Theodor Wolff
Das Vorspiel
Theodor Wolff

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II

Der Kehricht, der täglich auf so viele Wahrheiten geworfen wird, hat lange die Tatsache überdeckt, daß Bismarck ein Bündnis mit England gewünscht, und daß er zur Verwirklichung dieses Wunsches mancherlei Versuche unternommen hat. Durch die englandfeindliche Sprache seines letzten Alltagsorgans, der ganz russifizierten »Hamburger Nachrichten«, durch die Äußerungen des selbstbewußten Herbert und durch den aufgeregten Albionhaß sogenannter Bismarckianer ist die Erkenntnis lange getrübt worden, aber die aus der Verborgenheit hervorgeholten Dokumente haben jedem Zweifel ein Ende gemacht. Die diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes zeigen, wie Bismarck diesen Bündnisgedanken allmählich formte, als nach dem Berliner Kongreß sein Vertrauen auf eine Dauer der russischen Freundschaft stark vermindert worden war. In seinem realpolitischen Opportunismus hielt er sich indessen nicht an eine bestimmte Linie, es gab Perioden des Stillstandes und Zeiten der Schwankungen, die Idee stieg und fiel in ihm, und dieses Steigen und Fallen hing jedesmal nicht nur von dem Betragen der Russen, sondern auch von seinem Urteil über die englischen Regierungen und einzelne Engländer ab. Als er am 31. August 1879 in seinem Briefe an Wilhelm I. den Abschluß eines Bündnisses mit Österreich forderte, äußerte er die Ansicht, »an dieses Bündnis der beiden mitteleuropäischen Kaiserreiche würde England dann sehr gern eine feste Anlehnung nehmen« und »die einstweilen zunächst liegende Gefahr einer russisch-französischen Allianz gegen uns würde damit auch, soweit menschliche Kräfte reichen, beschworen sein«. Er ist dann später immer bestrebt gewesen, England, Österreich und Italien zusammenzubringen und 48 zusammenzuhalten, und im Hintergrunde stand, bald mehr und bald minder scharf umrissen, die Absicht, über diese Brücke zur deutsch-englischen Verbindung zu gelangen. Da das Ziel all seiner Politik nach 1871 war, sich friedensichernde Bündnisse zu schaffen und zugleich Kriege, in denen Deutschland hätte Partei ergreifen müssen, zu verhindern, so suchte er auch die Konflikte zwischen England und Frankreich und zwischen England und Rußland stets friedlich auszugleichen, und die Beseitigung der englisch-russischen Konfliktsgefahr im April 1885, die ihm freilich von den Militärpolitikern verübelt wurde, war in hohem Maße sein Werk. Im Jahre 1876 hatte er den Gedanken formuliert, daß England, um sich für die russischen Erfolge zu entschädigen, Suez und Alexandrien besetzen und so, statt den Russen den Krieg zu erklären, auf Kosten der Türkei den Frieden Europas erhalten sollte, und ebenso sprach er, nach einem amtlichen Bericht, im November des gleichen Jahres zu dem in Berlin weilenden Lord Salisbury. Er ließ auch im April 1877 dem Botschafter in London, dem Grafen Münster, mitteilen, er habe »sich schon vor Jahr und Tag dahin ausgesprochen, daß England sich Ägyptens versichern müsse«, und es ist nicht ganz verständlich, daß er am 15. April 1885, als Lord Granville im Oberhause von diesen Anerbietungen gesprochen hatte, sehr bestimmt erklärte: »Auch dem früheren englischen Kabinett gegenüber habe ich mich niemals in einem Sinne geäußert, welcher als Rat ausgelegt werden könnte, Ägypten zu nehmen«, und sogar bemerkte, er habe »niemals Andeutungen« in diesem Sinne gemacht. Sein mehrfach bekundeter Plan war, durch die ägyptische Frage England und Frankreich auseinander zu manövrieren, wobei immer betont werden muß, daß er jeder gefährlichen Zuspitzung des Streites vorzubeugen suchte und sich mitunter sogar von einer englisch-französischen Annäherung günstige Wirkungen versprach. Wenn in England die Liberalen Gladstone und Granville am Ruder waren, denen er »gänzlichen Mangel politischen Verständnisses« vorwarf und die am »französischen Leitseil« hingen, oder wenn England die berechtigten Kolonialansprüche Deutschlands – die Ansprüche der 49 »Kolonial-Jingos« beurteilte er selber abfällig – mit kavaliermäßigem Hochmut behandelte, unterstützte er den französischen Standpunkt in der ägyptischen Angelegenheit. Dem Grafen Münster wurde dann, mit nicht geringem Tadel für zuviel Zurückhaltung, der Befehl erteilt, der englischen Regierung klarzumachen, daß dieser den Franzosen gewährte Beistand die nötige Folge der englischen Unfreundlichkeiten sei. Als 1882 wieder ein Ministerium Gladstone regierte, beklagte Bismarck, »daß ein so bedeutender und sicherer Faktor, wie England es früher in Europa war, in Fortfall kommt«. Sein Vertrauen wuchs jedesmal wieder, sobald Salisbury die Regierung übernahm.

Am 27. September 1879 berichtete Münster, Lord Beaconsfield habe ihm gesagt, England müsse und wolle Alliierte haben, die von Cobden herrührende Politik der Nichtintervention sei unpraktisch, und er wäre mit Freuden bereit, auf eine Allianz mit Deutschland einzugehen. Bismarck hatte eine Auskunft darüber gewünscht, was England tun würde, wenn Deutschland nach einer Unterstützung der englisch-österreichischen Orientpolitik mit Rußland in Händel geriete, und war der Ansicht, die Äußerung Beaconsfields lasse dieses aktuelle Thema ungeklärt. Darauf beantwortete Salisbury dem Grafen Münster gegenüber die Frage, ob England in einem deutsch-russischen Kriege zu Deutschland stehen und sich am Kriege beteiligen würde, »mit einem entschiedenen Ja«. Diese Besprechungen, in denen Salisbury eine englisch-deutsch-österreichische Allianz als Ziel seiner Wünsche bezeichnete, hatten keine weiteren Folgen, da der Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses Rußland nicht zu feindseliger Haltung veranlaßte, 1881 das »Dreikaiser-Bündnis« die österreichisch-russische Gegnerschaft, allerdings nur sehr äußerlich, übertünchte und Bismarck eine Verbindung mit England nun überflüssig und störend fand. Im September 1882 schrieb der Kronprinz Friedrich Wilhelm an Bismarck, sein Schwager, der Prinz von Wales, habe ihm mitgeteilt, daß man in den politischen Kreisen Englands »ein engeres und vertrauteres Verhältnis zu Deutschland zu finden« wünsche, und er fügte hinzu, man sei nach seinen 50 Informationen in England bereit, einem Bündnis mit Deutschland und Österreich eine »weitgehende Ausdehnung« zu verleihen. Bismarck, dem kronprinzliche Ratschläge nie behagten, und der den Faden zu Rußland nicht zerreißen lassen wollte, tadelte in seiner Antwort zwar die »heftige Parteinahme eines großen Teiles der deutschen Presse gegen England«, sprach aber die Meinung aus, eine positive Unterstützung der englischen Wünsche würde uns in Feindschaft mit Rußland verwickeln und zugleich den Verdacht nähren, Deutschland wolle England und Frankreich miteinander entzweien. Der Prinz von Wales erklärte auch im September 1884 dem nach London gereisten Grafen Herbert Bismarck, er »erstrebe eine wirkliche und dauernde Allianz mit Deutschland«, die allein für England förderlich sei. Chamberlain nannte das Verhalten der liberalen englischen Minister, die den Deutschen in Südafrika Schwierigkeiten machten und so die Herstellung einer englisch-deutschen Freundschaft vereitelten, »geradezu verrückt«. All das blieb ohne Resultat. Inzwischen bliesen diejenigen Kreise in England, die kein Zusammengehen mit Deutschland, sondern eine antideutsche Verständigung mit Rußland und Frankreich wollten, vielerlei Feuer an. Als im Mai 1885 aus Anlaß des russisch-englischen Konfliktes über Afghanistan die »Times« behauptete, Deutschland wünsche, daß es zu einem Kriege zwischen England und Rußland komme, entwickelte Bismarck in einem Schreiben an Wilhelm I. die leitenden Grundsätze seiner Politik. Er erklärte, daß Deutschland kein Interesse daran habe, Rußland von Asien zurückzuhalten, denn für die unbeschäftigte »und in schlechten Friedensgarnisonen sich langweilende russische Armee würde sonst Beschäftigung an der Westgrenze« gesucht werden, und zeigte weiter die Gefahr eines englisch-russischen Bündnisses, das ebenso von Gladstone erstrebt werde, wie von der panslawistischen Partei. »Käme diese englisch-russische Allianz zustande, mit ihrer angeblich christlichen und antitürkischen, in der Tat panslawistischen und radikalen Richtung, so wäre derselben die Möglichkeit gegeben, sich jederzeit nach Bedürfnis durch Frankreich zu verstärken, wenn die russisch-englische 51 Politik bei Deutschland Widerstand fände, es wäre die Basis für eine Koalition gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht gegenübertreten kann.« Obgleich so für Deutschland die Versuchung sehr nahe läge, zwischen Rußland und England feindselige Verhältnisse herbeizuführen, habe die deutsche Politik dem Anreiz gewissenhaft widerstanden und nichts für die Förderung der Kriegsaussichten getan.

Im Juli 1885 wurde Gladstone gestürzt, und Salisbury bildete wieder das Kabinett. Salisbury erklärte sogleich dem Grafen Münster, er werde alles tun, was er könne, um wieder ein freundschaftliches Verhältnis zu Deutschland herzustellen. Am 5. Dezember berichtete Graf Hatzfeldt, der nun Botschafter in London geworden war, über eine Unterredung mit Lord Randolph Churchill, dem Staatssekretär für Indien, der dringend für eine Allianz mit Deutschland plädiert und geäußert habe: »A nous deux nous pourrions gouverner le monde.« Bismarck schrieb an den Rand: »Reicht nicht«, und sagte in einem Briefe an Hatzfeldt, notwendig sei Österreich als dritte Macht. Außerdem könne ein dauerndes Bündnis mit England nur durch ein Gesetz garantiert werden, und dafür werde die Zustimmung des Parlamentes schwerlich zu haben sein. Ende Januar 1886 kam mit einem neuen Kabinett Gladstone neue Entfremdung, Ende Juli mit einem neuen Kabinett Salisbury neues Vertrauen. Hatzfeldt erklärte, »dieser Staatsmann, dem die Größe seines Landes am Herzen liegt«, wäre zum Anschluß an Deutschland bereit. Über Sansibar und Samoa gab es indessen auch mit Salisbury Auseinandersetzungen, und da die Engländer sich schwerhörig stellten, sprach Bismarck laut. Nach dem üblichen Hin und Her wurden die Dinge arrangiert. Dann folgten die Verhandlungen für den Abschluß einer Entente zwischen England, Italien und Österreich, in denen Bismarck, oft ärgerlich über England, das Österreich nur gegen Rußland »anputschen« wolle, die drei unablässig vorwärtstrieb. In einer Aufzeichnung vom 27. November 1886 stellte Bismarck, im Laufe dieser Erörterungen, das Prinzip auf, Deutschland werde »genötigt sein, Österreich nicht nur von derartigem Widerstand gegen 52 Rußland abzuraten, sondern auch durch jedes anwendbare Mittel zu entmutigen«, solange mit der Möglichkeit, daß es von England im Stiche gelassen werden würde, zu rechnen sei. In demselben Dokument heißt es, jede ernste Gefahr, die England durch Frankreich drohen würde, würde uns heute so gut in den Kampf ziehen wie bei Waterloo. Als Bismarck England, Italien und Österreich unter ein Dach gebracht hatte, hielt er es für möglich – und angesichts der panslawistischen Rührigkeit für nötig –, einen Schritt weiterzugehen. Der Kronprinz Friedrich war rettungslos erkrankt, Salisbury hatte in einer Unterredung mit Hatzfeldt sich sorgenvoll über die Zukunft geäußert, auf die »lebhaften russischen Sympathien« des – übrigens damals gerade antirussisch gesinnten – Prinzen Wilhelm hingewiesen und irgendwelche Zusagen gewünscht. Bismarck bemerkte am Rande: »Wir können uns nicht auf Rußlands Liebe allein verlassen, nach allem, was seit 1878 vorgegangen ist.« Er schrieb am 22. November 1887 an Salisbury jenen sorgfältig ausgearbeiteten und gefeilten Brief, der nicht, wie man gesagt hat, ein Bündnisangebot war, wohl aber dem Kenner als ein diplomatisches Freimaurerzeichen erschien. »A ce point de vue la politique allemande sera toujours obligée à entrer en ligne de combat, si l'indépendance de l'Autriche-Hongrie était menacée par une agression russe, ou si l'Angleterre ou l'Italie risquaient d'être entamées par des armées françaises.« Wenn Salisbury einen gleichwertigen Satz niedergeschrieben, die gleiche Verpflichtung für den Fall eines französischen Angriffes auf Deutschland übernommen hätte, so hätten zum Bündnisvertrage nur noch die Formalitäten gefehlt. Aber Salisbury wich aus. Sein Antwortbrief war nicht kalt und nicht warm. Bismarck, immer stärker von der russischen Unzuverlässigkeit überzeugt und einen russisch-österreichischen Zusammenstoß voraussehend, klopfte einige Zeit später abermals und kräftiger an. Im Januar 1889 versuchte er, entweder das englische Jawort oder doch Klarheit zu erlangen. »Ew. P. P.«, schrieb er an Hatzfeldt, »habe ich bei Ihrer Anwesenheit in Friedrichsruh ersucht, die nächste Gelegenheit vertraulicher Besprechung mit Lord Salisbury zu benutzen, um demselben 53 meine Überzeugung auszusprechen, daß der Friede, der England und Deutschland gleichmäßig erwünscht ist, oder auch nur die Frist, in welcher sie ihre Bewaffnung der Größe der Gefahren der nächsten Kriege entsprechend herzustellen vermögen, nicht sicherer erreicht werden könne als durch den Abschluß eines Vertrages zwischen Deutschland und England, durch welchen beide Mächte sich für einen begrenzten Zeitraum zu gemeinschaftlicher Abwehr eines französischen Angriffes auf einen von beiden verpflichten. Ein geheimer Vertrag, wenn er möglich wäre, würde beiden Mächten erhebliche Sicherheit für den Ausgang eines solchen Krieges gewähren, die Verhinderung desselben aber würde nur von dem öffentlichen Abschluß erwartet werden können . . . Mein Gedanke ist der, daß, wenn Seine Majestät es genehmigt, zwischen der englischen und der deutschen Regierung ein Vertrag abgeschlossen werden sollte, durch welchen beide sich zu gegenseitigem Beistande verpflichten, wenn Frankreich im Laufe der nächsten ein, zwei oder drei Jahre je nach Befinden einen der beiden angreifen sollte, und daß dieser Vertrag, der für das Deutsche Reich auch ohne Parlamentsbeschluß bindend sein würde, dem Englischen Parlament zur Genehmigung vorgelegt und dem Deutschen Reichstag öffentlich mitgeteilt würde . . . Ich ersuche aus diesem Grunde Ew. P. P., Lord Salisbury einstweilen in meinem Namen die Frage zu stellen, ob er es nach den Interessen Englands und nach denen seiner eigenen Regierung, auf deren Dauer ich den höchsten Wert lege, für möglich hält, dem oben angeregten Gedanken näherzutreten, indem er die Maßgebenden unter seinen Freunden über dessen Ausführbarkeit vorsichtig sondiert.« Hatzfeldt berichtete am 25. März, er habe mit Salisbury »über die Möglichkeit einer geheimen oder öffentlichen deutsch-englischen Allianz« gesprochen, und Salisbury habe der Ansicht, daß eine solche Allianz »das Heilsamste für beide Länder und für den europäischen Frieden sein würde«, durchaus zugestimmt. Aber Salisbury habe hinzugefügt, Lord Hartington und seine Kollegen seien mit ihm der Meinung, daß die Ausführung der Idee den Zerfall der parlamentarischen Majorität und den 54 Sturz des Ministeriums verursachen würde, und er halte weitere Schritte darum für »inopportun«.

Graf Münster, der von 1873 bis 1885 deutscher Botschafter in London war, hat in einem Briefe an den Freiherrn von Eckardstein noch von anderen Bemühungen Bismarcks erzählt. Obgleich die Akten des Auswärtigen Amtes über diese Bemühungen nichts enthalten, ist die Darstellung des gar nicht phantastischen Münster schwerlich nur ein Produkt der Phantasie. »Ich weiß es ja, Bismarck hat von jeher ein Bündnis mit England haben wollen. Da er es aber nicht haben konnte, war er bei seinem cholerischen Temperament zeitweise sehr gegen England aufgebracht. Als Lothar Bucher im Auftrage Bismarcks 1875 plötzlich in geheimer Mission in London erschien, um die Möglichkeit eines englischen Bündnisses mit mir zu erörtern, riet ich ihm dringend ab, irgendwelche Schritte in dieser Richtung zu unternehmen, weil ich genau wußte, daß England damals nicht bündnisreif war. Trotzdem erfolgten Schritte, und Lothar Bucher holte sich einen ordentlichen Korb.« Freiherr Lucius von Ballhausen, Landwirtschaftsminister unter Bismarck, hat in seinen »Erinnerungen« den Verlauf einer Ministerratssitzung aufgezeichnet, in der, am 17. August 1889, Bismarck über die politische Lage sprach. Bismarck berichtete, daß er dem Kaiser von Österreich bei seinem Besuche in Berlin gesagt habe: »Das ganze Ziel und Objekt der deutschen Politik seit zehn Jahren sei, England für den Dreibund zu gewinnen.« Der deutsche »Kolonialschwindel« störe die Kreise »tölpelhaft«. Er werde »Ostafrika und Samoa ganz fallen lassen« und den Konsul Knappe, der einen Konflikt mit den Engländern heraufbeschworen hatte, müsse man gerichtlich belangen. Wenn die Nationalliberalen, die schon damals sich an alldeutschen Redensarten schwer bezechten, ihn deswegen in ihren »wohlgesinnten Zeitungen« angriffen, so sei ihm das gleich. Das Verhältnis zu England müsse ihm wichtiger als der nationalliberale Herr von Cuny sein.

