister treten! – Und ihr erst, wie wollte er ihr heute wieder in die Augen schauen? – Nun, er wollte jetzt wenigstens mit Mannesmut die Folgen auf sich nehmen. Er wollte sie heiraten; wenn es nötig war, sofort. So was ließ sich ja binnen wenigen Wochen erledigen. – Mit Schrecken dachte er an die Kosten, während er über sein Waschbecken geneigt stand. Und als er dann in seine Hosen fuhr, packte ihn mit Macht ein noch schrecklicherer Gedanke: wenn ihn nun der Meister als übelbewährten Jünger mit Schimpf und Schande davonjagte? Dann war seine Laufbahn verdorben, und die schadenfrohe Welt zeigte mit Fingern auf ihn.
Er wagte gar nicht, der guten Frau Tischlermeisterin ins Gesicht zu schauen, als sie ihm sein Frühstück brachte. Und auf dem kurzen Wege zur Hofgärtnerei hielt er den Regenschirm so, daß ihn kein Mensch erkennen konnte.
Mit Zittern und Zagen betrat er des Meisters Arbeitszimmer, um zehn Minuten zu spät, und wurde deswegen nicht eben gnädig empfangen. Liszt hatte sich über irgend eine besonders unverschämte Zumutung geärgert, die ihm die Morgenpost gebracht; doch der schuldbewußte Florian meinte natürlich, daß er mit seinem scharfen Auge bereits seine Schmach entdeckt habe. Er war während der ganzen Arbeitszeit zerstreut, und als er ein vierhändiges Stück aus dem Manuskript mit dem Meister spielen sollte, patzte er so arg, daß ihn der Meister stirnrunzelnd zur Aufmerksamkeit ermahnen mußte.
Der Vormittag sollte noch schlimmer enden.
»Wir fahren morgen zum Loh-Konzert nach Sondershausen,« sagte Liszt, als die Morgenarbeit gethan war; »Erdmannsdörffer führt meine Bergsymphonie auf. Du darfst mitkommen, pcha. Inzwischen kannst du dich mal nach dem besten Zug umthun!«
»O bitt' schön, Meister, ich weiß schon: nach Sondershausen fährt man am besten um zehn Uhr fünfundzwanzig!« versetzte Florian rasch.
Liszt verneinte auf italienische Art mit dem Zeigefinger und sagte: »Nein, der Zug taugt nicht, den können wir nicht brauchen.«
»So?« machte Florian gedehnt.
Und auf einmal, eh' er sich dessen versah, hatte er eine wohlgezielte derbe Ohrfeige auf der rechten Wange sitzen. Da er die linke heut früh bereits selber bedacht hatte, so war nun zwar das körperliche und seelische Gleichgewicht aufs glücklichste hergestellt, und er war sich ja auch schamvoll bewußt, weit mehr als nur ein paar Backenstreiche verdient zu haben. Dennoch war er im ersten Augenblick so erschrocken, daß er nicht einmal »au!« schreien, sondern nur mit offenem Munde den ergrimmten Meister anzustarren vermochte.
Liszt ging mit großen Schritten im Zimmer hin und her und schaute den Gemaßregelten gar nicht an, bis der endlich fast weinerlich hervorzustottern vermochte: »Aber, Meister, was hab' ich denn bloß gethan?«
Da schritt Liszt, immer noch ohne ihn anzuschauen, hinter Florians Rücken, streichelte ihm sanft über die Schulter und sagte etwas verlegen: »Na – pcha! – es war nicht so bös gemeint, mein Sohn, ich wollte dir nicht wehe thun; aber man sagt nicht ›so?‹ zu mir – merke dir das!« Und mit einer fürstlich vornehmen Handbewegung verabschiedete er den armen Sünder.
Florian lief spornstreichs nach dem Bahnhof. Er hatte keinen Ueberzieher, sondern nur seinen Schirm zum Schutze gegen den wüsten Landregen. Die Hosen klebten ihm naß an den Beinen, als er am Bahnhof anlangte, gerade zur rechten Zeit, um den »Zehn-Uhr-fünfundzwanzig-Zug« zu erwischen. Er fuhr nach Erfurt, erkundigte sich auf dem Bahnhof aufs sorgfältigste nach den Verbindungen nach Sondershausen und stellte unzweifelhaft fest, daß man in der That nicht schneller und bequemer, als er es behauptet hatte, von Weimar nach der kleinen schwarzburgischen Residenz gelangen könne. Dann trieb er sich in der Stadt herum, bis der nächste Zug ihn zurückbrachte. Naß und verfroren, wie er war, stürmte er wieder zur Hofgärtnerei hinauf, traf den Meister daheim und berichtete mit strahlender Genugthuung, daß in der That der Zehn-Uhr-fünfundzwanzig-Zug nicht seinesgleichen habe.
»So?« sagte Liszt langgedehnt. Und dann begann er plötzlich herzlich zu lachen, indem er daran dachte, daß er eben erst just dieselbe Silbe und denselben Tonfall so hart bestraft hatte. Er streichelte Florian freundlich die Wange, die seinen Zorn hatte fühlen müssen, und sagte. »Also bravo, mein Sohn, ich habe unrecht gehabt – verzeih' mir! Aber ›so?‹ sagt man doch nicht zu mir, pcha! – Du kannst heute bei mir speisen, Sankt Florian!« Und er entließ ihn mit einem kräftigen Händedruck.
