Theodor Wolff
Das Vorspiel
Theodor Wolff

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III

Nicht nur Waldersee und seine Freunde waren vor der Thronbesteigung Wilhelms II. der Meinung, dieser unerfahrene, beifallhaschende Erbe werde leicht zu einem Kriege gegen Frankreich und Rußland zu verführen sein. Was sie hofften, wurde von Bismarck und allen klugen und gewissenhaften Beobachtern gefürchtet, und an Gründen für solche Hoffnung und solche Furcht fehlte es nicht. Bismarck äußerte, wie Freiherr Lucius von Ballhausen berichtet, in der Sitzung des Staatsministeriums vom 13. Mai 1888 sich einigermaßen besorgt über den »jungen kriegslustigen Herrn«. Der Chef des Zivilkabinetts von Wilmowski sagte am 26. Mai 1888 zu Hohenlohe, der Kronprinz stehe unter dem Einfluß von Waldersee und Herbert Bismarck – »und beide arbeiten auf den Krieg«. Ziemlich überall bestand die Ansicht, Wilhelm II. werde bald der Versuchung unterliegen, den Kriegstaten seiner unablässig heraufzitierten Ahnen eigene Taten anzureihen. Wirklich war Wilhelm II. noch unmittelbar vor dem Sturze Bismarcks in einer Geistesverfassung, die vielleicht nur nicht bedenklich wurde, weil der alte Reichskanzler eine kräftige Portion kalten Wassers darüber goß. Allerdings, die klare Absicht, einen Krieg zu entfesseln und auf Eroberung auszugehen, hatte Wilhelm auch damals nicht. Daß dann, als er Kaiser geworden war, sehr schnell der Wunsch, kriegerische Abenteuer zu vermeiden, in ihm die letzten Spuren der Walderseelektionen austilgte, zeigte sich ganz besonders in seinen Bemühungen, die Sympathien der Franzosen zu gewinnen. Er glaubte, Frankreich versöhnen zu können, und sprach das seiner Umgebung gegenüber gern und mit Betonung aus. Zur Herbeiführung dieser Versöhnungsära verwandte er Mittel, die er weniger aus der 110 politischen Studierstube als aus dem Blumenladen nahm. Kein berühmter Franzose starb, ohne daß ein Kranz Wilhelms II. auf seinem Sarge lag. An jeder französischen Trauerweide hing eine Schleife mit dem kaiserlichen Erinnerungsspruch. In Frankreich meinten viele, das als einen Prolog aufnehmen zu dürfen, und erwarteten das eigentliche Stück. Natürlich dachte man dabei an Elsaß-Lothringen, während Wilhelm II. einen solchen Gedanken gar nicht an sich herantreten ließ. Daß kein Kaiser Elsaß-Lothringen zurückgeben konnte, ist klar. Wieweit die Verleihung der Autonomie, die unter allen Umständen klug und richtig gewesen wäre, auf die Dauer die deutsch-französischen Beziehungen günstig beeinflußt hätte, läßt sich schwer sagen, aber man brauchte nur in die Aufzeichnungen Bismarcks zu blicken und sich dann in der Welt umsehen, um zu erkennen, daß es für die Herstellung gemeinsamer Interessen noch andere Wege gab. Das französische Publikum dachte jedenfalls, nach so viel Blumen und telegraphischen Komplimenten müsse auch etwas Praktisches kommen. Es betrachtete Wilhelm II. wie eine Kuriosität und nannte ihn »Lohengrin«.

Als ich 1893 nach Paris kam, waren die Panamadebatten noch nicht abgeschlossen, Rouvier mußte sich noch, wie ein zorniger Zyklop hinter dem Rednerpult auf- und abschreitend und mit schwerer Faust die Tischplatte hämmernd, in der Kammer gegen Verdächtigungen verteidigen, Joseph Reinach, der Neffe des im Selbstmord dahingeschiedenen Barons, wurde, so oft er reden wollte, mit dem Spottwort »Youssouf« niedergeschrien, und der pfiffige kleine Börsenmakler Arton saß noch im Auslande und verschaffte sich durch die Legende, daß er hundert Abgeordnete, oder sogar hundertundeinen, bestochen habe und die Liste der Namen besitze, einen etwas skandalösen Ruhm und eine angenehme Sicherheit. Die immer nehmebereiten großen und kleinen Zeitungen aller Richtungen und auch Parlamentarier waren bestochen worden, aber die »Liste« hatte wahrscheinlich niemals existiert, Arton konnte, als er schließlich doch auf der Anklagebank saß, nur diskret lächeln und ganz zweifellos hatte die ungeheuer tätige 111 klerikal-antirepublikanische Kamorra, die zuerst mit dem Rufe »Panama« durch die Gassen geeilt war, aus der umfangreichen Pfütze einen großen Schlammteich gemacht. Seit Boulanger sich 1891 in Belgien auf dem Grabe der Madame de Bonnemains erschossen hatte, waren die klerikalen Minenleger zu der schon früher geübten Taktik zurückgekehrt, die Republik durch »Affären« auseinanderzusprengen. Sie erfanden, als Panama verbraucht schien, die Dreyfus-Affäre, die zuerst in Drumonts »Libre Parole«, dem Spezialorgan der unterirdischen Mächte, mit einer Winkelnotiz über die Verhaftung des israelitischen Hauptmannes begann. Vieles kann man nur verstehen, wenn man weiß, daß der französische Klerikalismus in seinen streitbaren Gruppen Methoden kennt und Mittel anwendet, die dem deutschen Katholizismus fernliegen, und die bei uns weit eher, allerdings primitiver und ungeschliffener, die Methoden und Mittel nationalistischer Nichtrömer sind. Man darf nicht vergessen, daß der französische Klerikalismus in der Vergangenheit ebensoviel von Philipp II. und von dem Herzog von Alba gelernt hat, wie die französische Salonpoesie von den spanischen Amadisdichtern, daß die Ligen und die Herzöge von Guise in seine Chronik sich eingeschrieben haben, und daß hinter den Tagen, die das Licht der revolutionären Gedanken brachten, die Bartholomäusnacht liegt. Man muß sich daran erinnern, daß der Glaube in alle dem wenig mitgespielt hat, und daß, nach einem Worte des mit reinem Lichte durch die Geschichte leuchtenden Michelet, ein bleicher Gott, die Politik, auf dem verlassenen Throne saß. Und man darf vor allem nicht übersehen, daß der französische Klerikalismus sich nach 1870 ganz dem Militarismus verbündete, schon 1873 unter Führung des Bischofs von Nancy und anderer Geistlichen fortwährend Zwischenfälle erzeugte, mit Revanchepredigten mehr noch die anscheinend schwächliche Republik als Deutschland bekämpfte, in den pazifistischen weltbürgerlichen Neigungen den verhaßten Aufklärungsgeist der Renan-Schüler zu treffen versuchte und, während er in der linken Hand heilige Geräte trug, mit der rechten das Kriegsschwert schwang.