Über den Wünschen, Plänen und Bemühungen, die auf die Schaffung eines deutsch-englischen Bündnisses hinausgingen, stand schon in den Tagen Bismarcks ein 55 Unglücksstern. Man kann an die Worte Kleists denken, dem »bald der Wein und bald der Becher« fehlt. Wenn Beaconsfield und Salisbury von Allianz sprachen, ging Bismarck, Rußlands wegen, an der Frage vorbei. Wenn Bismarck ein Angebot machte, fanden Salisbury und seine Kollegen es inopportun. Jeder machte, sobald seine politischen Interessen es erforderten, einen Schritt vorwärts, und, sobald sich die Lage verschoben hatte, einen Schritt zurück. Auf beiden Seiten bestand der Wunsch, aber nie wollte der eine, wenn der andere willig war. Schloß Salisbury im Jahre 1889 nur deshalb den Vertrag nicht ab, weil Bismarck so sehr auf das öffentliche Verfahren und die Zustimmung des englischen Parlamentes drang? Bismarck wollte nicht nur durch ein öffentliches Bündnis die Franzosen von kriegerischen Gelüsten zurückhalten – er befürchtete, daß im entscheidenden Moment die englischen Liberalen regieren und dann den Vertrag verwerfen könnten, und nur ein Parlamentsbeschluß, der die abwechselnd herrschenden Parteien gebunden hätte, schien ihm eine hinreichende Garantie. Aber er hat auch die Idee einer geheimen Abmachung, vielleicht als vorläufigen Notbehelf, keineswegs aus der Erörterung ausgeschlossen, und trotzdem hat diese Möglichkeit in dem Gespräche Hatzfeldts und Salisburys anscheinend gar keine Rolle gespielt. Hat der kluge Hatzfeldt, als er die Abneigung gegen ein öffentliches Bündnis bemerkte, nicht das leichter zu erreichende Ziel verfolgt? Über allen Unklarheiten, die übrigbleiben, steht klar das eine, daß Bismarck das Bündnis mit England suchte, als das Dreibundsystem die Sicherheit Deutschlands nicht mehr verbürgte, das auseinanderfließende Österreich als Stütze nicht mehr genügte, die panslawistische Bedrohung wuchs. Er handelte nicht immer konsequent, aber nationalen Antipathien, völkischen Theorien und kleinbürgerlicher Neidhaftigkeit gestattete er keinen Einlaß in seinen Gedankenkreis.

Wahrscheinlich hatte Graf Münster richtig gesehen: trotz Beaconsfield, Churchill und Salisbury war England in den Tagen Bismarcks noch nicht bündnisreif. Auf dem Wege vom Wunsch zur Verwirklichung hätte sich immer ein 56 Hindernis eingestellt. Salisbury hielt im Grunde seines aristokratischen Herzens noch an der Splendid Isolation fest. Später hat er einmal erzählt, daß er einen Wunsch des Zaren Alexander III., mit ihm ein Neutralitätsabkommen für den Fall eines russisch-deutschen Krieges abzuschließen, ebenso »dilatorisch« beantwortet habe, wie die Vorschläge Bismarcks, da damals »die Politik der freien Hand« für England noch Leitstern und Richtschnur gewesen sei. Frei, selbstbewußt in seiner Macht, aufragend aus den Meeren, wollte England abseits von allen Bündnissen und Vereinbarungen der anderen Nationen stehen. Das war die politische Poesie Englands und seiner Staatsmänner – in einsamer Majestät und unnahbar den Freiern, wie die jungfräuliche Königin Elisabeth. Immer nur zur Erreichung eines bestimmten Zieles, in einem besonderen Notfalle und für kurze Frist hatte das moderne England sich mit den anderen Völkern vereint. Zuerst nur ungern hatte Pitt an der Koalition teilgenommen, die von dem alten Europa das Überfluten der französischen Revolution und die Eroberungslust der französischen Konvents-Strategen abwehren sollte, und als es Napoleon nach St. Helena geschafft hatte, war England möglichst schnell zu jener Unnahbarkeit, in der nach vollbrachtem Tagewerk die Löwen wandeln, zurückgekehrt. Warum hatte das England Pitts sich zum Kriege gegen den Konvent aufgerafft? Weil im Konvent die Einverleibung Belgiens beschlossen, den nach Belgien geschickten Kommissaren durch das Dekret vom 15. Dezember 1793 unbeschränkte Allgewalt übertragen worden war. Es verstand sich »von selbst, daß England sein Wort und sein Schwert einlegen würde, sobald Frankreich sich offen zur Besitznahme Belgiens anschickte«, sagt im 3. Bande seiner »Geschichte der Revolutionszeit« der deutsche Historiker Heinrich von Sybel, und er nannte Belgien Englands »empfindlichsten Punkt«. »Klugheit und Bundespflicht, Vergangenheit und Zukunft forderten mit gleicher Stärke, das europäische Gleichgewicht am wenigsten in Belgien antasten zu lassen«, fügt er hinzu. Die Splendid Isolation war das poetische Ideal. Das europäische Gleichgewicht war die reale Sicherheit.

57 In all jenen Geschichten, die vom alldeutschen Geiste durchtränkt oder doch berührt sind, und in all den Büchern und Flugschriften, die das deutsche Volk für die Flottenbauten begeistern sollten, ist immer sehr stark und häufig mit heftiger Klage betont worden, seit 1876 habe die englische Politik scheelsüchtig und intrigant gegen Deutschland gearbeitet, die öffentliche Meinung Englands allem, was aus Deutschland kam, eine aus Hochmut und Konkurrenzneid entstandene Abneigung gezeigt. Es ist nur natürlich, daß auch Herr von Tirpitz das sagt. Zweifellos haben die Engländer das gewaltige Wachstum der deutschen Macht und des deutschen Handels nicht ohne Verdruß und nicht ohne Beunruhigung gesehen. Auch wenn man jene Clique, die gemeinsam mit Franzosen und besonders mit Russen in London lange vor der »Einkreisung« gegen Deutschland wühlte, ganz beiseiteläßt, bleibt die Tatsache, daß der breitschultrige, mit derben Ellbogen sich durchdrängende und in schweren Stiefeln auftretende Emporkömmling den alten Reichtum ärgerte, und daß man, gänzlich erfolglos, mit dem »Made in Germany« den Kampf gegen die deutsche Warenüberschwemmung unternahm. Es braucht nicht bewiesen zu werden, daß die Engländer als staatliche Gesamtheit hart gesotten und mit dem Tugendspiegel in der Hand zweifelhafte Heilige sind. Nur infolge gemeinsamer Selbstüberschätzung halten sich alle Nationen für fehlerfrei. Aber noch in den ersten Regierungsjahren Wilhelms II. waren die Beziehungen zwischen Deutschland und England herzlich und ungetrübt. Wilhelm II. erhielt im Jahre 1889 den Titel eines englischen Flottenadmirals, der Prinz von Wales betonte bei dieser Gelegenheit in einer Tischrede die gemeinsame Friedensaufgabe der englischen Flotte und des deutschen Heeres, der englische Geschäftsträger in Berlin konnte bei einem Feste der Gardedragoner sagen, Deutschland und England seien durch die ältesten Bande der Stammesgemeinschaft vereint und »von den frühesten Anfängen ihrer nationalen Existenz in fortgesetzter Allianz«. Zutreffend sagt der Tübinger Historiker Haller in seiner Schrift »Die Ära Bülow«, der in die deutschen Gehirne eingehämmerte Glaubenssatz, 58 daß die wirtschaftliche Blüte Deutschlands zu unversöhnlicher politischer Gegnerschaft habe führen müssen, sei falsch. Gerade in der Zeit des »Made in Germany« seien die politischen Beziehungen die denkbar besten gewesen und bei allem Verdruß habe der Engländer die Vorteile, die ihm aus dem zunehmenden Reichtum des deutschen Käufers erwuchsen, niemals verkannt. Wer die französischen Geschichtsbücher, die vor der »Entente cordiale« geschriebenen, durchblättert, findet darin die entrüstete Klage, Lord Salisbury und seine Gefolgschaft und die Vertreter der englischen öffentlichen Meinung hätten eine rücksichtslose antifranzösische und deutschfreundliche Politik gemacht. »Die englische Presse, oder wenigstens ein großer Teil davon«, heißt es in der volkstümlichen »Histoire contemporaine« von Maréchal, »versäumte keine Gelegenheit, um Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien zu schmeicheln, und zeigte gegenüber Frankreich und Rußland ein bemerkenswertes Übelwollen.« Der Franzosenfreund Labouchère regte sich im Unterhause immer wieder über die angeblich einseitige deutschfreundliche Haltung Salisburys auf. »Lord Salisbury«, sagte er am 22. Februar 1888, »hat immer nur seiner Eifersucht gegen Frankreich und seinem Haß gegen Rußland gehorcht.« So verschieden wurden, zumeist nicht ohne Hintergedanken, von den falschen Bismarckianern und von den französischen Mißvergnügten und ihren englischen Anwälten die Dinge dargestellt. In Wahrheit suchte Salisbury, dessen politische Gedanken ganz in der Tradition wurzelten, zwischen den einen und den anderen seinen Weg.

Herr von Holstein hat in einem Briefe einen Schritt Salisburys erwähnt, der sechs Jahre vorher geschehen war. Salisbury habe, versichert Holstein, »eine Teilung der Türkei, das heißt einen großen Kontinentalkrieg, geplant«, Wilhelm II. habe diese Idee »als Reinfall behandelt«; und schroff zurückgewiesen und daraus sei »die Entfremdung« zwischen dem englischen Premierminister und dem Kaiser hervorgegangen. Hammann hat den wirklichen Verlauf der Dinge mitgeteilt. Aus seinen Angaben und aus den amtlichen Dokumenten geht hervor, daß Salisbury mit dem deutschen 59 Botschafter, dem Grafen Hatzfeldt, über die Zustände in der Türkei gesprochen und »für den Fall eines früheren oder späteren Zusammenbruchs der Sultansherrschaft« den Gedanken, den türkischen Besitz unter den Großmächten zu teilen, vorgebracht hat. Hatzfeldt wurde von Berlin aus angewiesen, zu antworten, daß durch Erörterung dieser Fragen die deutsch-russische Freundschaft gefährdet werden könnte, und daß Deutschland abgeneigt sei. Salisbury bemerkte darauf, man könnte Rußland »einen reichlichen Teil an der türkischen Hinterlassenschaft gewähren« und es dadurch zufriedenstellen. Obgleich Salisburys Ideen gar nicht sehr entfernt von manchen Anschauungen Bismarcks waren, kann nicht getadelt werden, daß die deutsche Regierung es ablehnte, auf Besprechungen über eine künftige Teilung der Türkei einzugehen. Das nachbismärckische Deutschland hatte sich bereits sehr entschieden für die Integrität der Türkei eingesetzt. Es hatte die erste Konzession für den Bau der anatolischen Bahnen erhalten, und wenn diese Politik durch zu starres Festhalten, durch Übertreibung und militärische Verschärfung später zu einem schweren Fehler wurde, so lag doch in dem Augenblicke, wo Salisbury sich mit Hatzfeldt aussprach, ein Anlaß, die Auflösung des türkischen Reiches zu beschleunigen, nicht vor. Wenn Deutschland bei der Verteilung ein Stück der Beute erhalten und angenommen hätte – wie hätte es diesen Anteil sichern, wie hätte es unvermeidliche Reibungen und Grenzkonflikte, besonders mit Rußland, vermeiden können, welcher Drache hätte ihm die goldenen Äpfel der Hesperiden bewacht? Es wäre in alle Zwistigkeiten verstrickt worden, und es war fern und die Kosaken waren nebenan. Aber es ist ein Irrtum, wenn man in den Plänen Salisburys, der ja Rußland ebenso wie Deutschland beschenken wollte, ein Bündnisangebot sieht. So weit war es auch 1895 noch nicht.

Jetzt aber nahte der Tag. Die Vereinsamung, die den Inselbürgern eine Lust gewesen war, wurde eine Last. Im Jahre 1898 nahm der Konflikt mit den Buren eine Entwickelung, die den gewaltsamen Zusammenprall vorhersehen ließ. Im Oktober 1899 begann der Krieg in Südafrika. England, das in 60 Transvaal lange glücklos kämpfte, war von der anklagenden Feindschaft der Welt umloht. Noch schlimmer war, daß seine Machtstellung in Asien gefährdet schien. Der russische Einfluß in Persien und in Afghanistan wuchs immer mehr und, breit anschwellend, schob sich der Schatten des Kolosses nach China hinein. Die Russen bemühten sich, die sibirische Bahn schnell, vor der Beendigung des Transvaalkrieges, fertigzustellen, und kümmerten sich nicht um den Einspruch, den England gegen die Besetzung der Mandschurei erhob. In England regte sich die Empfindung, daß man die alten Götter, zu denen man lange gebetet hatte, abschaffen müsse, denn es ging keine schützende Kraft mehr von ihnen aus. Man fühlte das Isolierungsideal schwanken und sah sich nach Bürgschaften um. In der »Fortnightly Review«, der »Saturday Review« und anderen Zeitschriften und Zeitungen wurde immer aufs neue für eine Verständigung mit Rußland und Frankreich, die dann zur Niederwerfung des einzigen und wahren Gegners, Deutschlands, führen sollte, Stimmung gemacht. Der russische Agent Wesselitzki, Londoner Korrespondent der »Nowoje Wremja«, und einige ähnliche dunkle Existenzen arbeiteten gemeinsam mit englischen und französischen Privatpolitikern für diesen Plan. Zu dem Kabinett Salisbury gehörten Chamberlain, Lansdowne, Balfour und der Herzog von Devonshire, der mit einer Deutschen, der Schwester des Kavalleriegenerals von Alten, verheiratet war. Chamberlain, der Herzog von Devonshire und ihr Freund Alfred Rothschild wollten ein Bündnis mit Deutschland, dem Japan und Amerika sich anschließen sollten, und sie gingen – Chamberlain mit heftiger Energie und die beiden anderen mit warmem Herzen – an die Verwirklichung dieses Gedankens, des bismärckischen, heran.

Unbestreitbar gehörte auch in England ein gewisser Mut dazu, sich zu dem Gedanken einer deutsch-englischen Allianz zu bekennen. Ebenso leidenschaftlich wie in Frankreich erhitzte sich in Deutschland die öffentliche Meinung für die Buren, wurden in Deutschland die englischen Eroberer an den Pranger gestellt. Der nach dem Abschluß des Sansibar-Vertrages gegründete Alldeutsche Verband war in 61 diesem Kampfe nur eine Stoßtruppe, ein Sturmbataillon. Alles, was in den Spuren Bismarcks zu wandeln behauptete, folgte hinterdrein. Wilhelm II., der britische Flottenadmiral von 1889, war jetzt in England sehr unbeliebt. Die Worte der Krüger-Depesche waren aus dem englischen Gedächtnis noch nicht ausgelöscht. Man hat viele Jahre hindurch Wilhelm II. für den einzigen Urheber dieser Depesche gehalten, bis dann in einer jener wissenschaftlichen Modereaktionen, von denen einmal sogar Nero und Caligula profitiert haben, alle Schuld auf den Freiherrn von Marschall und den Kolonialdirektor Kayser gehäuft wurde und der Monarch als ein bedauernswertes Opfer erschien. Erst jetzt ist dem zähen Eifer und dem kritischen Scharfsinn Friedrich Thimmes die Ermittelung des wirklichen Tatbestandes gelungen. Indem Thimme sich die Tagebuchaufzeichnungen Marschalls und des Admirals von Senden verschaffte und durch sie das Material ergänzte, das er als Herausgeber der amtlichen Akten durchforscht hatte, befreite er die Wahrheit von dem aufgeklebten Legendenstuck. In jener Konferenz, die am 3. Januar 1896, nach dem Handstreich Jamesons, auf kaiserlichen Befehl im Berliner Schlosse stattfand, trug der zornig aufgeregte Kaiser sehr merkwürdige Ideen vor. Er wollte Transvaal unter deutsches Protektorat stellen – was zu einigen Komplikationen geführt, auch die Buren nicht gerade befriedigt und den Glauben an die Uneigennützigkeit der deutschen Entrüstung erheblich herabgemindert hätte – und wollte Marinebataillone mobilisieren, Truppen nach Transvaal schicken, in Südafrika Schiedsrichter mit geschliffenem Schwerte sein. Die nüchternen Teilnehmer der Konferenz, der Reichskanzler Hohenlohe, Marschall, der Admiral Hollmann und die anderen bemühten sich, ihn aus den Wolken, zu denen er sich verstiegen hatte, herunterzuholen, und Hohenlohe erklärte ihm, man würde so geradewegs zum Kriege mit England kommen. Marschall ergriff einen rettenden Gedanken, den ihm der im Vorzimmer weilende Direktor Kayser zugeflüstert hatte, und regte die Absendung einer Glückwunschdepesche an den Präsidenten Krüger an. Diese Depesche war ein Beruhigungsmittel, ein Zugeständnis, durch das man 62 Wilhelm II. zum Verzicht auf seine Projekte bewog. Man bot der überströmenden Tatkraft als Feld der Betätigung ein Telegraphenformular. Es ist sehr möglich, daß Wilhelm II., der in einem Briefe an seine Großmutter, die Königin Viktoria, die Ereignisse mit liebenswürdiger Sanftmut hinnahm, am Abend des 3. Januar auch die Absendung der Depesche bereute und, in einer sehr vernünftigen Regung, den Pfeil zurückhalten wollte, aber der Pfeil war bereits unterwegs. Gewiß wäre es richtiger gewesen, wenn die kaiserliche Umgebung sich mit der Telegrammbeförderung weniger beeilt hätte, denn sie war doch, auch damals schon, an den bei Wilhelm II. üblichen Wechsel zwischen stürmischem Vorlauf und Umkehr gewohnt. Tirpitz versichert in seinem Buche, er habe die Krüger-Depesche »für bedauerlich und gefährlich« gehalten, denn sie habe eine »weitgehende Verkennung Englands, seiner Macht und unserer Ohnmacht« gezeigt. Aus den von Thimme entdeckten Aufzeichnungen des Admirals von Senden ergibt sich nur, daß Herr von Tirpitz die Jameson-Affäre, wie alle großen und kleinen Zwischenfälle, ausnutzte, um den mit willigem Ohre zuhörenden Kaiser zur Flottenvermehrung zu drängen.