Ganz glücklich eilte Florian heim, und als er seine nassen Kleider wechselte, pfiff er sogar ganz fröhlich vor sich hin. Die Ohrfeige des Meisters und die kleine Spazierfahrt hatten ihm sehr wohl gethan und ihn seinen moralischen Katzenjammer fast vergessen lassen. Auch der Familie Mikulska hatte er nimmer gedacht. Auf seinem Tische fand er beim Heimkehren den schöben Strohhut, den er gestern der kleinen Olga geschenkt hatte, und er brauchte eine ganze Weile, um sich zu besinnen, was der wohl hier zu bedeuten haben mochte, bis es ihm endlich klar wurde, daß die blitzdumme Frau Mutter die Annahme dieses Geschenkes verboten haben mußte. Und nun fiel ihm auch wieder ein, daß er das große Paket mit den Kleidungsstücken gestern bei seiner Ilonka hatte liegen lassen. Ach, er war wirklich ein recht schlechter Mensch, der nur an sich selber dachte! Mußte er nun nicht hingehen und die Sachen für das arme Mädchen sofort holen? Ilonka konnte sie doch nicht herschleppen – sie würde auch schwerlich das Haus betreten wollen, in dem ihr gewissenloser Verführer wohnte. Er rang mit dem Entschluß, zu ihr zu gehen, bis die Essensstunde gekommen war, und nachdem er sich an Liszts wohlbesetzter Tafel gütlich gethan und an dessen feinen Weinen sich Mut getrunken hatte, bat er den Meister, dem Schwarmempfang für heute fern bleiben zu dürfen, da er seine Uebungsstunden versäumt habe. Die Wahrheit war, daß er sich nicht getraute, Ilonka unter den vielen Menschen zuerst wiederzusehen. Er wollte sich sammeln im einsamen Nachdenken und dann am Abend – vielleicht – vor sie hintreten und sie fragen, ob er sie seine Braut nennen dürfe.
Er begann ernsthaft mit der Sammlung, sobald er sich das angenehme Diner-Fieber ein wenig aus dem Kopfe geschlafen hatte. Die moralische Betrachtung seines Falles zunächst beiseite lassend, versuchte er, sich das Bild einer Ehe mit Ilonka Badacs nach der praktischen, wie nach der idealen Seite hin auszumalen. Mit dem besten Willen nur Licht zu sehen, machte er sich ans Denken. Aber was dabei herauskam, war eitel Schatten. Sie war gewohnt, viel Geld für ihre Toilette, für gutes Essen und bequemes Wohnen auszugeben. Es war gar keine Rede davon, daß er für beide genug verdiente; sie mußte also wie bisher für sich selber sorgen. Da sie beide Klavier spielten, konnten sie auch nicht zusammen auf Konzertreisen gehen. Ein vierhändig sich produzierendes Ehepaar wäre zwar neu, aber auch bald fad, wenn nicht gar lächerlich geworden. Es konnte also wohl kommen, daß Frau Mayr-Badacs den Süden Rußlands bereiste, während Herr Mayr die westlichen Staaten der Union abklopfte. Unter solchen Umständen konnte von einer ehelichen Gemeinschaft doch eigentlich gar keine Rede mehr sein. Andrerseits konnte er ihr doch nicht gut zumuten, auf ihre glänzende Virtuosenlaufbahn zu verzichten und die bescheidene Hausfrau eines mäßig bezahlten Konservatoriumprofessors in Ixleben oder Liedertafeldirigenten in Ypsilonhausen zu werden. Mit ihrem leichten Zigeunerblut und ihrem prächtigen Humor war sie ganz geschaffen für ein Leben, in welchem heute der Sekt in Strömen floß und morgen die neubesohlten Stiefel nicht bezahlt werden konnten. Sie brachte es fertig, von Schulden zu leben und dabei bester Laune zu bleiben, sie verstand die Feste zu feiern, wie sie fielen – wenn's nur überhaupt Feste zu feiern gab! Aber von allen Eigenschaften, die nötig waren, um einem Gatten aus dem bürgerlichen Mittelstande ein behagliches Heim zu schaffen, besaß sie keine einzige. Und als Florian sich nun endlich gar die Frage vorlegte, ob er denn diese pikante Schöne mit ihrem liebenswürdigen Temperament, ihrem vielgewandten Geist, ihrem Talent und ihrer Herzensgüte eigentlich liebe – d. h. so ganz rettungslos dumm, ausschließlich und für die sogenannte Ewigkeit liebe – da gelangte er zu seiner eigenen Ueberraschung und Beschämung zu einem verneinenden Ergebnis.
Hilflos, mit jämmerlicher Miene saß er in seiner Sofaecke und saugte matt an einer Trostcigarre für sechs Pfennige, als Mister Crookes und seine beiden Söhne, mit Geige und Cello bewaffnet, ins Zimmer traten und ihn fragten, ob er mit ihnen musizieren wolle. Florian war ihnen dankbar wie Engeln des Himmels und ging mit Begeisterung auf den Vorschlag ein. Jetzt nur nicht weiter denken müssen! Dieser steife Crookes war ein vortrefflicher Stock, um die Zeit damit totzuschlagen.