112 Der Philosoph und Soziologe Alfred Fouillée hat einige Jahre vor der Dreyfus-Affäre in seiner »Psychologie du Peuple français« geschrieben: »Gibt es ein Volk, auf welches das gemeinschaftliche Leben mehr Einfluß ausgeübt hat und noch ausübt, als das der Franzosen, die immer das Bedürfnis haben, sich mit anderen in Harmonie zu fühlen?« und er hat zu dem gleichen Thema bemerkt, die gegenseitige Suggestion übe in Frankreich eine außerordentlich starke Wirkung aus. Karl Hillebrand sagt in seinem, wenige Jahre nach 1870 geschriebenen Buche »Frankreich und die Franzosen«, alle anderen Untugenden des öffentlichen Lebens in Frankreich verschwänden »vor dem Grundübel des französischen Charakters, sobald öffentliche Zustände in Betracht kommen: vor dem Mangel an bürgerlichem und moralischem Mut«. Solche Aussprüche enthalten Wahrheiten, aber diese Wahrheiten umschließen, weil sie zu starr und bestimmt formuliert sind, nicht alles, und immer bleibt noch irgend etwas abseits, außerhalb des Lehrsatzes, in dem man das Wesen eines Volkes zusammenfassen will. Oft wird von denjenigen, die so Grundeigenschaften festzustellen versuchen, auch übersehen, daß diese Eigenschaften vielleicht infolge der Staatsverfassung oder aus anderen Gründen bei einer Nation besonders sichtbar werden, aber doch gemeinsame Eigenschaften aller oder doch vieler Nationen sind. Das politische Leben in Frankreich hat sich bis zum Ausbruch des Weltkrieges weit mehr auf der öffentlichen Bühne abgespielt als das Leben der Deutschen, und während sich bei uns die Dinge auf glattem, gut eingezäuntem Rasen verhältnismäßig einfach abwickelten, gab es in den ersten vierzig Jahren der französischen Republik jene dramatischen Höhepunkte, auf denen sich das Gute und das Schlechte entladen und jeder erst wirklich seine Seele zeigt. Ein solcher dramatischer Höhepunkt war die Dreyfus-Affäre, die das Verborgene ans Licht treten ließ. Selten offenbarte sich grandioser die Macht der Massensuggestion. Aber es gab auch hier Beispiele von großem »bürgerlichen und moralischen »Mut«. Darf man unter bürgerlichen und moralischen Mut die gegen herrschende Gewalten gerichtete Geste eines 113 Tribunen verstehen, der seine Partei hinter sich weiß? Nein, den wahren Mut hat nur der, der allein steht und ganz allein, ohne auf den Applaus einer Anhängerschaft rechnen zu können, die Verantwortung für seine Handlungen und die Folgen trägt. Diesen Mut hatte Zola, der sich einem ganzen verwirrten Volke entgegenwarf, auf der Freitreppe des Justizpalastes zu einem heulenden Pöbelmeere niederstieg, und dessen literarisches Werk von der Stunde des »J'accuse« an durch einen allgemeinen Boykott gleichsam aus der »guten Gesellschaft« verschwand. Diesen Mut hatte der Oberst Piquart, der, um einen unbekannten, ihm unsympathischen Mann von ungerechter Verfemung zu befreien, mit heiterer Selbstverständlichkeit seine glänzende Karriere zerbrach. Diesen Mut hatte der alte Scheurer-Kestner, der einsam in dem eisig schweigenden Senat seine Überzeugung aussprach und gern, weil er dem Rechte gedient hatte, seine Präsidentenwürde verlor. Diesen Mut hatte Jaurès, den seine Genossen mit wenigen Ausnahmen im Stiche ließen, und Francis de Pressensé hatte ihn, der achselzuckend das Amt des »Temps«-Leitartiklers hinwarf, und die Intellektuellen, die Professoren der »Liga der Menschenrechte«, hatten ihn auch. Hätte man im kaiserlichen Deutschland, wo kein Jude Hauptmann im Generalstab werden konnte, bei einer oben und unten verhaßten, mit dem Odium des Vaterlandsverrates belasteten Sache mehr Beispiele von bürgerlichem Mut, unerschütterlicher Tatkraft und enthusiastischer Selbstaufopferung gesehen? Wer das glaubt, dürfte die erziehlichen Wirkungen des Regimes verkennen.

Trat in der entscheidenden und dauernden politischen Frage, in der Frage der Beziehungen zu Deutschland, »bürgerlicher und moralischer Mut« ebenso eingreifend, wegweisend und unwiderstehlich hervor? Jaurès, Pressensé und einige andere kämpften mit der gleichen Sturmkraft, mit der sie für die Revision gestritten hatten, für die Völkerversöhnung, aber über die Reihen des Sozialismus und der »Liga der Menschenrechte« hinaus bildete sich um sie niemals eine feste Gruppe, schloß sich keine Phalanx zusammen und alles blieb im Grunde Einzelkampf. Die führenden »Dreyfusards« 114 waren keineswegs geeignet, in der großen Politik weiter eine einheitliche Rolle zu spielen, denn sie waren aus allerlei Lagern zusammengeströmt und mußten auseinanderströmen, als die Aufgabe, zu der sie sich gefunden hatten, beendet war. Scheurer-Kestner war der niemals seine Heimat vergessende Elsässer, Georges Piquart war ein durch Kultur und Kunstliebe verfeinerter Militär, aber doch ein Militär, die Clémenceau und Reinach, die in der »Affäre« nicht nur eine gerechte Sache, sondern auch ein Mittel, nach dem Absturz wieder empor zu gelangen, gesehen hatten, waren am allerwenigsten für eine Verständigung mit Deutschland, und im übrigen ist jener Mut, der in Augenblicken hoher dramatischer Spannung emporschnellt, sehr verschieden von jenem lange ausharrenden, den der stetige Marsch zu einem nur langsam erreichbaren Ziele verlangt. Dennoch hätte der ganze Verlauf dieses Justizfalles lehrreich für die deutschen Politiker werden und sie zu der Überlegung veranlassen können, ob da nicht neue geistige Kräfte tätig geworden seien. Aufmerksame Beobachter hätten, mit diesen Zeichen vor Augen, ihre Berechnungen nachgeprüft.

War es zwischen 1870 und 1914 jemals möglich, die beiden Nachbarländer aus dem Zustande bald schwelender, bald auflodernder Feindseligkeit herauszuführen, in Frankreich, wie Bismarck es lange, und nur nicht ganz konsequent versucht hatte, den Gedanken an das Verlorene durch neue Ideen zu ersetzen, über den Graben hinweg haltbare Brücken zu bauen? Ich glaube, daß es einmal, in einer Periode von wenigen Jahren am Ende des 19. und am Anfange des 20. Jahrhunderts, eine solche Möglichkeit – nur eine Möglichkeit – gab. Auch noch keineswegs die Möglichkeit zu einem Bündnis oder zu einer Einigung, die ausdrücklich und sichtbar die Anerkennung des Frankfurter Friedens bedeutet hätte und gewissermaßen die Grabplatte gewesen wäre, die sich abschließend auf die Vergangenheit legt. Wohl aber die Möglichkeit zu mancherlei Abmachungen, zu einer engeren Verknüpfung der Interessen, zu jenen geschäftlichen Begegnungen, in denen man einander oft besser als in intimeren Rendezvous kennenlernt. Ich habe damals in 115 Paris nicht nur das liebenswürdig oberflächliche »cher ami«, sondern die wärmsten, ehrlichsten, bewährtesten Freundschaften gefunden, in täglichem Beisammensein mit ausgezeichneten Männern und Frauen aus jenen Kreisen, die man die republikanische Aristokratie genannt hat, in ein Denken und Fühlen hineingeblickt, das bei Reisestudien in den Alleen des Bois de Boulogne und in den Musikhallen sich nicht erschließt. An Tischen, an denen Mitglieder republikanischer Patrizierfamilien sich zusammenfanden, und im Verkehr mit klugen Menschen, von denen manche damals oder später in den Regionen der höchsten Macht lebten, öffnete sich uns ein Frankreich, das nicht in den Kokottenromanen steht. Auch bei diesen Besten und Vertrautesten, und nicht nur bei jenen freundlichen Geschäftsleuten der Literatur, des Journalismus und der Politik, deren Händedruck nichts besagt und deren Herzlichkeit die Wärmeausstrahlung einer Spirituslampe nicht überdauert, gab es eine Scheidelinie, über die sie nicht hinüber wollten und konnten und über die kein Vernunftreden hinüberhalf. Auch für sie gab es nicht die Möglichkeit, das Wort, die Formel auszusprechen, die bedeutet hätte: Frankreich muß auf seine verlorenen Provinzen verzichten und statt in die Vergangenheit nur noch in die Zukunft schauen. Einige behielten gegenüber dem militarisierten, von einer derb auftretenden Kaste beherrschten, ohne parlamentarische Kontrolle nach unerforschlichen Ratschlüssen geleiteten Deutschland das ganze Mißtrauen, das Georges Piquart einmal äußerte, als er mir sagte: »Einen dauernden Frieden wird es nicht geben, solange in Deutschland die Junkerkaste existieren wird.« Das Geständnis des Verzichtes aber war auch von denen nicht zu erwarten, auf denen der Druck solcher Befürchtungen nicht lag. Das Volk, das den Frieden liebte, wich dem Worte aus. Das von Fouillée erwähnte Bedürfnis, »sich mit den anderen in Harmonie zu fühlen«, hielt den einzelnen zurück. Und dennoch – wenn der Entschluß, der den Faden zerschnitten hätte, sich auch nicht äußern wollte, so war doch nicht daran zu zweifeln, daß der Gedanke an das Verlorene verblaßte und zerrann. Den Blicken 116 derjenigen, die weiterfuhren, entschwand das zurückbleibende Land. Man wollte es nur nicht zugeben, daß man es für immer verlassen habe, und sagte mit dem Selbsttrost so vieler Abschiednehmenden: Auf Wiedersehen. In dieser Zeit um 1900 schien das Schiff sich rasch und weit von der Küste zu entfernen, schien die Aussicht auf eine Verständigungspolitik sich zu bieten – und dann, wie der Rabe Edgar Poes sagt: »nimmermehr«.