Wilhelm II. hatte auch durch kleinere Kundgebungen, die keine Staatsakte waren, die Empfindlichkeit der Engländer verletzt. Er hatte sich mit manchem Mitglied der königlichen Familie entzweit, den Prinzen von Wales durch Nichtachtung und Hänseleien verärgert, in Cowes bei den Segelregatten, weil er die Dinge besser zu verstehen glaubte und als Lehrmeister auftrat, in den englischen Sportsleuten unfreundliche Empfindungen geweckt. Hinneigung zu englischem Sportbetrieb und englischem Schloßleben und eifersüchtige Verstimmung über den älteren Britenstolz gingen bei ihm durcheinander oder wechselten ab. »Das England des Reichtums, des Wassersports, der prachtvollen Marine, des Hofes und des jetzigen Ministeriums gefällt meinem Sohne sehr wohl,« schrieb, gewiß richtig urteilend, die Kaiserin Friedrich an Henriette Schrader – »das wahre, das innere, das ernste England, seine Bedeutung, seine Kämpfe, seine Ziele kennt er nicht, ebensowenig wie er sein eigenes Deutschland kennt.« 63 Wilhelm II. erschien nun nicht mehr in Cowes. Der Prinz von Wales sprach sich darüber zu dem deutschen Botschaftsrat Freiherrn von Eckardstein, der solche Bemerkungen etwas zu frohlaunig hinnahm, sehr befriedigt aus.

Die Aktion der deutschfreundlichen Gruppe begann am 25. März 1898 im Hause Alfred Rothschilds, wo Balfour, in Vertretung des erkrankten Salisbury Leiter des Foreign Office, anderthalb Stunden lang allein mit dem Botschafter Paul Hatzfeldt zusammensaß und tastend, vorfühlend, über die Möglichkeiten einer Annäherung sprach. Vier Tage später setzte Chamberlain, mit derberer Aufrichtigkeit, dem Botschafter auseinander, England könne die Politik der Isolierung nicht länger aufrechterhalten und wolle ohne Zeitverlust zu einer Beseitigung aller deutsch-englischen Kolonialdifferenzen und zu bindenden Abmachungen mit Deutschland gelangen. Bülow, damals Staatssekretär unter Hohenlohe, empfing die Berichte Hatzfeldts über diese Zusammenkunft und über zahlreiche ähnliche Unterredungen, die sich anschlossen, ziemlich kühl. Er kam, ohne, wie Bismarck, eine geheime Vereinbarung als Provisorium gelten zu lassen, mit dem Einwand, daß man einen Vertrag mit England ohne Ratifikation durch das ganze Parlament nicht schließen könne, und gegenüber der Versicherung Chamberlains, ein solcher Parlamentsbeschluß werde leicht erreichbar sein, bezweifelte er die Geneigtheit der Abgeordneten, denen »die Spottlieder gegen Deutschland und dessen Kaiser noch in den Ohren klingen«. Vielleicht hätte man, wenn in Berlin ernsthaft ein Vertrag gewünscht worden wäre, Hatzfeldt beauftragen können, nähere Informationen über die Stimmung der Parteien einzuziehen. Das mochte für den deutschen Botschafter nicht ganz leicht sein, aber es war nicht schwer für die englischen Minister, und sicherlich hätte sich das Kabinett auch gar nicht ohne solche Erkundigungen auf das parlamentarische Eis hinausgewagt. Bülow argumentierte, scheinbar richtig: wenn das englische Parlament den Vertrag ablehnt, sind wir kompromittiert, mit den Russen verfeindet, ohne englische Rückendeckung, und Rußland wird, um es nicht erst zu neuen deutsch-englischen Annäherungsversuchen kommen 64 zu lassen, bei der ersten Gelegenheit mit französischer Hilfe den Kampf gegen uns beginnen. Das englische Kabinett hatte aber, da ein ablehnendes Votum seinen Sturz bedeutet hätte, auch ein Interesse daran, nur ein sicheres Spiel zu spielen, und das Risiko, das Bülow als sehr groß darstellte, war ziemlich gering. Es wäre für Deutschland schon gefährlich gewesen, die Verhandlungen fortzusetzen, denn die Russen hätten dann sicher etwas gemerkt. Nun, sie brauchten sich nicht sehr anzustrengen, um etwas zu merken, da Wilhelm II. sofort dem Zaren das Geschehene mitteilte und sogar einiges hinzufügte, was nicht geschehen war. Bülow und Wilhelm II. gingen von einer irrtümlichen Voraussetzung aus. England, schrieb Bülow am 3. April an Hatzfeld, werde den Kampf ums Dasein auf die Dauer nicht vermeiden und andere Alliierte als Deutschland dabei nicht finden können. Es müsse, schrieb er am 30. April, erst von der Illusion zurückkommen, »daß es die Wahl der Verbündeten hat«. Das Äußerste, was von unserer Seite geleistet werden könne, sei deshalb, »wenn wir uns bemühen, Herrn Chamberlain den Eindruck zu hinterlassen, daß einer späteren Verständigung keine unüberwindlichen Hindernisse im Wege stehen«. Wilhelm II., in dem die Gedanken durcheinanderwirbelten und, wie die bunten Glasstückchen in einem Guckkasten, jedesmal ein anderes Bild ergaben, verfaßte in Homburg vor der Höhe ein Memorandum über die Annäherungsfrage, das, immerhin in ernsthaftem Tone, gleichfalls die Taktik des Hinhaltens empfahl. Aber wenn Chamberlain die Verhandlungen beschleunigen wollte, wurde der Ton ironisch, burschikos, wie in der neckischen Randbemerkung: »Was hat er denn?« Ohne Einfluß auf die Haltung des Kaisers, und damit auch Bülows, war es sicherlich nicht, daß gerade in diesem Jahre 1898 die erste Flottenvorlage fertiggestellt worden war. Schon schwang sich über diese noch bescheidenen Anfänge die kaiserliche Phantasie ins Weite hinaus.

Am 13. Mai wandte sich Chamberlain in einer Rede in Birmingham sehr entschieden gegen diejenigen englischen Kritiker, denen eine englisch-russische Verständigung über die asiatischen Fragen wünschenswert und leicht erreichbar 65 schien. Ein paar Monate später sagte er in Wakefield, daß die deutschen Freunde nicht denken sollten, man wolle sie für England »die Kastanien aus dem Feuer holen lassen«, und er wies sehr eindringlich auf die englisch-deutsche Interessengemeinschaft hin. Hartnäckig, mit einem oft brüsk hervorstoßenden Eifer, kehrte Chamberlain nach kurzen Pausen immer wieder zu seiner Idee zurück. Ausdauernder als Potiphar, gab er noch nicht nach, als Joseph ihm siebenmal entwich.

Zunächst indessen gab es wieder einen stimmungverderbenden Zwischenfall. Diesmal handelte es sich um Samoa, wo der König Malietoa gestorben, der Präsident Mataafa unter dem Schutze des amerikanischen Oberrichters auf den Thron gesetzt worden, zwischen den Konsuln ein Zank entstanden, zwischen den undiplomatischen Eingeborenen ein allgemeiner Buschkrieg ausgebrochen war. In Berlin wollte man von dieser ziemlich verworrenen Lage profitieren, längst gehegte Teilungswünsche verwirklichen, und man rechnete dabei auf das englische Kabinett. Konnte dieses Kabinett, das ja ein Bündnis mit Deutschland erstrebte, Konzessionen auf Samoa verweigern, wenn man ihm sagte, die Besserung der deutsch-englischen Beziehungen, an deren Endpunkt vielleicht die Allianz stehen werde, hänge von der Lösung der samoanischen Frage ab? Wer die Instruktionen nachliest, die aus dem Auswärtigen Amt an den Botschafter Hatzfeldt ergingen, hat den Eindruck, daß man den Köder mit etwas zu deutlicher Absichtlichkeit hinwarf, das verführerische Argument mit zu sichtbarem Geschäftssinn verwandte, und daß jeder Blinde in London imstande sein mußte, die List zu durchschauen. Die englischen Staatsmänner haben, in ihrer hochmütigen Selbstsicherheit, bisweilen Naivitäten, die zu überflüssigen Schroffheiten führen, aber man kann nicht sagen, die Weigerung Salisburys, Balfours und Chamberlains, die Berliner These hinzunehmen, sei einer Naivität entsprungen. Nachdem die Berliner Regierung soeben die Bündnisvorschläge Chamberlains abgelehnt, Wilhelm II. sie in der irrigen Hoffnung, daß man in Petersburg den Verzicht auf das englische Bündnis gut bezahlen werde, dem Zaren verraten hatte, 66 schrieb Bülow, englische Zugeständnisse auf Samoa würden »von entscheidender und weitreichender Bedeutung für die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und England« sein. Er schrieb auch an Hatzfeldt, durch eine Preisgabe der Inseln Upolu und Savaii würde »die deutsche öffentliche Meinung aufs tiefste erregt werden«, denn diese beiden Inseln seien für sie »ein nationaler Begriff«. Rückblickend finden wir Upolu und Savaii, verglichen mit der Bedeutung einer deutsch-englischen Allianz, etwas klein. Wie weit die Klagen darüber, daß England nichts geben wolle, berechtigt waren, ließe sich nur beurteilen, wenn man die Frage beantworten könnte: welche kolonialen Konzessionen hätte England einem bündnisbereiten Deutschland gemacht? Bülow schrieb ferner am 1. April 1899: »Der Vorfall auf Samoa ist ein neuer Beweis dafür, daß sich überseeische Politik nur mit einer ausreichenden Flottenmacht führen läßt.« Obgleich der Kaiser, aufs höchste zufrieden mit dieser offenbar für ihn berechneten Bemerkung seines Staatssekretärs, hinzufügte: »Was ich seit zehn Jahren den Ochsen von Reichstagsabgeordneten alle Tage gepredigt habe«, wird man einwenden dürfen, daß Frankreich, ohne ausreichende Flottenmacht und nur durch geschickte Ausnutzung der politischen Gelegenheiten, eine sehr erfolgreiche überseeische Politik getrieben hat, und daß ausschlaggebend auch für jede überseeische Entwickelung die Stellung in Europa bleibt. Im Verlaufe des Samoastreites richtete Wilhelm II. an seine Großmutter, die Königin Viktoria, einen ausführlichen Beschwerdebrief. Er erinnerte daran, daß sein Wunsch, die Königin an ihrem achtzigsten Geburtstag zu besuchen, abgelehnt worden sei, und äußerte sich sehr abfällig über Lord Salisbury. Die Großmutter erteilte dem Enkel einen scharfen Verweis. Niemals habe ein Souverän so zu einem andern Souverän gesprochen, niemals habe sie selber sich bei ihren deutschen Verwandten in solchem Tone über Bismarck beklagt. An ihrem achtzigsten Geburtstag sei es ihr nicht möglich gewesen, den Enkel zu empfangen, aber im August würde sie ihn mit Vergnügen in England sehen. Wilhelm II. antwortete, daß er hoffe, sie nach dem 18. Oktober besuchen zu können. In Berlin scheint man 67 geglaubt zu haben, daß in Erwartung des kaiserlichen Besuches die englische Regierung in der samoanischen Angelegenheit nachgiebiger sein werde, und man forderte, vor Ankunft des Gastes, mit doppelter Kraft das Gastgeschenk. Jetzt aber hielt es Hatzfeld für nötig, nachdrücklich zu warnen – er schrieb am 10. Oktober 1899, Chamberlain sei »auch persönlich tief gereizt über unser angebliches Verfahren, ihm gegenüber stets mit neuen Forderungen zu kommen«, und dieses Gefühl werde von Lansdowne und Balfour geteilt. Man gab schließlich auf beiden Seiten etwas nach, Deutschland verzichtete auf seine Rechte auf Gambaga, auf die meisten Inseln der Salomongruppe und auf seine exterritorialen Rechte in Sansibar und erhielt Upolu und Savaii, den »nationalen Begriff«.

Die Herausgeber der amtlichen Akten weisen mit Recht darauf hin, daß für die Darstellung des Freiherrn von Eckardstein, wonach man die von Wilhelm II. sehnsüchtig erwartete Einladung dem englischen Hofe habe abringen müssen, in den Dokumenten die Bestätigung fehlt. Unwidersprochen bleibt eine andere Geschichte, die Eckardstein erzählt. Als die Einladung abgegangen war, siegte in Cowes, in Abwesenheit des Besitzers, die kaiserliche Yacht »Meteor«. Am nächsten Tage kam ein Telegramm des Kaisers, das den englischen Klubleuten erklärte, daß »ihre Handicaps einfach entsetzlich« seien. Auch dieser Zwischenfall wurde beigelegt. Als Datum für den Besuch des Kaisers wurde der 20. November festgesetzt. Im Oktober kam in Deutschland die Nachricht in die Blätter, die »Hohenzollern« werde in Kiel für eine Reise nach England bereitgemacht. Empörung flammte auf, ein gewaltiger Sturm brach los. Die Erde erbebte, als hätte die Midgardschlange sich unterirdisch bewegt. Wollte Wilhelm II., der dem Präsidenten Krüger seinen Glückwunsch telegraphiert hatte, wirklich nach England gehen? Wollte er sich in Windsor an die Festtafel setzen, während der Lord Roberts die Buren niederwarf? Die organisierten und die unorganisierten Alldeutschen, die Flottenbündler, die jungen und die alten Herren aus dem Verein Deutscher Studenten, und alle, die entweder die Zerstörung 68 Karthagos oder doch Wahlsiege der Rechtsparteien erträumten, vereinigten sich zu lautem Protest. In Prosa und in Versen wurde der Kaiser an seine früheren Worte gemahnt. Auch ruhige, gesetzte Leute tadelten die unbezähmbare kaiserliche Reiselust. Aber Wilhelm II. ließ sich nicht umstimmen, und am 20. November traf er mit der Kaiserin und dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, dem Grafen Bülow, in Portsmouth ein. Am nächsten Tage war in Windsor, in der St.-Georges-Halle, großes Prunkmahl, der Hofbericht meldete, daß der Kaiser auf der Jagd 178 Fasanen, 328 Kaninchen und 1 Rebhuhn erlegt habe – etwas anderes wurde nicht mitgeteilt. Indessen, nicht ganz gleichgültige politische Gespräche fanden nach dem Mahle in Windsor statt. Chamberlain legte dem Kaiser und dem Grafen Bülow seine Ansicht über die weitere Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen dar. Er sprach von einem Bündnis oder einem Zusammengehen Englands, Deutschlands und Amerikas. Aus höflichen, unverbindlichen Antworten gewann er den Eindruck, dem Kaiser und dem Staatssekretär wäre eine engere Verbindung mit England erwünscht. Am 1. Dezember schrieb er an Eckardstein, Bülow habe »den Wunsch ausgedrückt, er, Chamberlain, möchte öffentlich etwas über die gemeinsamen Interessen sagen, welche die Vereinigten Staaten mit einem Einvernehmen zwischen Deutschland und Großbritannien eng verknüpfen«, und sein Brief endete: »Daraufhin meine gestrige Rede, welche ihm hoffentlich nicht zur Unzufriedenheit gereichen wird.« Diese »gestrige Rede« hatte Chamberlain in Leicester gehalten, unmittelbar nachdem der Kaiser heimgefahren war. Es war eine Rede, die, um einen etwas vulgären Ausdruck zu gebrauchen, aufs Ganze ging.

Chamberlain erklärte in Leicester vor seinen begeistert zustimmenden Hörern, die Lage sei gebessert »durch das Bündnis oder Einverständnis zwischen England und dem großen Deutschen Reiche, die durch gemeinsame Interessen zusammengeführt« seien. Ein Interesse Englands, das demjenigen Deutschlands entgegenstehe, gebe es nicht. Dann wandte er sich in scharfen Tönen gegen Frankreich und sagte der französischen Presse das derbe Wort Cannings: »Macht weiter 69 so, schimpft noch mehr, wenn ihr könnt, aber noch dümmer zu sein, geht über euere Kraft!« Er erklärte, »die Vereinigung Englands, Amerikas und des großen Deutschen Reiches« sichere den Frieden der Welt. Er fügte hinzu, er habe das Wort »Allianz« nicht gebraucht. Ob es eine Allianz oder ein Einvernehmen sei, bedeute wenig, denn ein nicht geschriebenes Einvernehmen sei oft mächtiger als ein schriftlicher Vertrag. Man hat behauptet, es sei Chamberlain gar nicht darauf angekommen, durch diese Rede die Bündnisidee zu fördern oder zu popularisieren, sondern er habe nur die Franzosen erschrecken und nach dem militärischen Mißerfolg in Transvaal mit der Freundschaft Deutschlands prunken wollen. Zweifellos war es ihm angenehm, die Franzosen ärgern und ducken zu können, aber wenn er nur eine solche Augenblicksabsicht gehabt hätte, so hätte er nicht im Stillen seine Bemühungen fortgesetzt. Sicherlich war sein Auftreten in Leicester nicht gerade sehr geschickt. Dieser rhetorische Blitz zuckte in eine unvorbereitete Welt hinein. Chamberlain war in der Phantasie der nichtenglischen Zeitgenossen ein Teufel mit Raubtierzähnen und Krallen. Die Gehirne konnten nicht so schnell arbeiten, mangelhaft ausgebildeter politischer Verstand konnte nicht die Bedeutung des zu plötzlichen Vorganges erfassen, aus den mit Zorn beladenen Herzen konnte nicht ein Jubelruf kommen, als dieser in tausend Karikaturen und in noch mehr Reden und Leitartikeln als Henker dargestellte Chamberlain mit einer unerwarteten Liebeswerbung auf die öffentliche Bühne trat. Er hätte sich über seine Unbeliebtheit klar sein, hätte zum mindesten bedenken müssen, daß es eine Kunst, allmählich Übergänge zu schaffen, und Gesetze der Akustik gibt. Und niemals war Heimlichkeit der Verhandlungen – jene Heimlichkeit, die keine parlamentarische Kontrolle auszuschließen braucht – notwendiger als hier.