Der Stock nahm in der Sofaecke Platz, und Florian machte sich mit den beiden Jünglingen eifrig an die Arbeit. Er spielte ohne Murren, was immer sie ihm aufs Pult legten – sogar Mendelssohn! Ihm war schon alles einerlei, und er empfand jegliches Geräusch als eine Wohlthat. Sobald ein Musikstück beendet war, klatschte Mister Crookes sen. seine nervigen Handflächen dreimal bedächtig zusammen und rief mit vorgeschobenem Unterkiefer: »Aoh, bravo – es ist sehr fein, in der That! – Now let us have Beethoven« – oder »Would you mind a little Schumann?« Er strahlte vor Stolz über die Leistungsfähigkeit seiner Söhne, die wirklich taktfest, sauber und mit schönem Ton, wenngleich ein wenig nüchtern spielten. Auch Florian bekam gnädiges Lob gespendet für sein gewandtes Vomblattspielen.
Trios, Sonaten und Konzertstücke für Geige oder Cello folgten einander in bunter Reihe, nur durch äußerst kurze Ruhepausen unterbrochen. So lange hintereinander zu musizieren war schon eine achtunggebietende körperliche Leistung; aber wie jemand solange ruhig zuhören konnte, noch dazu in einem so engen Zimmer, ohne sich vom Platze zu rühren, ohne zu rauchen oder einen Tropfen dazu zu trinken, das blieb Florian völlig unbegreiflich. Dieser merkwürdige Engländer mußte in einem Eisenwalzwerk groß geworden sein, daß seine Ohren solche Strapazen aushielten. Und für die Musikverdauungsfähigkeit seines Hirns schien es keine Grenzen zu geben.
Zwei Stunden hatten sie bereits so klassisch, romantisch und eklektisch herummusiziert, und die Dämmerung war darüber hereingebrochen. Lampen und Kerzen wurden angesteckt, Mister Crookes sen. lehnte ein Glas Bier entrüstet ab, Florian trank deren zwei, und die beiden Master Crookes jun. erfrischten sich durch ein Glas Wasser, als es an die Thür klopfte und auf Florians gespanntes »Herein« – Ilonka Badacs ins Zimmer trat!
Florian wurde erst käsweis und dann blutrot vor Verlegenheit. O du himmlischer Vater, jetzt kam sie ihm gar zuvor, um ihn an seine heilige Pflicht zu mahnen! Sie würde doch nicht etwa gar eine Scene herbeiführen vor diesen drei langbeinigen Engländern? Sie sah grade darnach aus, denn sie trug ein dunkles Seidenkleid mit wenig Schmuck wie eine junge Witwe nach dem ersten Trauerjahr, und wenn ihn nicht alles täuschte, so hatte sie sogar verweinte Augen!
Florian fand nicht den Mut, ihr die Hand zu reichen, ja er vermochte nicht einmal anständig »guten Abend« zu sagen. Er wandte sich hastig zu seinen Gästen und stellte ihnen seine »verehrte Kollegin« vor. Die Engländer verbeugten sich mit ihrer landesüblichen Steifheit und sagten kein Wort. Fräulein Badacs dagegen ging sofort auf Mister Crookes sen. zu, streckte ihm die Hand weit entgegen und zog beim kräftigen Schütteln den ganzen dürren Herrn aus seiner Sofaecke hervor.
»O, Mister Crookes,« rief sie laut im Brustton innigster Befriedigung, während ein strahlendes Lächeln ihr bleiches Gesicht verklärte – »oh Mister Crookes! ich frei' mich so sähr Ihnen äntlich kennen zu lernen – ich habe von Ihnen gähert. Sie sind Universolgenie, Apostel von alle meglichen Weltverbesserungen, Gaisterbeschwärer und Voter von zwai sähr bädeitende musikolische Jünglinge! Isten! wos sain für hübsche, liebe junge Härrn – ächte Kinstlerphisiognomieen – so simpathisch! Ober nain, ise wohr, sans phrase, Mister Crookes.«
Der lederne Mister Crookes errötete tatsächlich unter diesem schmeichelhaften Wortschwall, und Florian dachte bei sich: Jessas, wo bezieht das Weib bloß die viele Empfindung her?
Ohne abzuwarten, ob das Universalgenie u. s. w. vielleicht einige passende Worte der Erwiderung auf ihre überschwengliche Begrüßung finden würde, trat Ilonka nunmehr zu Florian und zog ihn am Aermel in die Fensternische: »Lieber Freind, ich muß dir etwas sogen,« flüsterte sie so laut, daß man es drüben auf dem Friedhof hätte hören müssen, wenn das Fenster offen gewesen wäre. Herrgott, und sie duzte ihn ganz ungeniert!
Mister Crookes murmelte etwas von nicht Weiterstörenwollen, und die beiden Buben schickten sich gehorsam an, ihre Instrumente einzupacken. Da riefen Florian und Ilonka wie aus einem Munde, sie möchten nur ja bleiben und sich nicht stören lassen.