Eines zunächst wirkte der Revanchestimmung entgegen, riß diejenigen, die, wie Heines Hyazinth von der dicken Gudel sagt, sich ein »Schwärmereivergnügen« machten, aus der Gefühlsschwelgerei. In der Dreyfus-Affäre hatte das französische Volk seine militärischen Führer, seinen Generalstab gesehen. Diese Personen, auf die plötzlich das Tageslicht gefallen war, hatten nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck gemacht. Wenn Tolstoi militärisches Genie leugnet, so mag es in den Jahrtausenden einige Ausnahmen gegeben haben, die gegen seine These zeugen, aber zu diesen Ausnahmen gehörten die Mercier und Boisdeffre jedenfalls nicht. Jeder mußte den peinlichen Eindruck haben, eine in solchem Geiste geleitete und organisierte Armee könne zu ernsthaften Unternehmungen nicht tauglich sein. Und mußte die Antipathie, die das republikanische Volk für diese am Beichtstuhl hängenden Paradepuppen empfand, nicht die Abwendung von all jenen Gedanken beschleunigen, deren Verwirklichung nur unter dem militärischen Kommando zu erreichen war? Die französische Republik, belehrt durch die Staatsstreichgelüste der Boisdeffre und Pellieux, wußte, daß sie ebensowenig auf die Loyalität einer vorwiegend klerikalen und antirepublikanischen Generalität zählen könne wie auf ihre Intelligenz. Durch all das, was sich in den Dreyfus-Prozessen enthüllt hatte, wurde die geistige Wandlung keineswegs erst geschaffen, aber es war für die mit allgemeinen und hohen Gesichtspunkten schwer zu gewinnenden Massen ein erziehlicher Anschauungsunterricht.

Jules Ferry hatte ernsthaft versucht, neue Zukunftswege zu finden, statt immer nur auf das »Loch in den Vogesen« zu starren. Dafür warf ihn sein Gegner Clémenceau, 117 Englands Schildträger in allen Kolonialfragen, als der Feldzug in Tonking im März 1885 zu der Niederlage von Langson führte, vom Regierungssitze herab. Aber aus der Zeit Jules Ferrys, des einzigen Staatsmannes zwischen Thiers und Waldeck-Rousseau, blieben allerlei Keime zurück. Um 1900 regten sie sich.

Durch ein Volk gehen immer viele Strömungen, die einander durchkreuzen, sich ineinander mischen und einander auflösen, und nur in ganz besonderen Momenten treibt, scheinbar wenigstens und auch nur an der Oberfläche, alles einer Richtung zu. Aber wie bei Passau die grüne Flut des Inn und die schwarzen Waldwasser der Ilz nach der Einmündung in die Donau farbig sich voneinander abheben, so traten um das Jahr 1900 zwei starke Strömungen deutlich sichtbar im Leben Frankreichs hervor. Die eine dieser beiden Strömungen war die englandfeindliche, die während des Burenkrieges alle Dämme zu durchbrechen schien. Dieser Englandhaß führte dazu, daß gerade die heftigsten Nationalisten werbende Worte nach Deutschland hinüberriefen, an die Ritterlichkeit Wilhelms II. appellierten und, rhetorisch über die Tatsachen hinwegschreitend, mit dem Gedanken spielten, »Lohengrin« für ihre Sache zu gewinnen. Aus der früheren Gefolgschaft Boulangers kamen als Vorkämpfer dieser Idee Cassagnac, Georges Thiebaud und Millevoye, die Boulevardausgabe des Don Quichotte. Andere, die weniger an nationalistischer Romantik sich berauschten, aber auch weniger die Massen beeinflussen konnten, kamen aus dem Lager der Kolonialpolitiker, die, mit Ausnahme des Kolonialministers de Lanessan, ihre Antipathie gegen England schon bekundet hatten, seit die englische Herrschaft so fest und unbeweglich wie die Pyramiden auf dem Nilufer eingemauert war. Im Volke konnte man im Ausstellungsjahre und vorher und nachher hören: »Wenn Wilhelm wollte!« und aus allerlei Blättern klang es ebenso. Die französische Diplomatie unternahm, gemeinsam mit der russischen, ihre Schritte, um die deutsche Regierung zu einer Intervention im Transvaalkriege zu verführen, und sie war dabei ohne Zweifel weit weniger sentimental und weit weniger 118 aufrichtig als das Volk. In dieser ganzen Versöhnungsbereitschaft des französischen Nationalismus lag selbstverständlich keine Bürgschaft, denn sie war nur aus einer seelischen Erhitzung hervorgegangen. Der »panache«, der wehende Helmbusch, ist ein schönes französisches Wahrzeichen, aber eines, das schnell wieder nach der anderen Seite weht. Die englandfeindliche und darum beinahe deutschfreundliche Stimmung des französischen Nationalismus hätte in jenem Augenblick nur deshalb vorteilhaft werden können, weil sie den Widerspruch gegen Verständigungswünsche, die von einer ganz anderen Richtung her gleichzeitig sich äußerten, abschwächen mußte und einer anderen geistigen Strömung freieren Durchgang ließ. Dieser zweite Strom, der das Land durchflutete, hätte weit mehr Beachtung verdient.

Zwanzig Jahre vorher hatte Jules Ferry jene Reformen durchgesetzt, die den Volksschulunterricht in Frankreich neu schufen, die Volksschule entklerikalisierten und als Verkünder der republikanischen Ideen den Laienlehrer einsetzten, während der ganz im nationalistisch-reaktionären Bannkreis stehende geistliche Lehrer ein Bekämpfer der revolutionären Gleichheitsprinzipien, der Aufklärung und damit auch aller sozialistisch-antinationalistischen Brüderlichkeitsgedanken war. Der Einfluß, den diese Umwandelung auf das französische Geistesleben ausübte – und um den man sich in Berlin leider nicht kümmerte –, zeigte sich sehr deutlich, als um 1900 eine Generation, die in diesen Schulen gelernt hatte, in das politische Leben trat. Diese Generation selbst mochte noch keine große Rolle spielen, aber ihre Existenz, verbunden mit der Rührigkeit ihrer Lehrmeister, wirkte auf die Atmosphäre ein. Die Kräfte, die von der neuen Erziehung und den Erziehern ausgingen, ermöglichten die Revision des Dreyfus-Prozesses, die Überwindung des Klerikalismus, die völlige Durchführung der von Ferry begonnenen, dann unter Méline und ähnlichen Kabinettspräsidenten allmählich beiseite geschobenen Reformpolitik. Ohne diese Kräfte hätte der klerikalisierte Generalstab Boisdeffres nicht überwunden werden können, ohne sie hätte Waldeck-Rousseau die Gegner der Republik nicht gebändigt, ohne sie 119 hätte Combes nicht die Klöster zu schließen vermocht. Paris und seine meisten Blätter waren in den Händen des nationalistischen Klerikalismus, aber die Linksparteien beherrschten fast überall das Land, die Provinz. Seit Méline gestürzt worden war, gab es in Frankreich keine Ministerien der Rechten mehr. Der Volksschullehrer hatte gesiegt und die Republik mit einem neuen Geiste erfüllt. Gegen ihn, gegen seine Beschützer, die Freimaurerlogen, und gegen seine Wegweiser, die Intellektuellen der Universitäten, richtete sich der klerikale Zorn. Gegen das geistige Erbe Renans erhob sich in Barrès der Geist der »Tradition«.

Diese Volksschullehrer, die mit Verehrung auf Jaurès blickten, und diese Intellektuellen, die zur »Ligue des Droits de l'homme« hielten, waren für Frieden und Völkerversöhnung und wurden deshalb schlechte Patrioten genannt. Man darf nicht einwenden, daß die französischen Schulbücher manchmal überpatriotisch und voll von Revanche-Patriotismus geblieben seien. Erstens waren die Schulbücher überall, ganz besonders auch in Deutschland, staatliche Mittel zur Verhinderung des Denkens, und außerdem wurden die französischen Schulbücher meistens von Leuten angefertigt, denen die Schablone heilig war. Der chauvinistische Patriotismus blieb auf dem Papier oder hatte doch, wenn er sich hörbar machte, nicht mehr den alten Klang. Für die intellektuelle Demokratie waren nicht die schreibenden Lieblinge der Salons, nicht die konservativen Akademiker die echten Vertreter des französischen Geistes, der französischen Literatur. Ihre Führer und Lieblinge waren Zola, Mirbeau, Anatole France, die Brüder Paul und Victor Margueritte und Lucien Descaves. Die ganz rücksichtslos über alle Traditionen hinwegspringenden Bilderstürmer, die in der Monatsschrift »Mercure de France« sich sammelten, drückten ihre Ideen nur einem begrenzten Kreise auf. Denjenigen, die nicht zur engeren Tafelrunde gehörten, mußte es zu weit gehen, wenn Rémy de Gourmont, der Führer dieser Gruppe, schrieb: »Ich persönlich gebe für diese vergessenen Provinzen« – Elsaß-Lothringen – »weder den kleinen Finger meiner Rechten, denn er stützt meine Hand beim 120 Schreiben, noch den kleinen Finger meiner Linken, denn ich schlage damit die Asche von meiner Zigarette ab.« Aber sie fanden ihre eigene Geistesstimmung ausgedrückt durch die auf den Irrwahn hinunterlächelnde skeptische Philosophie, die vorurteilsfreie Weltliebe, die antimilitaristische Seelenfeinheit und die gegen Phrasen gewappnete Vernunft jenes Monsieur Bergeret, den, im »Orme du Mail« und im »Mannequin d'Osier«, der letzte herrliche Nachgeborene aus der rein blühenden Periode des Griechentumes, Anatole France, unter den Bäumen wandelnd und zwischen Bücherregalen den Sinn der Dinge wägen ließ. »Die Verirrungen der modernen Kriege«, sagt Monsieur Bergeret in einem der Gespräche, die er mit seinen Mitbürgern führt, »werden dynastisches Interesse, Nationalitäten, europäisches Gleichgewicht, Ehre genannt . . . Wenn wirklich noch eine Ehre in den Völkern vorhanden ist, dann ist es ein merkwürdiges Mittel, sie dadurch aufrechtzuerhalten, daß man Krieg führt, das heißt alle Verbrechen begeht, durch die ein Privatmann sich entehren würde: Brandstiftung, Raub, Schändung und Mord.« Auch Guy de Maupassant hatte nicht nur die preußischen Sieger, die mit ihren galanten Bedürfnissen zu Mademoiselle Fifi kommen, sondern unterschiedslos das ganze Militärgewerbe gehaßt. »Die Kriegsmänner«, hatte er in »Sur l'Eau« geschrieben, »sind die Geißeln der Welt.« Er hatte gezeigt, wie die Menschheit gegen die Natur, gegen die Unwissenheit, gegen Hindernisse aller Art ankämpft, um ihrem elenden Leben etwas von seiner Härte zu nehmen, und wie Wohltäter und Gelehrte sich aufreiben, um den leidenden Brüdern Hilfe zu bringen. Dann kommt der Krieg »und in sechs Monaten haben die Generäle zwanzig Jahre voll Mühen, Geduld und Genie zerstört«. Mit Für und Wider, militaristisch und antimilitaristisch, aber entschlossener und mehr innerlich bewegt als die deutschen, faßten die französischen Schriftsteller das Problem des Massenmordens und des soldatischen Denkverzichtes an. Die deutsche Literatur schlich lange daran vorbei.