Das Resultat der Freundschaftsrede von Leicester war, daß alle, die sich damals bei uns zur »kochenden Volksseele« vereinigten, aufschrien, als hätte man Deutschland nicht ein Bündnisangebot, sondern einen Faustschlag versetzt. Der Neptun des Reichsmarineamtes regte mit seinem Dreizack das 70 Meer der öffentlichen Meinung gewaltig auf. Adam und Eva hatten sich durch die Schlange verführen lassen – jetzt war man nicht mehr so dumm. In allen Zeitungen wurde gesagt, Deutschland solle für England die Kastanien aus dem Feuer holen, und mit dieser einfachen und gewiß nicht ganz unrichtigen Bemerkung – denn England suchte natürlich seinen Vorteil und geprüft hätte nur werden müssen, ob Deutschland gleichfalls den seinigen dabei finden könnte – wurde das Problem abgetan. Auch die liberale Presse, auch Zeitungen, wie das »Berliner Tageblatt«, sprachen sich, wenn auch nicht in der alldeutschen Tonart, gegen die Ideen Chamberlains aus. Bülow verzichtete darauf, gegen diesen Strom zu schwimmen, und seine Offiziösen schwammen mit. Gleichzeitig aber schickte das Auswärtige Amt dem Botschafter Hatzfeldt für den Freiherrn von Eckardstein eine vertrauliche Instruktion. Eckardstein sollte in seinen Unterhaltungen mit Chamberlain sagen, daß Graf Bülow den größten Wert darauf lege, seine Haltung nicht mißverstanden zu sehen. Die Anglophoben bedienten sich der »fortgesetzten Insinuation«, daß die Regierung geheime politische Abmachungen mit England verfolge und zugunsten derselben wirkliche deutsche Interessen opfere, und dieser Ansturm, der auch im Reichstag sehr stark gewesen sei, habe dem Grafen Bülow gewisse Rücksichten auferlegt. Er müsse mit der öffentlichen Meinung rechnen, aber er verzichte keineswegs auf die »von ihm einmal als richtig erkannte Politik«. Diese hintenherum abgegebene Beschwichtigung half wenig, denn als dann die Lärmpolitiker sich weiter über die Zumutung von Leicester erregten, in England die meist für die Freundschaft mit Frankreich eingenommenen liberalen Blätter ihre tadelnde Stimme erhoben und die französische Presse den Bankerott der Bündnisidee bereits frohlockend mit ihrem Champagner begoß, wurde Chamberlain nervös. Am 26. Dezember schrieb er an Eckardstein einen Absagebrief. Er wolle, sagte er darin, sich über das Verhalten Bülows nicht näher äußern, aber »irgendwelche weitere Verhandlungen in der von uns beiden angeregten Bündnisfrage« schienen ihm nun nicht mehr angebracht. Alles sei schon gut gegangen, auch Salisbury 71 sei »ganz einig mit uns in bezug auf die künftige Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen« gewesen – »aber, Alas! es sollte nun einmal nicht sein«. So endete der erste, oder, wenn man in den Besprechungen von Februar bis März 1898 schon einen ernsthaften Anfang sehen will, der zweite Versuch. Durch das politische Unverständnis und die wirre Kopflosigkeit der deutschen Galerie, durch die Nachgiebigkeit des bedrängten Auswärtigen Amtes, aber auch durchaus nicht ohne Chamberlains Schuld.

In allem, was nun folgte, wirkte, mehr noch als in der bisherigen Entwickelung der Dinge, der Freiherr von Eckardstein in besonderer Weise mit. Das ergab sich aus seinen persönlichen Beziehungen und aus den körperlichen Hemmungen des kranken Botschafters Paul Hatzfeldt, der seinem überall empfangenen und sehr verwendbaren Mitarbeiter eine große Betätigungsfreiheit ließ. Eckardstein, damals 35 Jahre alt, stammte aus einer schlesischen Agrarierfamilie, war von der Mutterseite her ein Urenkel des Feldmarschalls Kleist von Nollendorff und hatte als Leutnant bei den Brandenburger Kürassieren in Manövern, auf Distanzritten und bei Kneipereien mancherlei Krafttaten vollbracht. Bismarck, dem Herr von Podbielski erzählte, daß der Kürassier in Würzburg hundert bayerische Offiziere unter den Tisch getrunken habe, lud ihn, zunächst nur belustigt, zum Mittagessen ein und nahm ihn bald darauf in das Auswärtige Amt. Er soll – sein Sohn Herbert erzählte es – gesagt haben: »Der Kerl ist über sechs Fuß groß, kann saufen, bleibt dabei immer nüchtern«, und er wolle ihn in den diplomatischen Dienst nehmen, »da er sich auch sonst zu eignen scheint«. Ähnlich fand es Bismarck einst vertrauenerweckend, daß Hobrecht »in der Besoffenheit« war, als Tiedemann, der Chef der Reichskanzlei, mit dem Vorschlage, Finanzminister zu werden, zu ihm kam. Eckardstein wurde bald darauf der Botschaft in Washington überwiesen, wettete im Kasino des Seebades Newport nach zahlreichen Coktails mit einem Amerikaner, daß er schneller als der Konkurrent auf die Straße gelangen werde, und sprang, während der andere auf dem Treppengeländer rutschte, vom hohen Balkon herab. Bei dieser viel bejubelten 72 diplomatischen Angelegenheit trug er einen Bruch des Handgelenkes und eine Rippenquetschung davon. Er bereiste Amerika, machte nützliche Bekanntschaften und wurde, nach einer kurzen Berliner Dienstzeit, nach Madrid und 1891 nach London, wo er sich schon früher umgesehen hatte, versetzt. In London wurde er bald intim mit Alfred Rothschild, mit dem Herzog von Devonshire und seiner Gattin, mit vielen anderen einflußreichen Personen, wurde von Chamberlain brauchbar gefunden und kam in den Kreis des Prinzen von Wales. Eduard, der Prinz von Wales, führte ihm Fräulein Maple, die Tochter des Möbelmillionärs, als Gattin zu. Seine gigantische Gestalt, sein lebensfrohes, damals durch einen Kürassierschnurrbart geziertes Gesicht, seine Biederkeit, hinter der eine gesunde Schlauheit steckte, und sein kraftvoll betonter Wunsch, England mit Deutschland zusammenzubringen, verschafften ihm überall Vertrauen. Auch sein späteres Leben, nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst, war noch sehr bewegt. In einer Kassette bewahrte er die Dokumente und Briefe aus seiner Londoner Hauptperiode, und nach flüchtiger Durchsicht dieser Papiere konnte ich am 8. Februar 1908 zum ersten Male in einem Artikel einiges aus der Geschichte der englischen Bündnisangebote und der Londoner Verhandlungen mitteilen, die bis dahin dem Publikum gänzlich unbekannt geblieben war. Hammann hat im »Roten Tag« vom 21. März 1922 erzählt, er selber habe erst aus diesem Artikel »Die deutsch-englische Allianz, neue Beiträge zur Zeitgeschichte« die Tatsache, daß es Bündnisverhandlungen gegeben habe, kennengelernt. Er habe sich, »um zu prüfen, ob sich etwa eine Erwiderung empfehle«, die Akten des Auswärtigen Amtes aus jener Zeit vorlegen lassen und, »abgesehen von ein paar nebensächlichen Ungenauigkeiten«, die Richtigkeit der Darstellung konstatiert. Was ich damals mitteilen konnte, war nur wenig, nur eine geringe Auslese aus dem großen Material, das Eckardstein nach dem Kriege im zweiten Bande seiner »Lebenserinnerungen und politischen Denkwürdigkeiten« veröffentlicht hat. Obgleich die begleitende Erzählung primitive Züge hat, Übertreibungen und sogar Entstellungen nicht ausgeschlossen erscheinen, die 73 Parteinahme für die englischen Staatsmänner durch kritischen Sinn hätte gemildert werden müssen und Eckardstein sich nicht gescheut hat, an manchen Stellen der von ihm mitgeteilten Dokumente durchaus unzulässige Korrekturen vorzunehmen, ist dieser zweite Band, neben den amtlichen Akten, doch ein ungemein wichtiges Quellenwerk und sicherlich ein Beweis für das hartnäckige Ringen dieses diplomatischen Kürassiers.

Aus London sandte Eckardstein, immer ganz von der Allianzidee eingenommen und robust die Ellenbogen gebrauchend wie ein Theaterenthusiast, der zu spät zu kommen fürchtet, seine Berichte an das Auswärtige Amt. In Berlin las und beantwortete sie Herr von Holstein, der alle wichtige politische Arbeit an sich zog. Da Herr von Holstein in diesem, und nicht nur in diesem Akte der Geschichte als Hauptfigur mitwirkte, ist es nötig zu sagen, was und wie er war. Er saß seit 1876, nachdem er in der Botschaft in Paris unter dem Grafen Harry Arnim die ersten, bewegten Friedensjahre mitgemacht hatte, im Auswärtigen Amte, war Gehilfe, Werkzeug und Vertrauter Bismarcks gewesen, hatte den Titel des Unterstaatssekretärs und auch den des Direktors niemals haben wollen und war »der Geheime Rat«. Schon unter Bismarck war sein Einfluß außerordentlich groß. Seine tyrannische Herrschsucht ebenso. Man ließ ihn gewähren, ertrug sein autokratisches Gebaren und seine Schrullen, weil er, wie kein anderer, in den Akten Bescheid wußte, weil man die Einfachheit seiner Sitten, das traditionell-preußisch Beamtliche in ihm respektierte, und weil er unentbehrlich schien. Seine diktatoriale Gewaltsamkeit und sein Argwohn gegen alle anderen gingen so weit, daß er, wenigstens in den späteren Zeiten, vor einem Urlaubsantritt die wichtigsten Akten einschloß, so daß dann Unaufschiebbares unerledigt liegen blieb. Er gehörte zu einer Generation, die von den wirtschaftlichen Beziehungen der Völker sowenig wußte und wissen wollte wie vom Telephon. Moderne technische Hilfsmittel hielt er, da man sie früher nicht gekannt hatte, im diplomatischen Betriebe für überflüssig, und internationale Wirtschaftspolitik ging seiner Meinung nach nur die Unterklasse der 74 bureaukratischen Spezialisten, nicht den wahren Diplomaten etwas an. Er war der Nurdiplomat mit den geistvollen strategischen Entwürfen, mit dem Schachbrett als Symbol. Da er aber die Völker und die Einzelmenschen nicht begriff, sich im Halbdunkel seines Zimmers ein eigenes und schiefes Bild von ihnen zurechtlegte, von doktrinären Thesen und vorgefaßten Meinungen nie lassen konnte, so spielte er auf dem Schachbrett zwar fein, aber immer falsch.

Mehrere von denen, die mit ihm in Berührung gekommen sind, haben von ihm erzählt. Waldersee schildert ihn nur als den übelsten Intriganten, aber Holstein war zum mindesten kein gewöhnlicher Streber wie der höfische Stratege, und die Intrigen haben sich gekreuzt. Wilhelm II. sagt, er habe Bülow vor Holstein gewarnt, der »seinen weitreichenden Einfluß immer nur hinter den Kulissen ausübte und jeder offiziellen Verantwortlichkeit als Ratgeber aus dem Wege ging«. Es mag sein, daß der Kaiser um 1900 herum Holstein, der sich vor ihm zurückzog, nicht mehr vertrauenerweckend fand, aber im Juli 1894 hatte Waldersee in sein Tagebuch geschrieben, Holsteins Einfluß auf den Kaiser sei größer als je zuvor. Zu Harden kam Holstein, als ihm, in den Tagen vor der Algesiras-Konferenz, endlich einmal eines seiner zahlreichen Entlassungsgesuche zu seiner Verblüffung bewilligt worden war. Er schwor, die Behauptung der Bismarcks, daß er am Sturze des ersten Reichskanzlers mitgewirkt habe, sei ungerecht. Daß er dem Gestürzten nicht in die Ruhe der Machtlosigkeit gefolgt war, konnte ihm nicht verübelt werden und war überdies selbstverständlich, denn sein Herrscherbedürfnis fand nun noch weiteren Betätigungsraum. Harden schildert ihn mit einer Sympathie, die offenbar durch die Genugtuung über das Anschlußbedürfnis des Pensionierten gesteigert worden ist. Man darf annehmen, daß das Bild dort, wo der Mensch und nicht der politische Kopf gezeichnet ist, ungefähr der Wahrheit entspricht. Holstein war nach Hardens Schilderung »ungemein mißtrauisch und empfindlich und doch von heiterem Wesensgrundton«, ganz erfüllt von politischer Leidenschaft und doch ein angenehmer Plauderer, ein Freund der Damen, ein Mann im Fontanestil 75 und allen kleinen Alltagsgenüssen geneigt. Ein Patriot, ein preußischer Royalist, ein unermüdlicher und uneigennütziger Arbeiter, aber kein schöpferischer Geist. Er war »vor Ärger krank, wenn sein Name in die Zeitung kam«, und wollte nur das Bewußtsein der Macht. Immer Intrigen witternd, immer auf der Hut. »Er traute dem Andersdenkenden das gewissenloseste Handeln zu. Bis an die Grenze des Landesverrats und darüber hinaus.« Harden bedauerte nur, daß Holstein sich für die Kündigung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland ausgesprochen hatte, und fand wohlwollend, daß an anderen politischen Handlungen des Geheimrats nichts auszusetzen sei. Er nannte es »vernünftig«, daß Holstein »1899 und 1901 vor flinker Annahme der Bündnisvorschläge Chamberlains warnte«, und versicherte, Holstein verdiente dafür, daß er »nicht in die Falle tappte, nicht damals schon dem Bären den Walfisch zutrieb«, vollen Dank. Auch daß Holstein sich, nachdem er der Einigung mit England ausgewichen war, nicht mit Frankreich und Spanien über Marokko verständigte, nannte Harden »klug«. Was aus all dieser Klugheit herausgekommen ist, hat sich später gezeigt. Der andere, der über Holstein ausgesagt hat, ist Hammann, den Holstein für einen seiner schlimmsten Feinde im Auswärtigen Amte, für einen der tückischesten Ränkeschmiede hielt. Auch Hammann rühmt Holsteins Patriotismus und seine Arbeitskraft. Er nennt ihn einen »hochbegabten, vielwissenden, aber bis zur Schrullenhaftigkeit mißtrauischen, menschenscheuen Sonderling«. Er spricht von Holsteins »krankhafter Ränkesucht«, seinen »terroristischen Anwandlungen«, seinen »gefährlichen Eigenheiten«, erzählt, daß Holstein sogar den Verkehr der Reichskanzler überwacht habe, und sagt, daß »etwas Anormales, Krankhaftes« in ihm gewesen sei. Auf eine Verständigung mit England aber habe er ursprünglich hinausgewollt. Gehindert habe ihn sein Mißtrauen gegen Salisbury, »den er als Franzosenfreund abgestempelt hatte«, und der ihm als Urheber alles Bösen galt. Ich habe Holstein nie gesehen. Er hat, als ich in den Marokkotagen seine Politik bekämpfte, mich zu den Verrätern gerechnet, mir dann, vor seinem Tode, einen 76 freundlichen Brief geschrieben, und ich kann nicht aus eigener Kenntnis über seine Persönlichkeit urteilen, wohl aber einiges erwähnen, was wesentlich sein dürfte und in den Büchern, in denen Herr von Holstein auftritt, nicht steht. Holstein hatte eine sehr getrübte Jugend gehabt. Er war dabei gewesen, als sein Vater auf dem Gute in den Flammen eines brennenden Heuschobers ums Leben kam. Eine Mutter und andere Frauen umhüteten ihn mit weiblicher Ängstlichkeit, begleiteten ihn sogar zu seinen Studien nach Bonn. Im Jahre 1859 kam er in den Dienst und bald, als ein zuverlässiger Handlanger, bei Bismarck in Gunst. Eines Tages präsentierte ihn, mit ironischem Wohlwollen, Bismarck dem alten Nesselrode: »Ein zukünftiger Diplomat!« Der Russe, der am Lebensende über den Staatsmannsberuf etwas skeptisch dachte, antwortete achselzuckend: »Es ist sehr fraglich, ob es in der Zukunft überhaupt noch eine Diplomatie geben wird.« Dann, nach dem Friedensschlusse in Frankreich, begann Holsteins Pariser Zeit. Er arbeitete in der Botschaft, in der Harry Arnim davon träumte, gegen Bismarcks Willen die französischen Monarchisten wieder hochzubringen, neben dem jungen Ferdinand von Stumm, dem späteren Botschafter in Madrid, und anderen zukunftsreichen Anfängern, und er arbeitete für zehn. Aber wie er später seine eigenen Kanzler überwachte, so beobachtete er damals den prunkfrohen und eitlen Harry Arnim und schickte, sicherlich von Bismarck dazu aufgefordert, Berichte über den Verdächtigen nach Berlin. In dem Arnim-Prozeß, der dann folgte, trat er als Belastungszeuge auf. Die aristokratische Berliner Gesellschaft nannte ihn einen Denunzianten und lehnte die Berührung mit ihm ab. Das hat dazu beigetragen, ihn in die Rolle des Misanthropen und Sonderlings hineinzudrängen, seinen Haß gegen die Öffentlichkeit und sein Mißtrauen ins Krankhafte zu steigern, und es war zweifellos der Schatten, der über seinem Leben lag. Hat er im Hintergrunde seiner Seele ein Rachegefühl gegen Bismarck, der ihn erhoben und dann zu solchem Geschäft erniedrigt hatte, aufgespeichert, und hat er, eine Vestalin ohne Milde, dieses Feuer bis zum Sturze des Meisters geschürt? Hat er in den Tagen dieses Sturzes, ein wenig wie 77 Kaliban, als er seinen Bändiger Prospero erledigt glaubt, und nur etwas heimlicher, »Freiheit, Freiheit!« geschrien? Es dürfte, auch wenn er nicht mitgestoßen haben sollte, wohl so gewesen sein. Zu einer klugen Frau, der er Vertrauen schenkte, hat er einmal auf einem Spaziergange geäußert: »Die Bismarcks haben mir wie einem Galeerensträfling das Schmachzeichen auf die Stirn gebrannt, und damit halten sie mich fest.«

Als man Bismarck einmal fragte, warum er Herrn von Holstein so frei schalten lasse, erwiderte er: »Ich muß doch jemand haben, auf den ich mich verlassen kann.« Unter Caprivi und Hohenlohe lebte die Herrschsucht Holsteins, der »die Tradition des Amtes« darstellte, sich ungezügelt aus. Das Schlimmste war, daß er sich, schon in den Tagen der Bismarcks, das Recht zugelegt hatte, an die Botschafter selbständig zu telegraphieren, und daß er, ohne Wissen der Reichskanzler und Unterstaatssekretäre, Weisungen erteilte und Antworten empfing. Er telegraphierte an Hatzfeldt nach London, an Münster und später an Radolin nach Paris und schuf sich, ohne die eigentlich Verantwortlichen über diesen Gedankenaustausch zu unterrichten, neben der amtlichen eine persönliche Diplomatie. So fand ihn Bülow vor. Bülow war, neben Hatzfeldt und Radolin, ziemlich der einzige, dem Holstein mit unerschütterlicher Anhänglichkeit einen Platz in seinem einsamen Herzen gab. In sentimentalen Augenblicken pflegte Holstein sogar zu erzählen, der Vater Bülow habe ihm den Sohn an dieses Herz gelegt, habe den zukünftigen Diplomaten seiner Obhut anvertraut. Bülow, der Sohn, war dankbar für diese Mentortreue, nahm aber die Erzählung wohl mit einigen Zweifeln auf.