»Wir haben gar keine Geheimnisse miteinander,« fügte Florian mit dreister Stirn hinzu. Und Ilonka bekräftigte ganz naiv diese schnöde Lüge.
Vater Crookes wiegelte ab, und die drei Anglosachsen nahmen ihre Plätze wieder ein. Dann erzählte Ilonka dem ängstlich lauschenden Freunde, daß sie soeben von den Mikulskas komme. Mit vieler Mühe war es ihr gelungen, sie zur Annahme ihres Geschenkes zu bewegen; aber das Elend, in das sie bei der Gelegenheit einen Blick gethan, hatte ihr so ans Herz gegriffen, daß ihr bei der bloßen Erwähnung wieder die Augen feucht wurden. Helene lag krank im Bett, sehr krank, der Husten quälte sie fürchterlich, und es war so bald nicht daran zu denken, daß sie sich Liszt zur Prüfung vorstellen konnte.
Florian drückte ihr dankbar die Hand – dankbar im Namen seiner Schützlinge, die er in seiner Gemütsverwirrung gänzlich vergessen hatte, und dankbar in seinem eigenen Namen dafür, daß sie ihn nicht an gestern erinnerte. Wäre es möglich, daß sie ihm gar nicht böse war?
Es wurde nun ein wenig hin und her geschwatzt und dann auf Ilonkas dringendes Verlangen die musikalische Abendunterhaltung wieder aufgenommen. Die schöne Ungarin setzte sich aufs Sofa und nötigte Mister Crookes, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Und dann stürzten sich die ausübenden Herren in ein Trio von Brahms.
Dick und Bob patzten und kamen aus dem Takt. War ihnen Brahms zu hoch, oder beunruhigte sie die Gegenwart der schönen Dame? Ueber dem Pianino hing ein großer Spiegel, und wenn Florian einen Moment von den Noten aufblickte, konnte er wohl bemerken, wie Dick und Bob abwechselnd nach dem Sofa hinschielten. Ja, er mußte bald Schlimmeres bemerken! Mister Crookes, der Weltverbesserer, Athlet, Abstinenzler und Musikmassenvertilger begann zu flirten, und Ilonka ging darauf ein – und zwar wie! Das war ein Blicketauschen, ein vielsagendes Lächeln, ein unmerkliches, aber sicheres Näherrücken . . . entsetzlich, himmelschreiend! Schließlich entdeckte Ilonka den Kinderhut auf dem Tisch, setzte ihn sich auf und kokettierte den grinsenden Geisterklopfer mit drolligem Gesichterschneiden ganz unerhört an.
Da hielt es Florian nicht mehr aus. Die beiden Buben waren schon gänzlich herausgekommen. Mit einer wütenden Dissonanz brach er ab und drehte sich auf dem Klaviersessel um. »Ja, wenn wir lieber Maschkerer spielen wollen als Brahms, mir soll's auch recht sein!« rief er grob. »Aber entweder eins oder das andre!«
»Ober geh', liebär Freind,« schmollte Ilonka, »wer wird so ungemitlich sein? Ihr hobt so großortig gäspielt – ise olles durcheinander gälaufen und gäsprungen wie Ameishaufen. Wor eigene Komposition, bitte? Sähr interessant. – So, war von Brahms? Sähr bädeitender Monn – ober ich mog ihm nicht! – Ho, liebän Freinde, wißt's wos, hob' ich großartige Idee: sain wir lustik! Mochen wir fideles Souper unter uns Junggesellen. Jeder zohlt eine Mark für kolte Kiche, und Mister Crookes zohlt das Getränk. Ich werde gehen einkaufen. Großortige Idee!«
Der Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen, besonders von Mister Crookes, welcher jedoch seine beiden Buben von der Teilnahme an dem Gelage ausschließen wollte. Ein Machtwort Ilonkas genügte, um seinen Einspruch zur großen Befriedigung der beiden strahlenden jungen Herren aufzugeben. Sie bat sich dann einen Begleiter aus, der ihr ihre Einkäufe tragen helfen sollte, und da alle vier Herren mit gleichem Eifer ihre Dienste anboten. so ließ sie sie schließlich alle vier mitgehen, damit sich ja keiner zurückgesetzt fühlen konnte. Vor der Thür stand noch in dem feinen rieselnden Regen, schon eine Stunde fast ihrer wartend, die kanariengelbe Droschke, in welcher Ilonka hergefahren war. Sie hatte ganz und gar vergessen, daß sie dem Kutscher zu warten befohlen hatte. Nun setzten sie sich zu fünf in den Rasselkasten und holten aus den besten Geschäften der Stadt kalten Aufschnitt und allerlei Leckereien, sowie etliche Flaschen Wein und Sekt zusammen. Von den Kosten bezahlte Florian Mayr eine Mark, die übrigen zweiunddreißig Mark einschließlich der sehr kostspieligen Droschke erlegte Mister Crookes, ohne eine Miene zu verziehen. Zum Dank dafür wurde ihm gestattet, einige Flaschen Selterswasser für Dick und Bob mitzunehmen.