Zu den Mutigen und Helläugigen gehörten die Brüder Paul und Victor Margueritte. Sie waren die Söhne des Generals 121 Margueritte, der 1870, heroisch an der Spitze seiner Kavalleriedivision vorstürmend, bei Sedan fiel. In vier Romanbänden, unter dem Gesamttitel »Une époque«, schilderten sie die Ereignisse der Jahre 1870 und 1871, von »Le Désastre« bis »La Commune«, mit großer Gestaltungskraft. Ihr Werk lehrte den Segen der friedlichen Arbeit und der Völkerverständigung. Im November 1904 veröffentlichten sie in der »Dépèche de Toulouse« zwei Artikel, in denen sie darauf hinwiesen, daß der elsaß-lothringische Landesausschuß den Wunsch ausgesprochen habe, Elsaß-Lothringen in einen autonomen Bundesstaat, gleich den anderen deutschen Bundesstaaten, verwandelt zu sehen. Sie schlossen daraus, die verlorenen Provinzen wünschten eine Zurückeroberung durch Frankreich nicht mehr. Maurice Barrès, Nationalist und Traditionalist, protestierte in der »Patrie«. Die Brüder antworteten: »Sie können nicht die Gewißheit, die Unleugbarkeit dieser Tatsache bestreiten: Elsaß-Lothringen, das uns liebt und das wir lieben, will nicht, daß man es gewaltsam zurückgewinnt«

In dem nationalistischen Propagandabuche »Les jeunes gens d'aujourdhui« von Agathon, das 1913 erschien und die geistige Wandelung der jungen Franzosen darstellte, hieß es: »Der Pessimismus war das Kennzeichen der Generation, die gegen 1885 ins Mannesalter trat.« Die ganze Literatur, aus der die Jugend sich nährte, von den »Fleurs du Mal« Baudelaires und »Madame Bovary« bis zu Huysmans' »Arebours«, habe Lebensmüdigkeit, Gleichgültigkeit, Mutlosigkeit gelehrt. »Es war eine geopferte Generation. Sie kam nach der des zweiten Kaiserreiches, die sich in ihrem militaristischen Stolze und ihrem wissenschaftlichen Kredo stark fühlte und 1870 besiegt wurde, und die ganze Last der Niederlage ruhte auf ihr.« Das Buch sollte zeigen, daß die furchtbare Wunde der Niederlage nicht sofort, sondern erst Jahre nach dem Kriege fühlbar geworden sei. Dann habe die Entmutigung bei einem verzweifelten Idealismus ihre Zuflucht, die wirkliche Ohnmacht Trost in dem Traum einer idealen Macht gesucht. Dieses Bild, das der nationalistische Agathon – ein Pseudonym für zwei Verfasser – so entwirft, entspricht 122 der Wahrheit nicht ganz. Es war doch ein merkbarer Unterschied zwischen dem Geschlecht, das nach der napoleonischen »épopée« gelangweilt und wie enterbt herumging und keine Verwendung für seine Kraft fand – dem »Enfant du Siècle« Mussets –, und dem späteren Geschlechte, das vor 1900 auf dem Schauplatze erschien. Diese Jugend wurde zwischen altem Glauben und neuem hin und her geworfen, aber nicht alle in ihr waren matt oder in einem Augenblicksgenuß befangen, und viele hatten einen streitbaren, kämpferischen Geist. Der Sozialismus hatte nicht nur traditionelle Meinungen erschüttert, sondern auch eine Offensivstimmung erzeugt, die Melancholie, die aus den Büchern der früheren Periode lau hervorwehte, war aggressiven Tönen gewichen, und die Energie des Muskelidealismus wurde durch die Energie des Gedankens ersetzt.

Ein Vorfall, der sich damals begab, kann beweisen, daß um 1900 die Pariser Studentenschaft zum mindesten nicht übermäßig chauvinistisch, sondern eher bereit zu einer Verständigung mit der deutschen Jugend war. Die Leipziger Studenten hatten den Plan gefaßt, in Paris vor ihren französischen Kommilitonen die »Räuber« aufzuführen, und ihr Spielleiter bat mich, mein Möglichstes zur Unterstützung dieser Absicht zu tun. Ich befragte Ernest Lavisse, den Historiker, der mehr als irgendein anderer die Verehrung der Studierenden und Einfluß nach allen Seiten hin besaß. Lavisse, damals noch nicht von antideutscher Leidenschaft verwirrt und verblendet – obgleich er von Verzicht auf Elsaß-Lothringen nie etwas hätte wissen wollen –, fand die Idee ausgezeichnet und versprach sofort, sich an die Spitze eines Empfangskomitees zu stellen. Dann sprach ich mit dem Ausschuß der Pariser Studentenschaft und diese jungen Männer nahmen den Vorschlag mit Enthusiasmus auf. Kein »patriotisches« Bedenken wurde geäußert oder auch nur angedeutet, und alle Einzelheiten für einen kameradschaftlichen Empfang wurden festgesetzt. Der Plan kam nicht zur Ausführung, weil das Auswärtige Amt in Berlin sich, abwinkend, an den Rektor der Leipziger Universität wandte, der schließlich die Reise verbot. Der Pariser 123 Studentenausschuß war verstimmt, und Lavisse schüttelte den Kopf.

Wie wurde diese geistige Bewegung nun dort bemerkbar, wo die Politik Frankreichs gemacht wurde, wie wirkte sie auf Parlament und Presse ein? Ich habe schon gesagt, daß dort nur Einzelkämpfer vor die Reihen traten, und daß es, wenigstens rechts von der sozialistischen Gruppe, keine Geschlossenheit gab. Schon bei den benachbarten Sozialistisch-Radikalen wurde zwar Beifall gespendet, wenn Jaurès redete, aber irgendeine direkte Unterstützung seines Handelns zeigte sich nicht. Caillaux war noch ein unbekannter Debütant. Es gab auch auf der Linken sehr heftigen Gegendruck, der besonders von Clémenceau ausging, zuerst nur von dem Journalisten Clémenceau und dann, als der Unermüdliche glücklich wieder in die Kammer gelangt war, ebenso von dem Parlamentarier, und die Dreyfus-Affäre schuf also, indem sie den alten Klopffechter wieder an die Oberfläche brachte, der Versöhnungskampagne auch ein Hindernis. Immer erschien Clémenceau auf dem Platze, sobald die Vorstöße der Versöhnungsfreunde ein wenig kräftig wurden, und die rechtsrepublikanische Presse, unter Führung des »Temps«, zu dem soeben André Tardieu vom »Figaro« hinübergesiedelt war, stellte sich dann mehr oder minder neben ihn. Bei den Sozialisten, den Intellektuellen, den Radikalen der jungen Generation spielte die Unpopularität des Bündnisses mit dem Zarismus eine große Rolle, und auch für weniger entschiedene Elemente hatte die Allianz längst nicht mehr den alten Reiz. Viele Pariser Blätter aber waren empfänglich für die Rubel, die das Zarentum ihnen damals schon durch seinen Finanzagenten Raffalowitsch und durch andere Vermittler darreichen ließ, und Clémenceau sah, wenn er einmal wirklich nicht nur auf das »Loch in den Vogesen« blickte, nur nach England hin. Als ich, einige Jahre später, im November 1906, von Paris fortging, legte mir Clémenceau, nun Ministerpräsident, bei einem Abschiedsbesuche, den ich ihm machte, seine angeblich einzig wahren Ansichten dar. Er sagte, daß vor der Marokko-Affäre viele Franzosen eine Annäherung gewünscht hätten, und fügte 124 hinzu: »Ich gebe gern zu, daß Ihr Kaiser viel dazu beigetragen hat.« Dann sei, obgleich die Franzosen Delcassé beseitigt hätten, die deutsche Presse über Frankreich hergefallen und habe sogar erklärt, Deutschland werde sich in Frankreich die Milliarden holen, die zum Kriege mit England nötig seien. »So hat man während dieser Affäre all das Terrain verloren, das in den Jahren vorher hier gewonnen worden ist.« Er sagte weiter: »Ich will keinen Krieg, und wenn man keinen Krieg will, so will man gute Beziehungen, und wenn diese Beziehungen zu wünschen übriglassen, so will man sie bessern, das ist mein état d'esprit. Um einen Krieg zu wünschen, müßte man übrigens geradezu von Sinnen sein. Weil wir so denken, haben wir Delcassé gestürzt, der zwar auch den Krieg nicht wollte, dessen Politik aber gefährlich schien. Es wäre uns auch ganz unmöglich, eine Kriegspolitik zu treiben, denn das Parlament würde uns sofort wegjagen, wie man es mit Delcassé gemacht hat, und das ganze Volk wäre gegen uns.« Clémenceau konnte behaupten, daß er keine Kriegspolitik mache, aber er machte doch schließlich eine Politik, die auch der Sicherung des Friedens nicht förderlich war. Zu den Leuten, die vor der Marokko-Affäre »eine Annäherung an Deutschland für wünschenswert hielten«, hatte er jedenfalls nicht gehört.