Ich will aus den Mitteilungen und besonders aus dem Dokumentenmaterial Eckardsteins die wichtigsten Punkte herausheben und diesen Zeugnissen, ergänzt durch einiges aus den Akten des Auswärtigen Amtes, dann andere Aussagen gegenüberstellen. Am Ende des Jahres 1899 hatte die »Bundesrat«-Affäre, die brutale Durchsuchung und Festnahme eines deutschen Postschiffes durch englische Seepolizei, die Köpfe eine Weile lang erhitzt. Im Februar 1900 ließ der russische Minister 78 des Äußern, Graf Murawjew, in Berlin anfragen, ob Deutschland gemeinsam mit Rußland und Frankreich Schritte zur Beendigung des südafrikanischen Krieges unternehmen wolle, und die deutsche Regierung antwortete mit einem Nein. Diese Angelegenheit wurde dem Prinzen von Wales bei einem Besuche in Kopenhagen dann so dargestellt, als habe sich die deutsche Diplomatie mit »perfiden Lockungen« an die russische gewandt. Um diese Zeit übergab Salisbury dem Lord Lansdowne die Leitung des Foreign Office, da das Alter seine hohe, schwere Gestalt zu entkräften begann. Er sah nun nur noch, mit etwas müdem Auge, hoch vom Turme auf die Dinge hinab. Im Januar 1901 erklärten im Schlosse Chatsworth die Minister Chamberlain und Herzog von Devonshire dem Freiherrn von Eckardstein, daß England den Anschluß an eine der beiden Mächtegruppen suchen müsse, und daß sie nicht, wie andere Politiker, für ein Zusammengehen mit Frankreich und Rußland, sondern noch immer für die Verbindung mit Deutschland seien, aber gleichfalls ein Abkommen mit Frankreich und Rußland, selbst unter schweren Opfern in Marokko und Persien, ins Auge fassen müßten, wenn es unmöglich sein sollte, eine Einigung mit Deutschland zustande zu bringen. Holstein, von Hatzfeldt informiert, erwiderte, daß »der Gedanke an eine Allianz vorläufig noch verfrüht« sei, daß man sich Abmachungen über Marokko gefallen lassen könnte, und sprach die Ansicht aus, daß »England immer mehr auf uns angewiesen sein wird«. Am 22. Januar starb die Königin Viktoria, der Enkel Wilhelm II. kam zur Beisetzung nach London, wurde vortrefflich aufgenommen, schuf aber in Deutschland eine neue Volkserregung, indem er, wieder das richtige Maß verkennend, dem Burenbesieger Lord Roberts den Schwarzen-Adler-Orden verlieh. Es ist wahrscheinlich, daß der Kaiser dann, nach seiner Heimkehr, erschreckt durch den Trubel, wieder unter den Einfluß der Antiengländer geriet. Eckardstein berichtete Herrn von Holstein, daß die Intrigen Rußlands in London einen akuten Charakter annähmen und Chamberlain ihm gesagt habe, er sei im Prinzip noch immer für das Zusammengehen mit Deutschland, habe jedoch keine Lust, »sich 79 nochmals die Finger zu verbrennen«. Holstein antwortete: »Ihnen, lieber Freund, verbiete ich ausdrücklich, auch nur das leiseste Wort von Bündnis zu hauchen«, und fügte hinzu: »Der geeignete Zeitpunkt, wenn er überhaupt kommt, ist jedenfalls jetzt nicht da.« Wenn die Engländer mit Rußland gehen wollten, könnten »sie es ja versuchen« – es sei »der Pakt des Schafes mit dem Wolf«. Der Gedanke, daß England sich mit Rußland und Frankreich verständigen könnte, erschien Herrn von Holstein absurd und, wie er gern betonte, »naiv«. Aber mitunter wurde die Zuversicht Holsteins doch durch Zweifel gestört. Auch dann suchte der Entschlußlose, hinter dem andere, ähnliche Entschlußlosigkeiten standen, nach Gründen und Vorwänden, um der Notwendigkeit festen und klaren Handelns zu entgehen. Am 19. März 1900 fand eine Unterredung zwischen Lord Lansdowne und Eckardstein statt. Lansdowne sagte, er befasse sich mit dem Gedanken eines englisch-deutschen Defensivarrangements. Mehrere seiner einflußreichsten Kollegen seien einem solchen Gedanken günstig gestimmt, England müsse sich jetzt klar über seine künftige Politik werden, es stehe an einem Wendepunkt. Ein offizieller Vorschlag an Deutschland könne aber solange nicht gemacht werden, wie man nicht wisse, ob es bereit wäre, darauf einzugehen. Als Holstein den Bericht über diese Erklärungen Lansdownes gelesen hatte, suchte er den Brief, den Bismarck 1887 an Salisbury geschrieben hatte, und das ausweichende Antwortschreiben Salisburys hervor. Weil 1887 Salisbury auf die Anträge Bismarcks nicht eingegangen war, behauptete Holstein, dieser Briefwechsel sei »der Schlüssel zu unserer Politik«. Als wäre die Bündnisidee, die Bismarck verwirklichen wollte, jetzt nicht aussichtsvoll geworden, als gälte es nur, starrsinnig und übelnehmerisch auf Vergangenes, auf die frühere Weigerung Salisburys zu blicken, statt auf die Gegenwart und die Zukunft zu sehen! Immerhin, Herr von Holstein wollte dieses Mal nicht unbedingt verneinen, und er empfahl nun den Weg über Wien. »Graf Goluchowski wird sehr geschmeichelt und sehr eifrig sein.« So würde die Annäherung nicht als deutsch-englisches Bündnis, sondern als Angliederung Englands an den 80 Dreibund gestempelt werden, und das erschien praktisch, »in Anbetracht der Stimmung, wie sie nun einmal ist.« Aber die Engländer wollten nicht mit Wien, sondern mit Berlin verhandeln, hatten auch Bedenken, die komplizierten und unübersichtlichen Interessen Österreich-Ungarns und Italiens ohne nähere Prüfung zu garantieren, und obgleich man in Berlin selbstverständlich eine Ausdehnung des Bündnisses auf den ganzen Dreibund erstreben mußte, war es, wenn man das Bündnis wollte, wohl nicht praktisch, mit dem Schwersten zu beginnen. Immer wieder sieht man, wie Holstein, in seiner Neigung, lästige Beschlüsse zu verschieben, Gründe bei Bismarck suchte und nur an den Zielen Bismarcks vorüberging.

Dann kam die Periode, wo Japan, dem seit dem russischen Vorgehen in der Mandschurei die Aufmerksamkeit der Engländer sich hatte zuwenden müssen, aus seiner mystischen Ferne hervortrat und der Botschafter Baron Hayashi mit Lansdowne über ein japanisch-englisches Bündnis sprach. Hayashi wünschte die Hinzuziehung Deutschlands, und auch Lansdowne hatte immer noch den gleichen Wunsch. Holstein blieb bei seiner rettenden Wiener Idee. Daneben hatte er eine zweite glückliche Wendung entdeckt. Er schob die Frage der chinesischen Kriegsentschädigung, besonders die Erhebung der Seezölle, in den Vordergrund. Der Kaiser sei über die Saumseligkeit, mit der England diese Dinge behandle, sehr aufgebracht. In einem Telegramm vom 1. April 1901 erklärte er, daß »diese Frage augenblicklich für die deutsche Regierung wichtiger als die Bündnisfrage« sei. Die chinesischen Seezölle erschienen, weil Wilhelm II. gerade auf diese Laune verfallen war und verständnislose Parteiredner im Reichstag und schreibflinke Journalisten sich auf diese Frage gestürzt hatten, als die wichtigere Angelegenheit! Ein neuer Zwischenfall zerschlug, was noch zu zerschlagen war. Wilhelm II. nannte in einem Gespräch mit dem englischen Botschafter in Berlin die englischen Minister »Schafsköpfe«, »unmitigated noodles«, und gebrauchte den gleichen Ausdruck in einem Privatbrief an den König Eduard. Der König berief Eckardstein zu sich und sagte – 81 wie wenigstens Eckardstein berichtet – er sei noch jetzt der Meinung, daß England und Deutschland die natürlichsten Bundesgenossen wären und zusammen die Weltpolizei ausüben könnten, und Deutschland könnte Kolonien und wirtschaftliche Ausdehnung zur Genüge haben, denn für England und Deutschland sei genug Platz in der Welt. Aber die fortwährenden »Bocksprünge des Kaisers« könne er nicht mitmachen und »die Beschimpfungen und Drohungen, mit denen uns der Deutsche Flottenverein und seine Organe fortwährend bedenken«, trügen auch nicht gerade zur Beseitigung des Mißtrauens bei. In einem an Eckardstein gerichteten Briefe vom 14. Juni 1901 streute Alfred Rothschild Trauerblumen auf das Bündnisgrab. Der Botschafter Lascelles lache über die Berliner Ungeschicklichkeit, Chamberlain habe den Mut verloren und erkläre, mit den Leuten in Berlin nicht mehr verhandeln zu wollen. »Wenn sie in ihrer Kurzsichtigkeit nicht sehen, daß eine ganz neue Weltkonstellation davon abhängt, so ist ihnen nicht zu helfen«, habe Chamberlain gesagt. Holstein, der am 9. März in einem Telegramm an Eckardstein einige Neigung für eine Beteiligung an einem englisch-japanischen Bündnis bekundete, aber gleich wieder hinzufügte, daß Eckardstein »diesen Bündnisgedanken keinesfalls erwähnen« dürfe, schrieb, als ihm der Stand der Dinge gemeldet wurde, anklagend, »an der jetzigen Rückzugspolitik« sei nur Salisbury schuld. Auch sonst klagte er fortwährend Salisbury an. Als dann Eckardstein berichtete, daß der neu ernannte französische Botschafter Paul Cambon in London sich gewaltig rühre, daß auf eine Verständigung zwischen Frankreich, Rußland und England hingearbeitet werde, und daß Delcassé zu diesem Zwecke nach Petersburg reise, fühlte Herr von Holstein offenbar Gewissensbisse, denn er schickte an Eckardstein, im Mai 1901, sogar einen ausführlichen Vertragsentwurf. Nicht lange darauf war er wieder bei den chinesischen Seezöllen und bemerkte: »Für die Fragen, die den Geldbeutel berühren, erstreckt sich das Interesse auf viel weitere Kreise als für die Fragen der sogenannten hohen Politik.« Im Juli 1901 kam noch Sir Arthur Nicholson, damals Gesandter in Tanger, zu 82 Eckardstein in das deutsche Botschaftshaus und schlug im Auftrage Lord Lansdownes ein englisch-deutsches Zusammengehen in Marokko vor. Als Eckardstein darüber nach Berlin berichtet hatte, blieb jegliche Antwort aus. Am 30. Januar 1902 unterzeichnete man in London den englisch-japanischen Bündnisvertrag. Wir hatten, nach dem Ausspruche Wilhelms II., unsere heiligsten Güter gewahrt.

Der Abschluß des englisch-japanischen Vertrages wurde in Petersburg natürlich als ein Schlag gegen die russische Politik aufgefaßt. Man hatte sich in der Mandschurei und in China unbesorgt und ungeniert vorwärtsbewegt und sah sich nun bedroht. Graf Lamsdorff, der russische Minister des Äußern, wollte eine Gegenaktion veranstalten und ersuchte die deutsche Regierung, die »Hand-in-Hand-Politik im fernen Osten« gemeinsam mit Rußland zum Ausdruck zu bringen. In den Tagen, wo die russische Regierung vor der Ankunft des Grafen Waldersee die Räumung Pekings durchsetzen wollte, hatte man in Petersburg auf die Hand-in-Hand-Politik weniger Wert gelegt. Bülow ging auf die russischen Vorschläge nicht ein. Obgleich der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf von Alvensleben, in sehr bekümmerten Berichten darlegte, daß eine endgültige Ablehnung den Grafen Lamsdorff und seinen Souverän für lange Dauer verstimmen werde, blieb die deutsche Regierung bei ihrer höflichen Weigerung. Sie wollte sich nicht von Rußland gegen England und Japan vorschieben lassen und nicht ohne weiteres die russischen Interessen in der Mandschurei anerkennen. Rußland, begleitet von Frankreich, aber nicht von Deutschland, begnügte sich damit, sich in einer Note an die Mächte schützend vor die, von ihm recht gründlich angeschnittene »Integrität« Chinas zu stellen. Die Haltung der deutschen Regierung war richtig und gut. Aber weil man sich von niemandem vorschieben lassen wollte, wurde man schließlich von allen beiseite geschoben, und die Absage an Rußland wäre noch besser gewesen, wäre eine Zusage an England vorangegangen.

Das Trauerspiel der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen war zu Ende gespielt. Es ging nicht hin wie das 83 Abendrot, sondern endete unter Donner und Blitz. Chamberlain, dessen Reden häufig über das Ufer schäumten, hatte am 25. Oktober 1901 die Anklagen, die ziemlich die ganze Welt gegen das Verhalten der englischen Truppen im Burenkriege erhoben hatte, zurückweisen wollen und dabei von den Heeren der anderen Nationen gesprochen, deren Benehmen in ihren Kriegen auch nicht rühmlich gewesen sei. Während die Franzosen das mit einem Gleichmut hinnahmen, der als warnendes Symptom hätte beachtet werden müssen, entstand in Deutschland wieder eine große Erregung, und Fürst Bülow, dem Volkswillen gehorchend, sprach im Reichstag ironisch spitzige Worte und wiederholte das, was die Polemisten gröber vorgebracht hatten, mit seiner scharf geschliffenen Redekunst. Er zitierte Friedrich den Großen: »Laßt den Mann laufen, regt Euch nicht auf, er beißt auf Granit.« Mitunter ist es gefährlich, wenn einem Staatsmanne ein wirksames Zitat in die Erinnerung kommt. Dieses rednerische Auftreten Bülows erscheint noch weniger begreiflich, seit man aus den Akten den Verlauf der Dinge genauer kennt. Lord Lansdowne hatte dem deutschen Botschafter, Graf Wolff-Metternich, bereits erklärt, Chamberlain habe nicht die Absicht gehabt, Deutschland zu beleidigen, und er hatte diese Erklärung bereitwillig in einem Telegramm wiederholt, das er durch den englischen Geschäftsträger dem Auswärtigen Amte übergeben ließ. Als Bülow trotzdem, unter dem lärmenden Beifall der »Aufrechten«, seinen Granitfehler beging, schrieb ihm Graf Wolff-Metternich, der vergeblich gewarnt hatte, die Erbitterung in England habe ihren höchsten Grad erreicht. Hatte nicht Graf Bülow eines Tages im Reichstag treffende Worte über jene Popularität gesagt, die man auf Kosten der politischen Interessen erwirbt? Professor Schiemann – der schon damals eine deutsch-englische Verständigung wünschte und sich mit seiner Meinung nur nicht klar hervortraute – schrieb in der »Kreuz-Zeitung« vom 27. November sehr vernünftig, Deutschland habe gar keinen Anlaß gehabt, die Rede Chamberlains auf sich allein zu beziehen. Man könne nur bedauern, daß »in der Flut der Versammlungen« niemand bereit gewesen sei, die Rede mit 84 etwas mehr Kritik anzusehen. Er wies auf das »Journal des Débats« hin, das spöttisch bemerkt habe, die Äußerungen Chamberlains seien offenbar nur auf Deutschland gemünzt gewesen, denn nur in Deutschland habe man eine Beleidigung darin verspürt. Leider hat Schiemann nicht immer so viel politische Klugheit gezeigt. Lansdowne hatte den deutschen Kürassier schon seit einiger Zeit nicht mehr empfangen und ihm sagen lassen, er wäre »mit Geschäften überhäuft«. Nach einem offiziellen Diner, das am 6. Februar 1902 beim König stattfand, schnitt Chamberlain das Tischtuch zwischen England und Deutschland entzwei. Er hatte eine halbe Stunde lang mit Cambon im Billardzimmer konferiert. Als ihn Eckardstein anredete, beklagte er sich über die deutsche Presse und äußerte: »Schon früher einmal hat mich Bülow im Reichstag blamiert, jetzt habe ich genug von solcher Behandlung, und von einem Zusammengehen Deutschlands und Englands kann keine Rede mehr sein.« Das Schlußwort sprach an diesem Abend der König Eduard, der nach dem Abzug der Gäste den Freiherrn von Eckardstein in sein Arbeitszimmer rufen ließ. Er erklärte, er könne leider, soweit die deutsch-englischen Beziehungen in Betracht kämen, nicht mit Vertrauen in die Zukunft blicken, denn ein Zusammengehen Englands und Deutschlands sei mindestens für eine lange Zeit hinaus eine Unmöglichkeit. »Mehr als je werden wir jetzt von Frankreich dazu gedrängt, uns in allen kolonialen Differenzpunkten mit ihm zu einigen, und es wird schließlich wohl auch das Beste sein, wenn wir zu einem Ausgleich gelangen. Wie Sie ja genau wissen, wäre ich selbst sowie die meisten meiner Minister sehr gern in allen kolonialen und sonstigen Fragen mit Deutschland gegangen, aber es geht eben nicht.«

