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[Vollendete Tatsachen]

Am Sonnabend, den 1. August, um 6 Uhr abends, wurde, nachdem aus Petersburg keine Antwort auf das deutsche Ultimatum eingetroffen war, die Mobilmachung angeordnet. Ungefähr gleichzeitig erging in Frankreich der Mobilisierungsbefehl. Am Abend des 31. Juli war in Paris Jaurès ermordet worden.

3. August 1914

Man hatte sich an den Stellen, wo der deutschen Politik ihre Richtung gewiesen wird, am Sonnabend abend noch gegen das Wort Krieg gesträubt. Man erklärte, dass eine Mobilmachung noch nicht gleichbedeutend mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und mit dem Kriege sei. Spätere Geschichtsforscher werden sich vielleicht dabei aufhalten, dass der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf Pourtalès, der russischen Regierung einige Stunden nach Ablauf der Ultimatumsfrist erklärt haben soll, Deutschland befinde sich nunmehr mit Russland im Kriegszustand. Aber es kann für keinen vorurteilsfreien Menschen ein Zweifel darüber bestehen, dass Russland durch seine Mobilisierung und die Bedrohung der deutschen Grenze den Krieg unvermeidlich gemacht hat. Die Nachricht, dass Russland trotz den schwebenden Verhandlungen die Gesamtmobilisation vorgenommen habe, traf hier am Freitag mittag ein, als im Reichskanzlerpalais gerade Herr v. Bethmann Hollweg mit einigen leitenden Persönlichkeiten über die Lage beriet. Ein Diener brachte in einer der roten Depeschenmappen das Telegramm das Grafen Pourtalès, das die Mobilisation mitteilte, und allen Anwesenden war es klar, dass es nun kein Halten mehr gab.

Wieviel und welche Mächte in diesem Kriege uns und den Oesterreichern gegenüberstehen werden, wissen wir in dieser Stunde noch nicht. Noch ist vieles unklar und in Dunkel gehüllt, aber wir müssen damit rechnen, dass der eine oder der andere, der uns in heiterer Friedenszeit freundliche Worte gab, im Augenblick bitterer Entschliessung abseits bleiben wird, und wir müssen dafür hoffen, dass sich tätige Freundschaften anmelden werden, an die wir kaum gedacht. England, dessen Bestrebungen zur Erhaltung des Friedens in Deutschland mit Dank aufgenommen und anerkannt worden sind, sagt nichts darüber, ob es in den Krieg eingreifen oder neutral bleiben will. Es wird diesen abwartenden Standpunkt vielleicht auch noch heute und morgen nicht aufgeben, und ähnlich mag die Taktik einiger anderen nicht zu den Grossmächten zählenden Staaten sein. Jeder rüstet, und nur die wenigsten sagen, gegen wen. Und man spürt, wie eine Welt auf der Lauer liegt.

Aus Frankreich hatte man, seit die Nachricht vom Tode des warmherzigen Friedensfreundes Jaurès zu uns gedrungen war, nichts mehr gehört. Alle Drähte sind zerschnitten, und dieses Nachbarland scheint von uns durch hundert Mauern abgesperrt. Wir erfuhren nur durch Reisende, die noch über die Grenze flüchteten, dass Paris in ein Heerlager verwandelt, von Erregung durchbebt und von Munizipalgarden und reitenden Patrouillen behütet sei. Jetzt wird kurz berichtet, dass das Kabinett Viviani umgeformt und dass eines jener parteilosen, aus allen starken Männern zusammengesetzten Ministerien gebildet wurde, die man in Frankreich als »Kabinette der nationalen Verteidigung« zu bezeichnen pflegt. Dieses neue Ministerium hat ein Manifest an das französische Volk ergehen lassen, das sehr vorsichtig abgefasst ist, keine Provokation enthält, von Russland nicht spricht und noch die Hoffnung, dass der Frieden gewahrt bleiben werde, betont. Wir alle würden es begrüssen, könnte diese Hoffnung sich erfüllen und könnte der Frieden mit Frankreich erhalten werden, aber die französische Regierung hat auf die deutsche Anfrage, wie sie sich während eines deutsch-russischen Krieges verhalten wolle, nur eine ausweichende Antwort nach Berlin gesandt.

Dieser Krieg ist über das deutsche Volk unheimlich jäh hereingebrochen, und noch gehen viele wie betäubt herum. Tatenfrische Abenteuerlust mag sich solchen Wechsels freuen, ernst nachdenkende Menschen sehen mit Ergriffenheit die hunderttausend stillen Tragödien, die jetzt der grossen Tragödie des Welttheaters vorangehen, denken an die Not all der verlassenen armen Frauen und Kinder, die absolut, vor allem andern, gelindert werden muss, und erwägen ohne leichtsinnigen Uebermut die Schwere des Kampfes, in den wir ziehen. Aber das deutsche Volk nimmt das Unvermeidliche mit jenem tief wurzelnden, selbstverständlichen Pflichtbewusstsein, das seine höchste Tugend ist, hin, und auch der Abgünstigste muss sagen, dass es in diesem Augenblick ein grossartiges Beispiel gibt.

 

Am Sonntag, den 30. August, traf in Berlin die Nachricht von dem Siege bei Tannenberg ein.

31. August 1914

Von all den Siegesmeldungen, die wir in schneller Folge verzeichnen durften, hat die Nachricht von dem vernichtenden Siege bei Ortelsburg – oder, wie es in der Geschichte wohl heissen wird, von Tannenberg – die höchste und reinste Freude erweckt In seiner Rede im Beethoven-Saal hat Wilamowitz-Moellendorf neulich sehr fein und klar unsere einzelnen Gegner gekennzeichnet – und auch die Empfindungen, mit denen das deutsche Volk jedem einzelnen Gegner gegenübersteht – und er hat einen Unterschied gemacht zwischen dem französischen Volke, das nur widerwillig in diesen Kampf zog, und dem kühl berechnenden Briten, der unseren Welthandel zerstören will. Man könnte hinzufügen, dass auch ein Unterschied besteht zwischen dem Franzosen, der sein Land zu verteidigen sucht, und jener grossen russischen Masse, die ohne nationale Triebkraft den Befehlen des Zaren folgt. Frankreich zu besiegen, ist, da der Krieg nun einmal entfesselt ist und auch wir für unsere Existenz kämpfen, eine selbstverständliche Notwendigkeit. Jeder Sieg, den unsere Helden im Osten über die endlos heranwimmelnden, dumpf sich opfernden Russenscharen erringen, wirkt auf uns wie eine Befreiungstat. Nicht nur deshalb, weil der verwüstete, geschändete Boden Ostpreussens wieder reingefegt und seinen treuen Söhnen zurückgegeben wird, sondern auch deshalb, weil der Sieg über die russischen Armeen uns dem grossen Ziele dieses Krieges näherbringt.

Denn wir dürfen doch nie vergessen, dass unser Trachten nicht nach einem jetzt vielleicht sich darbietenden Gewinne ging, dass der Grundgedanke dieses Krieges kein Eroberungsgedanke war, dass die Allianzverpflichtungen Frankreichs, das Selbstvertrauen Belgiens und die Einmischung Englands uns von der geraden Linie abdrängen konnten, dass aber diese Linie keinen Moment lang aus dem Auge verloren werden darf. Die Frage, auf die dieser Krieg die Antwort geben muss, lautet: Soll der geblendete russische Zyklop weiter drohend vor unserer Tür sitzen, soll Russland neben oder mit England unserer hinausstrebenden Entwicklung überall den Weg versperren? Unzweideutig hat in seiner Reichstagsrede auch Herr v. Bethmann Hollweg diese Frage aufgestellt. Es ist niemand unter uns, der nicht wüsste, wie die Antwort zu lauten hat. Die russische Flutwelle muss so zurückgedämmt werden, dass sie den Lebenswillen des deutschen Volkes nicht mehr bedrohen kann.

Dass das Problem gewaltig und vielgestaltig ist, empfinden diejenigen, die sich die Ruhe des Denkens bewahrt haben, nicht erst seit diesem Augenblick. So einfach, wie frische Unbefangenheit glauben mag, sind diese Dinge nicht. Es ist ja möglich, dass Frankreich aus seinen Niederlagen in absehbarer Zeit die Konsequenzen ziehen wird, die ihm der Selbsterhaltungstrieb zu gebieten scheint. Aber wer das französische Volk kennt, rechnet auch mit der anderen Möglichkeit. Mancher hat schnelle Schlüsse aus der Tatsache gezogen, dass in dem neuen französischen Kabinett neben dem eitel verbohrten Delcassé und dem ähnlich gesinnten Millerand der bisher sehr verständige Sozialist Marcel Sembat sitzt. Aber es liesse sich aus dieser Tatsache doch auch folgern, dass Sembat heute – einstweilen noch – dem Standpunkt Delcassés und Millerands nahe ist. Auch mit einer Revolution in Paris, mit einer richtigen, ernsthaften Revolution zu rechnen, würde unvorsichtig sein. An der Spitze Frankreichs steht nicht, wie 1870, ein dem Volke aufgezwungenes Regime, sondern eines, in dem das Volk sich wiedererkennt. Nein, wir dürfen nicht auf Ereignisse zählen, die vielleicht von draussen her kommen können, für die uns aber die Bürgschaft fehlt. Wir sollen und wollen nur auf die Ereignisse bauen, die aus unseren eigenen Taten, aus dem Heldenmut unserer Armeen, entstehen. Und wenn unser Heer sich bis zum Schlusse nach allen Seiten hin wenden muss, so ist ihm das jetzt nicht mehr neu. Es wird, bis zum Schlusse, der gigantischen Aufgabe gewachsen sein.

Soll uns der Zarismus, hochmütig wie vorher, sagen dürfen, wir hätten in diesem opferschweren Kriege mancherlei anderes, aber nicht die Niederwerfung der russischen Macht erreicht? Er würde uns Luft und Licht nehmen und uns umklammern bis zur Unerträglichkeit. Darum ist die Theorie, dass wir uns im Notfall anderswo schadlos halten könnten, falsch, denn es gibt für uns keinen Wert, der so hoch wäre wie die Sicherung der Lebensmöglichkeit Darum begrüssen wir mit so unendlicher, weit über alle Worte hinausgehender Freude den stolzen, gewaltigen Sieg von Tannenberg, die grandios niederschmetternde Tat der ostpreussischen Armee. Darum gehen unsere Wünsche zu dem tapferen österreichischen Heere, das seit vier Tagen in Polen kämpft. Und darum hoffen und vertrauen wir darauf, dass der Gedanke verwirklicht werden wird, aus dem das deutsche Volk in Wahrheit die moralische Kraft zu solchen Taten schöpft.

 

Im Westen hatte sich, nach der Schlacht an der Marne, der Stellungskrieg entwickelt, in Polen hatte die deutsche Armee unter Mackensen schwer ringend sich der russischen Umklammerung entzogen, der Kampf dauerte fort. Am 2. Dezember trat der Reichstag wieder zusammen, Herr v. Bethmann Hollweg wendete sich in seiner Rede besonders gegen England, das nach der Reichstagssitzung vom 4. August in den Krieg eingetreten war. Er sagte: »Deutschland lässt sich nicht vernichten!« und schloss mit den Worten, dass wir »deutsches Wesen und deutsche Kraft pflegen und entfalten wollen als freies Volk.« – Zu den Mitteilungen über den letzten englischen Vorschlag, der auf eine vorläufige Besetzung Belgrads durch Oesterreich-Ungarn hinausging, lieferte die Veröffentlichung deutscher und österreichischer Depeschen in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vom 11. Oktober 1917 neues Material. Es wird erst später möglich sein, ein abschliessendes Urteil zu fällen.

30. November 1914

Wenn am 4. Dezember der Reichstag wieder zusammentritt, liegen vier blutige und schwere Kriegsmonate hinter uns. Sie haben bei dem rasenden Niederfluten ins Gewesene sehr viel liebe, tapfere, opferstarke Menschen mit fortgenommen, sie lassen sehr viel Ruinen und sehr viel Heldenglanz, sehr viel Tränen und sehr viel Dankespflichten zurück. Heute vor vier Monaten, am 30. Juli, brachten die Morgenblätter die Nachricht, dass in Russland die Mobilisierung von sechzehn Armeekorps an der Südwestgrenze angeordnet worden sei. Damals schrieben wir hier: »Noch niemals ist ein Krieg ausgebrochen, den diejenigen, die ihn auskämpfen sollen, so wenig herbeigerufen haben, und doch ist, gegen den Wunsch der Nationen und ihrer leitenden Persönlichkeiten, die Weltkatastrophe nahe gerückt. Ob das unvermeidlich war, ob das alles so kommen musste, darf jetzt nicht erörtert werden – die öffentliche Meinung Deutschlands ist, wie wir wiederholt gesagt haben, vor fertige Tatsachen gestellt worden, und sie kann bis zuletzt die Bemühungen zur Erhaltung des Friedens nur unterstützen, indem sie eine kaltblütige Ruhe zeigt.« Im Anschluss daran wurde hier, in dem Artikel vom 30. Juli, als letztes Rettungsmittel eine öffentliche Erklärung bezeichnet, »dass das kriegerische Unternehmen Oesterreich-Ungarns in Serbien seine örtliche Begrenzung haben und zunächst sich auf die Besetzung bestimmter strategischer Punkte beschränken werde,« und für diese Idee traten – allerdings nicht öffentlich, sondern »in der Heimlichkeit der Kabinette« – ja auch die Berliner leitenden Kreise und der König Georg von England ein. Auch die »Pall Mall Gazette« empfahl am gleichen Tage, dass die österreichisch-ungarische Armee Belgrad besetzen und dass man dann mit den Verhandlungen beginnen solle, und diese Vorschläge schienen einen Augenblick lang nicht ganz aussichtslos. Es ist neulich hier, auf Grund des russischen Orangebuches, gezeigt worden, wie man dann in Petersburg mit Hilfe des englischen Botschafters, der eine höchst zweideutige Rolle spielte, der englischen Formel eine andere Fassung gab. Sie begann nun mit den Worten: »Wenn Oesterreich einwilligt, den Vormarsch seiner Armeen auf dem serbischen Territorium einzustellen«, und war, da dieser Vormarsch noch kaum begonnen hatte, ohne jeden Wert. Aber dieses Petersburger Manöver, das sehr bezeichnend ist und viel zu wenig beachtet wird, hat dann einen entscheidenden Einfluss nicht mehr ausgeübt. Nach der allgemeinen Mobilisierung Russlands flogen alle Formeln und Vorschläge beiseite und die Völker glitten mit verwirrender Schnelligkeit in den Krieg.

Der Reichskanzler, Herr v. Bethmann Hollweg, wird, wie es bis jetzt wenigstens heisst, in der Reichstagssitzung am Mittwoch der einzige Redner sein. Die Hauptsache ist, dass die unverminderte und unerschütterliche Einigkeit des Reichstages zum Ausdruck kommt, und es ist gleichgültig, auf welche Weise das geschieht. Herr v. Bethmann Hollweg empfängt in diesen Tagen auch die Parteiführer, die somit eine Gelegenheit haben, alles vorzubringen, was ihnen am Herzen liegt. Es ist ja klar, dass in vier Kriegsmonaten mancherlei Wünsche und Beobachtungen aufgespeichert worden sind. Allerdings fehlt den Abgeordneten heute die eigentliche Sammelstelle der Informationen, da die Presse aller Parteien sich gegenwärtig – nicht nur notgedrungen, sondern im Bewusstsein ihrer Verantwortung – eine sonst unbekannte Zurückhaltung auferlegt. Das Material, das bei den Zeitungen mehr als bei irgendwelchen Einzelpersonen zusammenströmt, wird nur gesiebt und gesichtet ans Licht gebracht, und die Erörterung der Vergangenheitsbeschwerden, Gegenwartswünsche und Zukunftsfragen bleibt vertagt. Die Aufgabe der Abgeordneten, die dem Reichskanzler Nötiges und Nützliches sagen wollen, ist heute zugleich schwerer und leichter als in jeder anderen Zeit. Schwerer, weil in Nebenfragen die Informationsmittel begrenzt sind, und leichter, weil ja über die Hauptfrage in ganz Deutschland nur eine einzige Meinung besteht.

In diesen vier Monaten sind Helden und Heldentaten gesehen worden, die man nie vergessen wird. Neben denen, die man kennt und nennt, haben hunderttausend Ungenannte mit todverachtendem Opfermut alle alten Heroenlieder übertroffen und alle alte Kriegerglorie überstrahlt. Die Ernte ist nicht so schnell gereift, die grossen Entscheidungen sind nicht so rasch gekommen, wie mancher voreilig auftrumpfende Wirtshauspolitiker angenommen hat. Wer nicht mit selbstbewusster Ueberlegenheit, sondern in ruhiger Prüfung das, was jenseits unserer Grenzen hinzugelernt wurde, zu wägen wusste, war von alledem nicht überrascht. Aber beinahe könnte man finden, dass das deutsche Volk heute noch sicherer und fester sei als in den ersten Tagen, wo ein lauter Siegesjubel durch die Strassen zog. Das Volk hat in diesen vier Monaten deutlich erkannt, dass das Leben weitergeht, auch wenn draussen der Tod so viele von unseren Liebsten niederwirft, und dass alles sich regelt, verdienstbringender Handel und Verkehr nicht aufhören, der grosse Quell der Daseinsmöglichkeiten nicht verebben kann. Welcher Fremde fände im Bilde Berlins den Stillstand des Lebens und die Zeichen einer lastenden Sorgenstimmung, von denen in den Auslandsblättern gefabelt wird? Beinahe möchte man mitunter etwas weniger Alltagsbewegung und etwas mehr Anpassung an den gewaltigen Ernst dieser Schlachtenstunden wünschen, wenn man manchen Klingklang und die Heiterkeit der Litfasssäulen sieht.

Diesem Volke muss nach solchen Beweisen von moralischer Kraft, Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft jeder, der seine Interessen zu vertreten hat, mit immer vermehrter Gewissenhaftigkeit dienstbar sein. Nicht zuletzt ist den Reichstagsabgeordneten, die sich jetzt wieder in Berlin zusammenfinden, diese hohe Pflicht auferlegt. Wir dürfen erwarten, dass sie in ihren Besprechungen mit dem Reichskanzler gründlich und nach Ausnutzung aller Informationsmittel die Fragen der Gegenwart und der Zukunft erörtern werden, an die jeder Einsichtige denkt. Und dann werden sie einig und klar dem unveränderlichen Volkswillen Ausdruck verleihen. Am 2. August haben sie, nach der russischen Drohung und, wie alle anderen, vor fertige Tatsachen gestellt, im Namen der Nation Durchhalten bis zum Siege gelobt. Dabei wird es bleiben, bis wir vor den neuen fertigen Tatsachen stehen werden, auf denen ein gesicherter Frieden sich aufbauen soll.

 

Schon in mehreren anderen Montagsartikeln wurde die Schädlichkeit des jäh erwachten intellektuellen Betätigungsdranges gezeigt, wurden die Denker und Dichter, die einander in Starkgeistigkeit überboten, zur Heimkehr in den Musentempel ermahnt.

7. Dezember 1914

Professor Wilhelm Ostwald hat einem schwedischen Journalisten allerlei über Deutschlands Absichten gesagt, was im Auslande mehr oder minder missverstanden worden ist und auch den Neutralen nicht gefallen hat. Der Gelehrte soll erklärt haben, Deutschland habe, dank seiner organisatorischen Fähigkeit, eine höhere Stufe der Zivilisation als die anderen Völker erreicht, und das Resultat des Krieges werde die Organisation Europas unter deutscher Führung sein. Die russischen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler haben jetzt eine Antwort auf die Kundgebung der »deutschen Intellektuellen« verfasst, und in dieser russischen Entgegnung heisst es, »die Legionen Deutschlands« zeigten schmachvoll der Menschheit, dass »das entsetzliche Tier noch immer im Menschen lebt«. Gorki, der Präsident der Tolstoi-Gesellschaft Dawydow, Stanislanski und der alte Liberale Struve scheinen nichts davon zu wissen, wie ihre Armee in Galizien haust und wie man die deutschen Zivilisten nach Sibirien schleppt, und protestieren in erregten Worten gegen die Vernichtung der Kunststätten in Belgien und Frankreich, gegen die Zerstörung der Städte, gegen die »infame Behandlung, die man schutzlosen Opfern, Greisen und Frauen zuteil werden lässt«. Der hochbetagte Ernst Haeckel hat im »Monistischen Jahrhundert« einen ganzen Teilungsplan entworfen, London erobert, Belgien halb an Holland gegeben und halb dem Deutschen Reiche angefügt, den Kongostaat, einen grossen Teil der englischen Kolonien, den Nordosten Frankreichs, Polen und die russischen Ostseeprovinzen annektiert, und einige andere deutsche Professoren haben, wie es scheint, in der gleichen Zeitschrift durch die Darlegung ihrer politischen Ideen manche Bürger der kleineren Staaten in Unruhe versetzt. Der Schweizer Gelehrte Auguste Forel erklärt sehr hitzig, die Herren sprächen mit Verachtung von diesen kleinen Staaten, die deshalb allen Grund hätten, vor Deutschland auf der Hut zu sein, und er versichert, dass »sogar die kleine Schweiz sich bis zum letzten Blutstropfen gegen euere Einbruchs- und Hegemoniepläne verteidigen wird«. In London ist ein Schreiben veröffentlicht worden, in dem der ehemals nüchterne französische Nationalökonom Yves Guyot Elsass-Lothringen seinem Vaterlande und Posen den Polen gibt, und in Mailand hat Maeterlinck in einer Rede den Italienern abermals versichert, die Deutschen hätten Brüssel, Gent, Brügge und Antwerpen unterminiert. Und Anatole France, der schon Schweigen gelobt hatte, dankt in einem offenen Briefe dem Präsidenten der portugiesischen Akademie der Wissenschaften, Théophile Braga, der in einem Manifest von der Verherrlichung des »teutonischen Vandalismus« durch die deutschen Intellektuellen, diesen »entarteten Intelligenzen«, spricht.

Die holländische Zeitschrift »De Amsterdammer« hat zwei Briefe »eines der bekanntesten philosophischen Gelehrten in Deutschland« veröffentlicht. Als holländische Leser an einen literarischen Scherz glaubten, hat die Redaktion der Zeitschrift den Namen des Briefschreibers mitgeteilt. Geheimrat Professor Adolf Lasson, der Philosoph der Berliner Universität, hat diese Briefe, mit der Erlaubnis, jeden beliebigen Gebrauch davon zu machen, einem Freunde in Holland geschickt. Hier ein paar Sätze, die nicht willkürlich herausgerissen, sondern dem übrigen in Sinn und Form gleichartig sind: »Seit Monaten habe ich keinem Ausländer geschrieben. Ausländer heisst Feind, dum probetur contrarium. Man kann zum deutschen Staat und Volk sich nicht neutral verhalten. Entweder man hält es für das vollendetste Gebilde, das die Geschichte bisher erzeugt hat, oder man billigt seine Zertrümmerung, ja seine Ausrottung. Wir sind sittlich und intellektuell überlegen, ohne allen Vergleich, ebenso unsere Organisationen, unsere Institutionen. Wilh. II., deliciae generis humani, hat im Besitze seiner Macht, mit der er alles zu zerschmettern imstande war, immer den Frieden, das Recht und die Ehre geschützt. Sein Kanzler B. H., der weit hervorragendste unter den lebenden Menschen, kennt keine anderen Motive als Wahrhaftigkeit, Treue, Recht. Wir Deutschen tragen unsere schwere Rüstung auch zum Schutze von Holland. Das Königreich führt ein bequemes Dasein auf unsere Kosten. Es zehrt vom alten Ruhm und alten Geld in vollkommener geschichtlicher Nichtigkeit, und Amsterdam hat ungefähr in der Welt die Bedeutung von Kyritz a. d. Knatter oder der Kreishauptstadt Teltow. Holland ist ein blosses Anhängsel von Deutschland; eine sehr bequeme Existenz in Schlafrock und Pantoffeln, die wenig kostet, mit wenig Mühe und wenig Nachdenken. Wir Deutschen haben für das gegenwärtige Holland sehr wenig Wertschätzung, geringe Achtung und Sympathie. Gott sei Dank, dass die Holländer nicht unsere Freunde sind!«

Die intellektuelle Kriegsneurose nimmt einen bedenklichen Umfang an. Die Verheerungen, die sie im gegnerischen Lager anrichtet, berühren uns nicht, aber im eigenen Hause sähen wir ihre Wirkungen gern abgeschwächt. Man beachte, dass die uns feindlichen Opfer dieses epidemischen Zustandes Deutschland mit den zornigsten Anklagen überhäufen, aber genug politischen Instinkt besitzen, um niemals den neutralen Völkern wehe zu tun. Unsere Intellektuellen stossen, sobald jene Erscheinungen sich bemerkbar machen, mit Vorliebe den Neutralen vor den Bauch, und es ist klar, dass dies die gewaltigen Schwierigkeiten, die Deutschland heute zu überwinden hat, nicht gerade vermindern kann. Wilamowitz-Möllendorf, Lamprecht, Eucken, Hans Delbrück, der Düsseldorfer v. Wiese und einige andere haben seit Beginn des Krieges mit ruhigem Wirklichkeitssinn ausgezeichnete Worte gesagt, aber das alles dringt kaum zu dem Publikum im Auslande, das sich um so eifriger mit den bekannten Manifesten und mit den Ideen Haeckels und Lassons befasst. Wer nur einigermassen die Zeitgeschichte kennt, wird es ablehnen, ein Lobredner der Diplomaten zu sein. Aber die sogenannten geistigen Führer haben mitunter weniger politische Einsicht als der jüngste Gesandtschaftsattaché. Ihr Herz hängt so treu wie das jedes einzigen Menschen in Deutschland an den Kämpfern auf dem Kriegsschauplatz, und mit jedem Gedanken ersehnen sie den Sieg, aber sie vergessen zu leicht, dass das Wohl unserer Soldaten auf hundert materiellen Vorbedingungen beruht und dass in diesem bitterernsten Kampfe kein Hilfsmittel entbehrlich, keine Freundschaft gleichgültig ist.

Was Herr v. Bethmann Hollweg neulich im Reichstag über die Vergangenheit sagte, bleibt, da jetzt kaum Zeit zu Rückblicken ist, am besten für spätere Erörterungen aufgespart. Was er über die Gegenwart und die Zukunft äusserte, wurde mit Recht in ganz Deutschland zustimmend begrüsst. In der Gegenwart müssen wir jedes Opfer bringen, um siegreich aus diesem furchtbaren Kriege hervorzugehen, und in der Zukunft soll ein freies Volk die Früchte dieser schweren Tage geniessen und Herr über seine Geschicke sein. Aber wenn ein Volk von solcher politischen Erstarkung den rechten Gebrauch machen soll, ist es nötig, dass es auch immer mehr nach politischer Schulung strebt – nach jener Schulung, die im klaren Verständnis für die Wirklichkeiten der Welt besteht. Als der Krieg begann, haben manche etwas zu sehr um das eigene Ich besorgte Leute gefragt: was sollen wir tun, während die Helden dort draussen kämpfen, wie kommen wir über diese Zeit hinweg? Denjenigen, die noch nicht das Richtige gefunden haben sollten, kann man antworten: lernt!

 

Schon zu Anfang des Jahres 1915 hielten es ahnungsvolle Konservative für nötig, dem Gedanken an eine »Demokratisierung« Preussens und des Reiches entgegen zu treten. Zu diesen besorgten Männern, die sehr richtig die Zeichen am Horizont zu deuten verstanden, gehörte bereits der Fürst zu Salm-Horstmar, der dann später einer der eifervollsten Bethmann-Bekämpfer war.

4. Januar 1915

Unter den Briefen, die man aus der wirklichen Kampflinie und von den wirklichen Kämpfern erhält, sind viele sehr schön. Die Kriegsluft übt natürlich mancherlei und sehr verschiedenartige Wirkungen aus, aber neben den frisch-fröhlichen Briefen, die erfreuliche Zeichen des Wohlbefindens sind, liest man mit ganz besonderen Empfindungen diejenigen, aus denen ein gefestigter Ernst, eine männliche, im Kriege gereifte Klarheit spricht. Neulich wurde hier der gedankenreiche Brief erwähnt, in dem kurz vor seinem Soldatentode der Hauptmann Freiherr Marschall v. Bieberstein das im Schützengraben erträumte Bild einer besseren Zukunft entwarf. Von gleicher Nachdenklichkeit und Vornehmheit zeugt eine Karte, die uns, vom westlichen Kriegsschauplatz, ein Rittmeister gesendet hat. »Es ist«, schreibt er nach warm zustimmenden Worten, »eine eigentümliche Erscheinung, dass, vom Kriegsbeginn abgesehen, Hass und Verachtung nicht an der Front, sondern ausschliesslich daheim zu finden sind. Wir hier vorn tun unsere Pflicht und achten den Feind, der sie auch erfüllt.« Liegt in einem solchen Ausspruch nicht eine weit tiefere, ruhigere Kraft als in dem Gebaren manches sogenannten Heimkriegers, der in seinem häuslichen Draufgängertum sich und anderen um Himmels willen nicht schwächlich erscheinen will? Jedes dieser auf dem Schlachtfeld geschriebenen Worte ist auch unendlich wertvoller als das ganze Stilgeklecker der unbescheidenen kleinen Literaten, die gestern noch ein Kunstproblemchen zerfaserten und uns heute mit plötzlicher Starkgeistigkeit den so unverbrauchten Heroismus ihrer Seele enthüllen.

In Frankreich, wo die Presse jetzt von Fischweibern beherrscht wird, scheint der Schriftsteller Lucien Descaves einer der wenigen Intellektuellen zu sein, deren Verstand bisher nicht gelitten hat. Er hat neulich einen Briefwechsel zwischen einer französischen Mutter und ihrem in der Schlacht verwundeten Sohn mitgeteilt, der in all dem Gezeter zum mindesten den Reiz einer Abwechselung besass. Der Sohn will die Mutter trösten, indem er ihr schreibt, er habe, als die feindliche Kugel ihn getroffen hatte, noch schnell einen Deutschen getötet und also Rache geübt. Und die Mutter, die nichts vom Kriege versteht, antwortet: »Wenn du ihn nur verwundet hättest – hätte das nicht genügt?« Eine gewisse Beachtung verdienen – weil gerade da vielleicht die spätere Heilung der geistigen Schäden sich vorbereitet – auch einige Berichte und Artikel über die Stimmung in dem kleinen jetzt von den Franzosen besetzten elsässischen Gebiet. All die französischen Berichterstatter gestehen, der Empfang habe nicht den Erwartungen entsprochen, die elsässische Bevölkerung habe die Franzosen nicht mit der erhofften Begeisterung begrüsst. In Thann freilich hätten, als neulich die französische Justiz feierlich sich niederliess, junge Mädchen glücklich gelächelt und alte Männer vor Rührung geweint. Anderswo aber habe sich merkwürdig wenig Herzenswärme und sehr viel Misstrauen gezeigt. Auch der Lothringer Maurice Barrès hat den besetzten Landstreifen besucht, und der Artikel, in dem er seine Eindrücke wiedergibt, trägt die andeutungsreiche Ueberschrift: »Le notable sur le perron«. Der »notable«, der zu Ehrenämtern berufene elsässische Bürger, steht unbeweglich auf dem Bahnsteig und eilt nicht strahlend dem Gast entgegen, der aus Frankreich kommt. Obgleich Barrès und die anderen diese kühle Zurückhaltung natürlich damit erklären, dass die eingeborene Bevölkerung von zugewanderten »Spionen« umgeben sei und die Wiederkehr deutscher Truppen fürchte, spürt man doch, wie enttäuscht sie sind. Und diese Enttäuschung kann Medizinkraft gewinnen – später einmal, wenn der ganze Qualm, der diesen Krieg umgibt, von den Geistern gewichen sein wird.