Ich greife aus den Artikeln, die er dieser Frage widmete, eine einzelne Perle heraus. Als nach der Niederlage der Engländer bei Ladysmith besonders zahlreiche nationalistische Publizisten die Verständigung mit Deutschland forderten, schrieb am 4. November 1899 Clémenceau in der »Aurore«: »Der ›Eclair‹ verkündet uns, Rußland würde ›nicht mit unfreundlichen Augen‹ einen Verständigungsversuch zwischen Frankreich und Deutschland auf dem Terrain der kolonialen Interessen sehen. Ich glaube das ohne weiteres, denn die französisch-russische Allianz war von seiten Rußlands als Vorwort zu einer Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland auf der Basis des statuts quo gedacht. Unsere Revanchegegner sind so weit gekommen, daß sie die Revanche nicht mehr gegen diejenigen, die uns ein Stück unseres Vaterlandes entrissen haben, richten wollen, sondern 125 gegen unsere glücklicheren Rivalen in der Kolonialpolitik. Man wagt zu schreiben: ›Straßburg oder Kairo?‹ und es scheint, daß diejenigen, die zu Straßburg halten, schlechte Patrioten sind. Wilhelm II. ergreift, um uns zu schmeicheln, jede Gelegenheit. Bleiben wir mißtrauisch und werfen wir uns vor allem den Leuten nicht an den Hals! Man hat leider schon allzuviel Torheiten über die Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland gesagt. Man hat in München eine ›Französisch-deutsche Revue‹ expreß für die Verbreitung solcher Schwärmereien gegründet, und ich sehe mit Verwunderung, daß mancher unserer berufsmäßigen Politiker zu den Teilnehmern dieses seltsamen Unternehmens gehört.« Daß Clémenceau den von Cassagnac, Judet, Millevoye und anderen Freunden Boulangers und Déroulèdes entworfenen Plan eines deutsch-französisch-russischen Feldzuges gegen England verwarf, war vernünftig, und auch die Berliner Regierung gab sich solchen Phantasien nicht hin. Aber man bemerke, daß Clémenceau ganz im allgemeinen die Annäherungspropaganda für eine »Torheit« hielt. Durch Hervorhebung seiner Äußerungen darf indessen nicht der Eindruck entstehen, als habe gerade seine Stimme damals ein besonderes Gewicht gehabt. Andere hatten in dieser Zeit mehr Einfluß als Clémenceau, der, wenn er auch schon wieder in den Vordergrund gelangte, doch noch immer ein wenig abseits stand.

Jaurès führte seinen Kampf für die Aussöhnung von der Tribüne, die er sich in der »Petite République«, dem sozialistischen Parteiorgan, geschaffen hatte, und von der Rednertribüne in der Kammer aus. Am 5. Dezember 1901 schrieb er in der »Petite République«, daß Frankreich »ohne Hintergedanken jede Idee an eine militärische Revanche aufgeben« müsse, denn »wir haben schon allzulange in der Zweideutigkeit, der Ohnmacht und der Lüge gelebt.« Am 25. Januar 1902: »Nein, ich sage es klar heraus, wir haben nicht das Recht, die elsaß-lothringische Frage als ein dauerndes Prinzip des möglichen Krieges, des Mißtrauens und der Beunruhigung in der Welt bestehen zu lassen . . . Alles, was aus dem Frieden etwas Gebrechliches und 126 Provisorisches macht, das man nur in der Erwartung des Besseren hinnimmt, steht mit dem Rechte in Widerspruch.« Am 28. Januar führte er aus, Bismarck habe den Dreibund nur geschaffen, um den Frieden zu sichern, und Deutschland habe seit 1870 »keiner Versuchung nachgegeben, sich in keinerlei Abenteuer gestürzt.« Einer der Hauptgründe für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa sei gewesen, »daß Deutschland ihn wollte«, und auch Frankreich wolle ihn und müsse nur »die Parade- und Lügenphrasen der Revanche abschütteln, unter denen es sich und anderen seine wahren Gedanken verbirgt.« Am 23. November, als der nicht ganz trinkfeste, schon etwas altersschwache Marineminister Pelletan an einer Bankettafel die »deutsche Barbarei von 1870« erwähnte und dann der Ministerpräsident Combes diese »in der Bankettwärme entstandene rhetorische Figur« ironisch verurteilt hatte, feierte Jaurès »das große Deutschland, das von Luther bis zu Lessing, von Goethe bis zu Wagner und Virchow ruhmvoll den höchsten Ideen gedient hat«, und fuhr dann fort: »Man mache ein Ende mit dieser Pseudorevanche, von der Frankreich nichts mehr wissen will! . . . Die ganze Politik der Revanche ist nur noch eine »rhetorische Figur«.

Im nächsten Jahre, 1903, wurde die Frage der »Revanche« zweimal in der Deputiertenkammer in großen und bewegten Debatten berührt. In der Sitzung vom 22. Januar 1903 sprach Jaurès mit hinreißendem Schwung, mit seiner tiefen, warmleuchtenden Menschlichkeit und seiner leidenschaftlichen Überzeugungskraft über dieses Problem. Diese Rede enthielt Sätze, aus denen sich zu späteren Ereignissen, zu den Ereignissen des Sommers 1914, ein Faden hinüberwebt. Es ist nicht überflüssig, einige Redestellen nach dem Sitzungsbericht wiederzugeben, der im »Journal officiel« erschien. Jaurès sprach von den »zwei großen Bündnissystemen, die einander in Schach halten, einander bewachen«, und darum zu Bürgschaften für den Frieden geworden seien. Als er die Meinung aussprach, diese beiden Bündnissysteme, »die zunächst in dumpfer Feindseligkeit und Mißtrauen gegeneinander gerichtet waren«, würden »sich allmählich im Sinne 127 des Friedens entwickeln, gemeinsame Besprechungen und Annäherungen herbeiführen und so nach und nach als eine vorläufige Organisation Europas erscheinen, als Vorbereitung und Entwurf zu einem weiteren Bündnis, zu dem europäischen Bündnis für die Arbeit und den Frieden«, erhielt er von der äußersten Linken und der Linken lebhaften Beifall und von rechts protestierende Zurufe, die bei seinen Worten zunahmen: »Und ebensowenig wie der Dreibund in seiner Gesamtheit hat seit dreißig Jahren Deutschland gegen uns einen Angriffsplan gehegt.« Dann sprach er von dem französisch-russischen Bündnis, nannte es einen großen Fehler, »Frankreich so auf Gnade und Ungnade dem auszuliefern, der nur ein Alliierter sein durfte,« und wandte sich, unter dem steigenden Beifall der Linken, gegen seinen Vorredner Deschanel. »Ich will nicht um Worte streiten, aber als Herr Deschanel sagte, Rußland habe durch seine loyale Umarmung das Herz Frankreichs wieder erwärmt, fragte ich mich, ob das Herz unseres Landes so sehr durch die Kälte der Furcht oder des Todes vereist gewesen sei«. Herrn Ribot, der den Bündnisvertrag unterzeichnet hatte, hielt er vor: »Sie scheinen mir, indem Sie der Allianz diese heilende und stärkende Kraft zusprechen, sonderbar zu vergessen, Herr Ribot, daß von 1870–1892, also zweiundzwanzig Jahre lang, Frankreich ohne Erniedrigung, ohne Abdankung, ohne Schwächeanfall (stürmischer Beifall links und Rufe: »Das ist die Wahrheit!«) . . . Sie scheinen zu vergessen, daß es in dieser Periode, wo es Ihrer Meinung nach allen Zufällen und allen Beunruhigungen ausgesetzt war, seine Finanzen und seine Armee wieder herstellen, die republikanische Freiheit endgültig organisieren und sich ein Kolonialreich schaffen konnte, das Sie seit der französisch-russischen Allianz nicht in dem Maße vergrößert haben, wie es vergrößert wurde, bevor Ihnen der Abschluß dieses Bündnisses gelang. Und bedenken Sie wohl, meine Herren, daß diese Periode unseres Lebens, die nicht unter dem Schutze der französisch-russischen Allianz stand, gerade die schwierigste Periode war und unmittelbar auf den Zusammenbruch folgte, wo alles wieder aufgebaut werden mußte, 128 und daß die Allianz, die uns retten sollte, erst kam, als man sah, daß Frankreich durch sich selber gerettet war.«