Daheim angekommen, deckte Ilonka mit Hilfe der freundlichen Frau Wirtin den Tisch, ordnete mit vielem Geschick die eingekauften Herrlichkeiten so an, daß trotz des einfachen Geschirrs die Tafel einen verlockenden Anblick bot, und dann setzte man sich zum leckeren Schmause nieder. Es war erstaunlich, auf wie einfache Weise Mister Crookes mit seinem vegetarischen Gewissen fertig wurde: er erklärte den Schinken für die Blüte des Schweines und folglich zum Pflanzenreich gehörig, den Kaviar für ein Gemüse, jungen Erbsen vergleichbar, und den Hummersalat, wie schon der Name besage, einfach für Salat. Nur mit der Wurst konnte er sich als echter Engländer nicht befreunden. Wurst sei und bleibe farcierter Darm und darum keine Speise für gebildete Europäer. Bob und Dick kicherten fortwährend. Sie hatten ihren governor noch nie so aufgeräumt gesehen. Sie ließen sich die kalte Fleischkost vortrefflich schmecken, und das Selterswasser, das dazu gar nicht passen wollte, verwandelte ihnen Ilonkas Kunst bald genug in Wein. Der Vater hatte erklärt, Rebensaft sei ein entschieden heilsames und unschuldiges Getränk, und den Teufel des Alkohols, der sich durch die Gärung da hineingeschlichen habe, den müsse ein Christenmensch kraft seines Geistes überwinden. In seinen Knaben aber sei das Fleisch noch schwach und er könne ihnen keinen so harten Kampf zumuten. Das Fräulein Badacs stimmte dieser Ansicht heuchlerisch bei und schob dabei heimlich ihr Glas Wein zu Master Dicks Platz hinüber, worauf sie Dicks Selterwasser ergriff und damit dem Vater zutrank, während jener gelehrige junge Mann sich gleichzeitig ihren Wein munden ließ. Bob war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er erfaßte den Trick und schob sein Glas kohlensaures Wasser dem Bruder zu, der es bei günstiger Gelegenheit an das Fräulein weiter beförderte, von wannen es dann auf demselben Wege in Wein verwandelt an Bob zurückgelangte. Die Wirkung des ungewohnten Giftes zeigte sich bald genug an diesen beiden Jünglingen. Sie begannen sich immer ungezwungener an der Unterhaltung zu beteiligen, wurden Florian gegenüber ganz zutraulich und verbargen immer weniger ihre aufrichtige Bewunderung für die schöne Ungarin. Schließlich erboten sie sich gar, allerlei englische, schottische und irische Volkslieder zum besten zu geben. Das war das Signal zum Beginn eines höchst eigenartigen Konzertes. Die beiden Boys trugen ihre Lieder in der That sehr hübsch vor, begleiteten sich dazu selbst auf dem Klavier und ahmten in den Zwischenspielen mit dem Munde den Dudelsack nach. Selbst Mister Crookes sen. ließ sich zu einer Produktion herbei, um dem Programm Abwechselung zu verschaffen, indem er mit Tellern und Gläsern jonglierte. Er war vermutlich etwas aus der Uebung gekommen, oder war es die Wirkung des reichlich genossenen Champagners? Kurz – ein ansehnlicher Haufen Porzellan und Glasscherben bedeckte bald das Feld seiner artistischen Thätigkeit. Als die Trümmer hinweggeräumt waren, drang man in Fräulein Badacs, sich nunmehr auch hören zu lassen. Sie setzte sich ans Klavier und spielte einen feurigen Csardas, dessen rascher Teil den Zuhörern dermaßen in die Beine fuhr, daß sie wie elektrisiert aufsprangen und auf die drolligste Weise in dem engen Raum zu tanzen versuchten. Auf einmal brach Ilonka ihr Spiel ab, lehnte sich gegen einen Pfeiler des Himmelbettes, verschränkte die Arme über ihrem Kopfe und begann zu singen. Sie hatte eine ungeschulte Stimme von mäßigem Wohlklang, aber die verhaltene Leidenschaft ihrer wunderbar sehnsüchtigen ungarischen Lieder wußte sie doch ergreifend zum Ausdruck zu bringen. Und wie schön sie dastand in ihrer ruhigen statuenhaften Haltung, den Blick der großen dunklen Augen mit leidvollem Ausdruck nach oben gerichtet.
Florian Mayr war der einzige gewesen, der den ganzen Abend über nicht in die rechte lustige Stimmung hineinzukommen vermochte. Mit steigendem Mißmut hatte er das Gebaren Ilonkas den drei Engländern gegenüber beobachtet. Daß sie sich über den alten Crookes lustig machen wollte, war ja klar, aber so heftig brauchte sie deswegen mit ihm doch nicht zu kokettieren, meinte Florian. Und wozu sie auch noch diesen guten, harmlosen Buben den Kopf verdrehen wollte, indem sie ihnen die Backen streichelte und ihnen erlaubte, ihr die Arme bis zum Ellbogen hinauf zu küssen, das begriff er vollends nicht. Sie war doch nun sozusagen seine Braut, zum mindesten sein Schatz – wie konnte sie nur in seiner Gegenwart sich so ungeniert benehmen! Florian war eifersüchtig. Und wie sie nun dastand und sang, da rührte sie mit ihren schmachtenden Tönen sein Herz gewaltig auf. Das Blut schoß ihm in den Kopf, er setzte sich an den Tisch und drückte seine beiden Fäuste gegen die Augen, um seiner Erregung Herr zu werden. O du himmlischer Vater – er liebte diese bezaubernde Schlange ja doch! Er verspürte eine unbändige Lust, die drei Englishmen hinauszuwerfen und dann seine Schöne in seinen Armen zu zerdrücken zur Strafe für die Eifersuchtsqualen, die sie ihn hatte ausstehen lassen.