Am Titelrand der »Humanité« liest man noch die Worte: »Begründet von Jean Jaurès«. Das ist das einzige, was dort noch von diesem ungewöhnlichen, in der grossen Unglücksstunde ermordeten Manne übrig ist. Sein Kamerad Louis Dubreuilh schreibt jetzt Artikel, in denen er jeden Gedanken an einen vorzeitigen Frieden bekämpft, weil »der Schiffbruch des deutschen Imperialismus« und des »deutschen Militarismus« nur durch die Fortsetzung des Krieges zu erreichen sei. Da unter dem »Militarismus« ja niemals das Heer und seine grossartige Organisation verstanden worden ist, kann man nur achselzuckend an den allzu Wandlungsfähigen vorbeigehen, die jetzt so tun, als hätten sie das Wort überhaupt nie gekannt – aber sehr gründlich ist auch die Wandlung, die sich in den Zielen und Anschauungen der »Humanité« vollzogen hat. Dort bekämpften Jaurès und seine Leute, unter denen sich schon damals Herr Dubreuilh befand, den französischen Nationalismus und die gefahrbringende Politik des Herrn Poincaré, und dort wurde die Allianz mit dem Zarenreiche entschieden abgelehnt. Jetzt vergisst man, dass dieser Krieg für das deutsche Volk ursprünglich nur ein Krieg gegen dieses Zarenreich war, und man übersieht in der geistigen Verwirrung, dass doch gerade die bekämpfte Allianzpolitik Frankreich in das Unheil hineingerissen hat. Der alte Vaillant, der mit seinem engen Fanatismus jetzt an der Stelle spricht, wo früher der hochherzige Jaurès jeglichen Fanatismus verwarf, ruft gemeinsam mit den Stephen Pichon und Clemenceau die japanische Hilfe herbei und versucht, die öffentliche Meinung gegen diejenigen aufzureizen, denen dieses Mittel wenig würdig oder politisch folgenschwer erscheint. Im »Journal« und in einigen anderen Blättern war auf die Nachteile und Gefahren dieser japanischen Hilfeleistung hingewiesen worden, deren Kosten man, bei einer Zahl von viermalhunderttausend japanischen Kriegern, in Frankreich auf fünf Milliarden schätzt. Es wurde erklärt, die französische Waffenehre würde beeinträchtigt werden, Tonking und Indochina würden verloren gehen, das französisch-englische Ansehen in Asien würde zusammenbrechen und die amerikanischen Anschauungen und Interessen würden nicht unbedenklich verletzt. Der extreme Sozialist Vaillant sieht, durch seine Brille, über all diese Kleinigkeiten hinweg. Er will jeden, der von Frieden mit Deutschland spricht, »brandmarken« und hofft, mit Hilfe der Japaner »die Freiheit der Völker und den Frieden der vereinigten Staaten von Europa« herzustellen.

Es berührt wohltuend, in dem Durcheinander der Begriffe und Meinungen Männer zu finden, die sich selber treu geblieben sind. Einige der preussischen Konservativen haben in diesen Tagen kundgegeben, dass auch nach diesem gewaltigen Volkskriege ihr politischer Standpunkt sich nicht ändern wird. Wie der Fürst zu Salm-Horstmar in der »Kreuz-Zeitung« hat der Abgeordnete v. Dewitz in der Zeitschrift »Das junge Deutschland« das gerade heraus gesagt. Er will keine »Schwächung der Exekutive« und meint, dass eine Demokratie niemals »den Besten lange als Besten dulden« kann. So erhebt er schon jetzt gegen »die Befriedigung demokratischer Gelüste der Wähler« Widerspruch. Herr v. Dewitz gehört wenigstens nicht zu denjenigen, die im Sturm ihre ganze Weltanschauung verloren haben, weil sie sie äusserlich trugen wie einen Hut. Dass wir seine Ansichten nicht teilen, ist selbst in der Zeit des politischen Burgfriedens eine Selbstverständlichkeit. Gerade dieser Krieg und das Vorangegangene zeigen, dass man, zum Heil des ganzen Volkes, nicht nur die Besten dulden, sondern vor allem die Auswahl der Besten ermöglichen muss. Und wenn gefragt wird, wo die Persönlichkeiten, diese kommenden Führer seien, so kann man antworten, dass sie in dieser Stunde vielleicht draussen das Vaterland verteidigen, im Schützengraben liegen oder vor dem Feinde auf Vorposten stehen. Mancher reift vielleicht dort heran, wo die treue Kameradschaft die sonst getrennten Söhne des gleichen Volkes zusammenführt und wo unter einem freien Sternenhimmel das ungeheuere Ereignis schlummernde Gedanken und Kräfte erweckt.

 

Am 17. Dezember 1914 hatte die Oberste Heeresleitung gemeldet: »Die von den Russen angekündigte Offensive gegen Schlesien und Posen ist völlig zusammengebrochen; die feindlichen Armeen sind in ganz Polen nach hartnäckigen erbitterten Frontalkämpfen zum Rückzüge gezwungen worden.« Zu gleicher Zeit hatte die Befreiung Westgaliziens begonnen. Seither gingen die schweren Kämpfe ohne Unterbrechung, besonders im Gebiete der Bzura und Rawka, weiter, und nur langsam drangen die deutschen Truppen, durch Wetterungunst und Morast behindert, vor.

11. Januar 1915

Die Mitteilungen aus dem Grossen Hauptquartier sprachen in all diesen Tagen von der ungünstigen Witterung, die das Vorwärtsdringen in Polen erschwert. Wird man jemals genug die Ausdauer und die Kraft dieser Kämpfer bewundern und belohnen können, die plötzlich aus den Bequemlichkeiten des häuslichen Lebens auf die polnischen Schlammwege hinausgeführt wurden und nun mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit durch Unwetter, tausend Beschwerlichkeiten und fortwährende Gefahren gehen? Herr Bassermann schrieb in einem Neujahrsartikel, dass wir »über die russischen Riesenheere schon Herr geworden sind«. Noch ist es nicht so weit, noch werden diese Riesenheere immer wieder durch neue Verstärkungen widerstandsfähig gemacht, und wir wissen nur, dass der Sieg in Polen errungen werden, nicht, wann er errungen werden wird. Mancher, der die russischen Soldaten und besonders die sibirischen Regimenter so gut ausgerüstet in ihren warmen Mänteln sah und Truppenteile, die weit aus Asien kommen, darunter erkannte, sprach die Meinung aus, die russische Regierung habe bereits im Frühjahr auf den Krieg hingestrebt und heimlich mobilisiert. Das ist wohl nicht richtig, die asiatischen Regimenter, denen deutsche Kaufleute im Mai auf irgendeiner Bahnstation begegneten, waren, wie alljährlich, zum Manöver verschickt worden, und die eigentlichen russischen Kriegsrüstungen begannen Mitte Juli, als man in Diplomatenkreisen von einem kommenden österreichischen Ultimatum an Serbien sprach. Diejenigen, die in Russland zum Kriege drängten oder doch mit dem Kriegsgedanken spielten, wollten ja zwei Jahre warten, um noch besser bereit zu sein. Als jetzt aber die serbische Frage, die für die russische Politik zu einer Bannerfrage geworden war, in der Ultimatumsform auftauchte, griffen sie zu. Maklakow, der reaktionäre Minister des Innern, trieb den zögernden Kollegen Sasonow an, die kleine Gruppe der »Nowoje Wremja« ging geschäftig ans Werk. Die Grossfürsten, der polternde Nikolai Nikolajewitsch und der gleichgültige Peter, waren von ihren montenegrinischen Weibern unterjocht. Diese Töchter Nikitas, Anastasia – Lady Macbeth aus Cettinje – und Militza, riegelten mit zarter Hand jede Tür ab, die der Menschheit einen Ausweg aus der Katastrophe zu gestatten schien. Und der Zar liess sich schieben und übertölpeln und war starr, als er hörte, die Mobilisierung bedeute Krieg:

Unter Finanzleuten und anderswo war jetzt wieder das Gerücht verbreitet, dass Russland den Frieden erstrebe, und sogar die Unterhändler wurden schon genannt. Mit Recht haben alle amtlichen Stellen immer, und auch jetzt, vor der Verbreitung solcher Gerüchte gewarnt. Gewiss dürfte es heute in Russland klarblickende Personen geben, die nicht an die Allheilkraft äusserer Macht glauben und sich auf Wirtschaft verstehen. Aber die meisten halten mit ihrer Meinung zurück, wie Witte, der jetzt angeblich – falls er nicht nach Petersburg heimgekehrt ist – in Biarritz ausruht, und wie Kokowzow, der sich ganz in Rote-Kreuz-Sorgen versenkt. Noch meint man, allerlei Trümpfe in der Hand zu haben, und noch hat Nikolai Nikolajewitsch seine Rolle nicht ausgespielt. Die Hoffnung auf einen neuen, russenfreundlichen Balkanbund ist, da Bulgarien ablehnt, endgültig eingesargt, und an die japanische Hilfe glaubt in Paris auch Gustave Hervé, wie man in seiner »Guerre Sociale« lesen kann, nicht mehr recht, aber mit um so heisseren Wünschen blickt man zu den österreichfeindlichen Parteien in Italien und Rumänien hin.

Lord Kitchener hat am Donnerstag im Oberhause, als er über die gesamte Kriegslage sprach, die Ereignisse in Polen in einem geschäftsmässig nüchternen Tone erwähnt. Von den ewigen »russischen Siegen«, mit denen Pariser und Londoner Blätter ihre Leser trösten, kam nichts in seiner Rede vor. Aus »Petrograd« hatte die russische Regierung besonders um Neujahr herum schön empfundene Siegesmeldungen geschickt, und der »Petit Parisien« beispielsweise gab ihnen die flammende Ueberschrift: »Les Russes sur tout le front forcent l'ennemi à la retraite.« Lord Kitchener weiss, begreiflicherweise, von den russischen Siegen und von dem »deutschen Rückzug« nichts und begnügt sich mit der Bemerkung: »Die Russen halten den Deutschen seit vierzehn Tagen stand.« Noch weit bezeichnender sind die andauernden Bemühungen gefälliger Publizisten in England und Frankreich, das – also offenbar schwindende – Vertrauen zu der russischen Freundschaft wieder herzustellen. In Frankreich widmet sich der »Matin« täglich dieser Aufgabe, in England arbeitet in solchem Sinne jetzt auch der Romandichter J. B. Wells. Bernhard Shaw, der sich, wie in Frankreich Romain Rolland, aus einer einseitigen Auffassung zu freierem Urteil durchzuringen versucht, hat über den Zarismus und die russische Knutenherrschaft einige Rücksichtslosigkeiten gesagt. Wells, der sich einen »Republikaner« nennt, versichert, das alles sei nicht wahr. Er erklärt, dass »die melodramatischen Geschichten über Russland und seine Herrscher absurde und gefährliche Legenden« seien. »Alles, was wir von Russland wissen, haben wir aus ein paar dummen Romanen und sinnlosen Rührstücken gelernt.« Es ist gewiss ein Fehler, dass Herr Wells nur dumme Romane und sinnlose Rührstücke kennt. Es gibt auch sehr ernsthafte Bücher, in denen manches über Russland steht. Da es sich jetzt gerade um das Schicksal Polens handelt, könnte er lesen, was der Pole Niemojewski geschrieben hat. »Und Europa ist neutral, verschafft Geld zur Errichtung dieser Galgen, dieser Wolfsgruben, und ist neutral.« Wells ist nicht neutral – er leugnet den Galgen und sieht in jedem russischen Kerkermeister eine edle Blüte des Menschentums. So wandelt in einem seiner bekanntesten Romane der Doktor Moreau auf einer weltfernen Insel Tiere in Menschen um.

Wenn er dann vom russischen Volk mit Liebe spricht, so können wir ihm sagen, dass auch bei uns niemand es hasst. Wie sollten besonders diejenigen, die aus der russischen Literatur den höchsten geistigen Genuss schöpfen, ein Volk hassen, das Tolstoi und Lermontow, Puschkin und Dostojewski, Nikolaus Gogol und Tschechow hervorgebracht hat? Wir wissen, dass in dem russischen Heere neben den Frauenquälern und Pogrombanditen auch all die Menschen Tolstois verbluten, mit ihrer breiten Naturpracht, ihrer mystischen Hingabe, ihrer kindlich gradlinigen Einfachheit. Aber wir haben sie – wie man auch sonst zu den Julivorgängen sich stellen mag – nicht an unsere Grenzen gerufen; Nikolai Nikolajewitsch hat sie herbeigeschleift. Sie wissen nicht, warum sie da sind, und empfinden höchstens unklar die Dostojewskische Abneigung gegen alles Nichtrussische oder auch jene Fremdheit gegenüber dem Wesen des Deutschen, die am besten von Alexander Herzen dargelegt worden ist. Sie kämpfen, wenigstens an den ersten Tagen, gewiss so gut, wie jemand kämpfen kann, der den Sinn seiner Leiden nicht versteht, den Zweck der ihm auferlegten Opfer nicht sieht. Nikolai Nikolajewitsch geht polternd, fuchtelnd, rügend und strafend hinter den Reihen herum, wie es schon in den Manövern seine Gewohnheit war. Und in Petersburg belauert die montenegrinische Anastasia, immer noch hoffend, das Steigen des Blutstromes, der zu ihrer Palasttür die Zarenkrone tragen soll.

 

Die hier geäusserte Ansicht, dass die französische Presse bis ans Ende ihren Lesern die Tapferkeit und Geschicklichkeit des russischen Alliierten preisen werde, war irrig. Nach dem Zusammenbruch des Zarentums und der russischen Heeresmacht konnte man nicht mehr bewundern, und man kritisierte nun sogar sehr scharf. Als die zaristische Herrschaft ihr Ende erreichte, hörte übrigens auch der russische Goldstrom auf. Ganz ebenso wie es nach der Absetzung Abdul-Hamids keine türkische »Subventionen« und »Konzessionen« mehr für bedürftige Blätter und Publizisten gab.

25. Januar 1915

Dem Wahn, dass Frankreich von England loszutrennen sei, geben sich heute, trotz all den Geschichtchen über französisch-englische Lagerzänkereien, wohl nur noch wenige Leute in Deutschland hin. Um das Jahr neunzehnhundert herum konnte eine entschlossen zugreifende Diplomatie entweder einen Marokkovertrag mit Frankreich und Spanien zustande bringen und dem auf beiden Seiten des Kanals lodernden Faschodahass zu langer Dauer verhelfen, oder sich für das englische Bündnis entscheiden, das von Chamberlain angeboten worden war. Das ist vorbei; die Franzosen sehen auch keineswegs in dem mitkämpfenden England nur einen Ausbeuter fremder Kraft, und eine tiefere Verstimmung kann und wird vielleicht erst bei der Verteilung der Friedensopferlasten entstehen. Je mehr wir im gegenwärtigen Augenblick den Franzosen klarmachen wollten, dass die englische Politik eine schrankenlos egoistische ist, desto mehr werden sie sich vorerzählen, England sei, ohne Vertragsverpflichtung, ihnen und den unglücklichen Belgiern freundwillig zu Hilfe geeilt. Ganz erheblich aussichtsvoller wäre es, würden dem französischen Volke im richtigen Augenblick, mit dem richtigen Geschick und der richtigen Kenntnis französischer Stimmungen und Verhältnisse einige Wahrheiten über die russische Allianz gesagt. Und damit gleichzeitig einige Wahrheiten über die Personen, die Frankreich an den russischen Pferdeschweif gebunden haben und denen das französische Volk dieses furchtbare Kriegselend verdankt. »Unsere ruhmreichen Alliierten«, schreibt noch am 20. Januar der »Matin«, »erfüllen mit bewundernswerter Tapferkeit und Geschicklichkeit die Aufgabe, die ihnen von den Generalstäben der drei grossen befreundeten Mächte in gemeinsamer Beratung zuerteilt worden ist.« Es ist anzunehmen, dass das französische Publikum, dem Monate hindurch dieses üble Boulevardblatt den »unaufhaltsamen russischen Vormarsch nach Berlin« geschildert hat, solches Lobgeschwätz nur noch ungläubig und misstrauisch liest. Heimlich empfinden es viele: eine korrupte Presse und eitle Politiker haben das französische Volk an die russischen Machthaber verkauft. Das Blut, das die tapfere Jugend Frankreichs heute vergiessen muss, wurde mit Ordenssternen eingehandelt und mit Rubeln bezahlt.

Indessen, würde ein Deutscher den Franzosen das nachweisen wollen, so würde auch diese Behauptung verdächtig gefunden und abgelehnt. Es genügt, in den Schriften und Artikeln französischer Publizisten zu schöpfen, die schon vor Jahr und Tag den Mut gehabt haben, die Dinge beim rechten Namen zu nennen und die Tatsachen festzustellen. Jean Finot, der Herausgeber der »Revue«, hat jetzt, bei Beginn des Krieges, ein paar besonders wütige deutschfeindliche Artikel verfasst. Um so einwandfreier sind in den Augen aller französischen Patrioten hoffentlich die Aufsätze, die er vor dem Kriege über die Allianz und die russischen Anleihen geschrieben hat. Besonders in den Jahren 1904 bis 1907 bekämpfte er, abwechselnd mit seinem Namen und unter dem Decknamen »Un ami de l'alliance«, in der »Revue« die Anleihepolitik. Er bekämpfte sie, weil sie die französische Presse korrumpierte, der russischen Knutenherrschaft die Mittel zur Unterdrückung des armen russischen Volkes verschaffte, und weil sie den Wohlstand und die Zukunft Frankreichs in hohem Masse zu gefährden schien. »Eine Reihe von Finanzministern, Ministerpräsidenten und sogar Präsidenten der Republik«, schrieb er im März 1905, während des Russisch-Japanischen Krieges, in einem Aufsatz »Comment sauver nos neuf millards?«, »haben unablässig dem französischen Volke die Pflichten vorgegaukelt, die es als ›patriotischer Gläubiger‹ gegenüber Russland haben soll. Das Volk hat in einem sentimentalen Delirium, das von den kosmopolitischen Finanzleuten, der Gewissenlosigkeit unserer Politiker und der käuflichen Presse genährt worden ist, all seine Ersparnisse auf den Altar der russischen Allianz gelegt.« Als in dem Augenblick, wo die russische Intelligenz den kurzen Revolutionstraum in Kerkern und am Galgen büsste, die französische Regierung dem Zarismus eine neue Anleihe bewilligt hatte, erklärte er, am 1. Mai 1906: »Die offiziösen russischen Blätter und ebenso die offiziösen Blätter der Zarenherrschaft, die in Paris erscheinen – denn leider haben wir eine gewisse Anzahl davon – wollen den französischen Sparern einreden, dass wir der russischen Regierung eine unbegrenzte Dankbarkeit schuldig seien.« Er zeigte, wie jede Anleihe mit der Drohung, den Coupon nicht zu bezahlen, erzwungen wurde, und wie neben der Drohung die Bestechung stand: »Feenhafte Beteiligungsversprechungen vernichteten den Rest von Gewissensbedenken, den man mitunter in den hohen Bankkreisen und bei einer gewissen, ihren Einfluss verschachernden Presse trifft.« Er zeigte, wie diese gleiche Presse, die heute mit den »deutschen Greueln« täglich Spalten füllt und die »neuen Hunnen« an den »Schandpfahl« ketten will, das Sündengeld einstrich und die Greueltaten der russischen Henkersknechte gefällig verschwieg. »Das Blut«, schrieb er am 15. Juli 1906, »fliesst über das weite russische Reich ... Man könnte meinen, dass neue Hunnen in Europa eingedrungen seien ... Ueberall der Schrei von Verfolgung und Mord ... In der Duma wurde ein Antrag über die Käuflichkeit der französischen Presse eingebracht.«

In dem Aufsatz vom 15. März 1905 griff dann Finot ganz besonders den Finanzminister an, der sich bemüht hatte, Frankreichs Schicksal weiter dem Willen des Zarismus unterzuordnen und für die dunklen Zwecke der Zarenpolitik dem französischen Publikum das Geld aus den Taschen zu ziehen. »Unser Finanzminister, Herr Poincaré, der die neue Anleihe erlaubt hat, hat eine Tat begangen, deren Leichtsinn unverzeihlich ist.« »Der Fehler des Herrn Poincaré wird folgenschwer sein. Man hat die Gefahr erkannt, die entsteht, wenn ein Minister, der arme Brettlkönig eines Sommernachtstraumes, eine Anleihe genehmigen darf, die ganz Frankreich engagiert.« Im Jahre 1905 erkannte Finot, erkannten noch andere diese unheimliche Gefahr, die für das französische Volk in der allzu engen Verbindung mit den unberechenbaren, machtlüsternen russischen Hofparteien lag. Jetzt, in der geistigen Verwirrung, die überall in den Heimstätten der Nichtkämpfer herrschte, möchten Finot und die anderen vergessen, dass nur ihre alte Befürchtung sich verwirklicht, ihre kluge Prophezeiung Erfüllung gefunden hat. Nach dem Japankriege sagte Finot in einem Artikel »Das französische Geld und die russische Freundschaft«, das französische Kapital habe »in Russland diesen ungesunden Ehrgeiz erweckt und gestärkt«. Ist diese Bemerkung weniger zutreffend für die Tragödie der Gegenwart? Dieselben Männer, die damals das französische Volk auf den abschüssigen Weg leiteten, haben es jetzt auf das bluttriefende Schlachtfeld geführt. Derselbe Poincaré, der damals Finanzminister und »Brettlkönig eines Sommernachtstraumes« war, ist jetzt Präsident der Republik. Dieselbe Presse, die damals, und immerfort, der russischen Regierung eine »unbegrenzte Dankbarkeit« bewies und in langen Jahren die Leidenschaften gegen Deutschland aufstachelte, durchtobt heute, als ob sie nie ein Wässerchen getrübt hätte, die Welt mit ihrem anklagenden Geschrei. Und bis ans Ende wird sie ihren Lesern erzählen: »Unsere ruhmreichen Alliierten erfüllen ihre Aufgabe mit bewundernswerter Tapferkeit und Geschicklichkeit.«

In der Vorgeschichte dieses Krieges, über die sich die Schnellfertigen ausplaudern mögen, ist die Rolle Frankreichs so ziemlich klar. Das französische Volk hat, wie jeder zugibt, den Krieg nicht gewollt, Herr Paul Cambon in London hat sehr zweideutig manövriert und schliesslich ging man mit zur Schlachtbank, teils, weil man mit dem Allianzstrick festgebunden, und teils auch, weil man nun bereits der englischen Mitwirkung sicher war. Hat Poincaré, der kurz vor Beginn der Krisis in Petersburg weilte, eilige Entscheidungen zu verhindern, den schon erwachten Kriegsgrimm zu dämpfen versucht? Der Mann, der im Jahre 1905 das französische Spargeld der russischen Reaktion zur Verfügung stellte, konnte, selbst wenn er es gewünscht haben sollte, weniger als irgendein anderer zur Bändigung der Grossfürstengruppe tun. Eines Tages werden – schwerlich in wachsender Zuneigung für uns – viele Franzosen sich fragen: sollen wir noch denjenigen Leuten im politischen Amt und in der Presse folgen, für deren Ehrgeiz und deren unlautere Gewinnsucht Frankreich heute mit dem Leben seiner besten, tapfersten Kinder zahlt? Sollen wir unser weiteres Schicksal von denjenigen bestimmen lassen, denen das Glück des Landes und unserer Familien nur ein Einsatz in ihrem Spiele war? Sollen wir noch denjenigen glauben, die gar nicht den Mut haben können, uns die Wahrheit, die ihre Verurteilung wäre, zu gestehen? Es kann sein, dass so, mit dem Traum von der russischen Hilfe, der Sommernachtstraum der Brettlkönige ins Steppenferne zerrinnen wird.

 

Am 18. März machte die vereinigte französische und englische Flotte einen Angriff auf die Dardanellenforts, der völlig verunglückte. Die englischen Schlachtschiffe »lrresistible« und »Ocean« und das französische Schlachtschiff »Bouvet« wurden versenkt. Die Japaner sind bemüht, die Hilflosigkeit Chinas auszunutzen, um ihr Vordringen in der Mandschurei zu sichern. China weigert sich, nachzugeben, sieht sich aber vergeblich nach Beistand um.

29. März 1915

Im Beginn der Woche, in der das deutsche Volk den hundertsten Geburtstag seines grossen Staatsmannes feiern wird, kann man darauf hinweisen, dass wenigstens eine der Befürchtungen, mit denen Bismarck in die Zukunft sah, sich nicht verwirklicht hat. Wenn Fürst Bismarck im Reichstag mit Eugen Richter, mit Windthorst oder auch mit der konservativen Fronde scharf aneinander geriet, sprach er sehr häufig diese Befürchtung aus: die Einheit des Deutschen Reiches werde im »Partikularismus der Parteien« zugrunde gehen. Er verglich die deutsche Einheit mit dem Glück von Edenhall, das auf eine harte Probe gestellt werde, und er sagte ein anderes Mal, das Deutsche Reich laufe »wirklich Gefahr, durch Reden und Presse, durch Nichtvertrauen« wieder auseinander zu fallen. Heute ist bewiesen, dass das natürliche und notwendige Vorwärtsdrängen der Parteien kein Hinwegdrängen von der Reichslinie ist und dass die Einheit des Willens in schwerer Zeit sich mit der Vielheit politischer Anschauungen verträgt. Diese geschlossene Einmütigkeit, diese Kraft in der Verteidigung des ererbten Besitzes ist das, was unantastbar feststeht, keinem Zweifel unterliegt. Es wäre wenig der Stunde angemessen, andere Fäden vom Einst zum Jetzt zu spinnen, der politischen Entwicklung nachzuspüren, manche Grundsätze der »Gedanken und Erinnerungen« mit manchen Geschehnissen zu vergleichen und irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Betrachtungen, die sich daraus ergäben, könnten jetzt nichts zur Erreichung des Zieles beitragen, für das, mit unendlicher Hingebung, das deutsche Heer an so viel Grenzen kämpft. Damit die Einheit lückenlos gewahrt bleibe, musste die selbständige Betrachtung in dem Augenblick verstummen, wo wir uns unwiderrufbaren Tatsachen gegenübersahen.

Wenn wir vergleichend nach aussen blicken, können wir sagen, dass jenes fortwährende Vorausschauen, jenes »toujours en vedette«, das Bismarck in der Handhabung der Bündnispolitik unerlässlich fand, sich auch in der Politik des Herrn Grey nicht hervorragend bemerkbar macht. Es muss heute doch selbst dem deutschfeindlichsten Engländer, es muss selbst der fanatisierten Gefolgschaft des eitlen Churchill klar geworden sein, wie unbedacht die Anrufung der japanischen Eintagshilfe war. Um sich an einem Knalleffekt zu erfreuen, hat man die lange behütete Tür geöffnet, durch die jetzt Japan, die Gunst der Stunde und die Schwäche des Türhüters nutzend, mit Eroberungsgedanken den himmlischen Boden betritt. Weil das Haus des Gegners zusammenstürzen sollte, hat man den Handlanger herbeigerufen, der eines Tages das grössere Gebäude der englischen Vormacht in Ostasien unterwühlen wird. Aber obgleich diese Erkenntnis in England wohl dämmern dürfte und vermutlich auch Grey heimlich bedrückt, wäre es doch sehr falsch anzunehmen, diese ostasiatischen Vorgänge könnten die Haltung Englands im europäischen Kriege beeinflussen und mehr als eine ferne Episode sein. Man hat bei uns in weiten Kreisen sich mit manchen irrigen Schätzungen abgegeben, hat sich vielfach mit abgelebten Schlagworten, dem »britischen Söldnerheer«, der »Dekadenz« und dem »schnell verpuffenden Elan« Frankreichs und der »russischen Korruption« begnügt, und hat so, am Wirtshaustisch, die gewaltigen Schwierigkeiten oft zu leicht genommen, die von unseren nie verzagenden Truppen überwunden wurden und noch zu überwinden sind. Kein ernsthafter Politiker wird jetzt irgendwelche Erwartungen an die Ansprüche knüpfen, die Japan in China erhebt. Amerika denkt an keine Einmischung, England meint, die erst herannahende Gefahr später abwehren zu können, und das kluge Japan hat. seine Forderungen so abgefasst, dass in ihnen die Möglichkeit zu einer Verständigung liegt.

Mit etwas mehr Aufmerksamkeit muss man die Erörterungen verfolgen, die besonders in Paris und in Petersburg die stockende Dardanellenaktion verursacht hat, aber auch da ist nur die Aufmerksamkeit eines Zuschauers geboten, der den Unterschied von Spiel und Wirklichkeit kennt. Der Misserfolg der alliierten Flotte hat der Auseinandersetzung über das Schicksal Konstantinopels kein Ende gemacht, und in Russland begehrt man immer dringlicher dieses noch uneroberte Juwel, während man die Mühsal und die Verluste bereitwillig den Freunden überlässt. Die englische Presse sagt möglichst wenig zu dieser Frage, nachdem zuerst die Idee, Konstantinopel zu »internationalisieren« und die Sophien-Moschee dem Zaren zu übergeben, in die verbündete Welt hinausgesendet worden war. Deutlich aber spiegelt der Gegensatz der russischen und der englischen Wünsche sich in der französischen Presse ab. Der »Temps«, der anfangs der peinlichen Parteinahme auswich und es vorzog, mit vielen Worten seine Gedanken zu verhüllen, hat sich am 10. und 18. März, wahrscheinlich von Iswolski belehrt, ziemlich unzweideutig zum Anwalt der russischen Gelüste gemacht. Die nicht ganz so russenbegeisterte Presse der Linken hat das mit Missvergnügen aufgenommen, und die »Humanité« hat am 20. März in einem Artikel »Prudence« das vorschnelle Verfahren des »Temps« sehr beklagt. Herr Gabriel Hanotaux hat dann im »Figaro« den aufglimmenden Streit zu dämpfen versucht. »Mit hoher Weisheit,« schreibt er, »haben die Regierungen beschlossen, dass vor allem gesiegt werden muss.« Dieses tatsächlich von hoher Weisheit zeugende Wort drückt auch unsere Meinung aus. Aber wird man in Petersburg nicht eine unerfreuliche Anspielung darin sehen, dass Gabriel Hanotaux seinen Artikel mit dem Rufe schliesst: »A chacun selon ses oeuvres« – wie die Arbeit, so der Lohn?

Wir können abwarten, ob die hohe Weisheit der alliierten Staatsmänner in dieser Frage die erhoffte Gelegenheit zur Betätigung finden wird. Am Beginn dieser kriegumtobten Festwoche ist es lohnender, an einige der Weisheitsregeln zu denken, die Bismarck auf dem hindernisreichen, für Schlagworte und tatsachenfremde Phrasen ungeeigneten Gebiete der internationalen Politik niemals umstossen liess. Bismarck, der, nebenbei bemerkt, auch der Ansicht war, »dass wir eine Vergrösserung unseres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht herstellen könnten, ohne die zentrifugalen Elemente im eigenen Gebiete zu stärken«, hat stets eine Gefühlspolitik abgelehnt, die in ihren Entschlüssen »von Vorliebe oder Verstimmung« abhängig ist. Nichts wies er so entschieden zurück wie die Einmischung eines aus Hass oder Liebe entstandenen Gefühlsüberschwanges, der nur den Blick für das Notwendige, Erreichbare und Erstrebenswerte trübt. »Verfallen wir nicht in den Fehler unserer Gegner ..., dass wir nicht nach den gegebenen Grundlagen ..., sondern nach wünschenswerten handeln«, hat er 1867 im Abgeordnetenhause gesagt. Wir sehen heute, wie diese Gegner sich aus Wünschen eine neue Welt bauen, und wir brauchen nicht in ihre Fehler zu verfallen. Besonders dem Liberalismus hat Bismarck einst – und wie wir gestehen können, nicht immer mit Unrecht – den Mangel an realpolitischer Erkenntnis zum Vorwurf gemacht. Aber es ist wohl nicht zu leugnen, dass auch ausserhalb des Liberalismus manch einer von dem grössten Meister der deutschen Staatskunst einiges zu lernen hat.

 

Romain Rolland liess bald darauf sein Buch »Au dessus de la melée« erscheinen. Er wurde in Frankreich mit dem grossen Bann belegt.