Im letzten Teile der Rede sprach Jaurès die Forderung, auf alle Revanchegedanken zu verzichten, in Sätzen von hinreißender Schönheit aus. Niemals hatte diese große Glocke reiner und voller zum Aufblick gemahnt. »Meine Herren, Frankreich bedarf einer brutalen und wüsten Revanche nicht. Ah, wenn es vor zweiunddreißig Jahren in diesen tragischen Tagen sich selbst aufgegeben hätte, wenn es nicht der Welt und sich selber das volle Maß seines Mutes gezeigt hätte, dann könnte es vielleicht die Notwendigkeit empfinden, den Kampf wieder zu beginnen, um sich in seinen eigenen Augen wieder zu erhöhen! Aber Frankreich braucht dieses neue Zeugnis nicht. Es ist besiegt worden, nicht gedemütigt und nicht in Erniedrigung verfallen. (Beifall auf der äußersten Linken und links.) Es hat bis zum letzten Atemzuge gerungen, hat seinen Heroismus und sein Blut verschwenderisch hingegeben, hat alle seine Söhne zum verzweifelten Widerstande vereinigt, von den Royalisten des Westens bis zu den revolutionären Blanquisten, die in Paris mit den Sturmglocken verkündeten: Das Vaterland ist in Gefahr! Es hat den Kampf über die von der Weisheit gezogene Grenze hinaus fortgesetzt. Es hat noch mehr getan: es hat nicht nur diese Kraft des Elans gehabt, zu der seine ganze Geschichte und sein Genie es hinweisen, es hat, unter dem anfeuernden und organisierenden Zuruf Gambettas, die lange Zähigkeit im endlosen Jammer des Mißgeschickes, die Festigkeit der den Stolz überlebenden Hoffnung, die stets sich erneuernde, das Unglück überragende Willensstärke gehabt. Es hat in dem plötzlichen Emporsteigen der Republik eine wunderbare Erneuerung der nationalen Energie gefunden (Stürmischer, immer erneuter Beifall auf der äußersten Linken und links), den Stolz eines verwundeten Volkes, das in seinem wiedergefundenen Ideal die Kraft zum Leben und Siegen schöpft, den Stolz des verwundeten Adlers, der von der Sonne die Kraft zu weiterem Schweben begehrt. (Stürmischer Beifall auf denselben Bänken.) Nein, es bedarf keiner neuen historischen Zeugnisse 129 für seinen Heroismus und seinen Mut. Und wenn es ihm morgen gefällt, in weitblickendem Verständnis der Zukunft und des Rechtes in den großen Menschheitsfrieden einzutreten, so schleppt es nicht die Last demütigender Erinnerungen hinter sich her. Selbst wenn die Kämpfe von 1870, wie wir es hoffen und wie wir es wollen, die letzten Kämpfe zwischen Frankreich und Deutschland bleiben werden, strahlen sie einen solchen Heroismus aus, daß wir ohne Bedenken über dieser schmerzlichen, aber großen Seite das verhaßte Buch des Krieges schließen können.«

Ich erinnere mich noch genau dieser Sitzung, dieser Rede, des geröteten bärtigen Gesichtes, der starken, gedrungenen Gestalt, der breiten Geste, der Stimme, die beim Lesen solcher Sätze allen, die Jaurès gehört haben, im Gedächtnis wieder ertönt. Aber fast noch bedeutsamer als die Worte selbst – denn die Ideen Jaurès' standen schon fest – war die Tatsache, daß diesmal die Linke, die republikanische Kammermehrheit, mit Ausnahme der alten, oder auf die alte Routine eingeschworenen Traditionspolitiker, diese Rede, die den Verzicht auf kriegerische Revanche verkündete, von Satz zu Satz mit lautem, oft mit endlosem, stürmischem Beifall unterbrach. Ohne Zweifel, das Genie des Redners, die großartige Kraft seiner Bilder und Perioden rissen im Augenblick manchen, der auch auf die Gegenseite hinüberschwanken konnte, mit fort, aber es kam doch etwas aus dem Inneren heraus, es war doch etwas Verborgenes erweckt. Die sonst behutsam zurückgehaltene Überzeugung drängte nach oben, durchbrach für einen Augenblick die äußere Hülle der Konvention.

Als Berichterstatter der Kommission für auswärtige Angelegenheiten sprach am 24. November 1903 in der Kammer Francis de Pressensé. Er war unter allen französischen Publizisten der solideste Kenner der internationalen Politik. Einschaltend möchte ich bemerken, daß im französischen Journalismus nach 1870 wenigstens einige Persönlichkeiten sich mit einer Gründlichkeit auf das Studium auswärtiger Fragen und Entwickelungen verlegten, die in Deutschland spärlicher zu finden war. Die Masse der Boulevardschreiber 130 behalf sich mit Phrasen, im Ministerium des Äußern und in den Redaktionsbureaus des »Temps« und der »Débats« aber wurden Daten und Tatsachen ungemein fleißig aufbewahrt, eingegliedert und verwertet, und man traf jetzt vielleicht mehr bei deutschen Politikern jene Unkenntnis des Auslandes, die bis zum Jahre 1870 nur für eine französische Eigentümlichkeit galt. Pressensé forderte in der Sitzung vom 24. November die französische Regierung auf, die Initiative zu einer allgemeinen Abrüstung zu ergreifen, und wurde dabei durch Zurufe Marcel Sembats und der ganzen äußersten Linken und durch Reden Jaurès' und des Sozialistisch-Radikalen Hubbard unterstützt. Der Minister des Äußern Delcassé und die ehemaligen Minister Etienne und Georges Leygues äußerten die üblichen Friedenswünsche, wiesen aber den Gedanken, daß Frankreich die Abrüstung beantragen sollte, natürlich wie etwas völlig Unmögliches und Törichtes zurück. Als Pressensé sagte, in Frankreich »wolle niemand die Revanche, und niemand habe sie jemals gewollt«, fühlten Rechte, Zentrum und Altradikale sich in ihren patriotischen Gefühlen verletzt. Bei der Abstimmung gehörte Briand zu der Minorität, die sich für den Abrüstungsantrag Hubbards zusammenfand. Clémenceau zeigte in der »Aurore« wieder seine unversöhnliche Seele und wandte sich gegen die Behauptung, niemand habe die Revanche gewollt. Pressensé antwortete am 26. November in der »Aurore« in einem offenen Briefe, in dem es hieß: »Keiner von denen, die von Revanche sprechen, hat jemals daran gedacht, ich sage nicht einmal, sie herbeizuführen, sondern auch nur die Gelegenheit dazu zu ergreifen, wenn sie sich bot. Jedesmal, wenn der Krieg sich am Horizonte zeigte, haben alle zur Verjagung des Gespenstes ihr Möglichstes getan.« Der »Temps« und alle, die im nationalistischen Geiste handelten und wandelten, waren noch mehrere Tage lang empört. Aber René Viviani, damals ein ehrgeiziger Anfänger, schrieb in der »Aurore«: »Siebzig Stimmen haben sich auf den Antrag vereinigt, schufen ihm eine Mauer unerschütterlicher Überzeugungen gegenüber einer zusammengewürfelten Schar. Siebzig Stimmen – wir haben, vor zehn Jahren, 131 schlimmere Zeiten gekannt. Unser mutiger Freund Pressensé, der durch seine Kultur, seinen Charakter und sein Talent unserer Partei zur Zierde gereicht, hat laut gesagt, was leise viele denken, die unter den Schmährufern gewesen sind. Wie viele dieser eleganten Tribünenhelden gestehen nach einem köstlichen Diner, in der angenehmen Salonatmosphäre, lächelnd ein, daß die Revanche unmöglich ist!«