Ilonka hatte geendet. Sie nahm die Arme von ihrem Hinterhaupte weg und dehnte sich lächelnd. Ganz leise nur murmelte Mister Crookes vor sich hin: »Very fine indeed« – die beiden jungen Leute drückten ihr schweigend die Hand und Florian blieb gar in seiner sonderbaren Stellung am Tische sitzen, ohne sich zu rühren. Es war einige Sekunden ganz still im Zimmer – und da hörte man deutlich von jenseits der Durchfahrt her das fürchterliche Husten der schwindsüchtigen Polin und das laute Weinen und Wehklagen ihrer Mutter und Schwester.
Einen Augenblick horchte Ilonka aufmerksam hin, dann schlug sie sich vor die Stirne und sagte: »O pfui – ise gemain! Hoben wir gegässen, getrunken und lustik gemocht und ganz vergässen an orme Kollägin. Geh, Florian, schäm dich mit! Wir wollen ihr ein Floschchen Säkt hinübertragen – Säkt is gut für die Brust und für die Schwäche, und iberhaupt ise Säkt für olles gut.« Damit ergriff sie eine halbgeleerte Champagnerflasche, hielt Umschau auf dem Tische und that noch die Reste des zarten Lachsschinkens und des Kaviars auf einen Teller. Sie winkte Florian und verließ mit ihm das Zimmer.
Als sie drüben bei den Mikulskas eintraten, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick dar. Helene saß schlaff zurückgelehnt in einem alten Korbstuhl und ihre Brust, die Seitenlehne des Stuhls und der Boden zu ihren Füßen waren von hellrotem Blut befleckt. Die kleine Olga stand zitternd und weinend neben der Schwester, einen Schwamm in der Hand, mit dem sie ihr das Blut von Kinn und Lippen gewaschen hatte, und die Mutter hockte hilflos jammernd auf einem Stuhl neben der Ohnmächtigen und rief mit gerungenen Händen die Heiligen an.
Ilonka fuhr erschrocken zusammen bei dem fürchterlichen Anblick und mußte für ein paar Sekunden die Augen schließen. Florian nahm ihr rasch Teller und Flasche aus der Hand und stützte sie, bis sie den Schwächeanfall überstanden hatte.
»Das ist schlimm!« flüsterte er ihr zu. »Das ist ein Blutsturz, den wird das arme Kind schwerlich überstehen. Ich will einen Arzt holen – bleib du hier und schau zu, daß die Helena wenigstens ausgekleidet und ins Bett gebracht wird. Und kalte Kompressen auf die Brust, hörst du!« Er drückte ihr aufmunternd die Hand und ging rasch hinaus. Er sprang nach seinem Zimmer hinüber, Hut und Schirm zu holen, teilte den Crookes mit, daß die Gasterei ein Ende haben müßte, und stürmte dann mit seinen schnellsten Schritten zum nächsten Arzt.
Es war bereits gegen Mitternacht, als Florian mit dem Doktor, den er erst aus seinem Stammlokal hatte heimholen müssen, die Wohnung der Mikulskas wieder betrat. Ilonka hatte unterdessen sich nützlich zu machen gemußt. Die Kranke lag im Bett mit kalten Umschlägen, denen das Eis von dem Champagnergelage zu statten kam. Der Fußboden und der Korbstuhl waren gesäubert worden, und die Mutter Mikulska that, nachdem sie diese Arbeit verrichtet, das Beste, was sie thun konnte: sie hielt den Mund und ließ Ilonka gewähren. Die kleine Olga war übermüdet eingeschlafen, nachdem sie heißhungrig die Reste verzehrt hatte, die für die Schwester bestimmt gewesen waren. In der Aufregung über den heftigen Husten, der Helena schon seit Stunden plagte, hatte die Mutter vergessen, ein Abendbrot zu bereiten. Der Arzt behorchte und beklopfte Helenas jämmerlich mageren Körper aufs sorgfältigste, und gelangte zu der Meinung, daß die Kranke bei ihrer allgemeinen Entkräftung wohl schwerlich wieder aufkommen werde. Eine Wiederholung des Blutsturzes werde ihr sicherer Tod sein; in diesem hohen Stadium der Schwindsucht jedoch, in dem sie sich befinde, sei von den Mitteln, den Hustenreiz zu verhindern, wenig zu erwarten. Die geringste körperliche Anstrengung oder auch seelische Erregung könnte alle Vorsichtsmaßregeln vergeblich machen, und die Dummheit der Mutter, die mit ihrem Geschrei und Gejammer nur aufregend wirken könne, bilde daher die größte Gefahr für die Tochter. Es wurde deshalb verabredet, der Mutter die volle Wahrheit vorzuenthalten und ihr nur einzuschärfen, den Anordnungen des Arztes und der beiden freiwilligen Pfleger gewissenhaft Folge zu leisten.