6. April 1915

»Mögen die Minister der uns feindlichen Staaten in grenzenloser Unkenntnis deutschen Wesens zu beweisen suchen, dass ein deutscher Sieg die Unterdrückung und Vernichtung der grossen wie kleinen Staaten bedeute: wir, deren Reich nicht aufgebaut ist auf der Knechtung und Vergewaltigung fremder Völker, wissen, dass allem fremden Uebelwollen zum Trotz wir es sind, die in Wahrheit für Europa und seine Freiheit kämpfen.« Mit diesen Worten, die wir für Programmworte nehmen, schloss der ausgezeichnete Artikel, der zum hundertsten Geburtstage Bismarcks in der halbamtlichen »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« erschien. Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, um die Bemerkungen zu erraten, die man in feindlichen und auch in nicht ganz freundlichen Ländern solchen Erklärungen entgegenstellt. Um so wünschenswerter ist es, dass bei uns überall diejenige Anschauungsweise sich durchsetzt, die dem Sinn jener Festworte entspricht.

Die Presse der freien Schweiz ist jetzt oft sehr lesenswert. Sie dient in dieser Zeit manchem als Tribüne, vereinigt vielerlei Stimmungen und Kundgebungen und hütet doch, mit wenigen Ausnahmen, gewissenhaft die Grundsätze der Neutralität. In Bern erscheint, wie hier schon erwähnt wurde, an jedem Wochenende ein vierseitiges Blatt, das sich » Die Menschheit« nennt. Auf zwei Seiten herrscht die deutsche Sprache, auf zwei anderen Seiten werden Artikel und Zuschriften in französischer Sprache gebracht. Zu dem Aktionskomitee des »Bundes für Organisierung menschlichen Fortschritts«, das dieses Blatt herausgibt, gehören bekannte Vorkämpfer des Schiedsgerichtsgedankens und die Männer der »ethischen Kultur«. Nach einigen Schwankungen und Schwenkungen, die allen deutschen Lesern unangenehm auffielen, begnügt sich die Redaktion damit, unparteiisch die höchst verschiedenartigen Meinungsäusserungen der deutschen, französischen, englischen und belgischen Intellektuellen nebeneinander zu stellen. Wer die ganze Tiefe und Grösse der geistigen Verwirrung, das Aneinandervorbeireden und Missverstehen an einem Beispiel beobachten will, braucht nur die Antworten nachzulesen, die der »Menschheit« auf die Frage, ob man den Völkerhass bekämpfen und die Kriegsgreuelgeschichten unterdrücken solle, aus Deutschland und aus Frankreich zugegangen sind. Alle deutschen Menschheitsfreunde haben den Hass verworfen, alle französischen Hinterbliebenen der verstorbenen pazifistischen Bewegung haben nur von Belgien und von den Greuelberichten gesprochen und Sühne verlangt. Solche Auseinandersetzungen bekehren jetzt niemanden und sind bis auf weiteres aussichtslos. Dennoch wäre es wohl richtiger, die Greuelfrage, die augenblicklich die Luft in der ganzen Welt vergiftet, herzhaft anzupacken, statt ihr, wie die meisten deutschen Antwortsender es getan haben, aus dem Wege zu gehen.

Es wurden neulich drei Fälle von Kindermord und Notzucht angeführt, die Herr Pierre Nothomb auf Grund höchst gründlicher Forschungen in der »Revue des deux Mondes« anklagend vorgetragen hat, und es wurde gezeigt, dass nach den Aussagen der französischen Ortsbehörden und anderer französischer Zeugen jede Behauptung des Herrn Nothomb erfunden war. Man untersuche, soweit das irgend möglich ist, jeden einzelnen Fall und lege mit loyaler Sachlichkeit, nüchtern aneinandergereiht, die Ergebnisse dar. Wenn es Schuldige gibt – und wie sollten bei einem so gewaltigen Zusammenstrom von Menschen auf einem Kriegsschauplatz nicht auch Verfehlungen vorkommen, nicht einzelne Minderwertige in der grossen Masse prächtiger, pflichtbewusster Männer sein? –, so ist in der deutschen Armee strenge Ahndung eine Selbstverständlichkeit. Wenn unter dem Kugelhagel, der aus den Häusern unglücklicher fanatisierter Bürger und Arbeiter kam, und in Situationen, wo Kaltblütigkeit mitunter schwer zu wahren war, auch schuldlose Menschen ihr Leben verloren haben, so erscheint dieses grosse Leid des Krieges uns unendlich beklagenswert. Aber wir brauchen kaum erst zu fragen, wie unter gleichen Verhältnissen beim Einbruch auf deutsches Gebiet die Alliierte Armee sich verhalten hätte, in der nicht nur die verschiedensten Temperamente und Charaktere, sondern auch die verschiedensten Halbwilden vereinigt sind. Hat man nicht in Marokko, wo keine Franktireurkugeln herumpfiffen, angesehene deutsche Kaufleute an die Mauer gestellt und füsiliert? Und wäre es so schwer, die von den französischen und englischen Geschützen zerstörten französischen und belgischen Schlösser und Dörfer aufzuzählen, da man in Frankreich nur an die zerstörende Wirkung der deutschen Geschosse zu glauben scheint? Wenn den Engländern bei ihren Angriffen auf Zeebrügge eine Landung geglückt wäre, würde Brügge nur noch ein Trümmerhaufen sein. Diese Tatsachen, und besonders die Resultate gerechter Untersuchungen, könnte man unpathetisch zur Zurückweisung einer Kampagne aneinanderreihen, die auf die glanzvolle Gesamtheit der deutschen Armee befleckenden Unrat werfen soll. Beherztes Zugreifen ist schon deshalb notwendig, weil uns das alles sonst hinterher ins Haus getragen werden wird.

Ein Herr Reiss, Professor an der Universität in Lausanne, hat vor einigen Tagen in Paris, in der Sorbonne, einen Vortrag über die »Greuel« gehalten und erklärt: »Gegenüber dem Verbrechen gibt es keine Neutralität.« Aber zwei andere Professoren schweizerischer Universitäten, Haeberlien in Bern und Reynold in Genf, gründen eine » Revue des Nations«. die, ganz ähnlich wie »Die Menschheit«, Aeusserungen von Deutschen und Franzosen vereinigen und, über die Schlachtfelder hinweg, eine geistige Annäherung herbeiführen soll. Der französische Literarhistoriker Gustave Lanson, Verfasser einer bekannten und brauchbaren »Histoire de la littérature française«, und der Geschichtschreiber Ernest Lavisse haben eine Mitarbeit an diesem Unternehmen abgelehnt, und Lavisse hat seine Ablehnung in einem langen Schreiben begründet, das alles Trennende aufrechnet und mit der Beteuerung endet: »Non possumus.« Es gab eine Zeit, wo gerade Lavisse anders dachte und sogar, gemeinsam mit dem Ausschuss der Pariser Studentenschaft, die Leipziger Studierenden zu einer Aufführung der »Räuber« nach Paris einlud und ihnen die kameradschaftlichste Aufnahme versprach. Dann hat er sich, wie so viele und so vieles, gewandelt, und nachdem er schon während der Agadiraffäre die Streitaxt geschwungen hatte, forderte er, im Frühling und im Sommer des vorigen Jahres, die Ausgestaltung der Entente cordiale zu einer französisch-englischen Allianz. Auch die Gründer der »Revue des Nations« werden mit all ihrem ausgezeichneten Wollen nicht die Brücke über den Abgrund schlagen können, der höchstens später einmal, bei einer völligen Neuordnung der politischen Verhältnisse, überdeckt werden wird. Einstweilen kann nur jene hilfreiche Menschlichkeit, die kein politisches Ziel verfolgt, der Mittler zwischen der Not der einen und dem Leid der anderen sein. Abermals in einer Schweizer Zeitung, im » Journal de Genève«, weist der Franzose Romain Rolland auf ein Liebeswerk hin, das in Berlin von Frauen aus der Aristokratie und dem Bürgertum, hervorragenden Theologen und anderen Personen mit warmem und freiem Herzen geschaffen worden ist. Es handelt sich um die »Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Auslande und Ausländer in Deutschland«, die in der Friedenstrasse 60 schon seit Monaten wohltätig wirkt. »Ich widme diese heiligen Worte«, schreibt Romain Rolland, indem er den Programmaufruf der Hilfsstelle abdruckt, »meinen Freunden im französischen Volk.« Es heisst in dem Aufruf über den zweiten Teil der Aufgabe: »Von Kriegsbeginn an haben wir jedoch auch die Verpflichtung gefühlt, uns der bei uns in Schwierigkeiten geratenen Ausländer anzunehmen. Solche Bemühungen sind in Deutschland so unpopulär wie im Ausland. In einer Zeit, in der das deutsche Volk vom Höchsten bis zum Geringsten sich im Bewusstsein einer harten Notwehr gegen seine Feinde zusammmengeschlossen hat, erscheint es vielen überflüssig, den Angehörigen feindlicher Staaten mehr als die schuldigen Dienste zu erweisen. Auch in Friedenszeiten ist der unser Nächster, der unserer Hilfe bedarf, und bleibt Feindesliebe das Erkennungszeichen derer, die dem Herrn die Treue halten.« Die Männer und Frauen, die so denken und fühlen, besitzen jenen wahren Patriotismus, der, wie jedes edle Gefühl, niemals in trockenen, kalten Herzen gedeiht. Dieser wahre Patriotismus ist untrennbar von Güte und Vornehmheit.

 

Zwischen Maas und Mosel, in den Karpathen und an vielen anderen Stellen im Westen und im Osten wird schwer gekämpft. England hat noch nicht die Dienstpflicht auf sich geladen, zögert noch, den alten Grundsatz der individuellen Freiheit zu opfern und einen Entschluss zu fassen, der jede Umkehr and jedes Haltmachen erschweren, Volk und Regierung noch enger an die Kriegspolitik ketten muss. Die russischen Armeen sind, nach ihrer Verdrängung aus Ostpreussen und nach mancher Niederlage in Polen, noch ein starker Gegner, der die österreichisch-ungarische Macht bedroht.

12. April 1915

Während in diesen Frühlingstagen auf allen Schlachtfronten neue blutige Kämpfe beginnen und während dort die Tatsachen, die allein entscheidend bleiben, erstehen, erörtern einige Blätter und Politiker, besonders in den konservativen Reihen, die etwas akademische Frage, wer der wirkliche, der »Hauptfeind« unter unseren Feinden sei. Diese Artikel haben, wie wohl anzunehmen ist, nicht nur den Zweck, die Wartezeit auszufüllen. Man strebt danach, die politische Leitung des Krieges und die spätere Friedensgestaltung auf eine ganz bestimmte Linie zu drängen und für eine lange Zukunft eine Situation zu schaffen, die den Anschauungen mancher Kreise entspricht. Um es klarer zu sagen: die Feindschaft mit England wird, wie die Würfel auch fallen mögen, als ein dauernder Zustand vorausgesetzt, und in scheinbar logischer Folgerung taucht, einstweilen noch nebelhaft fern, die Idee der Versöhnung mit Russland auf. Dazu ist nötig, dass man einem mürben, friedenssehnsüchtigen Russland goldene Brücken baut, es nicht zu sehr zu schwächen, seine Schwäche nicht voll auszunützen sucht.

Es ist zunächst einigermassen zweifelhaft, ob heute die temperamentvolle Ausbreitung solcher Wünsche nützlich wirken kann. Der »Hauptfeind« könnte dadurch nur veranlasst werden, alle und auch die letzten Mittel aufzubieten, um seine Bundesgenossen noch fester an sich heranzuziehen. Seit der russische Finanzminister Bark London besucht und seit die Duma mit so lautem Eifer Konstantinopel für Russland gefordert hat, haben sich in dem besiegelten und beschworenen Bunde leise Symptome sogenannter »Unstimmigkeiten« gezeigt. Vielleicht ist es am besten, da möglichst wenig hineinzureden, und gerade die Wirkung der voreiligen Dumareden lehrt ja, wie bedenklich in dieser Kriegszeit die freien Wallungen des Temperamentes sind. Wenn vorhin bemerkt wurde, die Theorie vom »Hauptfeind« werde mit ihren Schlussfolgerungen besonders in den konservativen Reihen vertreten, so bedarf das im übrigen einer Ergänzung und einer Einschränkung. Zahlreiche liberale Zeitungen und Personen huldigen heute, mit mehr oder minder Ueberlegung, der gleichen Idee, und andererseits haben sich manche konservative Politiker eine abweichende Auffassung bewahrt. Es ist ja bekannt, dass beispielsweise Professor Theodor Schiemann aus dem Verbande der »Kreuzzeitung« ausgeschieden ist, weil er in dem britischen »Hauptfeind« nicht die Hauptgefahr für Deutschland sah und sich denjenigen, die allmählich die russische Gefahr in den Hintergrund schieben möchten, nicht anzuschliessen vermag. Der Band, in dem er seine Wochenartikel aus dem Jahre 1914, unter dem Titel »Die letzten Etappen zum Weltkrieg«, vereinigt hat, liegt jetzt vor. Man kann den Artikel vom 11. Februar nachlesen, in dem er geradezu eine deutsch-englische Allianz empfahl. »Was dem entgegensteht,« schrieb er damals, »sind törichte, durch keine inneren materiellen oder ideellen Interessen bedingte Gegensätze, die, recht betrachtet, nur in der Vorstellung derjenigen bestehen, die durch die Gunst oder Ungunst der Zeit berufen worden sind, der Politik die Richtung zu geben, die von der Nation, an deren konstitutionelle Spitze sie gestellt worden sind, vertreten werden soll ... In Wirklichkeit gibt es nichts, was bereiter wäre, von heute auf morgen seine Richtung und Ueberzeugung zu wechseln, als diese öffentliche Meinung. Sie verlangt nach dem Herrn, der sie leitet, und erwartet, dass man den Mut habe, ihr zu sagen, wohin sie gehen soll ... Aber dazu bedarf es eines starken Willens, der sich über persönliche Eitelkeits- und Empfindlichkeitsfragen hinwegzusetzen vermag, und eines klaren Kopfes, der die Dinge nüchtern beurteilt und sich nicht durch einmal begangene Irrungen den Ausweg auf den richtigen Weg vermauern lässt.« Am 25. Februar kam Schiemann, da man ihm irriges Lob und irrigen Tadel gespendet hatte, auf diese Ausführungen zurück. Er wies auf die unklare Stellung Englands zur russisch-französischen Kombination hin und sagte die Folgen dieser Unklarheit voraus, aber er erwartete von einer ferneren Zukunft die Verwirklichung dessen, was ihm als »das Nützliche und Vernünftige« erscheint. Als England durch die unklare Politik Greys und die erheblich klarere, unbeirrt deutschfeindliche Churchills zu einer Haltung, die den russischen Kriegswillen stärken musste, und dann zur Kriegserklärung verführt wurde, teilte Schiemann die allgemeine Erbitterung. Aber indem er die Dummheit und die Böswilligkeit derjenigen anklagte, »die durch die Gunst oder Ungunst der Zeiten« an die entscheidende Stelle gestellt waren, löschte er die Grundlinien seiner Ueberzeugung nicht aus. Auch das hat im gegenwärtigen Augenblick nur einen akademischen Wert, denn heute gilt es einzig und allein, die Gegner zu besiegen, die uns besiegen möchten und die sich rundherum uns entgegenstellen. Nicht den einen mehr und den andern weniger, nicht mit Auswahl und mit feinen Unterscheidungen, sondern jeden einzelnen so weit, wie es mit den verfügbaren Machtmitteln geht.

Der Gedanke, dass es für uns irgendeine Gefahr gebe, die grösser sein könne als die russische, verträgt eine nüchterne Prüfung nicht. Als das deutsche Volk zum Kampfe aufgerufen wurde, geschah das, weil diese russische Gefahr drohend an unseren Grenzen und an den Grenzen Oesterreich-Ungarns stand, und alles, was wir seither gesehen und erlebt haben, beweist wahrhaftig, dass dieser drohende Koloss nicht, wie Optimisten meinten, ein morsches Schreckgespenst gewesen ist. Es ist auch nicht richtig, dass eine Expansionskraft, wie sie im russischen Reiche liegt, auf die Dauer durch diplomatische Kunststücke abgelenkt werden kann. Diese Expansionskraft hat gleichzeitig nach Persien, nach Armenien, nach der Mongolei hin sich vorgereckt und doch auch auf dem Balkan ihr Betätigungsfeld gesucht. Ein Gegner, der aus rein politischen Ursachen, aus Missgunst oder aus verschwommenen Gefühlen handelt, könnte eines Tages abrüsten, wenn er durch den Verlauf des Kampfes genügend belehrt ist und auf dem Wege der Gewalt kein Vorwärtskommen mehr sieht. Naturkräfte, die unveränderlich die gleichen bleiben müssen, rüsten nicht ab. Das russische Volk ist – wobei wir die Mordbrenner nicht mitrechnen – vielen von uns lieber als der engherzig und eifersüchtig herumschielende Durchschnittsbewohner manch anderer Länder, der seine trockene Seele mit etwas mehr Kulturfetzen überhängt. Aber eine Freundschaft mit einem ungeschwächten Russland kann nur zu Enttäuschungen und Demütigungen führen, denn der natürliche russische Eroberungstrieb geht, wie die Dardanellendiskussion deutlich dartut, über alle Freundschaften und Brüderschaften hinweg. Weil die freiheitliebenden Völker des europäischen Nordens die unheimlich heranflutende Gefahr begriffen und in der Ueberwindung oder Schwächung dieser Gewalten mit Recht den wahren Sinn des deutschen Krieges sehen, begleiten sie, wie auch sonst ihre Meinungen und Neigungen sein mögen, die todesmutigen deutschen Kämpfer mit hoffnungsfroher Sympathie. Und sogar der franzosenfreundlichste Däne Georg Brandes hat seinem Freunde Clemenceau den Abschiedsbrief geschrieben, weil er in der Zurückdämmung der russischen Woge die höchste aller Notwendigkeiten erblickt.

Das deutsche Volk ist, bewundernswert hingebungsvoll und stark, noch mit einem anderen Gedanken in den Krieg gegangen: mit dem Gedanken, dass mit diesem gewaltigen Opfer der Friede für lange Zeiten erkauft und gesichert werden soll. Darum müssen die Männer, die im Namen Deutschlands sprechen, sich vor allem anderen die Frage vorlegen: Wie sollen wir handeln, damit es nicht zu neuen Kriegen kommt? Einer derjenigen Publizisten, die am entschiedensten und am wirksamsten die Theorie von dem britischen »Hauptfeind« verfechten, neben dem die sonstige Zahl der Feinde minder wichtig sei, hat neulich einen Artikel über Bismarcks vorschauende Staatskunst geschrieben, der unbestreitbar sehr richtige und beachtenswerte Sätze enthielt. »Den Krieg an und für sich nicht zu wollen, den Angriffskrieg zu perhorreszieren, aber nie in die Lage zu gelangen, einen Krieg im Widerspruch zum eigenen Willen zu führen, sich einen Krieg aufzwingen zu lassen« – das war, wie er zutreffend sagte, »das Wesen der Bismarckschen Politik«. Aber es ist eine schwer zu leugnende Tatsache, dass die nationalistische Agitation, die besonders im letzten Jahrzehnt durch Europa ging, die Situation, aus der schliesslich dieser Weltkrieg sich ergab, wesentlich mit vorbereitet hat. Jeder gewissenhafte Staatsmann wird an diese Tatsache denken und sich von niemandem eine Situation aufzwingen lassen, von der menschliche Voraussicht annehmen müsste, dass sie nur ein Uebergang zu neuen Kriegen sei.

 

Fürst Bülow kam am 17. Dezember 1914 »in ausserordentlicher Sendung« nach Rom. Er konnte die Italiener nicht umstimmen, aber er versuchte, mit Erfolg, sie hinzuhalten, bis die russische Gefahr, die Ungarn bedrohte, abgewendet wäre. Er machte der italienischen Regierung sehr weitgehende Anerbietungen, zeigte ihr, dass sich im Trentino auf friedlichem Wege vieles für sie erreichen liess. Am Abend des 3. Mai kam die Nachricht von der Durchstossung der russischen Front in Westgalizien, vom Siege am Dunajec. In Kurland wurde am 7. Mai Libau besetzt. Am 15. Mai meldet der Heeresbericht, dass die Vortruppen Mackensens vor Przemysl stehen. So schwindet die östliche Bedrohung mehr und mehr.

3. Mai 1915

Die französische Wochenschrift »L'Illustration« brachte am 6. März ein Bild des Fürsten Bülow, das ein flinker römischer Photograph mit dem Momentapparat am Portal des deutschen Botschaftspalastes, des Palazzo Caffarelli, aufgenommen hat. Fürst Bülow, der offenbar einen Staatsbesuch erledigen will, hat die Husarenuniform und den Militärmantel angelegt, trägt auf dem Haupte die Husarenpelzmütze und hält, wohl zum Gebrauch nach der offiziellen Visite, die bequemere Interimsmütze in der Hand. Dieses Bild hat den Dichter Edmond Rostand zu einem langen Gedicht begeistert, das mit markiger Kürze »Bülow« betitelt und in der »Illustration« vom 27. März erschienen ist. Es ist ein sehr hübsch geformtes Gedicht, und es beginnt mit der Frage an die immer gegenwärtige Muse: »Hast du Bülow mit seinen beiden Kopfbedeckungen gesehen?« Der Verfasser des »Cyrano« hat von jeher, nach älteren französischen Vorbildern, in seine Poesie gern Worte und Namen aus der Zeitgeschichte hineingewebt. Diesmal fehlt auch der Name jenes preussischen Generals a. D. v. Bernhardi nicht, dessen bei uns so wenig bekannte kriegerische Schriften von Deutschlands Gegnern übersetzt und in der ganzen Welt verbreitet werden, und der, mit einigen Gleichgesinnten, jetzt als der wahre Vertreter der deutschen Volksgesinnung gilt. Aber Bernhardi, Krupp und Treitschke werden in dem Gesang doch nur nebenbei erwähnt, und die eigentliche Harfenanstrengung gilt den beiden Kopfbedeckungen, um die Rostands Poesie herumplätschert wie die Rheintöchter um das Gold. »Janus«, sagt der Dichter belehrend seiner Muse, »hatte zwei Gesichte, der Botschafter Preussens hat zwei Mützen, und das kommt auf dasselbe hinaus.« Die hohe Pelzmütze ist drohend und herausfordernd, die Tuchmütze ist weich, schmiegsam, bescheiden und platt. Mit der spielerischen Phantasie eines Apollojüngers und mit der Fachkenntnis eines Hutmachers entwickelt Edmond Rostand im Liede diesen tiefgreifenden Gegensatz.

Man kann bei dieser Dichtung nicht nur deshalb sich aufhalten, weil es gut tut, von dieser Erde auf den Flügeln des Gesanges in andere Sphären zu entfliehen. Edmond Rostand hat doch immer noch mehr den französischen Geist verkörpert als Bernhardi den deutschen Ideenkreis, und wenn Rostands Leitartikel nicht in langweiliger Prosa, sondern in Versen geschrieben ist, so ist das schliesslich nur eine angenehme Aeusserlichkeit. Der Dichter des »Cyrano« und des »Aiglon« schildert also, wie Bülow die Pelzmütze, den »colback«, aufsetzt, wenn er in Rom mit unseren Gewehren, unseren Kanonen droht, und wie er die »casquette« benutzt, wenn er mit einem Augenzwinkern Salandra und Sonnino zu umgarnen versucht. Dann spricht Bülow, mit der kriegerischen Pelzmütze, zu Italien: »Wir sind die Starken, die Harten – wir stossen mit einem Fusstritt die alten, verweichlichten und sentimentalen lateinischen Völker in den Sklavenzwinger hinab.«

»Et l'Italie écoute, et s'étonne. Alors preste,
L'homme ôte son Colback et dit: »Veux-tu Trieste?«

Der Fürst hat die »casquette« aufgestülpt, bietet immer mehr, Italien aber sieht ihn an und schweigt. Die andere Mütze erscheint wieder und zürnt: »Fürchte für deine Marmorbilder! Die Lilie widersteht eher dem Winde als Rom dem Zeppelin! Nichts wird von Rom mehr übrig sein!« In solchem Wechsel geht es weiter, bis Fürst Bülow das schweigende Italien fragt: »Wie muss man denn zu dir sprechen?« und Italien ihm antwortet: »Mit entblösstem Haupte« – »tête nue«. Der Dichter, dem dieses Zeitepos aus der Harfe strömte, kann sich zu seiner Entschuldigung darauf berufen, dass heute auch in Prosa sehr viel Blödsinn geleistet wird.

In den diplomatischen Aktenstücken dürften sich die römischen Verhandlungen erheblich nüchterner ausnehmen als in den Alexandrinern eines Poeten, der in Mützen Symbole sieht. Italien hat, in buchstabenmässig zulässiger Auslegung des Vertragstextes und aus anderen Gründen, über die man später sprechen wird, Deutschland und Oesterreich-Ungarn nicht in den Krieg begleitet, und es hat dann, mehr oder minder direkt, zu verstehen gegeben, dass seiner Meinung nach eine Neuregelung gewisser Besitzverhältnisse notwendig sei. Man hat sich im Dreibundkreis darüber ausgesprochen und in den Punkten, die zuerst entscheidend, aber auch sehr heikel schienen, so ungefähr eine Einigung erzielt. Dann hat es sich gezeigt, dass Italien weiter blickt und dass es, ohne vielleicht überall förmliche Besitzansprüche zu erheben, nach anderen Seiten, anderen Gestaden hinüberblickt. Die Unterhaltung ist stockend weitergegangen, sogenannte neutrale Lösungen sind aufgetaucht, Gegenforderungen sind geltend gemacht worden, und dazwischen hat dann Russland erklärt, dass die slawischen Balkanvölker von der istrisch-dalmatinischen Küste nicht ausgeschlossen werden dürften, und in London hat man einen Ausgleich zwischen den italienischen und den slawischen Wünschen gesucht. Jetzt soll, im neunten Monat, die Entscheidung bevorstehen; die französischen und englischen Blätter versichern immer wieder, dass Italiens Teilnahme am Kriege schon fest beschlossen sei, und das wird dann von der italienischen Regierung schnell und regelmässig dementiert. Bei der Weihe des Garibaldi-Denkmals in Genua, am 5. Mai, wo der König dem italienischen Nationalhelden huldigen und der kriegsglühende d'Annunzio die Festrede halten wird, erwartet man das grosse Signal, und wie von Genua aus, im Mai des Jahres 1860, Garibaldi zur Befreiungsfahrt auszog, soll wieder von Genua aus das Losungswort: »Befreiung und Zusammenschluss aller italienischen Brüder!« durch Italien gehen. »Die Verhandlungen sind beendet,« sagt bereits der »Temps«, »die Verhandelnden konnten sich nicht einigen, Italien verlangte die Befreiung all seiner Stammesgenossen, die Vernunft, die Logik, das Gewissen führten Italien an die Seite der liberalen Mächte, deren Ideal von Gerechtigkeit und Humanität dem seinigen gleichartig ist. Andere Nationen werden nicht zögern, sich anzuschliessen, die Grösse des hier gegebenen Beispiels reisst sie mit.« Aber sollte Italien, dem lang gehegte Wünsche sich friedlich erfüllen können, in das entsetzliche Blutmeer hineinsteigen, weil möglicherweise ihm noch ein Rest zu wünschen übrig bleibt? Hat es – und haben die anderen Nationen, die der »Temps« aufruft – in den neun Monaten nicht das ganze Grauen dieses Mordens gespürt, und sehnen sie sich nach den Tränen und dem Jammer und all dem Entsetzlichen, das dieser wahrhaftig nicht frisch-fröhliche Krieg mit sich bringt? Edmond Rostand lässt in seinem redseligen Gedicht den Fürsten Bülow, dem solche Gedanken fernliegen, mit der Zerstörung Roms, mit der Zertrümmerung der italienischen Kostbarkeiten drohen. Aber wer sieht nicht, dass nur diejenigen die bisher unberührte Schönheit des Markusplatzes und das Kunsterbe des italienischen Nordens in Gefahr bringen, die, ihres eigenen Vorteils wegen, Italien in den Krieg der Mörser drängen möchten – ohne Rücksicht auf sein Leben und seine Kunst? Und was bietet man ihm, ausser fremdem Gut, als Lohn für seine Hilfe, als Preis für so namenlose Opfer an? Rostand besingt es, nachdem Goethe es besungen hat.

Das italienische Volk muss selbst am besten wissen, ob es den Glanz der lockenden Phrase mit Blut und Tränen bezahlen, und ob es den im Frieden erreichbaren stattlichen Gewinn zurückweisen will. Wer, den nicht Interesse oder Leidenschaft fortreisst, könnte es verstehen, wenn die Staatsmänner Italiens den sicheren Ertrag aus der Hand geben, dem höchst unsicheren Kriegsglück nachjagen und ihrem Lande das ungeheure Elend aufbürden würden, und wer könnte daran glauben, solange nichts Unwiderrufliches geschehen ist? In der Kunst zierlichen Umschmeichelns freilich wird man bei uns wohl nicht die Pariser Literaten erreichen können, die besser als wir wissen, wie man mit Grazie eine Schleppe trägt. Es wird auch bei uns in Poesie und Prosa ein ungeniessbarer Wortschwulst angehäuft, manche Heimkrieger hinter der Front strotzen in rednerischer Kraft, und das ethische Pathos blüht, aber schmeichlerisches Hofmachen hat man nicht so gut wie Rostand gelernt. Nur wird Italien wohl gut tun, dem Saitenspiel des Sängers nicht allzusehr zu trauen. Wenn es sich weigern sollte, sein junges Volk für das Heil der Alliierten zu opfern, wird es bald das undankbare perfide Italien sein. Dann wird Edmond Rostand in einem Anklagelied zornig verkünden, es sei noch immer die Heimat Machiavellis. Dann wird man sehen, dass Edmond Rostand ein Janusköpfchen hat. Einstweilen spricht er zu Italien mit entblösstem Haupt – »tête nue« –, weil noch jede Hoffnung Wirklichkeit werden kann. In Erwartung der ersehnten Gabe hält er die Mütze in der Hand.

 

Am 13. Mai demissionierte Salandra, aber er und sein Ministerkollege nahmen nur, um zu bleiben, die Türklinke in die Hand. Nach dreitägigem Krisengeräusch lehnte der König das Demissionsgesuch ab. Die Kriegspartei jubelte. Salandra erschien ein Gott zwischen den anderen Göttern Roms. Am 20. Mai wurde der Regierung in begeisterungsschwerer Parlamentssitzung die Kriegsvollmacht erteilt. – Es wird hier erwähnt, dass man im Mai 1915 in den Kaffeegärten bei Berlin Schlagsahne ass. Vergangene Frühlingszeit ...

17. Mai 1915

Der König Viktor Emanuel hat die Demission des Kabinetts Salandra abgelehnt. Salandra bleibt, Sonnino, der zweifellos bereits mit England, Frankreich und Russland einig ist, bleibt ebenfalls. Diese Nachricht, die gestern abend hier eintraf, hat die politisch unterrichteten Kreise nicht mehr überrascht. Das Geschrei der Strasse, die Drohungen mit der Revolution haben auf Viktor Emanuel den beabsichtigten Eindruck gemacht. Er hatte, nachdem das Demissionsgesuch ihm vorgelegt worden war, zuerst dem Kammerpräsidenten Marcora die Kabinettsbildung angetragen, dann dem Schatzminister Carcano, der ein Freund Giolittis und ein Gegner des Krieges ist. Keiner dieser beiden Männer besass für eine solche Aufgabe genug kraftvolle Autorität. Ein einziger, Giolitti, hat einen Anhang, auf den er zählen könnte, und die kaltblütige Ruhe, deren ein Staatsmann inmitten einer unheilvollen Agitation bedarf. Er stand bereit hinter der Tür, aber der König rief ihn nicht herein. Giolitti hatte das Kabinett Salandra zum Rücktrittsgesuch gedrängt, ein grosser Teil des Parlaments hatte ihm sein Vertrauen bekundet, seine Berufung schien nach dem Brauch parlamentarisch regierter Staaten eine Selbstverständlichkeit. Aber die Kriegsbanden brüllten »Verräter!« und schafften die parlamentarischen Traditionen ab. Es scheint, dass der Krieg, den Sonnino seit langem will, nun kaum noch zu verhindern ist. Sollte der Strom losrasen, so wird man sehen, was er alles mit sich reissen wird.