Ich habe durch die wechselnde Wiedergabe der verschiedenen Stimmen zu zeigen versucht, wie die Meinungen hin und her wogten, alles noch ungeklärt durcheinander floß. Aber vielleicht ergibt sich aus diesen Gegenüberstellungen doch, daß die Flut des neuen Geistes höher stieg. Man, konnte um 1900 mit Frankreich in ein Verhältnis kommen, das beiden Völkern gestattete, in friedlichem Verkehr nebeneinander zu leben, und dort, wo die Gelegenheit; sich bot, gemeinsam zum Ausgleich oder zur Vereinigung ihrer Interessen tätig zu sein. Ein deutsch-französisches Bündnis war, wohl noch für lange Zeit, nicht möglich, und es war auch nicht nötig, wenn man nur – und das hatte Bismarck nach dem Kriege erstrebt – gemeinsame Zwecke und Ziele in den Vordergrund schob. Man konnte sich mit den Franzosen zu einzelnen politischen Aufgaben vereinigen, beide Nationen konnten dabei ihren Nutzen finden, und der größere, politische Nutzen hätte sich allmählich vielleicht, ganz ohne Nachhilfe, eingestellt. Das französische Publikum hätte eine solche Politik mit äußerer Kühle und mit innerlicher Befriedigung angenommen – gemessen, zurückhaltend, ohne sich etwas zu vergeben, und in Wahrheit von einem Albdruck befreit. André Tardieu, der auch damals kein »Pazifist«, sondern ein aufstrebender Geschäftspolitiker war und in Jaurès nur einen unpraktischen, gefährlichen Schwärmer sah, schrieb in seinem Buche über den Fürsten Bülow, zwischen Frankreich und Deutschland sei eine von der Vernunft dirigierte »gesetzmäßige Korrektheit« möglich und wünschenswert. »Um lebensfähig zu sein, darf sie weder von der einen noch von der anderen Seite das Opfer der Überlieferungen und Erinnerungen, der Anhänglichkeiten und der Klagen, der Freuden und der Kümmernisse verlangen.« Sie 132 dürfe ihr Ziel nicht zu weit, noch zu hoch stecken, müsse sich mit beschränkten Gewinnen und örtlichen Vorteilen begnügen, müsse sich davor hüten, sentimental oder ehrsüchtig zu sein. Sie müsse hervorgehen aus »gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme in der täglichen Beobachtung einer höflichen Gleichmäßigkeit«. Im Jahre 1909, als Tardieu so die Möglichkeiten umgrenzte, sah die Welt, sah besonders auch Frankreich ganz anders als im Jahre 1900 aus. Die historische Stunde war versäumt, und es ist mir zweifelhaft, ob auch nur der »gesetzmäßigen Korrektheit« jetzt ein dauernder Bestand zu sichern war. Damals, um 1900, als noch nicht die nationale Leidenschaft sich wieder gegen uns richtete, neue Affären noch nicht neues Mißtrauen und neue Erbitterung geschaffen hatten, Frankreich noch nicht hoffte, sich auf England stützen zu können, hätte man sich gewiß zunächst auch mit Korrektheit und »beschränkten Gewinnen« begnügen müssen, aber weitere Wege waren nicht versperrt. Man konnte zuschauen und schrittweise vorwärtsgehen.

Die neuen Generationen, die schon den politischen Schauplatz erobert hatten und dort ihre Macht immer mehr festigten, drängten dahin. Ich habe neben Jaurès Briand, Marcel Sembat und Viviani erwähnt – Parlamentarier, die im Emporsteigen waren, denen die künftige Führerschaft schon gesichert schien. Sie alle wußten, daß die Politik der deutsch-französischen Annäherung sich auf die Volksstimmung stützen konnte, sie alle glaubten, daß dieser Politik die Zukunft gehöre, sie alle hielten sie für notwendig und ausführbar, sie alle richteten sich darauf ein. Gerade weil nicht nur ehrliche Idealisten, wie Jaurès, sondern auch »Arrivisten«, wie Briand und Viviani, Leute, die vor allem hinauf gelangen wollten und auf die Windrichtung blickten, für die Versöhnungspolitik eintraten, konnte sie nicht ganz aussichtslos sein. Man konnte diesen Weg einschlagen, den Weg zur vorläufigen, rein geschäftlichen Verständigung mit Frankreich, und dazu war nur nötig, daß man die Veränderung, die in Frankreich vorgegangen war, sah und begriff. Dazu war nötig, daß man nicht jede Äußerung, in der noch der Revanchegedanke aufflackerte, ungeheuer wichtig nahm, und 133 nicht jede dieser Phrasen in deutschen Blättern, von denen viele ebenso chauvinistisch wie die Boulevardpresse waren, gereizt beantwortete und unterstrich. Dazu war nötig, daß man ruhig, konsequent, ohne Plötzlichkeiten, ohne Übertreibungen, ohne Hin- und Herspringen die gerade Linie verfolgte, daß man nicht Umarmungen erwartete, und daß man nicht, nach dem ersten Anlauf, gleich wieder in Enttäuschung und Verstimmung verfiel. Dazu war nötig, daß man jenen Männern und Parteien in Frankreich, die auf die Annäherung hinarbeiteten, nach dem Rezepte Bismarcks politische Erfolge dort, wo es ging, erleichterte, daß man sie nicht in den Augen ihrer Landsleute diskreditierte, daß man ohne Aufdringlichkeit seine eigene Politik parallel mit der ihrigen gehen ließ. Dazu war nötig, daß man nach all den Kränzen und schönen Worten, die aus dem kaiserlichen Füllhorn bei feierlichen Gelegenheiten hervorströmten, auch die Gelegenheit zu praktischer Zusammenarbeit erkannte, suchte und fand. Nirgends sind Komplimente ohne sachliche Beigabe am ersten Tage so willkommen und am zweiten Tage so verfehlt wie in dem Lande, wo das Wort des Kalchas »Blumen, nichts als Blumen« von der Offenbachbühne bis zu den obersten Galeriereihen drang.

Man konnte diesen Weg einschlagen und mußte ihn dann einschlagen, wenn man die – sicherlich aussichtsvollere – Verständigung mit England, die Chamberlain erstrebt hatte, zurückwies, bis ins Endlose große Schlachtschiffe bauen wollte, die »Weltpolitik« und ein Reich, »so maßgebend, wie es einst das römische Weltreich war«, mit lautem Rufe verkündete, die Flottenprofessoren und die »nationalen« Parteiredner offen vom künftigen Kriege gegen England sprechen ließ. Man mußte sich sagen – und hatte es ja aus dem Munde der englischen Staatsmänner selbst vernommen –, daß England nun bestrebt sein werde, die Anlehnung an Frankreich zu suchen, den Beistand Frankreichs zu gewinnen und mit Opfern, mit Zugeständnissen, ohne Kleinlichlichkeit den Haß auszulöschen, der in Frankreich gegen alles Englische bestand. Man mußte sich sagen, daß Frankreich und England unweigerlich, unvermeidlich sich einander 134 anschließen würden, wenn wir uns nicht rechtzeitig dazu aufrafften, mit dem einen oder dem anderen zu gehen. Die deutschfeindliche Gruppe stand lauernd hinter den Büschen, bearbeitete von London aus Paris, von Paris aus London, von Petersburg aus die beiden anderen Lager, sah mit Mißvergnügen die stetige Ausbreitung der Ideen, die einer Annäherung Frankreichs an Deutschland günstig waren, und hoffte nur noch auf die Fehltritte der Berliner Politik. Wer in Paris lebte, hatte nur die wenig geschickten Reden Chamberlains gelesen und ahnte nicht, daß die englische Regierung der deutschen beharrlich ein Bündnis angeboten hatte, und daß sich dort für uns eine weite Aussicht erschloß. Niemand ahnte, daß die deutsche Regierung von London aus siebenmal klar und aufrichtig auf das Unausbleibliche einer englisch-französischen Einigung aufmerksam gemacht worden war. Auch dann, wenn man in Berlin Chamberlains und Lansdownes Vorschläge angenommen und sich mit England verständigt hätte, wäre es immer noch empfehlenswert gewesen, gleichzeitig die Beziehungen mit Frankreich möglichst zu entgiften – denn je besser wir mit Frankreich standen, desto stärker und unabhängiger konnte in einem Bündnis mit England die Stellung Deutschlands sein. Wenn man aber die englischen Bündnisanträge ablehnte, mußte der Versuch, Frankreich durch kluge Geschäfte von England fernzuhalten, unbedingt gemacht werden, und auch ein scheinbares Zugeständnis, wie die für uns selbst nützliche Autonomie für Elsaß-Lothringen, war als sentimentale Beigabe empfehlenswert.