Als der Arzt sich entfernt hatte, gab es einen edlen Wettstreit zwischen Florian und Ilonka, wer von ihnen beiden zunächst die Wache übernehmen sollte. Florian gab endlich nach, da Ilonka noch ganz munter zu sein behauptete und ihn zu wecken versprach, sobald sie schläfrig würde. Er drückte ihr warm die Hand und blickte ihr zärtlich in die Augen beim Gutenachtsagen. Er hatte ihr noch so viel zu sagen, wovon sein Herz voll war, aber hier war wohl nicht der rechte Ort dazu, und so verschob er's seufzend auf morgen und verfügte sich in sein Stübchen hinüber. Halb angekleidet warf er sich aufs Bett und war bald fest eingeschlafen.
Als er erwachte, graute bereits der Tag. In dem schwachen Dämmerschein erkannte er seine Liebste, die vor seinem Bette stand und ihn am Arm gepackt hielt.
»Liebär Fraind,« sagte Ilonka matt lächelnd, »du hast ober festen Schlof! Sei nicht bese, daß ich dir aufgeschittelt hab' – ich bin so sähr mid; geh sei lieb, loß mich bisl schlofen! Ise olles besorgt driben – ormes Madl schloft gonz sonft.«
Florian begriff endlich, was von ihm verlangt wurde, rieb sich noch einmal die Augen und sprang dann entschlossen auf die Füße. Sobald der Platz frei war, setzte sich Ilonka aufs Bett, lockerte ihren Kleiderbund, riß mit einem Ruck sämtliche Knöpfe ihrer Taille auf und streckte sich mit einem Seufzer der Erleichterung lang aus. Des Schnürleibs hatte sie sich schon drüben entledigt. Sie schloß alsbald die Augen und atmete tief.
In Hemdärmeln, sich mit allen zehn Fingern das lange Haar kämmend, stand Florian mitten im Zimmer und starrte auf sein Bett. Es ward ihm seltsam weich ums Herz. Da waren sie nun nach dem schrecklichen Sündenfall von gestern so ohne alle thörichte Scheu zu einer guten That der Nächstenliebe verbunden, innigst vertraut wie nur ein Ehepaar im besten Einvernehmen. Brachte diese Nacht sie nicht, im Grunde genommen, einander näher, als der flüchtige Rausch jener Schäferstunde? Jetzt liebte er sie wirklich und war gewiß, daß der helle Tag ihm keinen moralischen Katzenjammer bescheren würde, wenn er jetzt die folgenschwere Frage thäte. Und mit raschem Entschluß kniete er zu ihren Häupten nieder, streichelte ihr sanft die wirren Löckchen aus der Stirn, küßte sie und flüsterte ihr zu: »Du Schatz, hörst du mich?«
Sie nickte kaum merklich mit dem Kopf und ließ dazu ein etwas ungeduldiges Brummen hören.
»Gelt, du bist mir doch net bös wegen dem, was gestern passiert ist?« fuhr er unbeirrt zu flüstern fort. Und da sie mit einem unwilligen Grunzen Miene machte, ihm den Rücken zuzukehren, legte er den Arm um sie, um sie festzuhalten, und fuhr eifrig fort: »Nein, schau Liebste, des darfst mir fein net nachtragen! Schau, ich hab' dich doch net bloß so a bißl gern, ich – ich bin doch so verbrennt in dich . . . nein, schau, wahrhaftig bei Gott! ich bin dir so gut, daß ich mir nichts Besseres wünschen möcht', als du thätst mein liebes Weiberl werden.«
Da öffnete sie plötzlich ihre Augen, sah ihn groß an und lachte kurz auf. »Ti vagy hóbortos!« sagte sie langsam und deutlich, indem sie ihm dabei mit dem Zeigefinger an die Brust tippte.
Florian hielt ihr die Hand fest, die er küßte, und flüsterte erregt: »Geh, sag's doch deutsch! Heißt jetzt des: ich liebe dich?«
Trotz ihrer Schlaftrunkenheit mußte Ilonka laut auflachen. »Ho, ise ausgezeichnet!« kicherte sie, indem sie ihm mit der Hand über den Kopf fuhr; »nein, liebär Fraind, dos haißt nicht: ich liebe dich – dos haißt. du bise verrickt!«
Florian erhob sich eiligst vom Boden und rief höchst gekränkt: »Ach geh, schäm dich, Ilonka! Ist das eine Art – wenn's einer ernst meint und . . . hm, meinst, ich wär' verrückt, weil ich dich heiraten will?«
»Ober sähr!« versetzte Ilonka mit Seelenruhe. »Freit mich uhngemain, wenn du mich gern hast – ich hob' dich auch gern, weil du bis gutär, liebär Kärl. Ober wenn ich heiraten will, muß ein Grof sein – sähr reich und sähr, sähr immens dumm! Uhaih haiaiai!«
Nach diesem ungeheuer langen Gähner schloß sie die Augen und wälzte sich auf die andre Seite.