Salandra hat einem Mitarbeiter des »Echo de Paris« erklärt, dass die Regierung »zum Kriege getrieben wurde, weil Oesterreich auch nach der Kündigung des Dreibundes nicht nachgiebiger ward«. Wie nachgiebig Oesterreich sich zeigte, ist durch die Mitteilungen Cirmenis offenbar geworden, und von einem Akt, der in aller Form als Kündigung des Dreibundes gelten könnte, ist hier nichts bekannt. Der jetzt neu bestätigte Ministerpräsident hat auch gesagt, sein Kabinett sei nicht einig gewesen in der Frage, ob es geraten sei, »die Kammer durch eine Kriegserklärung vor ein fait accompli zu stellen«. Es muss also damit gerechnet werden, dass die Regierung auch jetzt an ein solches abgekürztes Verfahren denkt. Am zwanzigsten Mai tritt die Kammer zusammen, in der es wenigstens bis gestern eine Mehrheit für den Frieden und für Giolitti gab. Wenn die Regierung so lange wartet und die Mehrheit sich vom Lärm nicht einschüchtern lässt, gibt es da für diejenigen, die dem Volke den Frieden retten möchten, noch eine letzte Möglichkeit. Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass das nur der Schatten einer Möglichkeit ist, mit der selbst der hartnäckigste Optimismus nicht mehr ernsthaft rechnen kann. Aber welch ein Schauspiel wäre es, dieses freie und geeinte Italien in den Krieg ziehen zu sehen, nachdem man die Volksvertretung entrechtet, die Stimme der angesehensten Männer unter dem terroristischen Toben der Strassenhelden erstickt, politische Weisheit mit Stockhieben und Steinwürfen vertrieben hat! Die Mehrheit der Kammer und fast der ganze Senat raten von diesem blutigen Abenteuer ab, die sozialistischen Arbeiter drohen mit dem Streik, die Bürgerfehde flammt überall auf. Welch eine Vorbereitung für eine Tragödie, in der ein missleitetes Volk sein Blut verspritzen soll!

Während in Rom Entschlüsse gefasst wurden, die zu neuer Massentötung führen können, hatten wir wieder einen Sonntag mit Frühlingsstimmung und Sonnenschein. Im Grunewald, in allen Kaffeegärten Berlins und der Umgegend herrschte das heiterste Friedensgedränge, kein Stuhl war frei, Hunderte warteten auf eine geräumte Sitzgelegenheit. Statt der Kellner, die nun fürs Vaterland kämpfen, trugen freundliche Mädchen das Bier und die Apfelkuchen mit Schlagsahne heran, denn wir haben noch alles, was notwendig ist, Bier und Schlagsahne, und nähren uns noch nicht mit den neuen Erfindungen der Chemie. Feldgraue Offiziere und Soldaten, die mit Urlaub aus den Kriegsquartieren gekommen sind oder Verwundungen ausheilen oder erst vor dem Abmarsch stehen, sassen bei Frauen und Kindern und Freunden oder erklärten, herumwandelnd, strahlenden Damen die Angriffsstrategie. Eine stets wieder überraschende Fülle geradgewachsener junger Zivilisten – jene Fülle, die man ganz besonders in den Nächten zum Sonntag bei Schluss der Cafés und Bierhallen bestaunt – bot den beruhigenden Beweis, dass die vom »Journal de Genève« und anderen Blättern fortwährend aufgestellte Rechnung über die Erschöpfung der deutschen Volkskraft einstweilen noch nicht stimmt. In warmer Behaglichkeit sonnte sich das Leben, entschlossene Nichtkämpfer versicherten beim dritten Glase, sie gäben die okkupierten Gebiete niemals wieder heraus, und Musikanten in schwarzen Feiertagsröcken spielten das Siegfriedsidyll. Draussen, jenseits der deutschen Grenzen, ist die Hölle losgelassen, Millionen unserer tüchtigsten Männer, unserer liebenswertesten Jünglinge leben nur noch im Granatenhagel, stürzen sich todverachtend gegen die feindlichen Bajonette, viele fallen und stehen nicht wieder auf. In Galizien und den Karpathen, in einer Welt, die den meisten fremd und fern schien, jagen die deutschen Soldaten gemeinsam mit den Bundesgenossen die russischen Heere von Ort zu Ort, von Fluss zu Fluss, und bei Lille und Arras und Ypern ringt man erbittert Tag und Nacht um ein zerschossenes Haus, um ein längst mit Leichen gefülltes Grabenstück. In England werden, weil der Mob sie verfolgt, die Deutschen in die Konzentrationslager abgeführt, wobei mancher bei uns zum erstenmal erfährt, dass die meisten deutschen Kaufleute dort bisher noch gar nicht eingesperrt gewesen, sondern ins Geschäft oder zur Börse gegangen sind. In Italien wich der König dem herantobenden Kriegsgeheul, Wahnsinn und bezahlte Gemeinheit misshandeln jeden ehrlichen Volksfreund, der noch vom Frieden spricht. Mitten in alledem, mitten in diesem Weltbrand, geht bei uns alles den gewohnten Gang, und wenn jetzt die Zahl der Gegner sich draussen vermehren sollte, würde hier die Genussfreude vermutlich nicht allzusehr vermindert sein. Man könnte gewiss sehr Verschiedenartiges darüber sagen, aber es liegt eine starke Bürgschaft in dieser ruhigen Breitschultrigkeit, dieser robusten Breitsitzigkeit.

Die Eigenschaften, die das deutsche Volk befähigen, unter der Last der Opfer sein Leben im ruhigen Gleise fortzuführen, finden sich nicht überall, nicht alle Organismen und nicht alle Temperamente können so ohne Störung diese Zeiten überwinden, und auch wir wissen ja sehr genau und dürfen es in keinem Augenblick vergessen, wieviel unendlicher Kummer sich hinter den Sonntagsbildern verbirgt. Vor zwei Tagen lag auf der grün sich niederwellenden Rasenfläche bei der Hohenzollernbrücke am Kanal der Leichnam einer Frau, in Decken eingehüllt. Sie war zweimal ins Wasser gesprungen, zuerst von einem Schiffer gerettet worden und dann wieder zurückgekehrt. Es war eine Mutter, deren einziger Sohn gefallen war. Wie die Menschen, die heiter und lebensstark des Weges kamen, an der umhüllten Toten vorübergingen, geht das Schicksal der Nationen heute an all den zerbrochenen Einzelschicksalen vorbei. In Palermo haben Studenten einen schwarzen Sarg herumgetragen, auf dem geschrieben stand, Giolitti und die Ehre Italiens lägen darin. Italien und das Haus Savoyen werden, wenn nicht ein Wunder ihnen die Katastrophe erspart, vielleicht bald an Särgen stehen, die weniger theatralisch sind.« Man winkt dem italienischen Volke mit den zweifelhaften Glanzseiten des Krieges, der Beute und dem Ruhm. Aber die Mütter gehören auch dazu.

 

André Tardieu hatte zuerst, in seiner Jugend, die diplomatische Laufbahn gewählt, dann schrieb er im »Figaro« über die Tagesfragen der auswärtigen Politik. Er verliess den »Figaro«, weil er die von der russischen Botschaft bezahlten Artikel nicht unterzeichnen wollte, und wurde, als Nachfolger des ehrlichen, seiner Dreyfuskampagne wegen geopferten Pressensé, der Leitartikler des »Temps«. Durch seine Kenntnis der internationalen Politik und seine Begabung machte er sich eine Ausnahmestellung«, sein scharfer, rücksichtsloser Ton verstimmte auch die französischen Regierenden oft. Er trat in der Marokkoperiode, auch nachdem Fürst Bülow ihn empfangen hatte, heftig gegen Deutschland auf, trieb zu dem Zuge gegen Fez, der die Agadiraffäre herbeiführte, und sein Finanzinteresse vereinte sich bisweilen mit seinen politischen Ideen. Bei den letzten Wahlen vor dem Kriege liess er sich in die Kammer wählen, dann, während des Krieges, ging er zuerst an die Front. In der Kammer stand er in Armeefragen häufig auf der Seite der Kritiker, bis er als oberster Regierungskommissar nach Amerika ging.

21. Juni 1915

Der »Temps« widmet dem Fliegerangriff auf die unbefestigte Stadt Karlsruhe einen Artikel, in dem er geistvoll sagt, die Bomben – die vierundachtzig Zivilpersonen töteten oder verletzten – hätten »einige Abwechslung und etwas Unvorhergesehenes in die schnurgerade kalte Phantasie« der Residenz gebracht. Er ermahnt die deutschen Zeitungen, »die Stimme nicht allzusehr zu erheben«, denn die Ruinen von Reims, Arras, Ypern und Löwen seien schmerzlicher, und in Reims habe man viele hundert Tote gezählt. Behutsam, als käme ihm der Gedanke gar nicht, geht er über die Tatsache hinweg, dass Reims immerhin mitten in der französischen Linie liegt. Aber in der grossen Furchtbarkeit dieses Krieges zieht der Einzelfall schnell vorüber, und wir können und wollen die Stimme nicht so erheben, dass sie an Schmähkraft die Stimme des »Temps« erreicht. Seit Monaten hat der »Temps«, an jedem Abend seines Erscheinens, das ganze deutsche Volk, ohne Ausnahme, als ein Volk von Hunnen, Barbaren, Lügnern und Kindermördern geschildert, sich nie mit der Besprechung des Einzelfalles begnügt, sondern den Nachweis, dass die deutsche Seele an allgemeiner Verruchtheit leide, zu seiner besonderen Spezialität gemacht. So weit wollen wir die Stimme nicht erheben, so weit den Geist menschlichen Urteilsvermögens nicht erniedrigen, solchen Wahnwitz ahmen hier denn doch nur wenige nach. Mit Zitaten aus gewissen deutschen Vereinsreden und aus jenen Bernhardischen Schriften, die das Ausland liest und die wir bis gestern kaum kannten, erläutert der »Temps« täglich die »germanische Moral«. Die Sittengesetze, die »der Philosoph von Königsberg auf dem Grunde seines Herzens fand«, seien vergessen, und jetzt gebe es »auf dem Herzensgrunde jedes Deutschen nur noch Wut und Grausamkeit«. Dann schilderte er, im Gegensatz dazu, sein kriegerisches Ideal. »Der Krieg ist zwischen zivilisierten Nationen ein loyaler Kampf, der sein Recht, seine Regeln und seine Ehre hat«. Weiter hiess es: »Der Krieg, wie ihn Frankreich und seine Alliierten verstehen, ist eine grausame Notwendigkeit, die trotz Trauer und Unglück die höchsten Tugenden der Menschheit aufblühen lässt.« Bei dem fliegersportlichen Karlsruher Massenmord haben wir wieder das Aufblühen dieser Menschheitstugenden gesehen.

Ueber das Kriegsbild und die einzelnen Erscheinungen dieses Krieges sollten auch dann, wenn eine allseitige, sachliche Erörterung möglich sein wird, nur diejenigen sprechen dürfen, die einigermassen konsequent geblieben sind. Niemand hat seine Ansichten über Kriegsrecht und Kriegsmethoden mehr und häufiger gewandelt als die Leute des »Temps«, denen je nach Bedarf Fluch und Segen zur Verfügung stehen. Sie billigen und loben den Karlsruher Angriff mit der Begründung, dass er eine Antwort, eine Vergeltung, eine »Repressalie« gewesen sei. Aber sie haben von jeher – als sie noch an die Ueberlegenheit der französischen Fliegerzahl glaubten – das Recht auf rücksichtslose Bombenwerferei betont. Sie haben mit dem Worte »Bernhardismus« das ganze deutsche Volk verfemen wollen, das von den – zum überwiegenden Teil verkehrten und schiefen – Bernhardischen Ideen sehr wenig weiss. Und gerade sie haben schon lange vor dem Kriege eine Anschauungsweise vertreten, die der Bernhardischen zwillingshaft gleicht. André Tardieu, der politische Leiter des »Temps«, dessen publizistische Bedeutung kein Kundiger leugnen wird, legte vor drei Jahren in einem Artikel den französischen Standpunkt zur Fliegerbombenfrage dar. »Die Haager Konferenz«, schrieb er dort, »hat 1899 den Flugzeugen das Hinabwerfen von Geschossen, das inhuman sei, verboten, aber inzwischen hat die Aeronautik wunderbare Fortschritte gemacht. Lenkbare Luftschiffe, Zweidecker und Eindecker sind gefürchtete Waffen geworden, und es wäre absurd und undurchführbar, wollte man denjenigen diesen Vorteil entwinden, die weiter als andere in der Vervollkommnung dieser Waffe vorgeschritten sind. Wenn der Krieg ausbräche, würde Frankreich auf seine Luftflotte zählen, um sich den Sieg zu sichern, und warum sollte man, da die Unterseeboote zuschlagen dürfen, wo und wie sie wollen, den Flugzeugen nicht eine ähnliche Freiheit zugestehen?« In dem gleichen Artikel erzählte André Tardieu, dass 1870 die deutschen Armeen auf Kirchen und Kunstgebäude geschossen hätten, und mit einer Aufrichtigkeit, die dem »Temps« jetzt abhanden gekommen ist, fügte er hinzu: »Diese Gewaltakte würden sich heute wiederholen, und sicherlich würde keine Armee, zu welcher Nationalität sie auch gehören möge, zum Verzicht darauf imstande sein.« Und weiter folgte dieser Satz, der, wenn er von einem Deutschen verfasst wäre, längst zum Beweise der deutschen Hunnenhaftigkeit hervorgeholt wäre: »Quand on sent peser sur ses épaules une responsabilité aussi formidable que celle dont sont investis les généraux modernes, on agit de son mieux, sans se préocuper de ménager les tiers et avec l'unique souci d'arriver au but le plus surement possible« – »wenn man auf seinen Schultern eine so ungeheure Verantwortung lasten fühlt wie diejenige, mit der unsere modernen Generäle betraut sind, handelt man nach bestem Vermögen, ohne sich um einen Dritten (die Zivilbevölkerung) zu kümmern, und mit dem einzigen Gedanken, so sicher als möglich auf die Erreichung des Zieles loszugehen.« Die französischen Generäle haben diesen Leitsatz André Tardieus gewiss zur Anwendung gebracht. Wie sie, nach diesem Leitsatz, gehandelt hätten, wenn sie auf deutsches Gebiet vorgedrungen und in eine mitkämpfende Zivilbevölkerung hineingeraten wären, erscheint nicht zweifelhaft.

Der hervorragende politische Leiter des »Temps« wandte sich in seinem Aufsatz dann den Methoden des Seekrieges zu. Mit jener selbstsicheren Aufrichtigkeit, die ihn oft vor anderen Publizisten auszeichnete, machte er für die maritime Rechtsverwirrung England verantwortlich. »Hier wie überall sonst setzt sich der Wille des Stärkeren durch. Viele Regeln, die heute noch gewissermassen für den Seekrieg gelten, sind von dem Interesse Grossbritanniens diktiert. England hat bei den letzten internationalen Konferenzen, wo man die Gesetze des Landkrieges studierte, die Prüfung der Seekriegsgesetze bekämpft. Es will in einem etwaigen Kriege seine volle Bewegungsfreiheit behalten, aus seiner Ueberlegenheit Nutzen ziehen.« Tardieu zeigte, dass England das Beuterecht, die Blockadevorschriften, die Regeln über Konterbande immer so auslegte, wie es ihm gerade gefiel. » Je nachdem, ob es neutrale oder kriegführende Macht ist, ändert es seine Doktrin. Wenn es kriegführende Macht ist, dehnt es die Definition der Konterbande ins Unendliche aus. Wenn es neutrale Macht ist, schränkt es sie ein, soweit das irgend geht.« Nebenbei erwähnte Tardieu die Abmachung, welche die Beschiessung offener Häfen untersagt. Er versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass im Jahre 1801 England, gegen die Abmachung, das offene Kopenhagen beschossen hat.

Heute erklärt der »Temps« André Tardieus die »Prinzipien Bernhardis«, die gestern seine eigenen Prinzipien waren, und die in Deutschland scharfen Widerspruch finden, für ein Zeichen unserer Barbarei und erschöpft sich in pathetischen Verwünschungen für ein Volk, das unsagbar bewundernswert in seiner reinen, alles hingebenden Pflichterfüllung ist. Heute nennt er die deutschen Unterseebootsmänner, die gegen Englands eigenwillige Herrschaft ihr Leben wagen, Piraten des Meeres, und die deutschen Flieger, die das Karlsruher Attentat nicht begingen und nur die Tardieusche Forderung erfüllen, Piraten der Luft. Nein, wer so, nach dem englischen Vorbild, »seine Doktrin ändert« und dem augenblicklichen Nutzen anpasst, kann kaum verlangen, gehört zu werden, wenn eines Tages die loyal sachliche Aussprache stattfinden wird. Der »Temps« war seit mehr als einem Jahrzehnt das ernsteste und wichtigste Blatt in einer Presse, die immer wieder, und auch bei jeder Wendung der Marokkoaffäre, eine Verständigung bekämpft und das Schicksal Frankreichs durch einseitige Förderung einer gefährlichen Allianzpolitik in die heutigen Bahnen getrieben hat. Solche Leidenschaftspolitiker hatten und haben wir auch, und dort wie hier galt die Vernunft manchem für antinational. Jetzt sucht der »Temps« durch eine Masslosigkeit des Hasses die Aufmerksamkeit von der Fehlrechnung abzulenken und diejenigen Franzosen am Reden zu hindern, die nach einer Gelegenheit zur Beendigung des blutigen Entsetzens spähen. Damit begeht er wahrscheinlich den grössten seiner Fehler, und man könnte daran lernen, wie notwendig es ist, terroristischer Leidenschaftlichkeit in der Politik niemals, aus Schwäche oder Beifallsbedürfnis, Gehör zu leihen. Uebrigens ist es wohl möglich, dass André Tardieu in dem dramatischen Wechsel des politischen Lebens vergessen hat, wo und wann der Aufsatz, der seine wahren Gedanken über Kriegführung enthält, erschienen ist. Er hat in der Zeitschrift »Je sais tout« vom 15. August 1912 dieses bemerkenswerte Bekenntnis zum »Bernhardismus« veröffentlicht.

 

Am 5. August wurde Warschau besetzt. Ueberall wichen die russischen Armeen zurück, eine Festung nach der anderen fiel. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse sah sich die Ententediplomatie nach neuen Bundesgenossen um. Bratianu in Bukarest, schon halb gewonnen, vertagte immer wieder den letzten Entschluss. Unablässig schrieb Hervé in der »Victoire«, es gelte, »l'épine bulgare« den bulgarischen Dorn, auszuziehen, was eine bildhafte Aufforderung, Bulgarien durch Versprechungen zu gewinnen, war. Wirklich boten jetzt die Ententeregierungen, nach langem Schwanken und Wählen, auf Kosten der Serben und der Griechen den Bulgaren einen Teil des ihnen im zweiten Balkankriege entrissenen Gebietes an. Auch bei uns war es nötig, zu erkennen, dass die entscheidende der Balkanmächte Bulgarien sei. Es war die beste politische Leistung während des Krieges, dass man in dieser Frage schneller und fester als die freilich durch ihr serbisches Anhängsel behinderte Entente handelte und auch dynastische Sympathien zurücktreten liess.

16. August 1915

Politiker, die weder wirklichkeitsfremd sich mit Schreibtischphantasien erhitzen, noch die Gewalt zu einem nationalen Rechtsprinzip erheben, haben lange vor diesem Kriege zwei ideale Entwicklungsziele erträumt. Die einen von ihnen träumten den germanischen Traum, der gar nichts mit dem zu tun hat, was man im Auslande unter »Pangermanismus« versteht und der unbestreitbar zu den schönsten, reinsten Gedankenbildern gehört. Die anderen blickten nach dem Südosten und dem Orient, erstrebten das jetzt glücklich verwirklichte Bündnis mit der Türkei und hofften, dass uns bei richtiger Gelegenheit territoriale Verschiebungen und neue Freundschaften jenen Verbindungsweg nach Konstantinopel sichern würden, der politisch und wirtschaftlich eine so entscheidende Bedeutung hätte und uns bis heute noch fehlt. Die grosse Idee des germanischen Zusammenschlusses, deren unbeirrbarer Prophet Björnstjerne Björnson war, ist wie ein klarer Stern am Himmel stehen geblieben, und es ist noch fraglich, ob sie durch diesen Krieg der Verwirklichung näher gekommen ist. Der Weg zum Orient, den uns das Geröll der Balkankriege völlig versperrte, kann nach der Besiegung der Russenheere sich vor uns öffnen, wenn wir, und wenn auch andere, die Gunst der Stunde mit kluger Entschlossenheit auszunutzen verstehen. Fast alles, was ausserhalb dieser beiden Zielrichtungen liegt, ist künstlich, durch den Zufall des Krieges, durch Interessensinn einzelner und durch Gefühlsregungen in den Vordergrund geschoben worden und widerspricht der von allen Zufälligkeiten und Stimmungen unabhängigen, vorgezeichneten Entwicklung. Jene beiden politischen Leitgedanken aber haben auch eine gemeinsame Voraussetzung: die Schwächung und Zurückdrängung des Russentums.

Wer Björnstjerne Björnson näher kannte, weiss, dass sich in seiner »grossen königlichen Seele« – wie Ibsen in einem Briefe sagte – der Europäersinn mit dem Germanischen und eine Abneigung gegen Allzupreussisches mit einer warmen Liebe für Deutschland verband. Er liebte als Europäer und Demokrat auch das demokratische Frankreich und gründete dort zusammen mit Anatole France und anderen Intellektuellen den »Courrier Européen«, aber in dem grossen Rahmen räumte er dem germanischen Völkerbunde eine besondere Stätte ein. Diese Ueberzeugungen, denen sein Sohn Björn treu geblieben ist, haben gerade in Norwegen heute wenig Geltung mehr, denn das Land, dessen Dichter nach Deutschland wanderten, ist jetzt fast ganz vom englischen Einfluss beherrscht. Gewiss können wir einen solchen Wandel bedauern, aber wir wollen jedem seine Gefühle lassen und nicht immer wieder durch lehrhaftes Zureden etwas zu erreichen versuchen, was am ehesten durch Taten erreicht werden kann. Die germanische Idee, die auf norwegischer Erde in dem Königsgrabe Björnsons ruht, ist, wie ein preisgegebenes Kleinod, nach Schweden getragen worden, wo Sven Hedin im Verein mit Gleichgesinnten ihr Anhänger wirbt. Unverkennbar hat in Schweden unter dem Eindruck der gewaltigen deutschen Leistungen und der russischen Niederlagen die Zahl derjenigen, die heute die Bahn für ein solches Ideal und vor allem für eine grössere Entwickelung ihres Landes frei machen möchten, sich erheblich vermehrt. An diese Tatsache bestimmte Erwartungen für die Gegenwart anzuknüpfen, würde einstweilen mindestens unvorsichtig sein. Die Mehrheit der Sozialisten, die vieles, was am Beginn des Krieges geschah, in einem uns ungünstigen Sinne beurteilt, verwirft jede tätige Politik. Ihr alter Führer Branting hat das eben erst, zur Genugtuung der französischen Presse, in einer ziemlich herben Rede erklärt. Der Ministerpräsident Hammarskjöld hat einer pazifistischen Abordnung mit klarer Sachlichkeit auseinandergesetzt, warum Friedfertigkeit nicht unter allen Umständen als ein Staatsprinzip gelten dürfe, aber man hat bei uns diese Worte nur so, wie sie gemeint waren, ausgelegt. Der Minister des Aeussern, der sehr selbständige und einflussreiche Wallenberg, wünscht für Schweden eher den Oelblattkranz des Vermittlers als den Lorbeerkranz des Kämpfers und bekennt sich bei jeder Gelegenheit zur unbedingten und unabänderlichen Neutralität. Auch in Schweden haben die uns gegnerischen Kräfte, wie überall, die Aeusserungen und Forderungen unserer schwatzseligen Heimkrieger zu der Behauptung verwertet, wir wollten die Welt unterjochen, die Freiheit der Völker abwürgen und aller fremden Kultur ein Kleid nach einem Muster verleihen. Gerade in diesem Augenblick werden die auf solche Ziele gerichteten Eingaben der »sechs Verbände« und einiger Professoren in allen Blättern draussen, im vollen Wortlaut, veröffentlicht, und man kann den Schaden nicht hoch genug bewerten, der aus diesen napoleonischen Kundgebungen der deutschen Sache erwächst.

Nun ist, durch die Kriegsereignisse und durch die Besetzung der Insel Utö, die Aufmerksamkeit des schwedischen Volkes wieder auf die Alandsinseln hingelenkt. Hat Russland, in Missachtung des Pariser Vertrages, auf diesen Inseln, die ihm 1809 von Schweden überlassen wurden und die Einfahrt des Bottnischen Busens beherrschen, Befestigungen angelegt? Als im Jahre 1908 über die Schaffung eines Ostseevertrages verhandelt wurde, forderte Russland die Aufhebung des Befestigungsverbotes, das eine »Kränkung der russischen Nationalehre« sei. Am 6. März 1908 habe ich, gestützt auf mancherlei diplomatisches Material, von der Gefahr gesprochen, die aus einer solchen Neuerung sich drohend zu ergeben schien. Die russische Forderung wurde in jenem Artikel ein Beweis dafür genannt, »dass eine Partei am russischen Hofe zu einer aktiven Auslandspolitik drängt« und dass »der »rein asiatische« englisch-russische Vertrag auch in Europa zu wirken beginnt«. Die These, dass nur Russland, England und Frankreich, die Unterzeichner der Konvention, in dieser Frage zu entscheiden hätten, wurde auf Grund der ganzen Vertragsfassung widerlegt, und dann wurde weiter gesagt: »Soll Deutschland seine Zustimmung erteilen, soll es sich damit einverstanden erklären, dass Russland auf den Alandsinseln frei schalten und walten dürfe? Man braucht wohl kaum erst zu sagen, was alles dagegen spricht, braucht auch kaum erst auf die Wertlosigkeit der russischen Versicherungen hinzuweisen, die jede Absicht, wirkliche Befestigungswerke aufzuführen, sehr energisch bestreiten.« Man müsse, hiess es dann noch, »sich bei uns darüber klar sein, dass man durch seine Zustimmung eine russische Flottenstation, eine Festung in der Ostsee schaffen hilft«, und dass diese Festung imstande wäre, »den Finnischen und den Bottnischen Busen zu beherrschen, die schwedische Küste zu bedrohen«. Es gab damals in Deutschland Politiker, die in ihrer Sorge um die deutsch-russischen Beziehungen nicht ganz abgeneigt waren, auf die Wünsche Russlands einzugehen. Sie drangen mit ihrer Meinung nicht durch, und die russische Regierung, die wohl bedachte, dass man auch im stillen Wälle bauen könne, zog ihre Forderung zurück. Jetzt ist die Diskussion wieder eröffnet, die verschiedenartig wirken kann und von der die französische Presse sogar eine russisch-schwedische Annäherung erhofft. Für uns ist diese Angelegenheit, deren völlige Regelung vielleicht später erfolgen wird, zunächst eine Angelegenheit der schwedischen Nation. Die ehrliche Meinung wollen wir in dieser wie in allen Fragen auch dann achten, wenn sie nicht ganz zur unsrigen stimmt. Denjenigen im schwedischen Volke aber, die mit ihren Wünschen auf unserer Seite stehen, sind wir, was auch kommen möge, dankbar für ihre Sympathie.

Dürfen wir die Verwirklichung des anderen politischen Gedankens erhoffen, der nach Südosten weist? Die Schaffung und Sicherung des Verbindungsweges nach Konstantinopel ist für uns, in der Kriegsgegenwart wie in der Friedenszukunft, so sehr eine Notwendigkeit, dass alles an die Erreichung dieses Zieles gesetzt werden muss. Es ist hier immer der Standpunkt vertreten worden, dass wir Rumänien sehr wohl dabei entbehren könnten und dass die Mitwirkung eines starken befreundeten Bulgariens für die Herstellung der freien Strasse förderlicher sei. Diese Wahrheit ist jetzt auch von den Diplomaten der Entente begriffen worden, aber erfreulicherweise ein wenig spät. Mit einer brutalen Plötzlichkeit, weil nach dem russischen Unglück das Feuer ihnen auf den Nägeln brannte und weil sie die Stimmung der Bulgaren nach einer anderen Richtung gleiten sahen, haben die Herren Delcassé, Sasonow, Grey und Sonnino von Serbien die Herausgabe Mazedoniens und von Griechenland die Abtretung Kawallas an Bulgarien verlangt. Sie kennen heute die Antwort, die das griechische Volk ihnen, noch vor der griechischen Regierung, einstimmig gegeben hat. Selbst wenn der andauernd ententegetreue Venizelos zur Macht zurückkäme, würde er es bei der allgemeinen Volksstimmung nicht wagen können, den offenen, kriegerischen Anschluss an den Vierverband zu vollziehen. Bis jetzt zum mindesten sieht es so aus, als habe die Entente in ihrem nachholenden Uebereifer nicht sehr glücklich operiert. Wird man nun in Bulgarien, wo noch mit der Türkei über die vorteilhafte Umgestaltung der Grenze verhandelt wird, erkennen, dass die Situation der Entscheidung entgegendrängt? Die Balkanstaaten sind ja seit Monaten von allen Seiten ersucht worden, den richtigen Moment nicht zu versäumen, und sie sind gegen solche Mahnungen vielleicht etwas abgestumpft, aber diesmal naht wirklich der »nie wiederkehrende« Augenblick. Irgendwie, auf dem einen Wege oder auf dem anderen, rechts oder links, mit Peter oder mit Paul, muss die Verbindung mit dem türkischen Reiche geschaffen werden, die uns die neue Möglichkeit für kriegerische und friedliche Taten gewähren soll. Dort ist sicherer Gewinn für alle, die auf unsere Seite treten, und dort findet die deutsche Tatkraft das lange vorgezeichnete, natürliche Richtungsziel und den weltpolitischen Erfolg.

 

Raoul Villairs, der am Abend des 31. Juli 1914 von der Strasse aus den im Café Croissant sitzenden Jaurès erschoss, befindet sich, nach mehr als drei Jahren, noch immer in Untersuchungshaft. Aber die Frage, wer den Mörder abgeschickt hat, wird eines Tages, im Frieden, sich unwiderstehlich erheben, sie schlummert nur und ist nicht für immer mit dem leidenschaftlichen Verkünder der Menschenrechte eingesargt.

6. September 1915

Der aus Russland stammende, zumeist in Paris lebende Sozialist Rappaport hat in der »Berner Tagwacht« einen Artikel veröffentlicht: » Was hätte Jaurès getan?« Er erzählt, dass er am ganzen letzten Tage vor der Mordtat fortwährend mit Jaurès und anderen sozialistischen Führern in der Kammer zusammen gewesen sei, und dass Jaurès dort, unter anderem, in der ihn umringenden Gruppe gesagt habe: »Sollen wir in den Krieg gehen, weil Aehrenthal sein Versprechen, Iswolsky für die österreichische Regelung der bosnisch-herzegowinischen Frage ein Trinkgeld von vierzig Millionen zu geben, nicht gehalten hat?« Jaurès sei entschlossen gewesen, am nächsten Morgen in seiner »Humanité« ein »J'accuse« gegen alle Ursachen der Krisis und alle Verantwortlichen zu schleudern, und die reaktionären Kreise hätten das gewusst. Der Unterstaatssekretär im Ministerium des Aeussern, Abel Ferry, habe Jaurès gewarnt: »Sie werden an der nächsten Strassenecke erschossen werden«, und habe ihn zur Einstellung seiner Friedensagitation zu bewegen versucht. Rappaport, ein kleiner, bärtiger, streitsüchtiger Mann, ist, wie man hinzufügen muss, niemals besonders deutschfreundlich gewesen, und irgendeine Sympathie für Deutschland spricht bei ihm nicht mit. Er schreibt denn auch: »Die Chauvinisten und Sozialpatrioten der Zentralmächte werden natürlich diese Aeusserungen, deren Richtigkeit ich garantiere, für ihre Zwecke ausschlachten wollen, aber sie täuschen sich, wenn sie glauben, die letzten Worte Jaurès' enthielten eine Rechtfertigung für ihren Krieg.« Erwähnt zum Verständnis des Vorganges und zur Vermeidung von Irrtümern muss noch werden, dass Abel Ferry, der Neffe Jules Ferrys, ganz und gar nicht zu den Reaktionären oder den französischen Geschäftspolitikern zählt, den guten Ueberlieferungen seiner Familie treu ist und in bewundernder Freundschaft dem weit älteren Jaurès nahe stand. Er kämpft jetzt als Leutnant irgendwo an der Front und wird, wenn ihn die Kugel verschont, sogleich nach dem Kriege Minister sein.