Die diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, die unter dem Titel »Die große Politik der europäischen Kabinette« teils erschienen sind, teils noch erscheinen werden, geben über diese Periode vielleicht weniger Aufschlüsse als die Papiere, mit denen Eckardstein aufwarten kann. Indessen, sie vervollständigen das Bild. In den amtlichen Dokumenten verschwindet Holstein, der im Verborgenen 85 durch Privatbriefe die Londoner Botschaft lenkte, fast ganz, und die meisten Anweisungen gehen von Bülow aus. Man findet ein Telegramm, in dem Bülow, am 21. Januar 1901, dem in Osborne weilenden Kaiser Ratschläge gab. Es sei, telegraphierte Bülow, empfehlenswert, die Engländer weder zu entmutigen, noch ihnen zu großes Empressement zu zeigen, und mit »dilatorischem Verhalten« sei den deutschen Interessen am besten gedient. Die von den Engländern angedrohte Verständigung mit Frankreich sei »ein nur zu unserer Einschüchterung erfundenes Schreckgespenst«, und England habe damit schon seit Jahren operiert. »Die Opfer, welche eine solche Verständigung auferlegen würde, sind so extravagant, daß die englische Regierung selbst in der Zeit, wo die Gereiztheit zwischen uns und England am größten war, sich nicht dazu entschlossen hat.« Eine solche Verständigung würde für England nicht nur zwecklos sein, sondern direkt schädlich werden, und »das den Engländern freundlich, aber deutlich unter die Nase zu reiben, wird Eure Majestät gewiß verstehen«. Holstein schrieb am 11. Januar 1901 an Hatzfeldt, man könne der deutschen öffentlichen Meinung einen deutsch-englischen Defensivvertrag nur schmackhaft machen, wenn er »unmittelbar direkte Vorteile für Deutschland mit sich bringt«. Solche »direkten Vorteile«, koloniale Brautgeschenke, und zwar möglichst große, wurden abwechselnd oder gleichzeitig mit den anderen Bedingungen erörtert, die man für nötig hielt. All das gewissermaßen akademisch, in Entwürfen und Stilübungen für den eigenen Gebrauch, und ohne daß man den Versuch machte, in der Unterhaltung mit den Engländern auch nur durch eine Zwischenfrage über Allgemeinheiten hinwegzukommen. Besonders im Jahre 1901 wurde betont, daß die Beteiligung des ganzen Dreibundes an einem Bündnis mit England eine Conditio sine qua non wäre, und in Verbindung damit äußerte Bülow das Bedenken, die Russen könnten ihre große Enttäuschung gegen uns richten, und England könnte das Bündnis benutzen, um sich gut mit Rußland zu stellen. Einen Bericht Eckardsteins über die Möglichkeit einer englisch-französisch-russischen Entente versah Bülow mit der 86 Bemerkung, Eckardstein stehe bisher mit seinen Ansichten allein. Bülow hielt es aber doch für geboten, den deutschen Geschäftsträger in London, Graf Bernstorff, und die deutschen Botschafter in Paris und Petersburg zu befragen, und erhielt besonders aus London und Petersburg Antworten, die ihn in seiner Meinung bestärken mußten, da sie mindestens skeptisch klangen. Einigermaßen pessimistische Informationen, die Fürst Radolin in seine Antwort einflocht, und die von dem Finanzmann Betzold, dem Vertrauensmann der Rothschilds, stammten, hielt Bülow nicht für maßgebend, denn die Angaben Betzolds hätten sich, wie er an den Kaiser schrieb, bei früheren Gelegenheiten wenig bewährt. Einige Jahre später wurde derselbe Betzold, weil er vor und nach dem Sturze Delcassés zwischen der deutschen Regierung und Rouvier geschickt vermittelt und nach Ansicht des Kaisers sogar den Frieden gerettet hatte, auf Vorschlag Bülows mit dem Kronenorden II. Klasse dekoriert. Wie Eckardstein wies Hatzfeld tief besorgt auf die kommende englisch-französisch-russische Annäherung hin, die zwar »für den Außenstehenden«, für die Leute in Berlin, schwierig und aussichtslos scheinen möge, für den Eingeweihten aber gar nicht so aussichtslos sei. Er müsse, telegraphierte er am 16. Februar 1901, leider an den oft von ihm geäußerten Bedenken festhalten und wolle »noch vor Toresschluß« seine Ansicht zum Ausdruck bringen. Den von Hatzfeld »oft geäußerten Bedenken« forscht man in den amtlichen Akten vergeblich nach. War er nur ein verspäteter Prophet oder hat still waltende Weisheit seine rechtzeitigen Prophezeiungen beiseite geschafft? Man findet in den Akten des Auswärtigen Amtes dann schließlich noch Beweise dafür, daß Wilhelm II. jedesmal, wenn er in England sich aufhielt, den Reiz des englischen Lebens empfand und in ausgezeichneter Stimmung war. Die Briefe und Telegramme, die Wilhelm II. auf englischem Boden abfaßte, sind von den kaiserlichen Randbemerkungen so verschieden wie Milch von Essig oder wie Rosenöl von Schwefelwasserstoff. Am 12. November 1902 telegraphierte er aus Sandringham an Bülow, Chamberlain sei schwer gereizt und stehe unter dem Eindruck, von dem 87 deutschen Reichskanzler auf das ärgste dupiert worden zu sein. Man solle in Berlin alle unnötigen Reibereien vermeiden und der antienglischen Presse »Maul halten« verordnen, denn Chamberlain habe alle Klassen des englischen Volkes hinter sich. Und mit offenbarer Genugtuung, ersichtlich heiter und ein bißchen boshaft, fügte Wilhelm II. hinzu, man trage in England das Geschehene nur der deutschen Regierung nach. Er, der Kaiser, werde nicht verantwortlich gemacht.

Es ist nötig gewesen, den Aufstieg und Zusammenbruch eines großen politischen Gedankens so darzustellen, wie der Verlauf der Dinge sich aus den Berichten Eckardsteins, aus seinen Dokumenten und aus den diplomatischen Akten ergibt. Aber der tragische Eindruck verstärkt sich noch gewaltig, wenn man die Aktion betrachtet, die damals von Paris aus in London eingeleitet wurde, und neben den Briefen des Herrn von Holstein und den Depeschen Bülows von Monat zu Monat die diplomatische Arbeit Frankreichs sieht. Bei uns Hamlet, dort Fortinbras. Und um zum richtigen Urteil zu gelangen, darf man nicht vergessen, daß die Franzosen, nach dem Verluste Ägyptens, die Demütigung von Faschoda erlebt hatten, und daß der Englandhaß, in dem ihre öffentliche Meinung tobte, doch noch begründeter als der bei uns verbreitete war. Frankreich hatte, indem es auf englisches Geheiß seinen Hauptmann Marchand zur Umkehr nötigen mußte, eine jener Wunden empfangen, die im Rücken brennen. Wir hatten keine Wunden, keinen wirklichen Schmerz, sondern nur die Flottenprogramme und die »Rivalität«.

Herrn Mermeix, jenem französischen Chronisten, der viele politische Kulissengeheimnisse ans Licht gezogen hat, verdankt man die ersten Mitteilungen über die Entstehung der »Entente cordiale«. Es ist ziemlich sicher, daß er selber sie Herrn Paul Cambon verdankt. Er hat sie zuerst, bald nachdem Paul Cambon seinen Londoner Botschafterposten aufgegeben und sich in seine Pariser Wohnung zurückgezogen hatte, am 18. August 1921 im »Figaro« veröffentlicht. Seine Erzählung beginnt mit dem Rückzuge Marchands von 88 Faschoda und mit dem Einzuge Delcassés in das Ministerium des Äußern, der am 23. Juni 1898 vor sich ging. Delcassé bot Herrn Cambon, der damals Botschafter in Konstantinopel war, die Londoner Botschaft an. Cambon erklärte, daß er nach London nur gehen wolle, wenn mit der bisherigen Politik gebrochen und eine Annäherungspolitik begonnen werden dürfe, und Delcassé stimmte zu. Im Dezember 1898 traf Paul Cambon in London ein. Die Königin Viktoria lebte noch, und der neue französische Botschafter hatte die Empfindung, der Premierminister Lord Salisbury sei Frankreich nicht wohlgesinnt. Im Januar 1899, nachdem die Faschoda-Frage geregelt worden war, regte Cambon bei Salisbury ein größeres Werk, eine allgemeinere Verständigung an. Salisbury verhielt sich ablehnend, sprach von der Kurzlebigkeit französischer Regierungen und bemerkte, man täte am besten, eine aussichtslose Sache nicht erst anzufangen. Diesen Salisbury stellte, ungefähr um die gleiche Zeit, Herr von Holstein in seinen Depeschen als den Urheber alles Bösen hin. Ihm, dem Bismarck wie keinem anderen Engländer getraut hatte, mißtraute Herr von Holstein wie keinem anderen, und er segnete im voraus den Tag, »wo Salisbury abgetakelt ist«.

Nach dem Tode der Königin versuchte Paul Cambon den neuen Minister des Äußern, Lord Lansdowne, für die Abmachungen mit Frankreich zu gewinnen. Zu Anfang des Sommers 1901 zählte er ihm die Fragen auf, über die man sich einigen müßte, und als der Minister fragte, ob auch Ägypten dazu gehöre, antwortete der Botschafter, daß das ebenso wie für Marokko selbstverständlich sei. Cambon stellte dann auch noch in einem Briefe an Lansdowne die einzelnen Verhandlungspunkte fest. Einige Tage später sagte ihm bei Tische König Eduard, er habe den Brief gelesen und werde, obgleich er als König nicht Befehle zu erteilen hätte, sein möglichstes für die Aussöhnung tun. Was war vorgegangen, als dieses im Sommer 1901 geschah? Im Januar 1901 hatte im Schloß Chatsworth jene Unterredung stattgefunden, in der Chamberlain und der Herzog von Devonshire dem Baron von Eckardstein erklärt hatten, England müsse 89 Anschluß an eine der beiden Mächtegruppen suchen, und wenn Deutschland zu einer Einigung nicht bereit sei, müsse man zu einer Abmachung mit Frankreich und Rußland kommen. Herr von Holstein hatte die Einigung »verfrüht« gefunden und gemeint, England werde »immer mehr auf uns angewiesen sein«. Er hatte dem Freiherrn jede Erwähnung des Bündnisgedankens untersagt. Am 19. März 1901 hatte Lansdowne zu Eckardstein geäußert, er wünsche ein englisch-deutsches Defensivabkommen, aber England müsse sich jetzt entscheiden, es stehe an einem Wendepunkt. Holstein hatte darauf die Frage der chinesischen Seezölle für wichtiger erklärt. Wilhelm II. hatte die englischen Minister Schafsköpfe genannt. Im Juni endlich hatte Alfred Rothschild an Eckardstein geschrieben, daß Chamberlain nun den Mut verloren habe und nicht mehr mit Leuten verhandeln wolle, die in ihrer Kurzsichtigkeit die neue Weltkonstellation nicht sähen. In diesem Augenblicke kam Paul Cambon mit seinem Angebot, hörte Lansdowne ihn an. Cambon war ein Mann von staatsmännischem Talent, aber in der internationalen Politik ist der Erfolg der einen doch, zu einem nicht geringen Teile sicherlich, aus den Fehlern der anderen gemacht.

Als im Juli 1902 Lord Salisbury sich ganz in die Ruhe des Landlebens zurückzog, wurde Balfour Ministerpräsident. Damit die Stetigkeit der auswärtigen Politik auch nach dem Sturze des konservativen Kabinetts, der erwartet wurde, gewahrt bliebe, wurde Lord Hardinge als Unterstaatssekretär ins Ministerium des Äußern gesetzt. Im Mai 1903 besuchte König Eduard, auf der Reise nach Spanien, Paris. Man rief auf den Boulevards nicht mehr »Nieder mit England!«, Herr Delcassé hatte den Journalisten und Karikaturisten den Nutzen höflichen Benehmens bewiesen, und nur in Deutschland konnte jener catonische Geist weiterstürmen, der für die Durchführung immer neuer Flottenprogramme unentbehrlich schien. Am 3. Juli 1903 trafen der Präsident der französischen Republik, Herr Loubet, und der Minister des Äußern, Herr Delcassé, vom König eingeladen, in London ein. Am 8. August 1904 unterzeichneten Lord Lansdowne und Paul Cambon den Vertrag, der die ägyptische Streitfrage, 90 die marokkanische und alle anderen regeln sollte und vom Hader langer Jahre nichts übrig ließ. Die neue Weltkonstellation, von der Chamberlain gesprochen hatte, war da. »Die Basis für eine Koalition« war, um Bismarcks Worte zu wiederholen, »gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht gegenübertreten kann.«

An dem Schreibtisch des verstorbenen Paul Hatzfeldt saß nun, in der deutschen Botschaft, Graf Wolff-Metternich. Eckardstein beurteilte ihn sehr falsch und sehr ungerecht. Graf Wolff-Metternich hatte nicht die genialischen Züge Hatzfeldts, der ebenso sehr im staatsmännischen Denken wie im Lebensgenuß bis ans Ende ging. Aber auch sein Kopf – ein Kopf mit zurückgestrichenem lockigen Haar, auf einem langen mageren Körper – war nicht banal. Man darf nicht vergessen, daß andere bereits sich an der Tafel niederließen, für uns nicht einmal mehr das Dessert blieb und dieser neue Botschafter wie ein etwas störender Gast zu einer fremden Trauung kam. Zweifellos war er noch mehr ein kluger Beobachter, als ein unternehmender, aktiver Weltgestalter, der nötigenfalls den Pelion auf den Ossa türmt. Aber sein Urteil war abgeklärt und sicher, und was hätte er unternehmen, und wo hätte er zupacken sollen, da der Pelion schon auf dem Ossa lag?

Es ist erzählt worden, Salisbury habe dem Grafen Wolff-Metternich gesagt, daß die besten Verbündeten Englands die Kreidefelsen seien, und daraus ist gefolgert worden, Salisbury habe das Bündnis mit Deutschland niemals gewollt. Graf Wolff-Metternich hat mir den Vorgang etwas anders dargestellt. »Das war«, sagte er, »erst nach den Verhandlungen, Salisbury war nicht mehr Ministerpräsident. Er lud mich ein, einige Tage bei ihm auf seinem Landsitz zu verbringen, und ich war, glaube ich, drei Tage dort. Einmal wurde im Gespräch die Weltstellung Englands berührt. Ich bemerkte, England sei in der europäischen Schulstube der Schuljunge, der nicht mitspielen wolle – er wolle nicht mit der einen Partei und nicht mit der anderen spielen, darum sei er bei allen unbeliebt. Salisbury lachte und entgegnete: Sie haben ganz recht, aber sehen Sie, wir sind nun 91 einmal eine Insel, und unsere besten Verbündeten sind die Kreidefelsen da. Als Salisbury sich so äußerte, war, wie gesagt, schon alles vorbei.« Allerdings nur vorbei für uns. Der Schuljunge spielte dann doch mit einer Partei. Graf Wolff-Metternich war ein überzeugter Anhänger der Bündnisidee. Er hat, nach der Rede Chamberlains über die kontinentalen Heere, den Reichskanzler Bülow dringend vor zu scharfer Erwiderung gewarnt. Er hätte die Knüpfarbeit, die dem sterbenden Hatzfeldt aus der Hand geglitten war, gern fortgesetzt. Während er dazu verurteilt war, bei jeder Verschlechterung der Beziehungen den Kampf durchzukämpfen, hat er immer in Melancholie das Verlorene vor sich gesehen.

Sehr häufig habe ich, zu verschiedenen Zeiten, mit dem Fürsten Bülow über die englischen Bündnisangebote diskutieren können, wobei er dann mit seiner verführerischen, zu amüsanten Beispielen und Reminiszenzen abschweifenden und doch immer zur Linie zurückfindenden Gesprächskunst seinen Standpunkt vertrat. In einer dieser Unterhaltungen, am 6. Oktober 1921, faßte er die Tatsachen und Gründe, die zum Mißerfolge der deutsch-englischen Verhandlungen geführt hätten, folgendermaßen zusammen:

»Im Jahre 1897 wurde ich zum Staatssekretär im Auswärtigen Amte ernannt. Meine Berufung wurde mir gewissermaßen mit dem Auftrage verliehen, die Durchführung der Flottenbauten zu ermöglichen, die damals schon beabsichtigt war. Ich sagte dem Kaiser und dem Fürsten Hohenlohe, das werde schwer sein, und vor allem würde ich versuchen, mich mit England gut zu stellen. Der Kaiser, der ja, trotz allem, was vorgefallen ist, eigentlich immer eine Neigung für England hatte, und der Fürst Hohenlohe, der schon sehr alt, aber doch ein weiser Mann war, stimmten mir zu. Die Sache war schwierig, denn der fürchterliche Eindruck, den die Krüger-Depesche in England gemacht hatte, war noch nicht verwischt, und dann brach der Burenkrieg aus und die öffentliche Meinung in Deutschland, in ihrer Burenschwärmerei, war leider ungeheuer aufgeregt. Ich schrieb an Paul Hatzfeldt und teilte ihm mit, daß ich möglichst gute 92 Beziehungen mit England herstellen wollte, und ersuchte ihn, sein möglichstes zu tun. Hatzfeldt kam dann nach Berlin – er war ein ungewöhnlich geistvoller Mann, ein glänzender Diplomat, ein bißchen aus der Linie der Talleyrand – und wir sprachen uns aus. Einige Zeit später, als er wieder in London war, 1898, wurde zwischen uns und England der Vertrag abgeschlossen, der uns für den Fall einer Teilung oder Veräußerung der portugiesischen Kolonien gewisse Vorrechte gab. Im folgenden Jahre erfuhr ich, auf einem nicht amtlichen Wege, daß England mit Portugal hinterher einen anderen Vertrag, den sogenannten Windsor-Vertrag, abgeschlossen hatte, der den Portugiesen ihre Kolonien garantierte, und durch den unser Abkommen eigentlich seinen Wert verlor. Ich habe das für mich behalten, nur Richthofen einige Andeutungen gemacht – wenn ich es Holstein mitgeteilt hätte, wäre er bei seiner reizbaren Natur gleich außer sich geraten – und habe auch dem Kaiser nichts davon gesagt. Damals wollte der alte Krüger nach Deutschland kommen – es war, bei der Begeisterung für die Buren, die ja bei uns herrschte, nicht leicht, ihn zurückzuweisen, aber in England hätte es eine sehr große Entrüstung erregt, wenn wir ihn gut aufgenommen hätten, und ich habe den Kaiser bewogen, ihn nicht zu empfangen. Im Reichstag hielt Bebel bei dieser Gelegenheit eine flammende Rede, in der er uns vorwarf, wir hätten den alten Krüger erst durch das Telegramm ermutigt und ihm schließlich den Stuhl vor die Tür gesetzt. Im Jahre 1899 fuhr dann der Kaiser nach England, ich begleitete ihn. Die öffentliche Meinung bei uns war sehr gegen die Reise, es war ein Sturm, ein so ruhiger Mann wie Graf Ballestrem fragte mich, ob ich denn wirklich die Verantwortung für diesen Besuch übernehmen wolle, worauf ich ihm antwortete, ich übernähme sie. Als wir in Windsor waren, kam mein alter Freund Lascelles, der damals Botschafter in Berlin war – wir kannten uns seit vielen Jahren, wir waren schon zusammen in Bukarest gewesen und ich hielt später bei der Verlobung seiner Tochter einen Speech, wofür er mich gerührt umarmte – zu mir und las mir einen Brief von Salisbury vor. Salisbury ersuchte ihn, 93 mir zu sagen, wie sehr er bedauere, mich nicht sehen zu können, aber seine Frau sei sehr krank – sie war wirklich sehr krank und starb ein paar Tage darauf. Ich würde, schrieb Salisbury, an seiner Stelle Chamberlain sehen. Lascelles sollte mich darauf aufmerksam machen, daß Chamberlain ein sehr liebenswürdiger, sehr geistreicher und sehr kluger Mann sei, der aber nicht für die englische Regierung spreche, sondern nur für sich allein.