Florian stand noch eine ganze Weile regungslos da mit geballten Fäusten und finster zusammengezogenen Brauen. Die tiefen, regelmäßigen Atemzüge belehrten ihn bald, daß seine schlimme Liebste eingeschlafen sei. »Herrgottheiligeskreuzdunnerwetter, werd' einer aus dem Weibervolk klug!« knirschte er grimmig zwischen den Zähnen hervor. Dann fuhr er in seinen Rock und schlich sich auf den Zehen aus dem Zimmer. In wenig menschenfreundlicher Stimmung trat er seinen Samariterdienst an.
Die Mikulskas schliefen alle drei. Helena hätte man für tot halten können, so leichenblaß und regungslos lag sie da, und nur das leise Röcheln in ihrer Brust zeigte an, daß sie noch atmete und daß es sorgsam achtzugeben galt. Sobald es Tag geworden war, verfügte sich Florian zu seinen Wirtsleuten, um ihnen über die Vorfälle der Nacht Mitteilung zu machen. Er ließ sich sein Frühstück in die Wohnung der Mikulskas hinüberbringen, damit Ilonka ruhig ausschlafen könnte. Die gute Schreinermeistersfrau erklärte sich gern bereit, statt seiner der kopflosen Frau Mikulska zur Hand zu gehen, und so konnte Florian einigermaßen beruhigt zur gewohnten Stunde zu Liszt gehen.
Er erzählte dem Meister das Vorgefallene, und der erbot sich, für die arme Kranke zu thun, was irgend mit Geld zu leisten sei. Er sollte nur allzubald beim Worte genommen werden, denn Helena Mikulska verschied kaum achtundvierzig Stunden später an den Folgen eines zweiten Blutsturzes. Liszt kam selbst mit dem Priester, der ihr die letzte Wegzehrung reichte, betete mit den Ihrigen und hielt die knochigen Hände der Sterbenden, die sich so viele Jahre hindurch hart abgemüht hatten, um einst vor ihm ihre Kunst erproben zu dürfen, lange in den seinigen. Aber sie hatte schon das Bewußtsein verloren – die Genugthuung, daß der scheu verehrte Meister ihr den letzten Händedruck gegönnt, konnte der armen Märtyrerin der Kunst nicht mehr den Abschied von der Welt verklären.
Auf Liszts Kosten wurde ihr ein einfaches Begräbnis ausgerichtet, das aber immerhin durch das freilich sehr bescheidene katholische Schaugepränge in dem ganz protestantischen Weimar ein gewisses Aufsehen erregte. Der Meister selbst und eine nicht kleine Anzahl seiner Schüler waren dabei zugegen, und eine Menge Neugieriger obendrein.
Florian hatte natürlich alle Geschäfte, welche die Beerdigung erforderte, auf sich genommen; aber auch das Fräulein Badacs war der armen Kranken bis zum letzten Augenblicke treu zur Seite gestanden. Florian hatte es während all der Tage bis zum Begräbnis ängstlich vermieden, mit Ilonka etwas andres zu besprechen, als was ihren Krankendienst anbelangte. Er grollte ihr wegen des garstigen Wortes, womit sie – zwischen Lachen und Gähnen noch dazu! – seine Werbung zurückgewiesen hatte. Und doch wollte es ihm durchaus nicht gelingen, seine ehrliche Liebe für sie aus der Seele zu reißen, in der sie vielmehr von Stunde zu Stunde tiefer Wurzel faßte, wenn er die Gute so treu, so sanft und geschickt ihres selbsterwählten schweren Amtes bei der Kranken walten sah.
»Sie ist doch wirklich ein ganz prachtvolles Frauenzimmer,« sagte sich Florian mehr denn einmal bei Tage und bei Nacht. »Der Teixl mag wissen, warum ich verrückt sein soll, wenn ich die zu meiner Frau machte!« – Und am Abend des Begräbnistages beschloß er, eine ruhige Aussprache mit der Geliebten zu suchen und sich nicht wieder durch ein dummes Wort vor den Kopf stoßen zu lassen. Sie sollte einmal ehrlich Farbe bekennen.
Abends um Sieben klingelte er bei Fräulein Badacs. Das Fräulein sei nicht zu Hause, erklärte ihm die Zimmervermieterin.
»Bitt' schön, dann sagen S' dem Fräulein, ich käm' noch einmal wieder heut abend!«
»I nee, hären Se, das hilft Sie nischt!« sagte die Frau verlegen lächelnd. »Das Freilein sind ja doch verreist.«
»Verreist – wohin?«
»I nu hären Se, das weeß ich Sie nich, aber weit werd's wohl nich sein.«
»Mit wem denn?« Florian wußte eigentlich selbst nicht, wie er zu der Frage kam; aber nun war sie einmal heraus, und bebend erwartete er die Antwort.
Die Frau lächelte verschämt, wischte sich mit der Schürze an ihrem bloßen roten Arm hinunter und sagte: »Nu, doch wohl mit 'n Herrn von Oettern – mit dem hat se's doch schon lange!« –
Am andern Nachmittag hätte es bereits jeder einzelne aus dem Schwarm dem guten Florian verraten können, daß Ilonka Badacs mit dem unwiderstehlichen Jean d'Oettern eine kleine Erholungsreise angetreten habe, mit demselben liebenswürdigen Jean d'Oettern, den der Oberkellner des »Erbprinzen« mit unendlich feinem Lächeln ihm als den Masseur der schönen Ungarin vorgestellt hatte.