Die Mitteilungen Rappaports haben das Missfallen der offiziellen sozialistischen Parteidirigenten in Frankreich erweckt. Der seit einiger Zeit sehr einflussreiche Pierre Renaudel, Deputierter und Redakteur der »Humanité«, nennt sie in einem offenen Briefe eine »wahrhafte Infamie«. Man versteht diese Heftigkeit noch weniger, wenn man liest, was Renaudel dann über einen Besuch berichtet, den Jaurès, begleitet von mehreren Parteigenossen, am 31. Juli im Ministerium des Aeusseren abgestattet hat. »Seien Sie auf der Hut,« hat Jaurès dort gesagt, »ich will nicht den Inhalt Ihrer Verträge erörtern; Ihre Erklärung, dass Sie dadurch unwiderrufbar gebunden seien, genügt.« An jenem Tage hatten die Mächte, mit Ausnahme Frankreichs, sich zu dem Vorschlag Sir Edward Greys, die Streitpunkte des österreichisch-ungarischen Ultimatums durch eine Botschafterkonferenz beraten zu lassen, noch nicht erklärt. »Ich fürchte,« rief Jaurès seiner Regierung zu, »Sie haben unserem Alliierten das alles zu kraftlos gesagt – ich fürchte, Sie haben ihm nicht zu verstehen gegeben, dass er, wenn er die von England vorgeschlagene Vermittelung nicht annimmt, auf unseren Beistand gegen Oesterreich nicht rechnen darf.« Seine Bitten steigerten sich zu einem beschwörenden Flehen: »Ist es zu spät, die grosse Stimme Frankreichs und der Völker zu hören, die sich in ein so entsetzliches Gemetzel werfen sollen, wie die barbarische Menschheit keines gesehen hat? Hören Sie die Stimme, wenn es noch Zeit ist – wer weiss, was die Zukunft bringt!« Wäre es ihm entgangen, dass Russland, obwohl es die von Deutschland und Oesterreich-Ungarn abgelehnte Konferenz annahm, gleichzeitig durch seine Mobilisierung den dünnen Friedensfaden zerriss? Schwerlich hätte er über solche Tatsachen hinweggesehen und sich, wie heute seine Erben, mit einer selbstschmeichlerischen, einseitigen Betrachtung begnügt. Mehr als bei seinen eigenen Landsleuten und Parteifreunden findet seine Denkart sich heute bei einigen Engländern, bei J. D. Morel, der Kritik und Mahnungen nach allen Seiten hin richtet, und bei dem Oxforder Mathematiker Bernard Russel, dessen »Weckruf an das geistige Europa« – von der »Internationalen Rundschau« veröffentlicht – manchem Widerspruch begegnen dürfte, aber ein Dokument von hohem sittlichen Ernst und tapferem Wahrseinwollen ist. Auch Jaurès hätte sich aus dem Trümmerhaufen seiner Lebensarbeit den Mut zum freien Urteil gerettet, und wenn er jetzt nicht in allen Fällen dieses Urteil hätte aussprechen können, so hätte er doch in allen Fällen selbständig nach der Wahrheit gestrebt und die Formeln, mit denen man die Leichtbefriedigten abspeist, unbefangen nachgeprüft.

Man darf natürlich nicht glauben, dass er die Ereignisse, die in hastigem, kurzem Nacheinander und Durcheinander dem Kriege vorausgingen, etwa so beurteilt haben würde, wie es in den deutschen amtlichen Darstellungen geschieht. Man darf auch nicht meinen, dass er die belgische Frage mit ihren Folgen und Begleiterscheinungen oder das Unglück der nordfranzösischen Bevölkerung sehr viel anders gesehen hätte, als seine Landsleute das alles heute sehen. Er hätte sich nur bemüht, den Leidenschaften zu entgehen, hätte dem Gefühl nicht die Herrschaft über seine Vernunft zuerkannt. Er hätte sich das Bild des deutschen Volkes, das er auf Reisen und in freundschaftlichem Verkehr gewonnen hatte, zurückgerufen, und schon das allein hätte ihn vor den Ausschreitungen des Gedankens und der Sprache, die heute in Frankreich herumtoben, bewahrt. Er, der für alle Einigungskonferenzen und Schiedssprüche eintrat und auch während der Balkankrise die Londoner Konferenz kaum jemals kritisierte, hätte sicherlich nicht gefunden, dass die Diplomatie der Zentralmächte recht handelte, als sie die vorgeschlagene Botschafterberatung verwarf. Aber er hätte auch seine eigene Regierung gefragt: »Welche bindenden Verpflichtungen hat Poincaré bei seinem Petersburger Besuche übernommen, welche Worte der Warnung oder der Anfeuerung hat er dort hören lassen, und was habt ihr, abgesehen von euerer Zustimmung zum Vorschlage Greys, für die Verhinderung des Krieges getan?« Aus seiner ganzen Ideenwelt heraus hätte er die Politik, die den unterirdischen serbischen Brand nicht rechtzeitig ins Freie ablenkte, beim Anblick der Katastrophe noch einmal angeklagt. Aber in seinem starken Sinn für historische Zusammenhänge und in seinem klaren Erfassen und Umfassen des vielgestaltigen Weltkrieges hätte er auch über die unheilvolle Politik der Allianzen und Ententen, über die beharrliche Kluftvertiefung zwischen Frankreich und Deutschland, über alles, was bei dem Einzelanlass nun Wirkung gewann, noch einmal das Verdammungsurteil gefällt.

Dieser unerreichbare Redner, der sich mitunter im Wohlklang seiner hinströmenden Worte zu wiegen schien, hat das Wort niemals missbraucht. Er verstand sich auf die Waffen der Ironie, aber die Wurfgeschosse, die andere aus der Gosse auflasen, wies er mit einem natürlichen Widerwillen zurück. Dieser ehemalige Professor der Philosophie hätte mit aller Schärfe und Gewalt, die ihm zur Verfügung standen, die verstiegene Kriegsrethorik bekämpft, die auch in Reden und Schriften deutscher Intellektueller, in diesem fast allgemeinen Bankrott der Philosophie, zutage tritt. Aber er hätte mit nicht geringerer Schärfe und nicht geringerer Gewalt sich der Flut niedriger Schmähungen, beschimpfender Verallgemeinerungen widersetzt, die sich heute aus den Quellstätten des französischen Geistes ergiesst. Der Mann, dessen Ideal die Völkerversöhnung gewesen war, hätte sich gegen die nationalistischen Gewaltsamkeiten der Papierhelden, gegen das schrankenlose Machtgerede der Lehnstuhldrücker ganz selbstverständlich aufgelehnt, wie das, nur nicht immer laut genug, auch bei uns die Vernünftigen tun. Aber dieser fleckenlose Führer der öffentlichen Meinung, der schon vor dem Kriege gewisse Pressgeschäfte durchleuchtete, hätte niemals die Alleinherrschaft jenem Teile des Pariser Journalismus überlassen, der an der Schatzkammer Abdul Hamids die Erpresserhände ausstreckte, bei jeder russischen Anleihe seine »Trinkgelder« nahm und nun seit Jahrzehnten das Heil und die Sicherheit Frankreichs an den Meistbietenden verkauft. In seiner Liebe für alles Schöne, das sich dauernd von Geschlecht zu Geschlecht vererbt und den Geist vergangener Generationen in der reichsten Entfaltung aufbewahrt, hätte dieser fest in der französischen Tradition wurzelnde Zukunftsbahner um die Kathedrale von Reims getrauert, und seine Liebe für das Volk hätte ihn gedrängt, sich an jedem Dorfeingang schützend vor die gefährdeten Bewohner zu stellen. Aber es wäre ihm auch klar gewesen, wie anders es noch bei einem Einbruch von Senegalnegern, Indiern, Londoner Eastendrittern und sonstigen Apachen auf deutschem Boden zugegangen wäre, wie dort beim ersten Franktireurzeichen in den engen Gassen der Arbeiterstädte das Bajonett gehaust hätte, und ganz sicherlich hätte er nicht all die wüsten Greuelgeschichten verbissen nachgebetet, hätte er zornig seine Stimme erhoben, wenn er gesehen hätte, dass man das deutsche Volksheer, dessen Zusammensetzung er kannte, als eine grosse Hunnenhorde zu schildern wagt. Er hätte schwerlich Beunruhigung in die eigenen Reihen tragen wollen, aber er hätte auch nicht die Sinne seiner Hörer mit Phantasien umnebelt, hätte nicht unhaltbare Hoffnungen genährt, hätte zu jeder Stunde nach Friedensmöglichkeiten ausgespäht. Er hätte seine »Humanité« mit einem klarsehenden, nicht mit einem beschränkten Patriotismus geleitet, und er hätte in seinem Blatte nicht das aus dem Lande des Gegners zusammentragen lassen, was zur Erhitzung und Aufstachelung dienen könnte, sondern hätte seinen Lesern weit lieber andere Aeusserungen und Tatsachen vorgelegt. Und noch eins hätte Jaurès getan: er hätte, wenn ihm der Freund, der Kamerad, der Führer hinterlistig ermordet worden wäre, mit all seinem Mut, mit all seinem Scharfsinn dem wahren Ursprung des Meuchelmordes nachgespürt. Er hätte vielleicht während des Krieges geschwiegen, aber so rastlos, so unbeirrbar, wie er einst, neben Zola, unter dem Gejohl der chauvinistischen Stockschwinger die Schuldigen der Dreyfus-Affäre aus ihrem Versteck jagte, hätte er die letzten Winkel und Hintergründe des Verbrechens durchforscht. Jaurès hätte die Anstifter der Mordtat, wer sie auch gewesen sein mögen, vor den Richterstuhl des Volkes geschleppt. Jaurès hätte Jaurès gerächt.

 

In Wolhynien hatten die Russen noch einmal eine Gegenoffensive versucht. Dort, wie überall, war in der Panik des Rückzuges für die besseren Eigenschaften des russischen Charakters, für die Gutmütigkeit und die träumerische Weichheit, keine Zeit, nur die brutale Vernichtungswut tobte sich hemmungslos aus.

27. September 1915

Ohne die endlose Reihe der anderen Bilder zu vergessen – und ohne vor allem auch nur einen Augenblick die Gedanken von den Männern abzuwenden, die heute im Westen den schweren Kampf kämpfen und deren ausharrende Heldenhaftigkeit wir ahnen – muss man bei dem Massenjammer der polnischen, litauischen und kurländischen Bevölkerung verweilen, der jetzt den russischen Morast bedeckt und in den kalten Wäldern Zuflucht sucht. Es ist ja eine der traurigsten Offenbarungen in diesem Kriege, dass so viele Nichtkämpfer auf irgendeine Weise unter die Kriegsräder geraten, aber das Elend dort unterscheidet sich durch Ursprung und Ausdehnung von allem, was man sonst noch gesehen hat. Durch seinen Ursprung, denn dort hat nicht der Feind die Dörfer in Trümmerstätten verwandelt, sondern die russischen Kommandanten und Beamten haben die Untertanen des Zaren aus den aufflammenden Wohnstätten in den Hungertod gejagt. Durch seine Ausdehnung, denn dort wandert nicht eine einzelne Dorfgemeinde verstört und hilfesuchend zu einem fremden Asyl, sondern ein ganzes Volk, ein Volk von Hunderttausenden oder von Millionen, irrt verzweifelt umher. Alle Briefe und Berichte, die jetzt aus diesen verwüsteten Gebieten kommen, sagen, dass die Not der Ausgestossenen unbeschreiblich sei. Abgehärtete, im Krieg an manchen Anblick gewöhnte Männer können sich noch lange, nachdem sie diese Gegend des Unheils verlassen haben, von der Erinnerung nicht befreien. In einem konservativen Berliner Blatte hat ein Augenzeuge das namenlose Entsetzen zu schildern versucht. »Wieder«, schreibt er, »treffen wir auf Scharen von Bewohnern, in dumpfer Verzweiflung an dem Strassenrand hockend. Hohläugig schauen sie uns mit stieren Augen entgegen. Ihre Heiligenbilder haben sie ringsum um sich aufgestellt oder an Zweige zu ihren Häuptern gehängt. Frauengestalten wälzen sich in Krämpfen am Boden, Kinder lallen trocken und schwach. Ein Greis mit wallendem Haupt- und Barthaar hält ein kleines Buch und betet unaufhörlich leise vor sich hin.« Es gibt bekanntlich – was gibt es nicht alles! – Kriegstheoretiker, denen eine zweckvolle Grausamkeit empfehlenswert erscheint. Wenn die Russen die Häuser anzünden und die armen Menschen am Wege verhungern lassen, so ist das eine Massregel von vollendeter Zwecklosigkeit. Die Geschichten von 1812, der Brand von Moskau, die Heimkehr der napoleonischen Armee schweben ihnen vor. Ihre Mordbrennertaktik ist missverstandener Kutusow. Die Armee Napoleons ging in dem verödeten Lande zugrunde, weil sie noch keine Rückwegssicherung durch Eisenbahnen, keine Gulaschkanonen und nicht die Organisation des deutschen Heeres besass. Heute zerschlägt man mit den Aushungerungsmitteln nur das unglückliche Volk.

Es gibt in Russland eine These, die auch von den Londoner und Pariser Russenblättern jetzt eifrig gepredigt wird. Um die Verkommenheit der Bureaukratie zu ummänteln und den aufsteigenden Zorn abzulenken, versichert man, diese reaktionäre Verwaltung sei von den Deutschrussen geschaffen, ein germanisches Gewächs. Einige Dumaredner haben diesen Gedanken vorgebracht, die russischen Zeitungen haben ihn weiter entwickelt, und der »Temps« hat ihn in seiner Nummer vom 14. September denjenigen Franzosen, die mit Unbehagen nach Russland blicken, wortreich eingeprägt. Der Gedanke ist nicht neu, der Hass gegen die deutschen Berater des Hofes und ihre Unterorgane hat in der russischen Geschichte oft eine grosse Rolle gespielt, Alexander Herzen, der kein Panslawist war, kommt in seinem Buche »Russlands soziale Zustände« immer wieder auf diese Gegensätze zurück. »Es herrschte«, berichtet er aus der Zeit der Kaiserin Anna und ihres deutschen Lieblings Biron, »zwischen den Deutschen und ihren Anhängern einerseits und den russischen Würdenträgern, die den Thron umgaben, eine alte Erbitterung. Die deutsche Partei repräsentierte nicht die Zivilisation, und die russische nicht die Unwissenheit.« Er sagt, die Deutschen hätten nicht den Fortschritt vertreten, sie hätten sich nicht die Mühe gegeben, das Land kennen zu lernen, und hätten es verachtet, sie seien »die servilsten Werkzeuge« der kaiserlichen Gewalt gewesen und hätten »eine den Russen antipathische Art und Weise, einen pedantischen Bureaukratismus« mitgebracht. So sei es auch später geblieben, die Feindseligkeit zwischen Slawen und Germanen sei »eine traurige, aber bekannte Tatsache« und jeder Konflikt zwischen ihnen habe »die Tiefe ihres Hasses offenbart«. Als ob er aus diesem Buche des landflüchtigen russischen Schriftstellers seine geistige Nahrung bezogen habe, erklärt der »Temps«, die russische Verwaltungsmaschine sei »eine Importation des deutschen Geistes« und habe »seit langem die russischen Patrioten mit Sorge erfüllt«. Die Duma, die Presse, die städtischen Körperschaften und die Industrieverbände forderten »die Befreiung von dieser deutschen Bevormundung, deren Gefährlichkeit ihnen durch das Vorrücken der deutschen Truppen enthüllt worden ist«.

Es ist nicht gut möglich, sich jetzt in die Geschichte der Kaiserin Anna zu versenken und nachzuforschen, was das mitregierende deutsche Element im Laufe der Jahrhunderte in Russland getan und unterlassen hat. Für Studien über die Entwicklung der Beziehungen und Gegensätze ist jetzt nicht die richtige Zeit. Man wird auch nicht bestreiten können, dass jener Geist, den man den Geist politischer Rückständigkeit zu nennen pflegt, bei uns, natürlich nur bis gestern, ein Heimatrecht und alle Privilegien besass. Das mögen diejenigen vergessen oder leugnen, deren Umlernbegierde keine Hemmungen kennt. Aber was hat die besondere Eigenart unserer politischen Fortschrittsfremdheit mit der besonderen Eigenart der russischen Verwaltungsschlamperei zu tun? Das Ziel, das gerade von unseren rechtsstehenden Politikern verfolgt wird, ist, vor allem nach unten hin, eine streng geregelte, streng überwachte Ordnung, und die russische Reaktion hat genau das Gegenteil erreicht. Die russische Bureaukratie soll eine deutsche »Importation«, soll ein deutsches Gewächs, eine Nachahmung des deutschen Vorbildes sein? Wenn sie das wäre, dann hätte sie doch in dieser Kriegszeit annähernd die gleichen Resultate hervorbringen müssen, die man auf der deutschen Seite sieht. Und haben die russischen Regierenden in Deutschland gelernt, dass man Hunderttausende eigener Landeskinder in zweckloser Brutalität, ohne Ueberlegung und ohne schützende Vorkehrungen, ins Hungerelend wirft? Diese satrapenhafte, gedankenlose Preisgabe des eigenen Volkes, diese nicht in der Kampfverwirrung, sondern kaltherzig befohlene Massenopferung zeigt, wie speziell russisch die russische Regierungsmethode geblieben ist.

Mancher, der behaglich im sicheren Hause sitzt, vergisst allzuleicht das täglich sich erneuernde Heldentum der kämpfenden Männer dort draussen und das ungeheuere Leiden, das würgend und zertretend über die Erde geht. Die Veredelung, zu der nach der Behauptung nie verlegener Philosophen die Kriege führen, besteht für einige in einer Steigerung der Gefühllosigkeit. Werestschagin malte seine Bilder, um die Welt und besonders seine Russen von allen Kriegsgedanken zu heilen, was ihm leider nicht gelungen ist. Er hat nichts gemalt, was trauriger wäre als einige der Beobachtungen, die der Augenzeuge von der russischen Fluchtstrasse in seinem Berichte wiedergibt. »Neben einem verlassenen Wagen«, erzählt er noch, »sitzt ein kleiner blonder Junge. Blass, überblass ist seine Gesichtsfarbe. Sein blutleeres Händchen spielt unentwegt mit dem losen Sand der Strasse. Diese Bewegung ist wie das Pendel einer Uhr, so regelmässig, immer schwächer werdend. Er sieht uns nicht an, so ist er in sein Spiel versunken. Und spielend wird er sterben, fern von Vater und Mutter, die ihn verliessen.« Warum schliesst dieser Augenzeuge, der doch mit ehrlicher Ergriffenheit den Jammer aufzeichnet, seine Erzählung mit einer Bemerkung, die als eine allzu billige fatalistische Tröstung erscheint? »Es ist«, sagt er, »wie ein Gottesgericht gegen das Volk, das freventlich den Krieg entfesselt hat und sich in diesem nun selbst zerfleischt.« Solche Ideen von Volksschuld und von einer Gerechtigkeit, die strafend gerade die Aermsten niederschmettert, lehnen hoffentlich die meisten von uns ab. Wir alle glauben, wir wissen sogar, dass der Berichtschreiber, oder dass doch sein Nebenmann dem verlassenen Jungen gutherzig von seinem letzten Brotvorrat gegeben hat.

 

Am 5. Oktober notifizierte der russische Gesandte in Sofia der bulgarischen Regierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen, nachdem das russische Ultimatum ablehnend beantwortet worden war. Die Gesandten Frankreichs, Englands und Serbiens schlossen sich dem russischen Kollegen an. Saloniki wurde am 3. Oktober von französischen und englischen Truppen, die dort ausgeschifft worden waren, besetzt. Zwei Tage später schiffte der König Konstantin den Ministerpräsidenten Venizelos aus.

11. Oktober 1915

Im März des Jahres 1904, kurz bevor der alles verwirrende Marokkokonflikt sich kundtat, gab der französische Minister des Aeussern, Herr Delcassé, eine Soirée, oder – wie man heute wohl sagen muss, obgleich es nicht ganz dasselbe ist – eine Abendgesellschaft zu Ehren des Fürsten Ferdinand von Bulgarien, der damals nach Paris gekommen war. In der Erinnerung sehe ich noch, wie der kluge Fürst, den die etwas abwechselungsscheue Kunst der Karikaturisten nie richtig zeichnete, an jenem Abend in den Sälen des Ministerpalastes neben dem weit kleineren, weit weniger vornehm wirkenden, im Gespräch und in der Haltung immer etwas argwöhnisch reservierten Delcassé stand. Es war ein sehr schönes Fest, alle bekannten politischen Persönlichkeiten Frankreichs waren eingeladen, und auch die Poesie war am Quai d'Orsay, in dem Hause des Herrn Delcassé, zu Gast. Nachdem einige Sängerinnen alte Romanzen gesungen hatten, sprachen Julia Bartet, die man »die Göttliche« nennt, und Mounet-Sully die wundervollen Verse der »Oktobernacht«, in denen Alfred de Musset seinen Schmerz über die treulose Geliebte der Muse anvertraut hat. Diejenigen, die noch edle sprachliche Schönheit verstehen, haben schwerlich jemals einen reineren Genuss verspürt. In dem klassischen Mass, das alle Zerrissenheit zur Harmonie bändigt, beichtete Mounet-Sully die Dichterklage, und von den Lippen der Bartet kam die besänftigende Musik der Tröstung zurück. Der Poet, der schon vergessen zu haben meinte, verfiel wieder dem alten Zorn: »Honte à toi qui la première M'as appris la trahison«, und die Muse wehrte ihm mahnend:

»Si l'effort est trop grand pour la faiblesse humaine
De pardonner les maux qui nous viennent d'autrui,
Epargne-toi du moins le tourment de la haine;
A défaut du pardon laisse venir l'oubli.«

Wenn es zu schwer für die menschliche Schwachheit ist, das Leid zu verzeihen, das uns ein anderer zugefügt hat, dann erspare dir wenigstens die Qual des Hasses und vergiss, was du nicht vergeben kannst.

Das ist nun mehr als elf Jahre her, Delcassé wohnt wieder als Minister des Aeussern in dem Palast am Quai d'Orsay, aber Ferdinand von Bulgarien, der inzwischen den Königstitel angenommen hat, wird dort gegenwärtig nicht gefeiert und geehrt. Im »Matin« wurde neulich, als die Politik Bulgariens nicht mehr zweifelhaft war, die Persönlichkeit des Königs geschildert, und es wurde von ihm gesagt, er sei als Privatmann ganz der Neffe des Duc d'Aumale, dieses feingebildeten französischen Kunstmäzens, und kenne wie wenige die Chronik der Comédie Française, aber seine Seele und sein Herz seien deutsch. Davon ist wohl nur richtig, dass der Sohn Clementinens, der Enkel Louis Philippes, mit angeborener Neigung an dem französischen Geschmack und der Verfeinerung des Pariser Lebens hängt. Aber er fühlt nicht deutsch, sondern er ist König der Bulgaren und tut nur das, was das Interesse Bulgariens von ihm verlangt. Er ist nicht nur in der Geschichte der ersten französischen Bühne bewandert, sondern hat auch die Geschichte der Staaten und vor allem die Geschichte Bulgariens studiert. Jene überlegene Klugheit, die aus seiner äusseren Erscheinung sich herauslesen lässt, führt ihn dazu, in der Politik nach dem Zweckmässigen und Notwendigen zu fragen, und sich weder durch Verwandtschaft beirren zu lassen, noch durch Neigungen und Sympathien. Die Verse Mussets und die Stimme der Bartet haben den Enkel der Orléans gewiss entzückt. Aber er kann nicht, aus Kunstliebe, an den Grenzen seines Landes ein mächtiges Serbien schaffen lassen, und er ordnet sich den Forderungen der Staatskunst unter, die, wenn man sie richtig auffasst, eine Prosakunst ist. Die französische Presse hat ihm nun ungefähr alle Unfreundlichkeiten und alle derben Bosheiten gesagt, die man im Wörterbuch der Polemik finden kann. Einst hatte sie ihm mit Schmeichelnamen gehuldigt, jetzt wird er von Herrn Pichon, der auch einmal Minister des Aeussern war, im »Petit Journal« ein »triste sire« genannt. Dieser schnelle Wandel der Tonart, in den auch in unserem Lande, bei anderen Gelegenheiten, manche Personen verfielen, ist immer ein Beweis für einen Mangel an geistigem Gleichgewicht. Er ist aber zugleich beruhigend und belehrend, denn er zeigt den Staatsmännern, dass sie ihre Handlungen weder nach den Liedern der Liebe noch nach den Rufen des Hasses einzurichten brauchen, da all das rasch vorüberweht. Und wenn die französische Presse dem König der Bulgaren jetzt zuruft: »Honte à toi!« »Schmach dir!« und Pichon zürnend seinen »Verrat« beklagt, dann kann Ferdinand mit den mild skeptischen Strophen antworten, die vor elf Jahren ihm zu Ehren die Muse Delcassés sprach.

Wäre heute nicht logisches Denken eine wertlose Eigenschaft, so könnte man die französischen und englischen Blätter darauf aufmerksam machen, dass sie in einem Atem, oder auf einer Spalte, die »deutschen Fürsten« auf dem Balkan beschuldigen, aus Familienrücksichten ihre Völker um jedes Glück zu betrügen, und den König Ferdinand des Verrats an Frankreich bezichtigen, weil er, der Sohn Clementinens und der Enkel Louis Philippes, die Interessen Bulgariens nicht auf dem Hausaltar seiner Familientraditionen opfern will. Den König von Griechenland, den Sohn des ganz in Paris heimischen Georg, haben sie nach dem Sturze Venizelos' endgültig in die Zahl der »deutschen Fürsten« eingereiht. Sie werfen ihm auch vor, dass er verfassungsbrüchig sei, weil er einen Ministerpräsidenten entfernte, dem das Parlament noch bis zuletzt eine Mehrheit von dreissig Stimmen gab. Das ist eine ganz falsche Behauptung, da der König Konstantin sich nur der Mittel und Rechte bedient, die ihm durch die griechische Verfassung verliehen worden sind. Und hat nicht ein König gerade nach demokratischer Auffassung das Recht und sogar die Pflicht, alle verfügbaren und gesetzlichen Mittel zu gebrauchen, um einen Krieg zu verhindern, der ihm und vielen seiner Ratgeber verderblich erscheint? War die Kammer, die jetzt Venizelos noch einmal mit knapper Majorität ihr Vertrauen aussprach, unter der Losung »Krieg oder Frieden?« gewählt? Erst vor wenig Tagen hat Venizelos, als er seiner Sache sicher zu sein glaubte, sich offen für den Krieg erklärt. Erst jetzt müsste und könnte es sich zeigen, ob die Mehrheit der Wählerschaft hinter einem kriegfordernden Venizelos steht. Es ist ganz selbstverständlich, dass die Mehrheit die Rettung des befreundeten und benachbarten Serbenvolkes wünscht. Aber den Serben würde heute am besten durch ein klug ratendes Wort gedient.

Es ist gleich, als der General Hamilton mit seinen Offizieren in Saloniki landete, darauf hingewiesen worden, dass dasselbe England, das den deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien zum Vorwand für seine Kriegserklärung nahm, nun ohne das leiseste Reuefrösteln die Neutralität Griechenlands verletzt. Auch dort, wo die Neutralität nicht in einem besonderen Vertragsdokument ausgesprochen ist, hat der Grundsatz vom Rechte im eigenen Hause seine Gültigkeit. Noch lässt sich, da sichere Nachrichten fehlen, nicht mit Bestimmtheit sagen, ob nun, nach der Beseitigung des ministeriellen Kupplers, der den Herbeischleichenden die Leiter hielt, die weitere Ausschiffung der englischen und französischen Truppen unterbleiben oder ob sie geduldet oder verhindert werden wird. Vielleicht werden die Alliierten auf dieses Unternehmen verzichten, das die griechische Armee nicht mehr mitreissen kann und sehr gefährlich geworden ist. Wenn sie durchaus in ein fragwürdiges Schicksal hineinmarschieren wollen, so werden der König und die Regierung, um Athen und Saloniki vor einer Beschiessung zu bewahren, sie vielleicht nicht hindern, auf ihrem Wege weiterzuziehen. Kommt es zu Widerstand und Kampf, so werden diejenigen, die den Belgierkönig Albert als Helden feierten, vermutlich erklären, dass der Griechenkönig Konstantin ein »triste sire« sei. Darf man, da das alles so miteinander zusammenhängt, die Ansicht äussern, dass es besser gewesen wäre, mancher bei uns hätte auch in der persönlichen Beurteilung des Königs Albert etwas mehr Ruhe bewahrt? Viele, die mit der Muse Mussets den Hass für einen schlechten Ratgeber halten, sehen das nicht erst heute ein. Als vor bald einem Jahre Karl Lamprecht für das »Berliner Tageblatt« einen meisterhaften Artikel über Belgien geschrieben hatte, bat ich ihn, aus dem Manuskript einige Worte über den König zu streichen, und Lamprecht, den nach seinem Tode der sehr schlecht unterrichtete »Temps« zu den phantastischen Allmachtspropheten rechnete, antwortete sofort: »Es ist mir auch lieber so!« Wir brauchen ja nicht die Logik der Franzosen und Engländer mitzumachen, die den »deutschen« Balkanfürsten Familienpolitik vorwerfen und den König Ferdinand an seine französischen Familienpflichten erinnern, dem König Konstantin Steine werfen und dem König Albert Rosen streuen.

 

Der Bundesrat hatte eine Reihe neuer Verordnungen erlassen, um der Teuerung und dem Lebensmittelmangel entgegen zu treten, und die »fleischlosen Tage« in den Gastwirtschaften wurden eingeführt. Es braucht nicht darauf hingewiesen zu werden, dass dann, in der Entwicklung der Dinge, die Fleischtage und anderes weiter abnahmen und die Zahl der Verordnungen stieg.

25. Oktober 1915

Der Krieg hat, wohl in allen beteiligten Ländern ziemlich gleich, das Volk der Daheimgebliebenen in drei Klassen geteilt. In die Klasse derjenigen, die durch Teuerung, durch Abwesenheit oder Tod des Ernährers Not leiden, in die Klasse derjenigen, die am Kriege reich gewinnen oder doch ein wesentlich vermehrtes Einkommen haben, und in die Klasse derjenigen, die durch Vermögen oder ruhig gesicherten, ausreichenden Verdienst in die Lage gesetzt sind, bewegte Zeiten ohne Entbehrungen zu überstehen. Es ist das dringendste Gebot der gegenwärtigen Stunde, die erste dieser drei Volksklassen gegen peinigenden Mangel zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie weder hungert noch friert. Wir wollen hoffen, dass die neue Regelung der Ernährungsfragen zum erstrebten Ziele führen wird. Andere Massnahmen werden zur Befriedigung aller gerechten Ansprüche und zur Fernhaltung winterlicher Nöte erforderlich sein. Wer an den Preis der Stiefelsohlen und anderer Unentbehrlichkeiten denkt, erkennt ohne weiteres, dass das Rechenexempel des Lebens für arme Familien und den kindergesegneten kleinen Mittelstand auch nach Erledigung der Magenfrage äusserst schwierig bleibt. Aber nur diese Klasse der vom Kriege hart Betroffenen, der wirklich Entbehrenden, hat Anspruch auf Hilfe und Mitgefühl. Wer wohllebig im Warmen sitzt, dem schadet es nichts, wenn er an den furchtbaren Ernst der Tragödie gemahnt wird und die Wirkungen des Krieges deutlicher verspürt. Das kann erziehlich auf manchen wirken, der fern von Gefahr und Leiden sich in napoleonischen Welteroberungsgeberden gefällt. Und in einer Zeit, wo so viele ihr Leben opfern, wird wohl niemand in der Beschränkung auf eine verkürzte Speisekarte ein nennenswertes Opfer sehen.