Chamberlain ließ sich dann bei mir ansagen und besuchte mich. Ich hatte den Eindruck, daß er sehr intelligent, sehr tatkräftig, sehr energisch sei – er kam mir wie ein energischer englischer Kaufmann vor. Er begann sogleich, mir seine Ideen zu entwickeln, und erklärte, er sei für ein Zusammengehen Englands, Deutschlands und Amerikas. Ob das nicht auch meine Meinung sei. Ich antwortete ihm, das sei mir sehr sympathisch, ich würde eine solche Kombination für sehr glücklich halten, aber für uns hinge sie doch von zwei Vorbedingungen ab. Die erste Vorbedingung sei, daß ein solches Zusammengehen keine Spitze gegen Rußland haben dürfe, das sei eine Lebensfrage für uns. Wir sind, sagte ich ihm, nicht in der günstigen Lage Englands, nach England werden die Russen nicht kommen, aber wir haben sie an der Grenze, und bei einem Konflikt wäre unser Land und unsere Bevölkerung bedroht. Die zweite Vorbedingung sei, daß man Rücksicht auf die deutsche öffentliche Meinung nehmen müsse, und daß darauf auch von englischer Seite Rücksicht genommen werden müsse, denn die Verstimmung bestehe nun einmal, und wenn man sie vermehren wolle, so sei alles umsonst. Chamberlain antwortete mir, eine öffentliche Meinung in Deutschland gebe es nicht. Ich erwiderte ihm, wir hätten leider nicht eine so disziplinierte, politisch geschulte öffentliche Meinung, wie England sie hat. Wenn ein Sultan der Türkei zu deutschfreundlich sei, nehme die englische Presse ganz von selbst, ohne daß man sie zu dirigieren brauche, gegen ihn Partei. Ich habe ihn dann noch ersucht, mir Näheres darüber zu sagen, wie er sich das Zusammengehen denke, aber das führte zu nichts. Über die allgemeine Idee kam das Gespräch nicht hinaus.

94 Bald darauf hielt Chamberlain seine Rede in Leicester, die man in Deutschland sehr übel nahm. Es schien mir nötig, ihm zu entgegnen, ich hatte den Eindruck, daß er damals vor allem aus dem Burenkrieg, der seine Erfindung war, heraus wolle, und daß er den Wunsch habe, uns vorzuspannen. Dann wurde 1900 und 1901 weiterverhandelt, erst unter Salisbury, der wohl ziemlich zurückhaltend war, sich jedenfalls nicht so wie Chamberlain für die Verständigung einsetzte, und mit Lansdowne, und auch noch später, als Balfour Ministerpräsident geworden war. Lansdowne, den ich in England kennengelernt habe, ist ein vortrefflicher Mann, der typische gute Engländer, und ich glaube auch nicht, daß er so französisch gesinnt war, wie man behauptete, weil er eine Französin zur Frau hatte – Balfour ist unendlich fein kultiviert, in seiner Sprache ungemein anmutig und graziös. Unser Bedenken, und vor allem die Ansicht des Kaisers war, daß man bei einem Abkommen mit England Garantien brauche, denn wenn dort die Regierung fällt und die andere Partei ans Ruder kommt, könnten schließlich die Nachfolger einen Vertrag nicht anerkennen. Das mag richtig gewesen sein oder nicht, jedenfalls war das die damalige Auffassung und auch Hohenlohe hatte sie geteilt. Bestimmend aber war für uns in den Verhandlungen die Frage, wozu wir bei einem Angriff der Russen auf Indien verpflichtet sein sollten, denn wenn wir uns da zu weit eingelassen hätten, wäre uns natürlich die öffentliche Meinung überhaupt nicht mehr gefolgt. Es war vor allem nötig, daß das Abkommen auf den ganzen Dreibund ausgedehnt würde, auch auf Österreich und Italien – ein Neutralitätsabkommen hätte schon genügt. Wir wollten gern, daß etwas schriftlich fixiert würde, aber dazu kam es nicht. Holstein, der sehr schwer zu behandeln war, hat gewiß Fehler gemacht, aber er war eigentlich nicht gegen die Annäherung an England – er hatte sie im Gegenteil immer gewünscht.«

Der hier folgende Brief des Fürsten Bülow war anfangs nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Fürst Bülow hat mir dann seine Zustimmung zur Wiedergabe dieses Schreibens 95 ausgesprochen, das in kurzen Formeln mehr als lange Abhandlungen sagt:

Elbparkvilla Klein-Flottbeck, Holstein

10. Juli 1923.

Lieber Herr Wolff!

Unter Bezugnahme auf Ihren heute gelesenen Montagsartikel, nicht zur Veröffentlichung, sondern von Mensch zu Mensch, von Gentleman zu Gentleman.

  1. Für die Allianzanerbietungen von Chamberlain hat die Zustimmung von Salisbury nie vorgelegen. S. war Premier bis 1902.
  2. Chamberlain, der Urheber des Burenkrieges, wollte uns offensichtlich gegen Rußland vorschieben, um in Südafrika freie Hand zu haben.
  3. Eine Allianz war für uns nur möglich, wenn ihr a) beide große Parteien zustimmten, sonst wäre sie prekär gewesen; b) wenn sie sich auch auf Österreich und Italien erstreckte, andernfalls wären wir à la merci von England gewesen, wenn Österreich-Ungarn von Rußland, Italien von Frankreich angegriffen wurde. England hätte es jederzeit in der Hand gehabt, beide von uns abzusprengen. Nur en passant will ich daran erinnern, daß bei der damaligen Stimmung in Deutschland eine Allianz mit England nicht leicht durchzusetzen war, daß Chamberlain durch seine Boutaden und Gesten uns die Arbeit nicht erleichterte, daß König Eduard bei seiner Abneigung gegen seinen Neffen (und geringer Sympathie für alles Deutsche) ein unsicherer Faktor war, daß unsere enormen, vielleicht zu hastigen Fortschritte in Handel, Industrie, Schiffahrt (auch die Riesenschiffe des armen Ballin ärgerten die Engländer) keinen günstigen Boden für eine Allianz bildeten.
  4. Tirpitz hat nie mir eine grobe Demission auf den Tisch geworfen. Das hätte nicht unseren ganz korrekten Beziehungen entsprochen. Ich hätte es mir auch nicht gefallen lassen. Selbst meine (oft getadelte) Liebenswürdigkeit hatte ihre Grenzen. Ich habe damals auch gar nicht »geschwiegen«. Wohl aber war meine Stellung nach den 96 Novemberereignissen und kurz vor meinem Rücktritt nicht mehr fest genug, um das von mir angestrebte Agrement mit England gegen Kaiser und Marineminister durchzusetzen. Für Bethmann Hollweg als neuen Besen wäre es eher möglich gewesen.
  5. Meine sachlichen Differenzen mit Tirpitz (ich wünschte Entgegenkommen gegen England hinsichtlich des Tempos der Schiffsbauten, weniger Großkampfschiffe, mehr Torpedos, U-Boote, Küstenbefestigungen) haben nie meine Anerkennung für die glühende Vaterlandsliebe und die überragende Tüchtigkeit dieses hervorragenden Mannes beeinträchtigt. Hannibal bleibt groß, obwohl er unterlag.
  6. Sind wir schließlich gar nicht wegen der Schiffsbauten mit England aneinandergekommen. Ich erinnere Sie an den bekannten Aufsatz von Hans Delbrück im November 1913, wo er, nach längerem Aufenthalt in England, schrieb, daß an den exzellenten Beziehungen zwischen Deutschland und England der Fortgang der Schiffsbauten gar nichts verdürbe. England griff uns an, als wir Rußland den Krieg erklärt hatten und in Belgien einmarschierten. Daß England rebus sic stantibus vom Leder ziehen würde, habe ich nie bezweifelt. (Bismarck auch nicht, wenn er Zukunftsmöglichkeiten erwog.)

Wenn ich im Oktober nach Berlin komme, hoffe ich sehr, Sie wiederzusehen. Heute möchte ich Ihnen nur noch sagen, wie sehr ich mit Ihrer tapferen Kampagne gegen den französischen Imperialismus und für unsere brave Ruhr- und Rheinbevölkerung einverstanden bin. Auch in Ihrem Montagsartikel steht manches, was ich durchaus billige. Viele Empfehlungen Ihrer liebenswürdigen Gattin, beste Grüße von meiner Frau und aufrichtig

Ihr    
Bülow.

Mir scheint, diese mündlichen und schriftlichen Darlegungen zeigen in ihrer Knappheit und Bestimmtheit weit besser die Beweggründe, von denen Fürst Bülow sich leiten ließ, als seine Betrachtungen über die »Deutsche Politik«, die zuerst im Jahre 1914 beim Regierungsjubiläum Wilhelms II. 97 als Abhandlung in einem festlichen Sammelwerk und dann 1916 als selbständiges Buch erschienen sind. Es muß beachtet werden, daß Fürst Bülow, obgleich ihm das leicht und obgleich es keineswegs ungerecht wäre, niemals Holstein belastet, sondern ohne Kleinlichkeit auch für die Handlungen des Geheimen Rates die Verantwortung auf sich nimmt. Das Buch »Deutsche Politik« zeigt eigentlich so wenig die persönliche Art des Fürsten Bülow, daß man auf den Gedanken kommen könnte, er habe es gar nicht geschrieben, sondern nur inspiriert. Am wenigsten findet man den Glanz seines Stiles und die elegante Geschmeidigkeit seines Florettspieles in den Abschnitten, die sich auf die Verhandlungen mit England beziehen. Wird der Satz »England hat die Freundschaft nicht gewollt, hat die ihm wiederholt hingehaltene Hand zurückgestoßen«, nicht durch die inzwischen veröffentlichten Dokumente widerlegt? Anderes ist nicht minder anfechtbar. Die öffentliche Meinung habe sich für die Flottenprogramme »nur in Bewegung bringen« lassen, »wenn gegenüber der im ersten Jahrzehnt nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck in Deutschland herrschenden unsicheren und mutlosen Stimmung das nationale Motiv mit Entschiedenheit betont wurde«, und wenn man »das nationale Bewußtsein wachzurufen verstand«. War eine Betonung des »nationalen Motivs« wirklich die richtige Betonung, wenn man dadurch zu einer schweren Gefährdung der nationalen Sicherheit, der nationalen Interessen kam? »Das patriotische Empfinden sollte aber auch nicht überschäumend und in nicht wieder gutzumachender Weise unsere Beziehungen zu England stören«, wird vorsichtig hinzugefügt. Das, was als »patriotisches Empfinden« ausgegeben wurde, hat diese Beziehungen aber überschäumend gestört. »Die vorbehaltlose und sichere Freundschaft Englands wäre daher nur zu erkaufen gewesen durch Aufopferung eben der weltpolitischen Pläne, um derentwillen wir die britische Freundschaft gesucht hätten«, sagt das Buch. Aber die »weltpolitischen Pläne« waren doch nur Selbsttäuschung, wir haben kein Erdenwinkelchen gewonnen und hätten in Bündnisverhandlungen mit England immerhin sehen können, 98 ob auf diesem Wege nicht mehr zu erreichen sei. Daß die Ablehnung des englischen Angebotes uns zur Verwirklichung »weltpolitischer Pläne« geführt hätte, wird man schwerlich erkennen. Frankreich hat, weil es der Freund Englands wurde, sich Marokko zugelegt. »In unserer Entwicklung zur Seemacht konnten wir weder als Englands Trabant noch als Antagonist Englands zum erwünschten Ziele kommen.« Das Buch des Fürsten Bülow vertritt den Tirpitz-Gedanken, wir hätten mit unseren Flottenbauten durch eine »Gefahrenzone« hindurch müssen, und hinterher hätte uns dann, wenn inzwischen nicht der Krieg ausgebrochen wäre, wieder die Sonne Englands gelacht. Aber je mehr Schiffe Deutschland baute, desto mehr wurde bekanntlich auch die englische Flotte verstärkt. Wann wäre man also jemals über die »Gefahrenzone« hinausgelangt?

Die mündlichen Erzählungen und das Schreiben des Fürsten Bülow sind von einer über die Tatsachen hinwegschwebenden Luftdialektik frei. In ihnen ist kurz und wirksam alles gesagt, was für die damalige Politik angeführt werden kann, und sie fördern das Verständnis, auch wenn sie die Zweifel nicht zerstreuen. Es ist richtig, daß eine bindende, formelle Zustimmung Salisburys zu dem Bündnisangebot sich nicht nachweisen läßt, und die Mitteilungen, die der Botschafter Lascelles im Auftrage des britischen Premiers dem Grafen Bülow überbrachte, nötigten den Gast in der Unterhaltung mit Chamberlain unbestreitbar zu einer gewissen Zurückhaltung. Aber hätte Chamberlain, hätte vor allem der bedächtigere Lansdowne so weit gehen können, wenn sie hätten befürchten müssen, durch Salisbury desavouiert zu werden, oder kann man glauben, Salisbury habe von diesen wichtigen Verhandlungen, die um ihn herum betrieben wurden, nichts gewußt? War Chamberlain ein Mann, den man nicht ernst nehmen konnte, mit dem sich nicht verhandeln ließ? Sogar Holstein nannte ihn in einem Briefe an Eckardstein den »klarsehenden Vertreter englischer Realpolitik«. Herbert Bismarck rühmte im März 1889 in einem Berichte aus London Chamberlains »Deutschfreundlichkeit«. Alle deutschen Diplomatenbriefe zeigen, daß Chamberlain bis zu dem Tage, 99 wo sein Plan endgültig scheiterte, in dieser Deutschfreundlichkeit außerordentlich konsequent gewesen ist. Zweifellos, sein rednerisches Auftreten in Leicester war plump. Es ist auch anzunehmen, daß zwischen ihm und Salisbury ein gewisser Gegensatz bestand. In dem hochgewachsenen, breitschultrigen Salisbury, dessen schwerer Körper seine Partei deckte, wenn er im Oberhause aufstand, waren der Stolz des Engländers und der Stolz des Aristokraten vereint. Der geschäftige, immer bewegliche Emporkömmling Chamberlain, dieser neue Typus des Politikers, war ihm vielleicht nicht angenehm. Nichts kann die Bedeutung und die Anziehungskraft Disraelis besser beleuchten als die Tatsache, daß dieser Enkel des eingewanderten venezianischen Juden, dieser Neuengländer, der seinen Stammbaum pries und in dessen Geist die Harfe Davids immer mitklang, den Lord Salisbury an sich gefesselt hat. Chamberlain übte auf den Konservator der englischen Ahnengalerie durchaus nicht den gleichen Zauber aus. Aber der Gegensatz war mehr ein Gegensatz der Individualitäten als der politischen Ideen. Und dann kam Lansdowne, dessen ganzes Handeln und Verhandeln nicht den mindesten Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten bestehen läßt. Ist der von Bismarck entlehnte Gedanke richtig, man könnte mit England nur ein Bündnis schließen, wenn die beiden großen Parteien, Konservative und Liberale, ihre Zustimmung gäben, denn sonst würde bei jedem Regierungswechsel das Abkommen hinfällig sein? Gewiß waren die Gladstonianer nicht ganz zuverlässig, aber wenn die These richtig wäre, dann wäre es überhaupt unmöglich, mit parlamentarisch regierten Staaten ein Bündnis einzugehen. Alle Staaten, mit Ausnahme von Deutschland, Österreich und Rußland, wurden parlamentarisch regiert. Hatte man in Petersburg auf die Allianz mit Frankreich verzichtet, weil der gewiß launenhafte französische Parlamentarismus den Vertrag nicht genügend zu garantieren schien? Bismarck hat die öffentliche Zustimmung des englischen Parlamentes gewünscht. Er hat, das muß immer wieder betont werden, nicht alles von ihr abhängig gemacht. »Ich ritt«, hat Fürst Bülow mir ein anderes Mal erzählt, »mit dem Kaiser im Hamburger 100 Wald. Er sagte auch, mit England könne man nur Abmachungen treffen, wenn man der Zustimmung beider Parteien sicher sei«. Aber Chamberlain hatte dem Botschafter Paul Hatzfeldt die öffentliche Verhandlung im Parlament angeboten, und Hatzfeldt hat sie, weil dadurch Rußland erzürnt worden wäre, für unmöglich erklärt. Was wollte man also eigentlich?

Unter den Einwendungen, die gegen die englischen Bündnisvorschläge erhoben werden konnten, war eine in der Tat sehr ernsthaft und gewichtig: wir konnten nicht bei einem russischen Vorstoß gegen Indien für England in der Feuerlinie stehen. Frankreich lief, als es sich mit England zusammentat, nicht das gleiche Risiko, denn es war mit Rußland verbündet und hatte die Möglichkeit, Rußland von solchen Vorstößen zurückzuhalten, und die Absicht, Rußland mit England zu versöhnen, es in den französisch-englischen Kreis hineinzuziehen. Der Gefahr, die sich für Deutschland ergeben konnte, mußte selbstverständlich in den Spezialverhandlungen vorgebeugt werden, aber sie kann nicht unbedingt als triftiger Grund für die Ablehnung gelten, da man es zu solchen Verhandlungen nicht kommen ließ. Im übrigen wurde sie in dem Augenblick, wo Japan dem Bündnis beitreten wollte, sehr erheblich abgeschwächt. Vor allem aber war immer zu erwägen, welche Entwickelung der europäischen Situation sich aus einer Ablehnung der englischen Verständigungsvorschläge ergab. Durfte man durch solche Ablehnung England auf den Weg drängen, an dessen Endpunkt die Einigung mit Frankreich und Rußland stand? War es nicht ungemein wahrscheinlich, daß die englische Regierung diesen Weg beschreiten würde, wenn man ihr den Weg zu Deutschland verschloß? War es nicht zehnfach wahrscheinlich, wenn man gleichzeitig eine gewaltige Flottenvermehrung vornahm und zur Förderung dieses Flottenrausches eine leidenschaftliche Bewegung, mit täglichen Ausfällen gegen die englische Seeherrschaft, inszenieren ließ? Chamberlain, Lansdowne, der Herzog von Devonshire, der König Eduard selbst erklärten mit aller Offenheit, England müsse wählen, werde die Verständigung mit Paris suchen, wenn ein 101 Pakt mit Berlin nicht zu haben sei. Man glaubte in Berlin nicht daran, wollte nicht daran glauben, und blieb lieber bei einer Politik angenehmer Enthaltsamkeit.