Es war, wie für unser Verhältnis zu England, für die Gestaltung der deutsch-französischen Frage der letzte nutzbare Augenblick. Bereits arbeiteten in Frankreich auch Kreise, die nicht chauvinistische Gesinnung, nicht unerschütterlicher Deutschenhaß bei all ihren Handlungen leitete, auf die Aussöhnung mit England hin. Noch vor dem Ende des alten Jahrhunderts hatte ein Buch von Edmond Demoulins »A quoi tient la superiorité des Anglo-Saxons« – dem ein Buch von Léon Balzagette »A quoi tient l'inferiorité française« antwortete – Vergleiche gezogen und Gedanken vorgetragen, 135 in denen eine hohe Anerkennung des englischen Wesens lag. Noch wichtiger wurde ein Buch von Jean Finot, »Français et Anglais«, das den Nachweis versuchte, daß Franzosen und Engländer in ihrem geistigen und ihrem wirtschaftlichen Leben sehr viel einander verdankten und aufeinander angewiesen seien. Finot, der die Allianz mit Rußland nicht liebte, wünschte, über eine französisch-englische Verständigung zu den »Vereinigten Staaten von Europa« zu gelangen. Einstweilen rechnete er dem französischen Publikum vor, daß England alljährlich ungefähr 1800 Millionen Francs nach Frankreich bringe, und daß die französische Landwirtschaft ihren besten Kunden verlöre, wenn die Engländer aufhören wollten, für 230 Millionen Francs Gemüse, Früchte und Wein aus der Normandie, der Bretagne und der Champagne zu beziehen. Dieses waren Stimmen eines nationalökonomischen Pazifismus, der, indem er die Freundschaft mit England suchte, nicht auf Feindschaft mit Deutschland sann. Eine kriegstreibende Kamorra behandelte das Problem auf andere Art. Im Februar 1903 wurde von dem »Matin« Herr Stéphane Lauzanne nach London geschickt. Dieser junge Mann berichtete seinen Lesern, daß das englische Volk die Franzosen liebe und die Deutschen verachte, und suchte dann, wie der Schüler den Meister, Herrn Harmsworth auf. Herr Harmsworth, der noch nicht Lord Northcliffe geworden war und vorläufig nur die »Daily Mail« mit seinem Geiste erfüllte, sagte ihm: »Ja, wir hassen die Deutschen, wir hassen sie von Herzen und sie machen sich in ganz Europa verhaßt. Ich würde in meinem Blatte nichts dulden, was heute Frankreich verletzen könnte, aber ich würde nicht gern etwas gedruckt sehen, was geeignet wäre, den Deutschen zu gefallen . . . Es ist unser Schicksal, daß wir uns, Franzosen und Engländer, unangenehme Dinge sagen, aber Haß gibt es zwischen uns nicht . . . Dagegen scheint es, daß mit Deutschland die Sache anders liegt. Der Volkssturm tobt vielleicht noch nicht durch das Vereinigte Königreich. Aber der Wind, der ihn entfesseln muß, erhebt sich bereits am Horizont.«

136 Die Haltung der deutschen Regierung in der Dreyfus-Affäre kann denjenigen nicht gefallen, die auch in der Politik einen gewissen Idealismus und einige allgemeine moralische Grundsätze gewahrt wissen wollen. Ebensowenig denjenigen, die das Moralische ganz beiseite lassen und nur bedacht auf das Zweckmäßige sind. Wenn der deutsche Militärattaché Major von Schwartzkoppen dem Botschafter Grafen Münster die Wahrheit über seine Beziehungen zu Esterhazy gesagt hätte, so hätte man den Hauptmann Dreyfus wahrscheinlich nicht auf der Teufelsinsel eingesperrt. Als Dreyfus verhaftet worden war, hatte Münster den Militärattaché, dem er jeden Verkehr mit französischen Offizieren verboten hatte, sofort über die Angelegenheit befragt, und Herr von Schwartzkoppen hatte ihn mit der Antwort beruhigt, Dreyfus sei ihm unbekannt. Infolgedessen erklärte Münster, der von Schwartzkoppens Verkehr mit Esterhazy nichts ahnte, dem Präsidenten der Republik, Casimier-Perier, daß alles, was über Spionageverbindungen der deutschen Botschaft gesagt werde, erlogen sei. Casimier-Perier und die französische Regierung, die darüber unterrichtet waren, daß man aus dem schlecht bewachten Papierkorb des Herrn von Schwartzkoppen den »bordereau«, das verräterische Schriftstück, entwendet hatte, sahen in dem Schritt des deutschen Botschafters nichts als eine bedeutungslose diplomatische Formalität. Über den militärischen Ehrenstandpunkt des Herrn von Schwartzkoppen äußerte sich der vornehm und reinlich empfindende alte Münster in den späteren Tagen offen und schonungslos. Herr von Schwartzkoppen, ohne Blumenstrauß aus der Botschaft abgeschoben, wurde in Berlin befördert und schließlich für die Duldung mancher Unannehmlichkeiten mit dem Generalsrange belohnt. Auch wenn man weiß, auf welches Spiel der Militärattaché sich seinem Botschafter gegenüber eingelassen hatte, ersieht man mit einiger Verblüffung aus den Akten, daß er in einem Berichte an das Auswärtige Amt harmlos versicherte: »Was den Fall Dreyfus selbst betrifft, so ist es mir in den zwei Jahren, die seit dem Vorfall verflossen sind, nicht gelungen, irgendeine Aufklärung für denselben zu erhalten«, und daß er, wie jemand, 137 der sich lange vergeblich den Kopf zerbrochen hat, hinzufügte, die ganze Angelegenheit sei »sehr mysteriös«. Seine militärischen Vorgesetzten weihte er wahrscheinlich in diese Mysterien ein. Wilhelm II. hatte, wie er in Randbemerkungen betonte, an die Schuld des Dreyfus niemals geglaubt. Als der Kassationshof das über Zola verhängte Urteil aufgehoben hatte, war ihm sogar ein »Bravo!« entschlüpft. Trotzdem lehnte der Staatssekretär Bernhard von Bülow es ab, irgendwie die Sache der Gerechtigkeit zu unterstützen, durch mehr als eine nichtssagende Erklärung zur Aufhellung der Schuldfrage beizutragen, und allen Bitten und Beschwörungen Waldeck-Rousseaus wurde mit kühler Staatsmannsmiene immer die gleiche Weigerung entgegengesetzt. Bülow legte seine Auffassung in einer Anweisung an das Auswärtige Amt nieder, in der er sagte, es sei »nicht zu wünschen, daß Frankreich durch eine rasche und eklatante Reparation an Dreyfus sich sofort wieder die liberalen und jüdischen Sympathien« erwerbe, und »am besten ist es, wenn die Affäre weiter schwärt, die Armee zersetzt und Europa skandaliert«. Man nennt das in jenen Kreisen, die nur einen nationalen Himmel anerkennen und den Katechismus nicht über die Grenze mit hinübernehmen, wohl Realpolitik. Es war keine sehr gute Realpolitik, denn die Dreyfus-Affäre hörte doch bald auf zu schwären und Europa zu skandalieren, und wir hatten die Gelegenheit, auf billige Manier uns die siegreiche Partei zu verpflichten, überklug versäumt. Psychologie wurde in Deutschland von gründlichen Fachmännern gelehrt. Sehr bald zeigte sich deutlicher und weit folgenreicher als in der Dreyfus-Episode, daß man in der politischen Werkstatt dieses Studium entbehrlich fand.

Warum wurde, wenn man das Bündnisangebot Englands unter den Bureautisch fallen ließ, nicht der Versuch gemacht, die Kräfte der Versöhnung zu stärken, die es in Frankreich gab? Vor allem auch deshalb, weil man sie nicht sah. Man kannte den Boulevard, aber wie viele kannten das Volk? Hatten die Diplomaten mit aufmerksamem Auge in die komplizierten Verwebungen des Volksgeistes hineingesehen, dem Laufe der Bäche, aus denen die Flüsse werden, 138 nachgeforscht? Bülow, der so verständnisvoll die französische Literatur zu genießen weiß, hatte eine kurze Zeit als Botschaftsrat in Paris gelebt, die Salons und viele geistreiche Leute kennengelernt. Er kannte die Politiker der älteren Generationen, Publizisten wie Francis Charmes, aber wohl weniger das, was sich in der Volkstiefe regte und, diesen Personen der Pariser Gesellschaft selbst unverständlich, im Kampfe gegen den nationalen Klerikalismus plötzlich in die Höhe stieß. Für Bewegungen, die mit sozialistischen, radikalen Ideen durchsetzt waren, hatte er keine besondere Empfänglichkeit. Die Volksschule interessierte ihn weniger als die Akademie. Er schätzte, seiner Natur und seiner Begabung folgend, die Dinge auch vor allem nach ihrer diplomatischen Bedeutung ab. Es ist kein Paradox, wenn man sagt, daß er manches übersehen habe, weil er ein zu brillanter Diplomat gewesen sei. Herr von Holstein aber hatte sich, wie für die Beurteilung Englands, einen »Grundsatz« zurechtgemacht. »Mit Frankreich«, dozierte er, zufrieden lächelnd, »werden wir verhandeln können, wenn es den Frankfurter Frieden anerkannt haben wird.« Damit war der Fall Frankreich für ihn abgetan. Mit dieser abgerundeten Maxime ging er stolz und glücklich herum. 139

 


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