Zu den Beschäftigungen hinter der Front gehört seit einigen Tagen die Erörterung des Vorschlages, der darauf hinzielte, bei der Friedensvorbereitung, oder dem Friedensschlusse, den Reichstag durch einen Reichrat zu ersetzen, der aus allerlei Honoratioren der Politik und der Industriekreise bestehen soll. Dieser Vorschlag ist gebührend zurückgewiesen worden, und es wäre überflüssig, ihn hier nochmals zu erwähnen, hätte er nicht eine gewisse äussere Aehnlichkeit mit einer Idee, die wiederholt hier entwickelt und empfohlen worden ist. Da die »geheime Diplomatie« wirklich weniger geheim werden muss, wurde die Frage erwogen, ob es nicht wünschenswert wäre, die parlamentarischen Führer, die ehemaligen Staatssekretäre des Aeussern, die ehemaligen Botschafter und andere Personen, aber nicht die völlig ungeeigneten Vertreter von Interessengruppen, zu einem mitprüfenden Ausschuss vereinigt zu sehen. Die Verwirklichung dieses Gedankens würde zu einer Vermehrung der Garantien führen, der Vorschlag, den Reichstag beiseite zu schieben, bezweckt das Gegenteil. Es ist aber sonnenklar, dass das Verlangen, die geheime Diplomatie unter eine wirksamere Kontrolle zu stellen, sich nach dem Kriege in allen Ländern mächtig regen wird. Dieses Verlangen ist, was auch die Diplomaten dagegen einwenden, berechtigt und leicht zu verwirklichen, und man kann sich sogar zu der Meinung bekennen, dass der ungeheuerliche Weltkrieg wahrscheinlich vermieden worden wäre, hätten sich die entscheidenden Vorgänge nicht überall hinter verschlossenen Türen abgespielt. Indessen, immer wieder muss auch betont werden, dass die Oeffentlichkeit nur dort zum Segen werden kann, wo die öffentliche Meinung sich zu phrasenloser Urteilsklarheit zu erziehen, sich von verwirrenden Leidenschaften freizuhalten versteht. Es nützt nichts, die Fenster zu öffnen, wenn von draussen die Unvernunft ins Zimmer tönt.

Ein Brief, den neulich der kommandierende General v. Gayl an die »Crefelder Zeitung« gerichtet hat, ist eines der würdigsten und erfreulichsten Dokumente dieser Zeit. Einer jener geifernden Patrioten, die nicht fühlen, dass Anständigkeit der Gesinnung eine Vorbedingung und ein Teil des Patriotismus ist, hatte sich über das ehrenvolle Begräbnis erbost, das einem in deutscher Gefangenschaft verstorbenen englischen Offizier bereitet worden war, und Genera] v. Gayl hat den üblen Angriff mit vornehmer Verachtung abgewehrt. Warum überlässt man nicht dem schmutzigen »Matin«, der zeternden »Daily Mail« und ähnlichen Blättern das traurige Gewerbe, Wehrlose, Gefangene und Tote zu schmähen? Von Anfang an haben in diesem Kriege überall sinnlose Leute sich benommen, als dürfe zwischen so viel Totenfeldern auch kein besseres Empfinden lebendig bleiben, als müsse in der gewaltigsten Katastrophe der Menschheit auch alles rein Menschliche mit untergehen. So treibt es noch immer besonders ein Teil der Pariser Presse – und in Frankreich wagen gegenüber solchem Geschrei, das viele still verurteilen mögen, nur sehr wenige ein missbilligendes Wort –, und so hat leider auch bei uns mancher seine Aufgabe in der Kriegszeit aufgefasst. Hat nicht auch eben erst der Prorektor der Göttinger Universität die »missleitete nationale Empfindlichkeit« zurückweisen müssen, die das Verbleiben einiger deutschrussischen, finnländischen und indischen Studenten in den Göttinger Hörsälen übelnahm? Der Betätigungsdrang der Nichtkämpfer könnte und sollte sich lieber auf Gebieten erproben, wo es, soviel auch bereits geleistet werden mag, täglich neue Arbeit gibt. Wer heute Armen und Leidenden hilft, das Vertrauen und die Kraft der Besitzlosen stärkt, nützt unendlich mehr als derjenige, der mit volltönenden Phrasen oder mit Kulturgemeinplätzen um sich wirft. Er nützt auch mehr als etwa diejenigen, die ihren Erfindersinn anstrengen, um die deutsche Sprache von Fremdwörtern zu säubern oder uns von jedem Hauch, der über die Grenzen zu uns gedrungen sein mag, zu befreien. Nichts beleuchtet gewisse Seelenzustände besser als ein Satz, den neulich der für »Kunst und Leben« eingesetzte Mitarbeiter der »Deutschen Tageszeitung« schrieb. In einem heftigen Artikel gegen alle, die über die deutsche Mode nicht ganz so denken wie er, erklärte dieser kampflodernde Geist, dass die Idee des weiten Rockes »kein Sieg, sondern eine erbärmliche Niederlage« sei. Und seine Verurteilung der »vom Händler« geschaffenen Kleiderformen gipfelte in der Frage: »Vergiessen wir dafür unser Blut?«

Mit der deutschen Sprache beschäftigt sich ja nun auch die Polizei, und alle möglichen Behörden und Vereinigungen, deren schriftliche Aeusserungen gewöhnlich in einem ungemein anfechtbaren Deutsch gehalten sind, fühlen sich plötzlich von einem heiligen Spracheifer erfasst. Dabei muss natürlich etwas Fürchterliches herauskommen, denn die Kunst der Worte erfordert ein tief eindringendes Verständnis, und es ist eine irrige Annahme, dass man den Garten der Sprache ordnen kann, wie man eine Strasse fegt. Professor Hans Delbrück, dessen tapfere und unbeirrbare Ehrlichkeit auch hier nicht versagt, hat jetzt eben eine Schrift »Die Sprachreinigung, Fürst Bismarck und Heinrich v. Treitschke« erscheinen lassen, in der er besonders den ersten Kanzler und den preussischen Historiker den Sprachreinigern gegenüberstellt und, mit sicherer Kenntnis des Stoffes, die Gefährlichkeit übertreibenden und pfuschenden Verdeutschens zeigt. Er erinnert daran, dass schon vor sechsundzwanzig Jahren, gemeinsam mit ihm, Michael Bernays, Curtius, Fontane, Frenzel, Gustav Freytag, Gildemeister, Gerock, Klaus Groth, Harnack, Viktor Hehn, Heyse, Mommsen, Rodenberg, Erich Schmidt, Schmoller, Spielhagen, Sybel, Treitschke, Virchow, Wilamowitz-Moellendorff, Wildenbruch, Eduard Zeller und andere Sprachmeister eine Erklärung unterzeichneten, die klar und entschieden den Fremdwortvertilgern entgegentrat Vortrefflich sagt er: »Nicht der erwirbt sich ein Verdienst um die deutsche Sprache, der Fremdes, bloss weil es fremd ist, austreibt, sondern der, der auf ihre Vollständigkeit, ihren Reichtum, ihre Kraft und auf ihren Wohllaut bedacht ist«, und er erwähnt, dass Goethe die übereifrigen Sprachreiniger »geistlose Menschen« nannte und Jakob Grimm zornig von den »Pedanten und Puristen« sprach. Auch diese kleine Schrift Delbrücks gehört zu den nicht allzu zahlreichen Dokumenten der Kriegsliteratur, die es verdienen, dass man sie aufbewahrt. Niemand wird leugnen, dass Ziererei, platte Nachahmungssucht und billiges Feintun uns viele erborgte Worte eingeschleppt haben, die mindestens entbehrlich sind. Aber man muss mit der Prüfung und Weiterbildung des Wortschatzes die Kenner und Künstler der deutschen Sprache betrauen, nicht die Berufsvereine und die Bureaukratie. Delbrück führt in seinem Hefte noch einen Ausspruch an, der sich nicht nur mit der Sprachenfrage in Verbindung bringen lässt: »Die ungeheure Einseitigkeit des nationalen Gedankens in unserem Jahrhundert bei den meisten Völkern ist nichts weiter als der natürliche Rückschlag gegen das napoleonische Weltreich. Der unglückliche Versuch, die Mannigfaltigkeit des europäischen Lebens in das öde Einerlei eines Weltreichs zu verwandeln, hat die natürliche Folge gehabt, dass der nationale Gedanke sich heute so ausschliesslich geltend macht.« Es wird sogar noch hinzugefügt, dass »das Weltbürgertum zu sehr zurückgetreten« sei. Das steht bei Heinrich v. Treitschke – jawohl – in den Vorlesungen über Politik, Band I.

 

Am 9. Dezember brachte im Reichstag Scheidemann die erste »Friedensinterpellation« ein: »Unter welchen Bedingungen ist der Herr Reichskanzler zu dem Eintritt in Friedensverhandlungen bereit?« Herr v. Bethmann Hollweg sprach in seiner Antwort von »Garantien«, die in der belgischen Frage zu fordern wären, von den »Einfallstoren«, über die der Feind weder im Westen, noch im Osten verfügen dürfe, und erreichte durch eine Auswahl vieldeutiger Wendungen, dass sowohl der Sozialdemokrat Landsberg wie die alldeutsche Presse seine Rede befriedigend fanden. In der vom Zentrumsabgeordneten Spahn im Namen aller »bürgerlichen« Parteien verlesenen Erklärung wurde die Wahrung der deutschen Interessen »mit allen Mitteln, einschliesslich der dazu notwendigen Gebietserwerbungen« verlangt.

20. Dezember 1915

Ein Pariser Blatt hat für die Kriegszeit eine ständige Rubrik eingerichtet, in der auf die Mängel im Sanitätswesen, die Sünden der Verwaltung, die Begünstigungen und Durchstechereien hingewiesen wird, und in der jeder Satz mit den Worten »Darf man sagen, dass ...« beginnt. Man kann die äussere Form des Fragebogens auch auf Angelegenheiten anwenden, die erheblich weniger dunkel sind. Darf man zum Beispiel sagen, dass die Berliner Bevölkerung den dringenden Wunsch hat, nicht mehr fünfhundert wartende Frauen, von zwei Schutzleuten behütet, vor einer Buttertür zu sehen? Darf man sagen, dass kein geistig gesunder Mensch in ganz Berlin diesen Butterfleck im Zeitbilde für unvermeidlich hält? Die deutsche Heeresleitung sendet mit erstaunlicher Schnelligkeit Armeen nach allen Enden Europas, passt ununterbrochen in bewundernswerter Weise ihre Organisation neuen Zwecken an. Die Berliner Behörden werden doch hoffentlich einen Weg zu schaffen wissen, auf dem jede Familienmutter ohne mehrstündigen Ellenbogenkampf zu ihrer Butter gelangen kann! Es werden nun ja sogenannte Sperrkarten ausgegeben werden, mit denen man verhindern will, dass eine besonders gierige Frau nacheinander in mehreren Geschäften Vorräte kauft. Von butteroffiziöser Seite ist uns versichert worden, diese übersorgliche Aufkauferei habe die ganze Verdriesslichkeit erzeugt. Darf man sagen, dass eine solche Darstellung nicht völlig einwandfrei erscheint? Denn wenn so viele Hausfrauen an den ersten Tagen ganze Butterfässer zusammengekauft hätten, müsste doch an den folgenden Tagen der Käuferschwarm um so dünner geworden sein. Wir begleiten die Sperrkarte mit den besten Wünschen und hoffen, dass sie dem Eintritt ins Buttergeschäft seine jetzigen Schrecken nehmen wird. Sollte diese Hoffnung sich aber nicht erfüllen, so wird man sich zu durchgreifenden Massregeln entschliessen müssen, zu einer gerechten Verteilung und einem kaufmännisch geschickten Vertrieb. Etwas Mässigung im Buttergenuss würde manchem Norddeutschen gar nichts schaden, denn die zahlungsfähigen, nicht durch Armut von allen Genüssen ausgeschlossenen Personen dieses Landes schmieren oft widernatürlich dick. Es soll Völker geben, die sich auch aufs Essen verstehen und denen die Butter zum Käse unbegreiflich ist. Die ganze Butterfrage wird besonders dadurch so ärgerlich, dass man die Hausfrauen, die doch noch anderes zu tun haben, stundenlang und oft vergeblich vor dem Paradiese warten, frieren und brummen lässt. Das kann vermieden werden, und das muss vermieden werden, denn kleiner Verdruss stichelt, wie kleine Lebewesen, am meisten, und ohne warme Füsse gibt es kein warmes Herz.

Darf man – von der Butter zu einem anderen Gedankenkreis übergehend – sagen, dass der sogenannte entschiedene Liberalismus gut täte, nicht zu sehr im Hintergrund zu verschwinden, auch im Kriege ein eigenes Wort zu sprechen und sich nicht immer nur in einer jener Sammelerklärungen mitzuäussern, die Herr Spahn im Namen der »bürgerlichen Parteien« zu verlesen pflegt? Die Scheidung zwischen »bürgerlichen Parteien« und Sozialdemokratie berührt gerade in der jetzigen Kriegszeit eigentümlich und nicht gerade sehr schön, und wenn es durchaus verständlich ist, dass konservative Politiker das Trennende bei jeder Gelegenheit zu betonen suchen, so brauchten deswegen liberale Leute ja noch nicht auf solche Wünsche einzugehen. Mancher hatte geglaubt, der Liberalismus solle zwischen rechts und links eine Brücke sein. Eine Brücke, die immer nur an der einen Seite festhängt, gerät in Gefahr, ins Wasser zu fallen. Die Erklärung, die Herr Spahn bei der Friedensinterpellation verlas, brauchte nicht unbedingt durch zehn Parteien herbeigetragen zu werden, denn sie war eigentlich nicht gar so gedankenschwer. Sie war kurz und missverständlich und wird, was einige Liberale gewiss nicht gewünscht haben, in der ganzen Auslandspresse als eine Kundgebung für die allergewaltigsten und vielseitigsten Eroberungspläne ausgelegt. Kann es für die Zukunft günstig sein, wenn eine Partei, die eine eigene Weltanschauung verkörpert, bei grossen Gelegenheiten zu tief in dem allgemeinen Sammelkorb versinkt? Es ist nicht leicht, wieder ein Ganzes zu sein, wenn man in den Schicksalsstunden der deutschen Geschichte zu lange ein Zehntel gewesen ist.

Darf man sagen, dass neulich ein Urteilsspruch des Berliner Gewerbegerichtes sehr verschiedenartige Deutungen veranlasst hat? Er berührte eine Frage, die uns allen wie wenig anderes am Herzen liegt, nämlich die Wiedereinfügung der Kriegsteilnehmer in den erwerbsichernden Zivilberuf. Ein Hotelbesitzer hatte einen Kriegsteilnehmer, der wegen Krankheit aus dem Heere entlassen worden war, als Hausdiener angestellt. Eines Tages stillte der Hausdiener zu reichlich seinen Durst, und als der Hotelbesitzer einem Gast ein Zimmer anweisen wollte, lag dort die neuangeworbene Stütze berauscht auf dem Fremdenbett. Der Hotelbesitzer kündigte dem Manne, der auch sonst noch Gäste durch ungebührliches Betragen verstimmt haben sollte, aber das Gewerbegericht erkannte zugunsten des Hausdieners und verschaffte ihm, neben seinem Lohn, auch noch Schadenersatz. In der Begründung heisst es, dass der ehemalige Kriegsteilnehmer jetzt weniger taktfest als vor dem Kriege sei. Man wird dem einzelnen gewiss die verstehende und verzeihende Milde gönnen, die aus einem solchen Urteil spricht. Fraglich ist nur, welche Methode im Interesse der Gesamtheit die richtige ist. Könnten nicht manche Arbeitgeber auf den sehr falschen Gedanken kommen, aus einer Anstellung heimgekehrter Krieger würden ihnen, unter solchen gewerbegerichtlichen Umständen, vielleicht allerlei Unannehmlichkeiten und Verpflichtungen entstehen? Wenn nur ein einziger, der den Heimkehrenden einen sicheren Platz zu bieten vermag, zu derartigen Gedanken verführt werden sollte, wäre das in hohem Grade beklagenswert. Glücklicherweise darf man sagen, dass es, trotz einer vereinzelten Gerichtsszene, eine Möglichkeit zu Irrtümern gar nicht gibt. Denn täglich, stündlich sieht jeder von uns überall, wie musterhaft, wie fleissig, wie ganz von stiller Pflichttreue beseelt diese wieder ins Heimatleben zurückfindenden Krieger sind. Sie kommen aus dem ungeheuren Erlebnis dort draussen keineswegs mit dem Wunsche, sich zu berauschen, sondern mit dem guten Drang, sich wieder in den Alltag einzugliedern und für sich und Frau und Kind einen warmen, friedlichen Glückswinkel zu bauen. So vollkommen taktfest wird auch die enorme Mehrheit der anderen heimkehren – ein Volk, dem man weder im politischen Leben Rechte vorenthalten darf, noch im Berufsleben besondere Vorrechte einzuräumen braucht.

Darf man sagen, dass jedesmal, wenn – wegen eines Versehens – eine Zeitung verboten wird, ganz Berlin sich in den merkwürdigsten, phantasievollsten Vermutungen über die Ursache der Zensurmassregel ergeht? An solchen Tagen fliegen die Gerüchte in breiten Schwärmen auf, und die Alleswisser, die Unglücksmunkler und diejenigen, die es immer schon vorausgeahnt haben, feiern ein wahres Fest. So konnte man neulich, als ein bekanntes Berliner Blatt am Morgen nicht erscheinen durfte, in ganz Berlin hören: »Was sie man drin jeschrieben haben? – was Jutes wird es nich jewesen sein.« Die Anspruchslosesten waren überzeugt, Herr Wilson hätte uns, oder wir hätten Herrn Wilson den Krieg erklärt. Indessen, das alles, all dieses Nebenher und Drumherum der Tragödie, verschwindet ins Nichts, wenn man in diesen Tagen vor Weihnachten auf den unerhörten Opfermut der Männer und Jünglinge dort draussen, auf die langen Gräberreihen, auf das schwere Menschenleid blickt. Braucht man zu sagen, was, nur mit verschiedener Melodie, beim Gedanken an die Lebenden und die Toten in jedem rechtschaffenen Herzen klingt?

 

Dieser Blick in die Vergangenheit kann wohl, über die Zwecke der Tagespolemik hinaus, für die Beurteilung von Menschen und Vorgängen nützlich sein.

6. März 1916

Die »Kölnische Volkszeitung« hat in ihrer Morgennummer vom 1. März einen Artikel ihres Berliner Berichterstatters veröffentlicht, in dem zunächst von dem »Ghetto in Krakau oder Warschau oder Saloniki« und von einer »schnorrenden Gesellschaft« gesprochen wird, und in dem es dann heisst: »Dieselben Leute und dieselben Kreise, die jetzt gegen den U-Boot-Krieg in hinterhältigster Weise flau machen, haben im Frieden stets gegen des Reiches Wehr und Rüstung mit ganz den gleichen Gründen flau gemacht. So oft eine Marinevorlage nötig war und vor den Reichstag kommen sollte, erhoben jene Gruppen den Schmerzens- und Warnungsschrei: »Um Himmelswillen keine Marinevorlage! Sie kann nur unsere Versöhnung mit England stören.« Wäre es nach den Wünschen jener Leute gegangen, so hätten wir keine Flotte oder höchstens ein paar Schiffe als Spielzeug bauen dürfen, weil uns England den Bau einer Flotte übelnahm.« Man wird an der Prosa des besagten Berichterstatters am besten möglichst schnell, ohne hineinzutreten, vorübergehen. Herr Bachem in Köln muss wissen, was er, mitten in dieser Kriegszeit, in seinem Blatte abladen lassen will, und für alle Fälle hat ja die zugleich kontrastliebende und ausgleichende Vorsehung neben die »Kölnische Volkszeitung« das Kölnische Wasser gesetzt. Aber man steht hier nicht nur einer an sich gleichgültigen Einzelerscheinung gegenüber, sondern einer Methode, die dahin strebt, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen und den Sinn der deutschen Zeitgenossen zu verwirren. Diese Umnebelung ein wenig zu beeinträchtigen und jedes Ding und jede Person an den richtigen Platz zu verweisen, ist leider eine Notwendigkeit.

Ueber den Unterseebootkrieg, seine verschiedenen Grade, Abstufungen, Aussichten und Möglichkeiten haben nachgerade alle Wissenden und alle Nichtswissenden ihre Meinung gesagt. Man darf das Weitere einstweilen wohl den leitenden Männern überlassen, die mit der Gesamtlage vertraut und mit der Verantwortung beladen sind. Aber es leuchtet, obwohl logisches Denken vielfach verpönt ist, gewiss den meisten ein, dass der Unterseebootkrieg nicht möglich gewesen wäre, hätten wir keine Unterseeboote gehabt. Der Berliner Stilkünstler des Kölner Zentrumsblattes spricht von den Kreisen, die »gegen des Reiches Wehr und Rüstung flau gemacht« haben, und sieht auch uns dabei mit Zorn und Ueberlegenheit an. Es genügt, zur Antwort einige Zitate aus den früheren Erörterungen der Unterseebootfrage zusammenzustellen. Man erhält durch einfache Vergleichung das folgende Bild:

»Am bedauernswertesten ist die mangelnde Initiative unserer Marineverwaltung auf dem Unterseebootsgebiet. Gerade das Unterseeboot ist für uns das gegebene Mittel ...«

(Artikel »Das Unterseeboot« im »Berliner Tageblatt« v. 23. 12. 08 von einem »höheren Marineoffizier«).

»Für U-Boote können nur ausgesuchte Leute verwendet werden, denn von dem sicheren Funktionieren aller Apparate ist schon im Frieden Leben und Gesundheit der ganzen Besatzung abhängig. Diese ausgesuchten Leute gewissermassen »einzusargen« auf die geringe Möglichkeit hin, dass dem Feind geschadet werden kann – dazu würde ich mich niemals entschliessen

(Vizeadmiral z. D. v. Valois.
»Königsberger Hartungsche Zeitung« 18. 12. 08.)

»Das U-Boot ist ein noch schlimmerer Gegner für das Schlachtschiff als zum Beispiel früher das Granatfeuer. Wohl wird es das Linienschiff, obgleich es ein vernichtender Gegner für es ist, nicht von der See verdrängen können. Das Linienschiff verliert aber, im Gebrauch beschränkt, an Wert. Das U-Boot ist kein Anhängsel für die Schlachtflotte, keine Gelegenheitswaffe, sondern eine selbständige Waffe.«

(Artikel »Der grosse Kriegswert der U-Bootsflottillen« von Admiral Galster im »Berliner Tageblatt« vom 5. 11. 09.)

»Einer Marine »Festungsqualität« verleihen, heisst sie unbrauchbar machen, das auf sie verwendete Geld vergeuden. Unterseeboote kommen auch in der Form, wie sie in den letzten französischen Manövern verwendet wurden, über diese Festungsqualität nicht hinaus. Unsere so ausgestaltete Marine würde die Herzensfreude aller unserer Seenachbarn sein, denn sie brauchten sie nicht zu fürchten.«

(Vizeadmiral v. Ahlefeld. »Weserztg.« am 10. 11. 09.)

»Auch ohne Seeschlacht lassen sich Linienschiffe durch U-Boote vernichten und von den Küsten fernhalten. Wir empfehlen der »Deutschen Tageszeitung« ... für die Beschaffung von U-Booten einzutreten.

(Artikel »Revision des Flottengesetzes« von Admiral Galster im »Berliner Tagebl.« v. 25. 9. 09.)

»Ich glaube mich mit den älteren Seeoffizieren darin einig, dass wir die Bedeutung der U-Boote für die » lokale« Verteidigung nicht unterschätzen, und das jetzige Vorgehen der Marine in Beziehung auf die Entwicklung der Waffe durchaus billigen können, es aber für gefährlich und unheilvoll halten würden, wenn man den Galsterschen Vorschlägen folgen wollte

(Grossadmiral Köster, Rede im Flottenverein Kiel, Juli 1909.)

»Der ideale Träger der Torpedowaffe ist das Unterseeboot. Der Ersatz des Torpedoboots durch das Unterseeboot ist eine Frage der Zeit. Gelingt es, ein schnelles Fahrzeug, das unter Wasser den Feind unter allen Umständen anzugreifen vermag, zu schaffen, so wäre es widersinnig, mit einem über Wasser fahrenden Boot das gleiche zu wagen.«

(Artikel »Die Abschaffung der kleinen Torpedoboote in Frankreich« von Kapitän Persius im »Berliner Tageblatt« vom 9. 4. 10.)

»Dem Verfasser von »Unterseeboote an die Front« muss entschieden widersprochen werden, dass U-Boote jemals die Kreuzer ersetzen könnten, da sie eine viel zu geringe Dampfstrecke besitzen, denn unser Seehandel, den sie – die Kreuzer – doch schützen sollen, spielt sich doch ausserhalb der 1000-Seemeilen-Sphäre ab.«

(8.12.11. »Neueste Nachrichten«, Braunschweig. v. Salmuth, Hauptmann, Vorstand des Flottenvereins.)

All die Männer, die vom Unterseeboot so kühl und teilweise sogar ablehnend dachten, haben sich gleichwohl um die Flotte verdient gemacht. Keinen von ihnen kann ein Vorwurf treffen, und wir halten sie auch nachträglich nicht für »Flaumacher«, denn sie haben ihre sachlichen Gründe gehabt. Wann hat es eine schwierige Frage gegeben, in der nicht die ernsten und gewissenhaften Beurteiler verschiedener Ansicht gewesen sind? Nur für die Kenntnislosen, die renommierenden Schwätzer, gibt es in der Welt kein Hindernis. Die aneinandergereihten Zitate stammen aus den Jahren neunzehnhundertundacht bis neunzehnhundertundzehn. Die hier folgen, rühren aus dem neueren Zeitabschnitt her:

»Erfreulich wirkt die beabsichtigte Beschleunigung des Ausbaus unserer Unterseebootswaffe.«

(»Berliner Tageblatt« vom 23. 3. 12. »Die neue Flottenvorlage.« Persius.)

»Deutschland sperrt seine Häfen durch Minen, braucht also keine kleinen Unterseeboote, die auch für unsere schlickigen Nordseegewässer schlecht geeignet sind. Unterseeboote sind nur Streitkräfte zweiter Ordnung.«

(Konteradmiral Schlieper, »Kieler Neueste Nachr.«, 30. 12. 11.)

» Das Unterseeboot ist die gegebene Waffe in der Hand des Schwachen gegen den Stärkeren. Zahlreiche Flottillen machen die engere Blockade unserer Küsten unmöglich. Grosse Typen sind imstande, in Nord- und Ostsee feindlichen Schlachtschiffen den Aufenthalt derart zu erschweren, dass die Räumung vorgezogen werden dürfte ...«

(»Die Vermehrung der Unterseeboote.« »Berliner Tageblatt« vom 4. 5. 12. Persius.)

»Wir sehen also, dass die Bäume des U-Boots nicht in den Himmel wachsen. Man hat gefragt, ob die durch das Flottengesetz vorgesehenen ... Boote nicht zu wenig für uns sind, da andere Flotten, wie die französische und englische, jetzt schon viel mehr haben. Darauf ist zu antworten, dass es keinen Zweck hat, die Zahl der Unterseeboote untereinander zu vergleichen, denn Unterseeboote sind ja nicht bestimmt, gegeneinander zu kämpfen.

(Graf Reventlow, »Deutschland zur See« 1914.)

»Die Vervollkommnung des U-Boots überzeugte auch die ärgsten Skeptiker, dass die leichte Geste, mit der sie die »phantastische« Waffe bisher beiseite schoben, nun unangebracht ist. Deutsche U-Boots- -Mannschaften haben jetzt bewiesen, dass sie Hervorragendes leisten können. Der neueste Gang der Entwicklung des U- -Boots zeigt, dass die recht hatten, die immer wieder darauf aufmerksam machten, man solle das U-Boot nicht unterschätzen, solle alle Kräfte anspannen, um sich zahlreiches Material und geübtes Personal zu schaffen.«

(»Berliner Tageblatt« vom 6. 6. 14. »Der sterbende Dreadnought.« Persius.)

»Torpedo- und Unterseeboote werden beim Küstenkampf wichtige Aufgaben zu erfüllen haben, da sie aber ungeschützt und den Schusswaffen der grossen Schiffe wehrlos preisgegeben sind, wird ihre wirksame Verwendung auch zur Küstenverteidigung nur unter Deckung von Kreuzern möglich sein. Es ist notwendig, auf die Schwächen des U-Bootes hinzuweisen, um einer Ueberschätzung des Kampfwerts dieser Waffe vorzubeugen.

(»Deutschlands Flotte im Entscheidungskampf.« Landgerichtsrat Tröltsch, Vorstand des Flottenvereins.)

Hinter den ernsthaften Fachmännern, die damals in sachlicher Erwägung dem Unterseeboot nur eine bescheidene Rolle zuwiesen, haben fast all' die schreibfixen Herren, die heute mit solchem Heldenpathos die Vorkämpfer spielen, gegen diese Waffe Stimmung gemacht. Manche von ihnen wussten vor einiger Zeit überhaupt nichts von diesen Dingen, hielten gewiss ein Boot, das unter der Oberfläche des Meeres schwimmen sollte, für einen Silvesterscherz und gelangten erst durch die Zufälligkeiten des Krieges in Beziehungen zu dem feuchten Element. Das alles gehört zur menschlichen Komödie, die auch mitten in der gewaltigen Tragödie des Krieges weitergeht. Gesagt muss nur noch werden, dass die zornige Rede über »Wehr und Rüstung« gerade in dem Munde eines Zentrumsjournalisten sonderbar berührt. Herr Bachem, halten Sie den Mann zurück! Er gehört zu denjenigen, die einem ganzen Porzellanladen gefährlich sind. Und was will er, um nur eines von vielem zu erwähnen, mit der Bemerkung, die Flaumacher hätten bei jeder Marinevorlage die Versöhnung mit England vorangestellt? Das »Politische Handbuch der Nationalliberalen Partei« vom Jahre 1910 berichtet über die Beratungen des Marineetats in der Budgetkommission: »Das Zentrum missbilligt, dass die Reichsregierung nicht der Anregung Englands auf Beschränkung des Flottenbaus nähergetreten sei.« Ist es notwendig, diese Unterhaltung fortzusetzen, haben die streitsüchtigen Personen noch irgendeinen Wunsch? Aber draussen vor Verdun und auf so viel anderen blutbefleckten Plätzen stehen und stürmen im Geschosshagel heldenhafte Männer, die unverwundbare »Möve« fand den Weg zur Heimat, die Unterseebootleute wagen unablässig ihr junges Leben, und es bedarf der Ueberwindung, wenn man auch nur einen Augenblick lang von diesen Kämpfern fortblicken und dem häuslichen Wortkampf sich zuwenden muss.

 

In einer Rede, die er beim Besuch französischer Parlamentarier in London hielt, sagte der Ministerpräsident Asquith, England sei »nicht in den Krieg eingetreten, um Deutschland zu erdrosseln, nicht um sein nationales Leben zu zerstören oder zu verstümmeln«. Deutschland habe aber »durch die Verletzung der Neutralität Belgiens bewiesen, dass es sein Uebergewicht selbst um den Preis eines allgemeinen Krieges herstellen will«. »Die Absicht der an dem Krieg beteiligten Verbündeten ist, diesen Versuch zunichte zu machen und dadurch den Weg für ein internationales System zu ebnen, welches den Grundsatz gleicher Rechte für alle zivilisierten Staaten sicherstellen wird.« Das, »nicht mehr, aber auch nicht weniger«, wolle er »unter Vernichtung der militärischen Herrschaft Preussens« verstehen.