Wenn man an dem Irrtum nicht festgehalten hätte, so hätte man die Bündnisverhandlungen zum Gelingen führen müssen, und man wäre dann genötigt gewesen, einen Kampf mit jenen mächtigen Organisationen, die in Deutschland die »öffentliche Meinung« vertraten, und mit dem vom Kaiser gestützten Herrn von Tirpitz zu beginnen. Und dieser Kampf war in der Tat sehr schwer und eigentlich aussichtslos. Graf Bülow hatte, wie er selbst sagt, sein Amt mit dem Auftrage übernommen, die politischen Schutzwände, zwischen denen sich der Flottenbau unbeeinträchtigt vollziehen könnte, herzustellen. Wenn er wirklich versucht hätte, dem Bündnisgedanken zur Verwirklichung zu verhelfen, so hätte das bei den Flottenbauern, die sich ganz auf die antienglische Agitation eingerichtet hatten, den ungeheuerlichsten Sturm erregt. Er hat den Mut gehabt – Mut gehörte dazu – den Empfang des Präsidenten Krüger in Berlin zu verhindern, und hat, als man ihn deswegen angriff, in der Reichstagsdebatte vom 10. Dezember 1900 gesagt: »Bei allem Respekt vor der deutschen Volksseele und deren Empfinden dürfen wir uns nicht von den Stimmungen deutscher Volkskreise leiten lassen, sondern einzig und allein von den Interessen der Nation.« Er hat, zwei Tage später, als der alldeutsche Abgeordnete Hasse ihm mit der öffentlichen Meinung gedroht hatte, vortrefflich entgegnet, die öffentliche Meinung sei »der starke Strom, der die Räder der staatlichen, der politischen Leitung treiben soll«, wenn aber dieser Strom »die Räder in der falschen Richtung zu treiben oder gar zu zerstören« drohe, so sei es »Pflicht einer Regierung, die diesen Namen verdient, sich dem öffentlichen Strom entgegenzustemmen, völlig unbekümmert um etwaige Popularität«. Aber als Graf Bülow auf die Leicesterrede Chamberlains abweisend geantwortet hatte, ließ, wie sich gezeigt hat, Holstein dem englischen Minister sagen, die deutsche Regierung müsse Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen, und die Antwort sei nur deshalb so unfreundlich ausgefallen. In den Telegrammen Bülows 102 und Holsteins kommt diese »öffentliche Meinung« immer wieder vor. Bülow war nicht ganz »unbekümmert um etwaige Popularität«, seine Granitrede war ihm nur der Popularität wegen entschlüpft und all das Auslugen und Haschen nach kleinen kolonialen Gebietsstückchen, für die man die großen Ziele preisgab, sollte populäre Augenblickserfolge ermöglichen und die politischen Kleinkrämerseelen günstig stimmen. Hätte aber Bülow selbst dann, wenn ihm Popularität völlig gleichgültig gewesen wäre, die Allianz mit England gegen die Flottenvereine und die im Reichsmarineamt fabrizierte, von oben protegierte »Volksstimmung« durchsetzen können? Man konnte sich gestatten, dieser Bewegung in der Krüger-Episode, die nicht direkt an die Flotteninteressen rührte, zu trotzen – in der weltgeschichtlichen Bündnisfrage nicht. Bismarck hätte es vermocht, weil er den Flottenrednern und Alldeutschen die harte Faust entgegengehalten, Herrn von Tirpitz und seine Leute in ihre Ressortschranken gebannt hätte – ein neuer Reichskanzler, der schon mitten in diese Situation hineinkam, hatte nicht die Macht dazu, stand nur vor der Wahl, sich durch eine Demission aufs Trockene zu retten oder mitzuschwimmen. Sogar dem alten Moltke gegenüber verbat Bismarck sich 1887 sehr entschieden, »daß die politische Geschäftsführung gewissermaßen auf den Generalstab überginge«, und Moltke gab ihm recht. Herr von Tirpitz verwischte ungehindert als erster die Grenzlinie, die das politische Gebiet vom militärischen Kommandokreise schied. Schon bei dem Abschluß des vernünftigen Yangtseevertrages wurde getobt, und die »Tägliche Rundschau« schrieb, England habe »bisher im Laufe der Weltgeschichte alle betrogen, die sich von ihm durch einen Vertrag binden ließen«, und äußerte die Hoffnung, der neue Reichskanzler werde »eine starke und geschickte Hand darin zeigen, daß er die Netze, die die englischen Politiker über uns werfen möchten, zu zerreißen versteht«. Wenn auch Graf Bülow und Herr von Holstein die Gefahr erkannt und laut erklärt hätten, daß die Verständigung mit England absolut notwendig sei, um dem Zusammenschluß Englands und des Zweibundes zuvorzukommen, so 103 hätte man sie verhöhnt und niedergeschmettert, denn man litt nicht an den Schwächlichkeiten und Besorgnissen Bismarcks, nicht an seinem »cauchemar des coalitions«. Allerdings, es ist falsch, von »Volksstimmung« zu sprechen, denn das eigentliche Volk kam gar nicht in Betracht. Der Allianz absolut feindselig aber war diejenige Volksschicht, deren Wille im kaiserlichen Deutschland am meisten galt. Die falsche Auffassung der Lage, die Weltfremdheit, mit der Bülow und mehr noch Holstein über die Möglichkeit einer englisch-französischen Annäherung geistreich spotteten, sind auch dann nicht entschuldbar, wenn man zugeben muß, daß die Dirigenten der auswärtigen Politik nicht imstande gewesen wären, aus der besseren Einsicht die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Zum mindesten hätte man die von Lansdowne zuletzt noch vorgeschlagene Einigung über Marokko – die allein schon genügt hätte, um die Konflikte zwischen England und Frankreich offenzuhalten – erwägen können, und gerade Bülow, der später, im Frühjahr 1915, in Rom seine große diplomatische Kunst noch einmal in so hervorragender Weise zeigte, hätte gewiß auch die Unterhaltung in London ausdehnen können, wie Scheherazade tausendundeine Nacht lang ihren Sultan unterhielt. Aber auch da hätte aus zahllosen Kehlen die Beschuldigung getönt, daß man für England »die Kastanien aus dem Feuer hole«, und in »die Netze der englischen Politik verstrickt worden sei«. Poseidon hatte Mittel, die Athene nicht besaß.

Fürst Bülow sagt im vierten Absatz seines Briefes, daß Tirpitz ihm nie eine grobe Demission auf den Tisch geworfen habe, und buchstäblich genommen trifft das zu. Ich hatte geschrieben, Fürst Bülow habe im Januar 1909 Herrn von Tirpitz dringend zu einer Verlangsamung der großen Schlachtschiffbauten und zur Schaffung einer starken Unterseebootflotte geraten, und Herr von Tirpitz sei darauf mit Rücktrittsdrohungen gekommen. Tirpitz erklärte in seiner Antwort, am 4. Januar 1909: »Wenn die Absicht Ew. Durchlaucht von der politischen Notwendigkeit der Verringerung des Bautempos, die ich zum ersten Male aus Ew. Durchlaucht geneigtem Schreiben vom 25. Dezember 1908 104 entnommen habe und nach Ew. Durchlaucht bisherigen Äußerungen, namentlich Ew. Durchlaucht Erklärung im Reichstage bei der ersten Lesung des Etats, nicht voraussetzen konnte, durchgeführt werden soll, so muß ich Ew. Durchlaucht bitten, Seiner Majestät dem Kaiser die Bitte um meinen Abschied in Gnaden geneigtest vortragen zu wollen. Ich nehme davon Abstand, dies unmittelbar bei Seiner Majestät zu tun, einmal weil es sich hierbei um eine politische Frage handelt, und zweitens weil Ew. Durchlaucht wünschen werden, Seiner Majestät die Angelegenheit persönlich vorzutragen, ohne daß Allerhöchstderselbe durch mein Abschiedsgesuch, dem ich doch eine Motivierung beigeben müßte, vorbereitet ist.« Der Versuch des Fürsten Bülow, die Flottenphantasie der politischen Vernunft unterzuordnen, war ehrenvoll, obgleich er spät kam, mißlingen mußte und tatsächlich mißlang. Ebenso ehrt es den Fürsten Bülow, daß er die Drohung des Herrn von Tirpitz vergessen will und ohne Ranküne die selbstverständliche Vaterlandsliebe und die von niemandem bezweifelte Fachtüchtigkeit des Flottenschöpfers anerkennt. Herr von Tirpitz wußte im Januar 1909 sehr genau, daß seit den Novembertagen Wilhelm II. darauf sann, sich des Fürsten Bülow zu entledigen, und das Duell mit dem Reichskanzler schreckte ihn nicht. Das schöne Zeugnis, das Fürst Bülow seinen Fähigkeiten ausstellt, kann nichts an der Ansicht derjenigen ändern, denen die von Herrn von Tirpitz so lange behauptete Vorherrschaft als Ursache folgenschwerer Verirrungen erscheint. Die Vorherrschaft der Flottenpolitik, ihrer Führer und ihrer Gemeinde, verursachte, direkt oder indirekt, das Scheitern der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen und schuf die Vorbedingungen für den Krieg, und es ist nicht möglich, von diesem tragischen Fehler zu sprechen, ohne einen wesentlichen Anteil daran Herrn von Tirpitz beizumessen, hinter dem, ganz von der Herrlichkeit des Flottentraumes gefangen, Wilhelm II. unermüdlich das Amt des Schiffstäufers versah. Man versteht es, daß der Chef der neuen Marine sein Werk verteidigen wollte, und doch lastet eine wesentliche Schuld auf ihm, wie auf den eifrigen Herolden seiner Propaganda, auf den 105 Matadoren der Vereinsfeste, auf den in aufgeregtem Eifer weit die Konservativen überflügelnden Nationalliberalen und auf all denen, für die nur ein Schlagwort greifbar, ein politischer Gedanke nicht faßbar war. Keiner von ihnen kannte oder beherzigte das Wort Machiavells, daß man einen Gegner durch Drohung oder Beleidigung nicht schwäche, sondern nur veranlasse, auf seiner Hut zu sein. Alle drohten, und hielten das für ein ungefährliches Spiel. Herr von Tirpitz hat in seinen »Erinnerungen« und noch im Oktober 1921 in den »Grenzboten« seine »Politik« verteidigen wollen. Es ist im Grunde immer wieder dasselbe, wie in der Reichstagsrede vom 8. Februar 1900, und die Thesen sind nur in eine etwas andere Fassung gebracht. Herr von Tirpitz erklärt, er habe »die unbesonnenen Herausforderungen, die sich damals unsere öffentliche Meinung gegen England erlaubte«, mit Sorge gesehen. Wann aber hat er jemals die Flottenvereinler, die ihm treu folgten, eindringlich ermahnt? Wann haben seine Pressekapitäne die Journalisten und die Flugschriftverfasser um Mäßigung ersucht? Er tröstet sich denn auch mit der Bemerkung: »Eine schweigende Haltung England gegenüber war unserer öffentlichen Meinung doch nicht anzuerziehen.« In Frankreich erzog Herr Delcassé, als die Stunde das erforderte, der Öffentlichkeit eine schweigende Haltung gegenüber England an. Warum konnte in Frankreich, wo der Englandhaß so laut getobt hatte und wirkliche Wunden schmerzten, das vollbracht werden, was in dem gedrillten Deutschland nicht durchzusetzen war? Unbestreitbar auch deshalb, weil die Schreiber und Redner dort mehr politische Erziehung hatten als bei uns. Vor allem aber deshalb, weil dort die politische Leitung, nicht das Militär oder die Marine, den Ausschlag gab. In jedem anderen Staate waren Militär und Marine nichts als Instrumente der auswärtigen Politik. In dem militarisierten Deutschland hatten sie eine Sonderstellung, waren sie, seit Bismarck ihnen nicht mehr im Wege stand, mächtiger als ein Reichskanzler und weit beliebter als alle Diplomatie. Es war die disziplinierte Unordnung mit tadellosem Putz. Die Anarchie in gleichem Schritt und Tritt.

106 Herr von Tirpitz soll persönlichen Freunden und Mitarbeitern erklärt haben, er habe von den Verhandlungen über ein englisches Allianzangebot gar nichts gewußt. Wenn er informiert gewesen wäre, so hätte er für den Abschluß des Bündnisses mit England gestimmt. Es ist sehr möglich, daß der argwöhnische Holstein, der die Reichspolitik für seinen Privatbesitz hielt, keine Andeutungen über die Einzelheiten der Londoner Vorgänge bis zu Herrn von Tirpitz dringen ließ. Diese Vorsicht war sicherlich nicht tadelnswert. Wenn aber Herr von Tirpitz nachträglich sagt und sagen läßt, er würde das Allianzangebot befürwortet haben, so hört man solche Worte ungläubig an. Es wäre ihm nicht entgangen, daß die Allianz die Flottenpropaganda knicken müßte, und er hätte sich die Sache zweimal überlegt.

Ein Faktum bleibt noch, das erwähnt werden muß. Wilhelm II. empfand manchmal ganz richtig, daß man die englischen Vorschläge nicht abweisen dürfe, und als er von der Beisetzung der Königin Viktoria heimkehrte, sprach er die Befürchtung, daß man sich zwischen zwei Stühle setzen könnte, dem Grafen Wolff-Metternich gegenüber aus. In den Akten gibt es, zwischen den fürchterlichen Ausbrüchen der Gekränktheit und den Blüten des Straßenjargons, auch da sehr vernünftige Bemerkungen von kaiserlicher Hand. Als im April 1904 Graf Bernstorff – kein Anhänger der Bündnisidee und darum von Bülow als Muster hingestellt – in einem Berichte empfahl, dem nach Deutschland kommenden König Eduard einen warmen Empfang zu bereiten, und hinzusetzte, selbst die rabiatesten Alldeutschen müßten die Versöhnung der englischen öffentlichen Meinung wünschen, wenn sie ihren Verstand zu Rate zögen, schrieb der Kaiser: »Die haben ja keinen Verstand!« Er sagt in seinen »Ereignissen und Gestalten«, er habe eine Allianz mit England, oder, wenn sie nicht zu haben gewesen wäre, ein »agreement« gewünscht. Am Morgen wünschte er das, aber am Abend tat er das Gegenteil. Im übrigen ist seine Darstellung der Vorgänge so oberflächlich und schief, daß man den Eindruck hat, es sei ihm peinlich, davon zu sprechen, oder er wisse noch heute nichts. »Das Parlament war nicht 107 dafür zu haben«, schreibt er, als hätte er das britische Parlament befragen lassen und sich eine Ablehnung geholt. »Und so verlief der Plan im Sande«, sagt er, nachdem er darüber wie über die gleichgültigste Episode hinweggegangen ist. Über die einzelnen Etappen der Verhandlungen hat man ihn offenbar wirklich nur wenig informiert. Wenn Holstein in seinen Telegrammen sich sehr häufig auf die Wünsche des Kaisers beruft, so ist das kein Gegenbeweis. Holstein, der dem unbequemen Londoner Drängen ausweichen wollte, rettete sich abwechselnd hinter eine einzelne Äußerung Bismarcks und hinter den monarchischen Kleiderschrank.

Es war übrigens vollkommen begreiflich, daß man Wilhelm II. im Unklaren ließ. Denn als er im Jahre 1898 etwas von jenen ersten Gesprächen Hatzfeldts und Chamberlains erfahren hatte, teilte er, wie schon erwähnt wurde, diese Gespräche sofort, mit dramatischer Ausschmückung, in einem Briefe seinem Vetter Nicky, dem Zaren, mit. »Die Traditionen, in denen ich von meinem geliebten Großvater gesegneten Angedenkens in bezug auf unsere beiden Häuser und Länder aufgezogen wurde, sind,« schrieb Wilhelm II. am Anfange dieses Briefes, »wie Du mir zugeben wirst, meinerseits stets, als ein heiliges Vermächtnis von ihm, aufrechterhalten worden, und meine Loyalität Dir und Deiner Familie gegenüber steht, wie ich mir schmeichle, über jedem Verdacht.« Dann kam die Mitteilung: »Um Ostern herum sandte ein berühmter – englischer – Politiker (womit Chamberlain gemeint ist) aus eigenem Antrieb plötzlich zu meinem Botschafter und bot ihm à brûle-pourpoint einen Bündnisvertrag an.«. Der Kaiser erzählte dem lieben Vetter weiter, daß das Ersuchen erneuert, auf seinen Befehl »kühl und dilatorisch in farbloser Fassung beantwortet«, jetzt aber durch »ungeheuere Anerbietungen« ergänzt worden sei. Wilhelm II. richtete an den »liebsten Nicky« die Frage: »Nun bitte ich Dich, als meinen alten und vertrauten Freund, mir zu sagen, was Du mir bieten kannst und willst, wenn ich ablehne«, und er ersuchte ihn um Stillschweigen und Diskretion. Es ist selbstverständlich, daß der Brief, in dem Wilhelm II. das 108 Geheimnis der Londoner Besprechungen preisgegeben und mit seinen eigenen Zutaten versehen hatte, um in Petersburg Vorteile herauszuschlagen, dem englischen Hofe nicht lange unbekannt blieb. Zu den Eigentümlichkeiten Wilhelms II. gehörte es, daß er, der die Indiskretion wie ein politisches Hausmittel anwandte, sich vertrauensvoll auf die Diskretion der anderen verließ. Wie er sich beeilte, den Zaren über die vertraulichen englischen Eröffnungen zu informieren, unterrichtete er die englische Verwandtschaft über die russischen Schritte, und er hielt sich wieder für sehr listig und verschlagen, für einen Künstler der politischen Intrige, wenn er so grobe Fäden spann. Diejenigen, die er einzuspinnen wähnte, sagten von ihm, was Shaftesbury von dem englischen Karl II. gesagt hat: »Der König hat seine Sache so geführt, daß niemand in der Welt, weder Mann noch Frau, sich auf ihn zu verlassen wagt, noch auf sein Wort oder seine Freundschaft vertraut.«

In späteren Jahren ist versucht worden, einen Teil von dem zurückzugewinnen, was zwischen 1898 und 1900 hingegeben worden war. Nachdem England sich mit Frankreich geeinigt hatte, kam allen solchen Versuchen nur noch eine sehr verminderte Bedeutung zu. Es gibt ein Wort des Heraklit: »Niemand schwimmt zweimal durch denselben Fluß.« Was sagen soll, daß die Wasser vorbeifließen, und daß die entrinnende Flut nicht wiederkommt. 109

 


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