17. April 1916

In einigen Tagen werden dreihundert Jahre vergangen sein, seit der grosse Shakespeare starb. Es ist anzunehmen, dass die gebildete Menschheit, durch Drahthindernisse getrennt und durch Stickgase auseinandergehalten, dem unzerstörbaren Genie einmütig huldigen wird. Wir werden das in Deutschland herzhafter und ungezwungener tun können als die Leute in den romanischen Ententeländern, denen Shakespeare doch immer ein fremdes, gewaltsames, ungezähmtes und anormales Fabelwesen bleibt. Ganz naturgemäss herrscht bei uns, was die Schriftgelehrten sich auch einbilden mögen, im allgemeinen ein ähnliches Fremdheitsgefühl gegenüber den besten Erscheinungen der romanischen Geisteswelt. Hoffentlich wird keiner der Festredner oder Festschreiber es warmtönig als einen Kulturbeweis hinstellen, dass er einen Dichter feiere, der in englischer Erde begraben liegt. Die Kultur fängt erst dort an, wo man nicht zu viel von ihr spricht.

Französische Parlamentarier, die nicht gerade an Shakespeare dachten, haben jetzt England besucht, nachdem englische Parlamentsmitglieder grussbringend in Frankreich gewesen sind. Die eingetroffenen Auslandsblätter teilen über den Empfang in London noch einiges mit. Der Lordmayor hat ein Frühstück gegeben und in seinem Trinkspruch die Tapferkeit der französischen Verdunkämpfer gerühmt. Der Senator Franklin-Bouillon hat geantwortet, alle Versuche des Gegners, Misstrauen zwischen Frankreich und England zu stiften, seien aussichtslos. Im Unterhause hat der Speaker schwungvolle Freundschaftsworte gesagt. Im Oberhause hat der Lordkanzler prophezeit, man werde der Pariser Strassburgstatue zum Zeichen des Sieges den Kranz aufs Haupt setzen, der jetzt als Trauerkranz zu ihren Füssen ruht. Während der Lordkanzler in einem Nebenraume sprach, wendete sich im Sitzungssaale der alte Lord Courtney gegen diejenigen, die das deutsche Volk für den deutschen Militarismus haftbar machen wollten und denen der »Krieg nach dem Kriege«, die dauernde wirtschaftliche Bekämpfung Deutschlands, zur Lieblingsidee geworden sei. Lord Crewe erwiderte im Namen der Regierung, gewisse Worte »über die Vernichtung des preussischen Militarismus und die Vernichtung Deutschlands« seien vielfach missverstanden worden, aber zwischen dem unternehmenden Handelsgeist des deutschen Volkes und dem militärischen Ehrgeiz lasse sich nicht leicht eine Trennungslinie ziehen. Ganz wie Asquith war also Lord Crewe zunächst bestrebt, die Behauptung, dass man das nationale Leben Deutschlands zerstören oder verstümmeln wolle, als das Resultat eines Missverständnisses hinzustellen. Aber er fügte hinzu: »Das Gift ist schon zu tief in das deutsche Volk gedrungen«, und er hält also einen tiefen Eingriff zum Zwecke der Entgiftung offenbar für wünschenswert.

Das Glanzstück aus den Tagen des Parlamentarierbesuches bleibt die Rede des Herrn Asquith mit ihrer Abschwächung und Umgrenzung des Kriegszieles und mit ihrem leichten, fast spielerischen Hinweggleiten über den Gebietsverlust, den Herr v. Bethmann Hollweg dem russischen Reiche angekündigt hat. Indem der britische Ministerpräsident die Berechtigung Deutschlands bestritt, nach seinen verschiedenen Germanisierungsbestrebungen jetzt als Befreier anderer Völker, als Schützer »ihrer Muttersprache und ihrer nationalen Individualität« aufzutreten, kam er, wenn auch nicht im tieferen Sinn seiner Worte, denjenigen Personen in Deutschland nahe, die der Ansicht sind, Deutschland habe vielleicht das Recht, aber gewiss nicht die Aufgabe, fremde Volksstämme zu befreien. Besonders in den rechtsdenkenden Kreisen hat man es natürlich vielfach bemängelt, dass der Reichskanzler betont hat, die Bevölkerung der besetzten Ostgebiete dürfe nicht wieder dem reaktionären Russland und seinem korrupten Beamtentum in die Hände fallen. Und in der Tat ist diese »Befreiung«, zweifellos auch nach Ansicht des Herrn v. Bethmann Hollweg, nur die erfreuliche Nebenwirkung, nicht der Hauptzweck einer deutschen Politik, die einzig und allein die Sicherung des deutschen Bodens erstreben kann. Bei dem Berliner Besuche des Herrn Burian ist vielleicht das Problem der polnischen Zukunft mit erörtert worden, dem kein Sehender mit naiv zugreifender Sorglosigkeit gegenübersteht. Eine ganz einwandfreie, ganz glückliche Gestaltungsform dürfte es nicht geben, und nur daran muss festgehalten werden, dass eine neue Teilung Polens das denkbar grösste Unglück wäre und aus der Zahl der Möglichkeiten auszuschliessen ist. Das wesentliche Ziel bleibt: die deutsche Ostgrenze zu schützen, und dieser Schutz wird um so besser sein, je weniger er uns mit fremden Pflichten belastet und je weniger er unsere Bewegungen hemmt. Und gern wollen wir zugeben, dass die Amtspersonen und die Parteien, die solange für Enteignung und ähnliche Massregeln schwärmten, etwas unerwartet zur Rolle des vom Himmel ausersehenen Polenbefreiers gekommen sind.

Irgendwelche Völker oder Volksteile zu erlösen, ist ebensowenig wie die Unterdrückung fremden selbständigen Staatslebens unsere Mission. Aber es muss auch dankend abgelehnt werden, wenn man von aussen, vom feindlichen Lager her, uns mit einer Befreiung begnaden will. Herr Asquith hat nur angedeutet, dass er uns vom Militarismus, oder von der herrschenden Kaste, zu erlösen hoffe, Lord Cromer hat es in seinem bekannten Briefe klarer angekündigt, und in englischen und französischen Leitartikeln wird es zweimal täglich gesagt. Glaubt man wirklich, ein starkes und grosses Volk wie das deutsche lasse sich seine Existenzformen, wie einen Covercoat, vom fremden Schneider liefern und sei zu behandeln wie ein Negerstaat? Viele von uns wissen ganz genau, was fehlt, was gefordert und was bekämpft werden muss, und sie wissen auch, dass nicht für jeden Schaden eine Kaste die Verantwortung trägt. Aber wir müssen die Arbeit schon allein besorgen, so gut oder so schlecht wie es nun eben geht. Die französische Revolution war gewiss eine Ideenspenderin und Erweckerin für einen erheblichen Teil der Welt. Aber als sie die Menschheit draussen gewaltsam zum Heil bekehren wollte, brach sie in sich zusammen und gebar den Militarismus Napoleons. Seither hat, wenn man sich recht erinnert, nur die Reaktion, nie der volkstümliche Fortschrittsgedanke, sich fremder Hilfe bedient. Die Royalisten von Koblenz kehrten hinter den Fahnen Blüchers nach Paris zurück. Und da mitten in diesem Kriege, der mit seinen unendlichen Kontrasten oft shakespearehaft wirkt, der noch höchst körperliche Schatten Shakespeares auftaucht, gedenkt man, in solchem Zusammenhange, auch des reizbaren Helden Coriolan. Nie würde und könnte ein unabhängiges Volk zur Gewinnung neuer Rechte »auf seines Vaterlandes Trümmer« steigen wollen, denn es ist selber das Vaterland.

 

Am 22. April über reichte Herr Gerard im Auswärtigen Amte eine Note, die sich auf die Versenkung des »Sussex« bezog. Für den Fall, dass Deutschland nicht die »Methoden des Unterseebootkrieges gegen Passagier- und Frachtschiffe« ändern wollte, wurde mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gedroht. Manchen schien dieser Abbruch wünschenswert, vielen schien er unvermeidlich zu sein. Es war aber noch nicht so weit.

25. April 1916

Am Morgen des 29. Juli 1914 habe ich auf die Friedenskundgebungen hingewiesen, die am Abend vorher die arbeitende Bevölkerung Berlins veranstaltet hatte, und ich habe damals gesagt, wenn die Kriegsenthusiasten ihre Ansicht laut auf der Strasse äussern dürften, so »dürfen schliesslich auch diejenigen, die im Völkerfrieden mit Recht ein unschätzbares Glück sehen und sich eine klare Vorstellung von dem entsetzlichen Jammer des Krieges machen, das gleiche tun«. Das deutsche Volk, dem ein Krieg so viel Elend bringen müsste, dürfe »von seiner Regierung und von allen, die in dieser schweren Stunde eine Verantwortung tragen, erwarten, dass bei aller Festigkeit doch kein irgend mögliches Mittel zur Abwendung der Gefahr ungenützt gelassen wird«. Am folgenden Morgen, nach der teilweisen Mobilisierung der russischen Streitkräfte: »Ob das unvermeidlich war, ob das alles so kommen musste, darf jetzt nicht erörtert werden – die öffentliche Meinung Deutschlands ist, wie wir wiederholt gesagt haben, vor fertige Tatsachen gestellt worden, und sie kann bis zuletzt die Bemühungen zur Erhaltung des Friedens nur unterstützen, indem sie eine kaltblütige Ruhe zeigt.« Es wurde gefordert, dass die Diplomatie aus »der Heimlichkeit der Kabinette« heraustreten und sich mit bestimmt bezeichneten Lösungen öffentlich an die Völker wenden solle, und es wurde hinzugefügt: »Europa wartet auf den Fürsten oder Staatsmann, der, nach einer Verständigung mit dem kriegführenden Oesterreich, mit einem wirksamen Vorschlag zwischen die gefährdeten Völker tritt.«

Heute, einundzwanzig Monate später, haben wir den Krieg in seinen mannigfachen Erscheinungen genügend kennengelernt, und jetzt stehen wir vor der Möglichkeit eines weiteren Kriegszuwachses, eines Krieges mit Amerika. Ein solcher Konflikt würde keinen neuen Kriegsschauplatz schaffen, er würde nur den Kampf auf den vorhandenen Schauplätzen erschweren und verlängern – denn die Theorie, dass er zur Verbesserung der Kampfbedingungen und zur Beschleunigung des Friedens dienen würde, zeigt doch nur, was alles behauptet werden kann. Die diesmalige Debatte über Krieg und Frieden unterscheidet sich sehr wesentlich von der öffentlichen Erörterung, die in den wenigen Tagen zwischen der Bekanntgabe des österreichischen Ultimatums und dem Kriegsausbruch hastig sich überstürzte und kaum den Namen einer Debatte verdient. Heute ist die Verantwortung ganz anders verteilt, heute sind die Völker nicht, wie im Juli 1914, vor fertige Tatsachen gestellt, heute sind die Konfliktsfäden nicht von der geheimen Diplomatie, nicht in der »Heimlichkeit der Kabinette« verknotet worden, heute hat eine lange Debatte sich auf breitem Markte abgespielt. Die »geheime Diplomatie«, die vor zwei Jahren die entscheidenden Entschlüsse allein fasste, ist diesmal beschuldigt worden, das Hindernis für alle kräftigen Entschliessungen zu sein. In Amerika hat die Engländerpresse Herrn Wilson durch Spott und Drohung auf den abschüssigen Weg gehetzt, bei uns haben konservative und »liberale« Blätter monatelang eine immer schärfere Politik gefordert, und die Kommission des preussischen Abgeordnetenhauses und grosse Parteien des Reichstages haben sich zu Kundgebungen in diesem Sinne vereint. Herr Graf Reventlow spricht es in der »Deutschen Tageszeitung« mit voller Offenheit aus: »Wir halten nach wie vor einen militärisch zweckentsprechend geführten Unterseehandelskrieg für ein Kriegsmittel, welches viel mehr wert ist als der bisherige höchst unerspriessliche Zustand zwischen dem Deutschen Reiche und den Vereinigten Staaten. Wir sind auch der Ueberzeugung, dass jenes Kriegsmittel die Nachteile weit überwiegt, welche sich aus dem Abbruche der diplomatischen Beziehungen, ja aus einem deutsch-amerikanischen Konflikt ergeben könnten. Sollte diese amerikanische Note durch die deutsche Antwortnote wirklich zum »letzten Worte Amerikas« gemacht werden, so würden wir den so geschaffenen neuen Zustand mit dem Gefühle wahrhafter Erleichterung begrüssen, ohne dabei auch die etwa nachteiligen Seiten der neuen Lage im mindesten zu verkennen.« Mit dem gleichen »Gefühl wahrhafter Erleichterung« würden – wenn nicht doch ein Zweifel ihre Seele beschleicht – all die Journalisten und Parlamentarier den Krieg mit Amerika begrüssen müssen, die genau wie Graf Reventlow laute Rufer im Streit gewesen sind. Wir anderen, die wir dieses Gefühl der Erleichterung nicht empfinden können, halten es immerhin für dankenswert, dass diesmal jeder klar und deutlich sein Teil der Verantwortung übernimmt.

Eine der amerikanischen Thesen hat seit Beginn des Krieges gelautet: wir wollen, dass jedes Handels- oder Passagierschiff vor der Torpedierung gewarnt und dass den Reisenden und den Mannschaften Zeit zum Einsteigen in die Boote gegeben wird. Das ist zum mindesten ein wesentlicher Punkt in dem deutsch-amerikanischen Meinungszwist. Im Artikel 4 der deutschen Denkschrift vom 10. Februar wurde angekündigt, dass bewaffnete Kauffahrteischiffe kein Recht mehr darauf hätten, als friedliche Handelsschiffe angesehen zu werden, und »als Kriegführende zu behandeln« seien. Unbewaffnete Schiffe warnen zu lassen, war die deutsche Regierung bereit. Wenn der »Sussex« ungewarnt unterging und zahlreiche Menschen dabei umkamen, so war entweder kein deutsches Unterseeboot beteiligt oder ein tragischer, beklagenswerter Irrtum hat die Katastrophe bewirkt. Wenn neutrale Schiffe ein ähnliches Schicksal erlitten und das Versehen eines deutschen Unterseebootes nachgewiesen werden konnte, hat die deutsche Regierung den Zwischenfall jedesmal durch die notwendigen Zugeständnisse beigelegt. Herr Wilson sagt in seiner Note, mit einer »vorbedachten Methode« würden »unterschiedslos Handelsschiffe aller Art, Nationalität und Bestimmung zerstört«. Neutrale Schiffe, »und sogar neutrale Schiffe auf der Fahrt von neutralem nach neutralem Hafen«, würden »in ständig wachsender Zahl« versenkt. »Wieder und wieder« habe man keine Warnung gegeben und nicht einmal den Personen an Bord eine Flucht in die Rettungsboote erlaubt. »Hunderte« von Amerikanern hätten so ihr Leben eingebüsst. Der Präsident der Vereinigten Staaten verlangt »ein Aufgeben der gegenwärtigen Methoden«, falls die diplomatischen Beziehungen bestehen bleiben sollen. Er verlangt also, vor allem auch für die seefahrenden Nichtkämpfer, eine vermehrte Sicherheit. Durch die Form, die er seinen Anklagen gibt, hat er die ruhige Schlichtung nicht leichter gemacht. Fremde Beschwerden sollten wir immer sachlich und leidenschaftslos prüfen, fremde Drohungen lehnen wir ab. Aber es hat gar keinen Zweck, dem scharfen Wort ähnlich scharfe Worte gegenüberzustellen. Es gehört ja wohl zur Kriegskunst, dass man sich nicht durch hitzigen Eifer auf ein falsches Terrain treiben lässt.

Die allermeisten von uns würden es für ein sehr grosses Glück halten, wenn es gelänge, friedfertige Reisende, Frauen und Kinder vor dem Tode in den Wellen zu bewahren, die Rechte der Neutralen gegen Irrtümer zu sichern und in jedem Falle die im Kriege schwer leidenden Gebote der Menschlichkeit zu erfüllen. Wenn die Ententepresse erzählt hat, nach dem Untergang der »Lusitania« und bei ähnlichen Gelegenheiten habe ganz Deutschland gehüpft und gejubelt, so ist das ein ungeheurer Irrtum, und recht zahlreiche Deutsche waren gewiss von ganz anderen Empfindungen bewegt. Obgleich es klar ist, dass die Schiffspassagiere die Gefahr, in die sie sich begeben, nachgerade selbst abschätzen müssen, würde jede Möglichkeit, die Taktik der Unterseeboote mit dem Schutze friedlichen Lebens und neutralen Gutes zu vereinigen, willkommen sein. Sie wäre auch willkommen, hätte der Präsident der Vereinigten Staaten niemals eine Forderung nach Berlin geschickt. Wenn es zugleich gelänge, den Krieg zwischen Deutschland und Amerika zu verhindern, so wäre das ein hoher Gewinn. Man braucht ja die Auffassung nicht zu teilen, die Feindschaft Amerikas wäre für uns ein wahres Götterglück. Wie die Fortsetzung friedlicher Beziehungen durch den Kriegslärm der gelben Amerikapresse erschwert wurde, so wurde sie auch durch die emsige Arbeit deutscher Blätter und durch das Auftreten der Parteipolitiker erschwert. Jeder einzelne wird ja hoffentlich wissen, welchen Beitrag er geleistet hat. Man wird – und gerade an der Ruhe, mit der die amerikanische Note aufgenommen wurde – auch in Amerika bemerkt haben, dass hier nicht jene Stimmungen herrschen, in denen ein grosses Volk sich zu jeder Abdankung entschliesst. Aber man dürfte in Washington auch bereits wissen, dass eine vernünftige Aussprache bisher nicht unmöglich ist. Ob eine Aussprache annehmbare Ergebnisse erzielen wird, sieht niemand vorher. Die Hoffnung, die bestehen bleibt, täuscht über den Ernst der Dinge nicht hinweg. Ein Abbruch der deutsch-amerikanischen Beziehungen würde von den Anhängern des unbeschränkten Torpedos mit dem »Gefühle wahrhafter Erleichterung« begrüsst? In England und in den anderen uns feindlichen Staaten vermutlich mit einem ganz ähnlichen Gefühl.

 

Am 11. Mai hatte die Reichstagsmehrheit einen Antrag der Unabhängigen, das Verfahren gegen Liebknecht für die Dauer der Sitzungsperiode auszusetzen, mit 229 gegen 111 Stimmen abgelehnt. Die beiden sozialdemokratischen Fraktionen und die Polen hatten für den Antrag gestimmt.

15. Mai 1916

Man begeht wohl keinen Irrtum, wenn man sagt, dass wenigstens einigen von den linksliberalen Reichstagsabgeordneten das Votum, das sie in der Liebknecht-Sache abgegeben haben, schwer auf dem Magen liegt. Warum in aller Welt haben Männer, die doch klarsehend und in ihren Ueberzeugungen gefestigt sind, sich diese Nachtischbeschwerden nicht erspart? Gegen Massensuggestion und gegen das Geschwätz der Heimkrieger muss man im zweiundzwanzigsten Kriegsmonat nachgerade gewappnet sein. Und die Verletzung des Grundsatzes, der die Unantastbarkeit des Volksvertreters aussprach, ist doch keine Bagatelle, sondern eine ungemein ernste Angelegenheit. Liebknecht erscheint auch denjenigen von uns, die nicht die vorgeschriebenen Meinungen und Thesen akzeptieren und sich jegliche Freiheit der Kritik vorbehalten, nicht als ein auserwählter Geistesheld. Giordano Bruno sah vermutlich anders aus. Niemals hat man den Eindruck, dass Liebknecht seinen Weg stark und sicher wie ein Mann gehe, und immer wirkt er knabenhaft. Er hat weder die väterliche Schulterbreite noch die Bebelsche Flammenwärme und ist ein Epigone von kleinem Format. Seine Reden sind ohne Ueberlegenheit, seine zapplige Unruhe ist nicht leidenschaftlich, sondern nervös. Es wäre keine Sünde wider den Heiligen Geist gewesen, hätte man bei der stenographischen Wiedergabe der letzten Reichskanzlerrede nicht seine sämtlichen Zwischenrufe erwähnt. Aber das Prinzip der Immunität gehört zu den sehr wenigen Garantien gegen einen gewaltsamen Machteingriff, und unter keinen Umstanden durfte man es preisgeben, jetzt so wenig wie je. Und es ist unverständlich, warum gerade die Linke, während die Rechte und das Zentrum befriedigt zusahen, so betätigungsfroh in den Vordergrund trat. Payer erstattet Bericht, Liesching redet, Hubrich stürmt und Müller-Meiningen haut. Das ist eine etwas reichliche Verausgabung bester Manneskraft. Kann man heute mit Bestimmtheit voraussagen, wie sich nach dem Kriege alles gestalten wird? Wer sich nicht verlocken lassen will, hütet sich vor dem ersten Schritt.

Im englischen Parlament ist gegen die kaltherzige Strenge protestiert worden, mit der man in Irland die Rebellen straft. Die Führer sind eingescharrt, Hunderte von Verdächtigen sind in Einzelhaft. Die »Niobe der Nationen«, wie Ferdinand Freiligrath dieses Elendsland getauft hat, kann wieder über die Söhne weinen, deren Sterbeschrei unter dem Trommelwirbel verklingt. Wenn die Klage diesmal noch weniger als früher gehört wird, so liegt das daran, dass die einen sie nicht hören wollen, und dass sie auch auf die anderen in dieser Zeit des grossen Menschenopfers fast alltäglich wirkt. Immerhin, das Schicksal der gräflichen Familie Plunkett, deren Mitglieder teils eingekerkert und teils erschossen wurden, verdient in der Geschichte der Kriegsgreuel einen guten Platz. Wir wären berechtigt, denen mit gleichen Worten zu erwidern, die im ganzen deutschen Volke, ohne Unterschied, ein Volk von Barbaren sahen. Beachtenswert bleibt, dass man im englischen Parlament diese Vorgänge frei, ohne Rücksicht auf das Ausland, bespricht. Und doch ist es gerade der Eindruck im Auslande, an den, bei der irischen Tragödie, England vor allem denkt. Es hat, sich selbst nicht kennend, sich als Befreier der unterdrückten Völker empfohlen, hat nach der Mission des Schutzengels gegriffen, die ihm nicht zukommt und die auf dieser Sündenerde keinem Staate gebührt. Und aus Irland dringt durch die Welt, zwischen Flintenschüssen und Gewimmer, der Ruf: Blickt auf uns!

Auch die französischen Sozialisten empfinden es peinlich, dass man in Irland hängt und erschiesst. Sie hatten an der Unterdrückung der Fremdstämme in Russland und an den russischen Judenschmerzen gerade genug. In der »Humanité« mahnt der Deputierte Renaudel die englische Regierung, milde zu sein. Die bisher unausgeführten Freiheitsverheissungen hätten »in dem Lande, das man lange das unglückliche Irland nannte«, die Bitterkeit noch nicht völlig ausgetilgt. Derselbe Renaudel hat übrigens, in der »Humanité« vom 7. Mai, der französischen Regierung geraten, durch eine öffentliche Diskussion Klarheit über die deutschen Friedensbedingungen zu schaffen und zugleich vor aller Welt den französischen Standpunkt klarzustellen. Er hat das in einem Artikel getan, der hauptsächlich den Friedensbemerkungen in der letzten deutschen Amerikanote galt. »Könnte man«, schreibt er, »von dem Deutschen Reiche genau erfahren, was es unter den deutschen Lebensinteressen versteht? Sind sie vereinbar mit den Lebensinteressen der anderen Nationen, Belgien und Serbien einbegriffen, das heisst mit ihrer vollen wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit? Besagen sie, dass Deutschland bereit ist, in Zukunft das Regime der Gewalt und der wirksamen Grausamkeit durch das Regime internationaler Verträge zu ersetzen, das zur Schiedsgerichtsbarkeit zwischen freien Völkern führt und von dem neulich Herr Asquith sprach? Das möchten wir unter anderem von der deutschen Regierung hören, und es bietet sich da eine Gelegenheit für die alliierten Regierungen, für die Regierung Frankreichs, diese Fragen aufzuwerfen und mit stärkerer Deutlichkeit darzulegen, welches unsere Kriegspolitik ist ...« Diese Ratschläge des einflussreichen Sozialisten werden von den rabiateren Kriegsmachern sehr heftig gerügt. Herr Jean Herbette sagt im »Echo de Paris«, Frankreich dürfe sich nicht »in das Redeturnier hineinziehen lassen, mit dem die Berliner Regierung, nach dem Misslingen ihrer anderen Listen, die Alliierten veruneinigen und ihre Kriegsstimmung in eine Verhandlungsstimmung umwandeln will«. Der Renaudelsche Artikel ist schon deshalb interessant, weil der von Renaudel geführte offizielle Sozialismus sich nur selten zu so selbständigen Aeusserungen versteigt. Die Minorität, die zum Frieden drängt, besitzt keine sichtbaren Zeitungen und lebt in der Verborgenheit. Da man bei uns Frankreich gewöhnlich mit alten, längst veralteten Schlagworten beurteilte, hatte mancher irrtümlich gemeint, dass gerade dort ein Krieg ohne Revolution unmöglich sei. Wer die Dinge besser kannte, erwartete, sobald einmal ein Stück französischen Bodens okkupiert war und das erste französische Dorf in Trümmern lag, nur genau das, was sich bis heute begeben hat. Jene revolutionären Gesellschaftsfeinde, die so oft von der Pariser Arbeiterbörse zu den Boulevards marschierten, liegen entweder schon unter der Erde oder im Schützengraben, und die anderen sind, wie die bekanntesten anarchistischen Führer, kriegswütig und deutschlandhasserisch geworden oder fügen sich der Allgemeinheit und der Macht. Gegen diejenigen aber, die sich etwa nicht fügen wollen, wendet die Polizei des Quai du Palais gewiss stille, handgreifliche Fürsorgemassregeln an.

Es muss anerkannt werden, dass der Hauptausschuss des Reichstages, nach den Liebknecht-Debatten des Plenums, sich eingehend mit der Frage befasst hat, wie bei uns die Massregeln, die gegenwärtig zur Ueberwachung und Regulierung der Volksstimmung dienen, zu überwachen und zu regulieren seien. Auch die Fortschrittliche Volkspartei hat – befreit von der Scheu und den Antipathien, die ihr Votum im Liebknecht-Falle mitbestimmten – alles getan, was möglich schien. Der Zensurärger, der wieder vorgebracht wurde, wird natürlich genau so lange leben wie die Zensur. Sind sich alle einig darüber, dass diese Einrichtung in der ersten Stunde nach dem Kriege vollständig, bis zum letzten Rest, verschwinden muss? Man kündigt jetzt einen militärischen Diktator für die Lebensmittelversorgung an. Wir hoffen, dass die Diktatur nicht etwa eine Einschränkung der öffentlichen Erörterung erstreben wird. Ein solches Bemühen wäre, wie jede künstliche Niederhaltung eines allgemeinen Gesprächthemas, vergeblich und völlig verkehrt. Das Vergnügen, seine Klagen in der Zeitung wiederzufinden, ist das einzige, was dem Publikum noch bleibt. Der Ausschuss hat sich auch mit der sogenannten Schutzhaft, die jetzt zur Anwendung kommt, befasst. Er hat bei dieser Schutzhaft einen rechtlichen Schutz verlangt. Das ist noch erheblich wichtiger als die Abwehr des Zensurübels, das nur das Wort, nicht den Menschen trifft. Auch diejenigen, die heute regieren, wollen sicherlich keine geheimen Lettres de cachet, mit denen man einst in die Bastille befördert wurde, und keine venezianische Seufzerbrückenjustiz. Alle Parteien des Reichstags haben ein Interesse daran, unsicheren Zuständen vorzubeugen, denn die Zukunft liegt, wie gesagt, vor keinem von uns völlig klar. Wir haben festes Vertrauen, aber mit Mass.

 

In London wurde der Unterstaatssekretär im Foreign Office Sir Arthur Nicolson, der zurücktrat, durch Lord Hardinge ersetzt. Wichtigere Veränderung in Berlin: Helfferich wird Staatssekretär des Innern und Vizekanzler, Herr v. Batocki wird zum Präsidenten des neuen Kriegsernährungsamtes gemacht.

22. Mai 1916

Der kleine, verwachsene, arbeitsame Nicolson, der jetzt das Amt des Unterstaatssekretärs im Foreign Office dem grossen, eleganten, weltmännischen Hardinge abtritt, hat zweifellos in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 heimlich manche Fäden gesponnen, von denen Grey nichts sah. Er hatte in den Jahren nach dem Tode des König Eduard durchaus nicht immer vermocht, seinen Willen durchzusetzen, und Greys Kabinettschef, der friedlicher gesinnte Tyrrell, schien oft mindestens so einflussreich wie er. Der Einfluss Nicolsons stieg oder sank im Wechsel der Ereignisse, stärkte sich in den Tagen von Agadir und vermochte dann wieder nicht zu hindern, dass zwischen Berlin und London, in den Monaten vor dem Kriege, die Einigung über Kleinasien und die afrikanischen Kolonien zustande kam. Aber als das österreichische Ultimatum an Serbien bekannt wurde und als die Dinge sich zuspitzten, lauschte dieser alte, gewitzte Nicolson erwartungsvoll hinaus. Er hörte das ferne Getrappel der Kriegsreiter und war nun still bemüht, ein Ausweichen Greys zu verhindern und die Wege, die etwa von Russland und Frankreich fortführen konnten, zu verbauen. Gewiss gab er seinem Freunde Paul Cambon und dem Russen Benckendorff manchen nutzbaren Wink. Wahrscheinlich war es ihm angenehm, dass man, um Grey und die schwankenden Minister anzuspornen, die konservativen Führer zu Hilfe rief. Es wäre nur falsch, anzunehmen, Nicolson habe in der Entscheidungsstunde durch solche Mittel der englischen Politik erst die Richtung geben müssen, er habe etwas anderes gefördert und herbeigeführt als etwa jene Schritte, in denen Helfferich, in seiner Schrift, eine gewollte oder ungewollte Ermutigung Russlands und Frankreichs gesehen hat. Es konnte gar nicht zweifelhaft sein, dass England an die Seite Russlands und Frankreichs treten würde, sobald der Krieg erst einmal entfesselt war. Die englische Kriegserklärung wäre mit oder ohne die belgische Angelegenheit, wäre mit oder ohne den schrumpligen kleinen Nicolson, wäre früher oder später unbedingt erfolgt. Und die Ueberraschung, mit der in Berlin die leitenden Persönlichkeiten den Abschiedsbesuch des Botschafters Goschen empfingen, würde ohne die begreifliche Nervosität jener Tage doch wohl weniger gross gewesen sein.

Man hat bei uns die Gleichgewichtstheorie, die Sir Edward Grey immer betont hat, und für die er – nicht für Belgien – Krieg führt, sehr scharf kritisiert. Dadurch ist die falsche Auslegung genährt worden, Deutschland wolle kein Gleichgewicht in Europa mehr und begehre für sich eine Hegemonie. Das Dogma vom Gleichgewicht ist natürlich keineswegs sündhaft und verwerflich, und auch Bismarck ist bemüht gewesen, das europäische Gleichgewicht zu erhalten und sicherzustellen. Es war ganz klar, dass England an seiner Theorie festhalten und sich in einem möglichen Kriegsfalle einer Schwächung der russisch-französischen Koalition widersetzen würde, und damit, wie mit einigen anderen Dingen, musste gerechnet werden, als die Ultimatumspolitik begann. Nicht das ist der Schuldteil Greys, dass er das Gleichgewicht für eine unantastbare Notwendigkeit hielt. Aber unter seiner Mitwirkung hatte dieses europäische System sich so gewandelt, dass es nicht mehr beruhigend wirkte, sondern die denkbar gefährlichste Reizbarkeit schuf. Auch die Minister der Splendid isolation hatten eifrig das europäische Gleichgewicht geschützt. Indem die Politik König Eduards und Greys den Chauvinismus in Frankreich und in Russland ermutigte und, rückwirkend, unseren Chauvinisten Betätigungsmöglichkeiten gab, machte sie aus dem europäischen Gleichgewicht einen europäischen Zwist. Sir Edward Grey wird sich, gegenüber solchen Vorwürfen, vielleicht darauf berufen, dass die Botschafterkonferenz, die unter seiner Leitung die Balkanangelegenheiten regelte, das russische Konsortium nicht parteiisch begünstigt hat. Er wird vielleicht auch darauf hinweisen, dass sein Verhältnis zu Frankreich kein Hindernis für den Abschluss der deutsch-englischen Verträge über Kleinasien und Afrika gewesen ist. Es lässt sich auch keineswegs bestreiten, dass die Marokkovorgänge, dass die nicht bis ans Ende bedachten Kraftschläge und Plötzlichkeiten sehr viel zur Gestaltung der Situation beigetragen haben, dass England dadurch erst die Möglichkeit für seine Ententepolitik erhielt. Aber wenn man, wie Sir Edward Grey, aus der ganzen Vergangenheit Schuld und Unschuld beweisen will, dann muss man doch vor allem auch die Frage aufwerfen: welchen Gebrauch hat England von jenen Möglichkeiten gemacht? Es konnte eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich fördern, die in Berlin offen gewünscht wurde und um 1900, vor der Entente cordiale, möglich schien. Es zog vor, diese Annäherung zu verhindern, dirigierte in solchem Sinne einen Teil der Pariser Presse, begünstigte die Präsidentschaftskandidatur des vom Nationalismus getragenen Poincaré. Wann hat Sir Edward Grey jemals einen ernsthaften Versuch gemacht, die enorme Macht, die er besass, wirklich für die Sicherung des europäischen Friedens zu verwenden und ein besseres Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich herzustellen? Unter König Eduard hielt man es für klug, den französischen Hass, der in der Faschodazeit den Engländern galt, auf Deutschland abzulenken, und Sir Edward Grey fand die deutsch-französische, wie die deutsch-russische, Verbitterung nützlich für sein Weltgeschäft.

Die Vorgeschichte des Krieges sieht nicht so aus, wie sie auch bei uns von naiven oder übereifrigen Professoren in hurtig geschriebenen Büchern geschildert wird. Aber sie sieht auch nicht so aus, wie Grey sie seinen Interviewern erzählt. Sir Edward Grey selber gleicht nicht dem hageren, abgefeimten, krallenfingrigen Bösewicht, mit dem die Witzblattphantasie sich behilft. Vor sechsundvierzig Jahren gab es einen Napolium für den Hausgebrauch, die deutschfeindliche Presse geht in der verzerrenden Darstellung deutscher Persönlichkeiten bis an die Irrsinnsgrenze, und niemand behält mehr seine wahre Physiognomie. Indessen, wenn Sir Edward Grey sich als den Mann vorstellt, der immer das Denkbar-Mögliche für die Befestigung des europäischen Friedens getan habe, so wird diese Behauptung doch sehr deutlich durch die Tatsachen widerlegt. Im wichtigsten Punkte, gewissermassen am Ursprung der Dinge, hat die Politik Greys nicht die Befestigung, sondern die Gefährdung des Friedens bewirkt. Grey hatte es in der Hand – und man kann beinahe sagen, dass er allein es in der Hand hatte –, den Schwefelgestank zu beseitigen, der die ganze europäische Atmosphäre verdarb. Eingeschüchtert von der Harmsworthpresse, eingesponnen in seine Berechnungen und in sein Misstrauen, ging er an diese notwendigste aller Aufgaben nicht heran. Am 30. Juli 1914 sagte er dem Fürsten Lichnowsky, England könnte selbst dann, wenn die deutsche Regierung nach einem Siege kein französisches Gebiet, sondern höchstens Kolonien begehren wollte, nicht ruhig dabei stehen, »da Frankreich, auch ohne dass weiteres Gebiet in Europa ihm genommen wird, so zermalmt werden kann, um seine Stellung als Grossmacht zu verlieren und unter die Botmässigkeit der deutschen Politik zu kommen«. Er fügte hinzu: »Und ich will das sagen: kann der Friede Europas erhalten und die gegenwärtige Krisis heil überwunden werden, so wird es mein Bestreben sein, für eine Abmachung zu wirken, an der Deutschland Beteiligter sein könnte und die ihm Sicherheit geben könnte, dass von Seiten Frankreichs, Russlands und uns selbst keine aggressive oder feindselige Politik gegen es oder seine Verbündeten gemeinschaftlich oder einzeln getrieben werden wird .. Die Idee war bis jetzt zu utopisch gewesen, um den Gegenstand bestimmter Vorschläge zu bilden, aber wenn die gegenwärtige Krisis, die so viel akuter ist als irgendeine, welche Europa seit Generationen durchgemacht hat, heil überwunden wird, habe ich die beste Hoffnung, dass die auf sie folgende Erleichterung und Rückwirkung eine sehr viel bestimmtere Annäherung der Mächte möglich machen könne, als es bisher der Fall gewesen ist.« Vielleicht hat Sir Edward Grey diesen Worten, die im englischen Blaubuch verzeichnet stehen, keine tiefere Bedeutung beigelegt Aber etwas wie eine Erkenntnis des Versäumten spricht daraus.

Der Abgang des krummen kleinen Nicolson ändert nichts. Hardinge ist gerade und gross, aber ganz so wie Nicolson gesinnt. Bisher sind nur wenige von den Persönlichkeiten, die an der Vorgeschichte des Krieges teilgenommen hatten, in die Amtslosigkeit heimgekehrt. In Paris wechselte Viviani den Posten, in Wien trat Graf Berchtold zurück. Sasonow lebt, Grey hat sich, nach kurzer Ermüdung, erholt und Paschitsch führt seinen Bart fern von Belgrad herum. Auch bei uns hat bisher nur die Gesundheit von Personen gelitten, die am Vorspiel nicht beteiligt gewesen sind. Während die anderen, ohne Ausnahme, sich anscheinend noch immer wohl befinden, wurde Delbrück, der dem diplomatischen Betriebe fernstand, ernstlich krank. Sein Nachfolger soll Helfferich werden, den man Harras den kühnen Springer nennen kann. Mit seiner Betätigung in der Amerikafrage betrat Helfferich, abseits von seinen Finanzfreuden, wieder das Gebiet der grossen Politik. Die Friedensverhandlungen werden heute und morgen noch nicht beginnen, aber es leuchtet ein, dass der Reichskanzler sich für diese Aufgabe den geeigneten Vizekanzler sichern will. Zwei Männer sind nicht zu viel für eine solche Arbeitslast. Einer von ihnen beiden sollte dann, nur der Kuriosität halber, Herrn Grey vielleicht fragen: Was haben Sie am 30. Juli 1914, als Sie von »bestimmten Vorschlägen« sprachen, sich eigentlich gedacht?

 

Am 1. Juli hatte die grosse englisch-französische Massenoffensive an der Somme begonnen, die, wie der deutsche Heeresbericht vom 2. Juli sagte, »seit vielen Monaten mit unbeschränkten Mitteln vorbereitet« worden war.

10. Juli 1916

Der Krieg heult auf allen Seiten und von Osten und Westen her wird in einer ungeheuren Kraftanstrengung versucht, den Felsblock zu erschüttern, der fest und unbeweglich in der Mitte liegt. In den Heeresberichten liest man an jedem Tage, dass »Tausende von Leichen« vor den Stacheldrähten aufgeschichtet sind. Der französische Minister des Innern hat neulich dem Parlament einen Bericht über die Zerstörungen in den nicht, oder nicht mehr, von deutschen Truppen besetzten Gegenden vorgelegt. In siebenhundertvierundfünfzig Gemeinden, die besonders im Sommer 1914, beim deutschen Vormarsch zur Marne, Kampfschauplatz waren, hat man die Schäden festgestellt. Allein im Departement Marne sind 11 607 Häuser teilweise, 3499 völlig zerstört. Das Departement Pas-de-Calais weist 6660 gänzlich erledigte und 6792 halb zerschossene und verbrannte Gebäude auf. Die Zusammenrechnung besagt, dass es in den siebenhundertvierundfünfzig Gemeinden, wo man die Zählung vornehmen konnte, 16 669 ganz vernichtete Häuser und 25 594 Halbruinen gibt. Der Boden von zweitausendfünfhundertundvierundfünfzig Gemeinden ist noch von den Deutschen okkupiert. Englische Zeitungen, denen es nicht darauf ankommt, meldeten vor ein paar Tagen, die englische und die französische Heeresleitung hätten sich mit dem schmerzlichen Gedanken abgefunden, dass bei ihrer Offensive die Beschiessung französischer Städte notwendig sei. Besonders die englischen Bundesgenossen haben sich in dieser Tätigkeit bereits vorgeübt. Aber aus den Ruinen kann wenigstens neues Leben blühen. Nur aus dem Tode nicht.

Während rundherum die Hölle tobt, fahren die Familien und alle, die es ermöglichen können, ferienfroh zum Sommeridyll. Das Naturbedürfnis ist ebenso gross wie der Wunsch, die städtischen Wirtschaftssorgen los zu werden, und noch nie schien die Reiselust so heftig, noch nie waren die Hotels so überfüllt. Immer wieder ist man, in der geschäftigen Stadt und in den angenehmen Sommerorten, von der Tatsache überrascht, wie wenig – dort zum mindesten, wo nicht die karg zugemessenen Kartoffeln angstvoll gezählt werden – das Unglück bemerkbar ist, und wie sehr das Leid im starken Lebensstrom untergeht. Man ahnt die Zahl der zerschlagenen Existenzen, der still weinenden Frauen, der Mütter mit unsagbar verarmten Herzen, aber die Theater machen glänzende Geschäfte, auf den Rennplätzen ist der Totalisator umlagert und die Kurkapellen spielen vor einer dichten Hörerschaft das Volkslied des Krieges, das Lied von der Heimat und dem Wiedersehen. Es ist unwahrscheinlich, dass den kommenden Generationen das wahre Bild dieser Zeit in seiner ganzen Gegensätzlichkeit klar vor Augen stehen wird. Ihre Phantasie wird sich vermutlich weder die gehäufte Furchtbarkeit der Tragik nachbilden können noch den alltäglichen Lebensgang, und sie werden abwechselnd zu wenig Farbe auftragen und zu viel. In diesen jüngsten Tagen begegneten auf allen Bahnhöfen im Lande die Züge mit den Ferienfahrern, mit Badegepäck, hellen Kleidern und lachender Jugendfreude den langen Zügen, in denen eine endlose Armee frischer, starker, schutzbereiter Männer und Jünglinge nach Osten und Westen fuhr. Grüsse wurden getauscht, Rufe und Wünsche, aus denen oft eine zurückgedrängte Rührung hervorklang, gingen von der Vergnügungsseite zu den Soldaten hinüber, dann rollten die einen und die anderen ihrer Bestimmung zu. Manchem, dessen abgenutzte Seele keine Eindrücke mehr bewahren kann, fällt der Gegensatz kaum auf. Aber nie hat der schmerzkundige Geist eines Dichters, nie hat das zwischen Frühling und Tod wandelnde Genie Albrecht Dürers Stärkeres erdacht.

Ueberall im Harz, in Thüringen und in den anderen Waldgebieten Deutschlands kann man auch sehen, wie in unzähligen Heilstätten und Genesungsheimen verständnisvolle Güte die verwundeten, erkrankten oder schon genesenen Krieger umsorgt. Hotels und grosse Landhäuser sind für sie eingerichtet, und auf ihren Betten und Liegestühlen und auf ihren Spaziergängen sind sie von diesen tapferen Frauen und Mädchen behütet, die nun seit zwei Jahren den freiwillig gewählten Pflegeberuf ausüben und in ihrer unermüdlichen Pflichttreue und ihrem ruhigen Anpassungssinn so sehr zu bewundern sind. Man trifft die schon zum Frohsinn neu erweckten Krieger auf allen Waldwegen, auf allen Aussichtspunkten, bei allen Burgruinen, deren umrankte Steine ein alter Kastellan bewacht. Kürzlich stiegen sie vor mir mit Gesang und Harmonikamusik vom Brocken ins Ilsetal hinab. Sie gehen wie harmlose Schuljungen, und den meisten drängt sich anscheinend die Erinnerung an furchtbare Erlebnisse nicht mehr beherrschend auf. Niemand befolgt sorgsamer als sie die poetischen Mahnungen am Wege, mit denen nach einer hübschen Sitte ein Lokaldichter um Schonung der Blumen und Farrnkräuter ersucht. Wir leben in einer wohlgeordneten Welt, in der alles Erdenkbare für die Hygiene, für den Schutz des einzelnen, für die Bewahrung altertümlichen Gemäuers, für die Behütung der Natur und für die pädagogische Behandlung geistiger und seelischer Regungen geschieht. Der Krieg hat in diese gut eingerichtete Welt einen erheblichen Wirrwarr hineingebracht, und es ist ein wahres Glück, dass wir die vielen Gelehrten, und besonders die Philosophieprofessoren, besitzen, die alles passend auszulegen und einzurenken verstehen.

Die Offensive der Engländer war von einigen französischen Zeitungen so angekündigt worden, wie man ein Sportereignis begrüsst. Auf Bildern sah man den Tommy, den englischen Soldaten, mit der Faust im Boxerhandschuh, über die Schnur steigen, die den Boxplatz von den Zuschauern trennt, und darunter stand: »Da bin ich, dies ist meine Partie.« Der »Matin« empfahl das beginnende Schauspiel folgendermassen: »Die Offensive unserer Verbündeten stützt sich auf eine Erfahrung von dreiundzwanzig Kriegsmonaten, ist von keiner veralteten Tradition, von keinen doktrinären Vorurteilen gehemmt. Neue Männer machen, mit unberührten Kräften, einen neuen Krieg.« Bisher hat, wohl auch nach Ansicht der Franzosen, diese nagelneue Kriegführung sich nicht sehr bewährt. Die deutschen Truppen kämpfen mit einer Hingabe, der nie ein Dankwort angemessen sein wird, auch gegen diese Uebermacht. Unmittelbar vor dem Beginn der neuen Schlacht schrieb mir, von dem Gefilde südlich der Somme, ein Oberleutnant und Kompagnieführer, den ich nicht kenne, einen prachtvollen, durch ruhige Festigkeit und freie Klugheit ausgezeichneten Brief: »Während draussen Engländer und Franzosen seit fünf Tagen auf unsere Stellungen hämmern und wir in unseren Unterständen die Dinge erwarten, die da kommen sollen,« wollte er seine Zustimmung zu Worten aussprechen, die hier über die unheilvolle Wirksamkeit hetzerischer Zeitungsschreiber und anderer Leute gesagt worden sind. Er schrieb, »im Unterstande, unter dem Trommelfeuer« sähen nicht wenige die Notwendigkeit solcher Werte ein. Sie alle müssten nach dem Kriege »wachgerufen und aufgefordert werden, sich nicht länger untätig zur Seite zu stellen«. Laut und deutlich müsse Front gemacht werden gegen diejenigen, die es in allen Ländern »nicht lassen können, die Fenster einzuschlagen«, und dann »hinterm Ofen sitzen«, während der beste Teil der Völker mit seinem Blute zahlt. Eine internationale Gerichtsbarkeit wäre zum mindesten »eine segensreiche Mahnung an die unermessliche Verantwortung, die heute die Presse für die Menschheitsentwickelung trägt«. In der Tat, so denken, wie auch aus manchen anderen Briefen hervorgeht, viele, die draussen mutvoll im ununterbrochenen schweren Kampfe den Feinden gegenüberstehen. So denken viele über die mundaufreissenden Heimkrieger und die schreibenden Helden, denen kein Ziel, für die anderen, zu fern erscheint. Wenn alle, die es sich leisten können und die nicht mit den zwei Pfund Kartoffeln und den ohne Milch und Eier schwer verwertbaren vierhundert Gramm Mehl in dieser Woche zu leben brauchen, in das grüne Land hinausfahren oder sonstwie, ohne den ungeheuren Ernst der Tage zu vergessen, ihr Dasein auf dem gewohnten Wege weiterleiten, so entspricht das den Notwendigkeiten der menschlichen Natur, und es beweist jedenfalls ein allgemeines Sicherheitsgefühl. Aber denen wird man auch weiter wenigstens etwas äussere Bescheidenheit empfehlen müssen, die auf keinen Hügel steigen, ohne einen strengen Welterobererblick hinauszusenden, und deren Wohlbefinden in der Hausjacke oder im Reiseröckchen ohne kriegerische Erregungen nicht vollkommen ist.

 

Nach dem Erscheinen dieser Betrachtungen trat eine Pause ein. Der nächste Montagsartikel wurde am 20. November veröffentlicht.

31. Juli 1916

Heute vor zwei Jahren wurde Deutschland »in Kriegszustand erklärt«. Die Formel war dem deutschen Volke, das im langen Frieden sich um die Sprache der letzten Kriegsvorbereitungen nicht gekümmert hatte, fremdartig und nicht gleich verständlich, aber sie liess denjenigen, die den ganzen Schrecken begriffen, nur noch einen kleinen Hoffnungsrest. Wir wissen, eine wie vollendete Unwahrheit es ist, wenn der »Temps« und ähnliche Blätter unablässig versichern, das deutsche Volk habe den Krieg wie ein frohes Ereignis begrüsst. Das Volk empfing ihn mit gepresstem Herzen, empfand ihn in schlaflosen Nächten wie ein umklammerndes Riesengespenst, und die Entschlossenheit, mit der es dann hinaustrat, entsprang nicht der Freude, sondern dem tiefen Pflichtgefühl. Es waren doch nur wenige, die vom »frisch fröhlichen Krieg« geredet hatten, es waren auch, in einer grossen Volksmasse, nur wenige, die sofort nach dem österreichischen Ultimatum mit plötzlich hervorgeholten Fahnen durch die Strassen marschierten und vor den Fenstern der befreundeten Botschaften – auch der italienischen – und vor dem Reichskanzlerpalais sich heiser schrien. Aber diese wenigen entstammten genau den gleichen Kreisen oder gehörten doch zu den Geistern, die heute mit dem Reichskanzler so unzufrieden und nach der Erfüllung ihrer kriegerischen Sehnsucht so überkritisch, so unruhvoll, so störend für die Einheit sind.

Da einstweilen niemand imstande zu sein scheint, dieser »grossen Zeit« ein Ende zu machen – in der wirklich gross der entsagungsvolle Opfermut und die nicht wankende Tatkraft des Volksheeres sind – so beschäftigt mancher, der nach einem Beruhigungspulver sucht, sich mit der Frage, wie wenigstens für die Zukunft das Schicksal des Landes mit besseren Sicherheitsschranken zu umgeben sei. Die schönsten »realen Sicherheiten«, von denen ein Ueberannexionist in seinem Heldenlehnstuhl träumen kann, nützen gar nichts, wenn die Politik den zufälligen und völlig unkontrollierten Eingebungen einiger mehr oder minder scharfsinnigen Personen überlassen ist. Prinz zu Schönaich-Carolath, Mitglied des Reichstags und erbliches Mitglied des Herrenhauses, hat vor ein paar Tagen in der »Magdeburgischen Zeitung« mit ausgezeichneten Worten die Einsetzung eines dauernden parlamentarischen Kontrollausschusses, eines aus den Führern der Reichstagsfraktionen gebildeten Ausschusses, verlangt. Der gleichfalls linksnationalliberale Reichstagsabgeordnete Freiherr v. Richthofen hat das gleiche schon etwas vorher getan. Solche Anregungen sind gewiss beachtenswert und kein Anhänger eines konsequent durchgeführten Parlamentarismus würde irgendeiner Vermehrung der Reichstagsrechte ablehnend gegenüberstehen. Aber das Heil des deutschen Volkes und die Abwendung neuer Gefahren würde von einem solchen Ausschuss gewiss niemand erwarten, der einigermassen die parlamentarischen Verhältnisse und die Einzelerscheinungen kennt. Wenn im englischen und im französischen Parlamente einige wenige Abgeordnete mit Sachkenntnis über auswärtige Fragen reden, so liegt das, wie man immer wiederholen muss, einfach daran, dass diese Leute bereits Minister oder Unterstaatssekretäre im Ministerium des Aeussern oder Botschafter oder Gesandte waren, mit den Geschäften vertraut und mit der Diplomatie in andauernder Verbindung sind. Wenn deutsche Volksvertreter mitunter ins Blaue hinein sprechen, so liegt das unter anderem daran, dass ihnen die praktische Erfahrung fehlt. Und Prinz zu Schönaich-Carolath und Freiherr v. Richthofen, die sich in den auswärtigen Dingen genauer umgesehen haben, werden wohl auch zugeben müssen, dass der politische Instinkt nicht zu den hervorragenden Eigenschaften ihrer parlamentarischen Umgebung, besonders nicht ihrer näheren Umgebung gehört. Haben die Wortführer dieser Umgebung je einen Fehlschritt rechtzeitig erkannt, haben sie nicht jedem Unternehmen zugestimmt, das die Situation weiter verschlechterte, haben sie sich jemals einem nüchternen Studium des Auslandes gewidmet, und haben sie jetzt, während des Krieges, aus den Ereignissen gewissenhaft alles Lernenswerte gelernt?

Und wenn man nun an die Tage zurückdenkt, die wir vor genau zwei Jahren fröstelnd miterlebten – wie hätte sich da der parlamentarische Ausschuss bewährt? Wann und wo und wie hätte er, in der schwersten, entscheidenden Zeit, Gelegenheit zur Betätigung gehabt? Gerade Prinz zu Schönaich-Carolath und Freiherr v. Richthofen sind, besser als die geschichtschreibenden Professoren, über die Einzelheiten der Tragödie informiert. Hier, an dieser Stelle wurde vor zwei Jahren immer wieder betont, dass wir vor vollendete Tatsachen gestellt seien – und hätte ein parlamentarischer Ausschuss sich nicht gleichfalls vollendeten Tatsachen gegenübergesehen? Auch wer mit dem Bülowschen Buche gar nicht einverstanden ist, kann doch dabei bleiben, dass ein Mann, wie Fürst Bülow, mit seiner ausserordentlichen Routine, vielleicht hätte gefragt werden sollen, ob er nicht ein Mittel erspähe, den hinuntersausenden Wagen seitwärts zu reissen, bevor der Frieden im Abgrund lag. Einem Ausschuss, der etwa die Politik der Regierung nicht glatt hätte unterstützen wollen, wäre mit einigem Recht nachgesagt worden, er habe durch sein Verhalten den Eindruck innerer Geschlossenheit zerstört und den Russen erst Mut gemacht. Und wie hätte er etwas anderes als vollendete Tatsachen erfahren können, da mancherlei Gründe, die rasende Hast der Entwicklung und schliesslich die militärischen Notwendigkeiten ihm gar keine Möglichkeit gelassen hätten, auch nur ein klares Bild zu gewinnen und die unheimlich verknoteten Fäden zu entwirren? Er hätte nacheinander das österreichische Ultimatum, die Ablehnung des Greyschen Vorschlages, die russische Mobilmachung, die deutsche Kriegserklärung und den Einmarsch in Belgien als vollendete Tatsachen erfahren, und hätte in dem historischen Moment schwerlich eine sehr erhebliche Rolle gespielt.

Prinz zu Schönaich-Carolath hat gewiss von einem Artikel Kenntnis genommen, den ein anderes Mitglied des Herrenhauses, Fürst zu Salm-Horstmar, neulich im »Tag« erscheinen liess. Fürst zu Salm-Horstmar ist, als Herrenhäusler, auch gewissermassen ein Parlamentarier, und er ist ausserdem, als Fürst, von Geburt mit jener Weisheit behaftet, die bei uns im zwanzigsten Jahrhundert so oft zur Uebernahme der wichtigsten Aemter und zur Lösung der schwierigsten politischen Aufgaben genügt. Nachdem der Fürst sich, ganz vernünftig, als ein Gegner des Geredes und als Anhänger des Handelns bekannt hat, erklärt er, »dass wir den Krieg verloren haben werden, wenn wir nicht als Siegespreis auch die Herrschaft über die flandrische Küste« heimzubringen verstehen. Man erschrickt, man fällt vom Stuhl, wenn man solche Worte liest. Die Kriegszielprogramme der Verbände und der Annexionsbarden und auch gewisse rhetorische Unklarheiten des Herrn Reichskanzlers waren gerade deshalb besonders bedenklich, weil sie dem Auslande gestatteten, Deutschland gleichsam auf bestimmte Absichten festzunageln und schon jetzt die spätere Triumphhymne vorzubereiten: ihr habt das und das gewollt und ihr habt den Krieg nicht gewonnen, denn ihr habt das Gewollte nicht erreicht. Und nun kommt ein Fürst aus dem Herrenhause und gibt zu Protokoll, dass wir, dass die deutschen Heere besiegt sein werden, wenn die flandrische Küste nicht zu Deutschland gehören wird! Ah, wir anderen glauben, dass der Anspruch der deutschen Heere auf den Siegeslorbeer nicht davon abhängt, ob dieser oder jener Annexionistentraum sich erfüllt. Wir glauben, dass diesem Volksheer, das seit zwei Jahren keine Ruhe, aber jede Art von Gefahren kennt, unter allen Umständen unvergleichlicher Ruhm gesichert ist. Auf allen Seiten stürmt der Feind. Auf allen Seiten stellen sich die deutschen Soldaten ihm entgegen, und wir können auch an diesem zweiten Jahrestag nichts tun, als sie lieben und mit unseren Gedanken und Sorgen bei ihnen sein. Wer täglich die Presse der Feindesländer und die Reden der Minister dort verfolgt, könnte den Eindruck haben, der Frieden sei ferner als je zuvor. Vieles davon ist Fassade, Schaugericht, Täuschung und Selbsttäuschung, aber der Weg von solcher Ueberhitzung zur kühlen Vernunft würde selbst nach einer Willensänderung nicht ganz schnell zurückgelegt. Wenn eines Tages die Männer, die jetzt noch draussen kämpfen, zu uns heimgekehrt sein werden, dann wird sich zeigen müssen, ob es nicht Mittel zur Sicherung politischer Beständigkeit, zur Ueberwachung des Schicksals und der Schicksalmacher gibt. Die Heimkehrenden werden mehr, oder noch mehr, als die Daheimsitzenden gelernt haben, und darum rechnen wir auf sie. Aber in allen Ländern, und nicht etwa nur bei uns, muss ganze Arbeit gemacht werden, denn mit Flickarbeit, mit noch einem Ausschüsslein, wäre nicht viel getan. Und nachdem die Furchtbarkeit der Ereignisse für immer die Poesie von der Frischfröhlichkeit der Kriege beseitigt hat, ist vor allem notwendig, dass man der bequemen Theorie von der Unvermeidlichkeit der Kriege ein Ende macht.

 

Am 15. November wurde die Einführung der Zivildienstpflicht bekanntgegeben und es wurde das neue Kriegsamt geschaffen, an dessen Spitze Generalleutnant Gröner trat. Ueber die Schweiz kam die Meldung, dass Wilson einen Versuch zur Friedensvermittelung machen wolle, was sich genau vier Wochen später als richtig erwies.

20. November 1916

... Inzwischen ist die Welt nicht glücklicher geworden, die Furchtbarkeit dieses Krieges ist weiter zu technischer Vollendung gereift, der Blutdunst lagert immer dichter über der Menschheit, immer mehr Lebenskräfte werden zermalmt. Wenn jetzt die Zivildienstpflicht eingeführt wird, erscheint das nur als eine winzige Belastung, verglichen mit den Nöten dort draussen, und niemand sollte sich einfallen lassen, diesen gefahrlosen Heimdienst in eine Reihe mit dem Opferdienst des Schützengrabens zu stellen. Die Bedenken und Bedingungen, die man vorbringen kann, richten sich nicht gegen den gerechten und einwandfreien Grundgedanken des Planes, sondern gehen allein die Ausführung an. Eine Arbeitsverpflichtung der Gesamtheit darf nicht zu einer neuen Bereicherung der im Kriegsgewinn schwelgenden Unternehmer und Aktionäre führen, die Organisation darf nicht abermals ein Heer von Beamten und Beiräten beanspruchen, und endlich müssen auch diejenigen gefasst werden, deren Behagen bisher durch keinen Kriegsjammer gestört worden ist. Als ich mir erlaubte, zu sagen, dass die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie spätestens nach dem Kriege gefordert werden müsse, ertönte sofort wieder der Schmerzensschrei, das würde die Schutzmauern des Staates unterhöhlen, und nur der private Wetteifer habe die notwendigen Leistungen erzeugen können und erzeugt. Wen will man glauben machen, dass die Herstellung von Waffen und Munition geringer gewesen wäre, hätte man schon im Frieden einen Mann wie den General Gröner mit der Leitung und Ueberwachung betraut? Was das neue Beamtenheer betrifft, darf man wohl hoffen, dass es nicht unmässig in die Breite schwellen wird. Die deutsche Bevölkerung besteht aus zwei Arten von Individuen, aus denjenigen, die organisieren, und aus denjenigen, die man organisiert, und der Andrang ist gross zu der Kategorie, welche die Arbeit ausgibt und verteilt.

Eine alte Lieblingsidee würde manchem in Erfüllung gehen, wenn endlich auch die Personen getroffen werden sollten, die für den Krieg nur schwärmen, solange sie nicht direkt beteiligt sind. Es ist ja überraschend, dass die Männer, die mit der Lunge und mit der Feder, lyrisch und in ungebundener Sprache so viel Heroismus von sich geben, nicht sogleich samt und sonders bereit waren, die Tat dem Worte vorzuziehen. Theodor Körner wird unvergänglich im Volksbewusstsein leben, denn er nahm Leyer und Schwert. Nicht wenige Kampfapostel unserer Tage veränderten die Devise in »Leyer oder Schwert« und wählten entschlossen das erstere Instrument. Während man dem letzten Juden nachspürt, sehen wir, dass mancher noch stämmige Barde, der sich einer besonderen Cheruskerseele rühmte, nur vom Schreibtisch oder von der Bierbank aus zum Kampfe ruft. Den Heldentod starb, mit unzähligen stillen, bescheidenen, treuen Unbekannten aus allen Klassen und Konfessionen, der »kosmopolitische« Pazifist Ludwig Frank. Aber nichts, was zur Menschennatur gehört, ist erst ein Erzeugnis der Gegenwart, und wer heute die »Acharner« des Aristophanes liest, findet in dieser Komödie, die das Volk Athens vor den kriegsverlängernden Worthelden warnen soll, mehr als eine noch unter uns wandelnde Gestalt. Es gibt da schon die Aufschneider, die beim Kriegsbeginn eine ehrenvolle Sicherheit suchen, sich »in die Kammern« stecken lassen, oder »für drei Drachmen Lohn des Tags«, in Mission nach Thrazien gehen. Und es gibt den unzufriedenen Dikaiopolos, der sie fragt: »Warum bekommt nur ihr die fetten Posten, sonst kein Mensch?«

Aber wir sind mit der Zivildienstpflicht – falls sie nicht nur auf eine Umgruppierung der schon Arbeitenden und auf einen noch stärkeren Gewinn der schon Gewinnenden hinauskommt – besonders auch deshalb einverstanden, weil solche höchste Steigerung der Anstrengungen die Wiederkehr des Friedens beschleunigen muss. Die anderen Völker werden, soweit sie das können, auf diesem Wege zu folgen versuchen, und selbst die Rabiatesten, Hartnäckigsten werden ihre Kriegspläne einpacken müssen, sobald man an dem Punkte stehen wird, wo die Zahl der Möglichkeiten sich erschöpft. »Il faut une réplique« schreibt der »Temps«, und er fordert, dass die Alliierten der in ihrer Kraft und Methode vorbildlichen deutschen Zivilmobilmachung eine ebenso energische Tat gegenüberstellen. Gustave Hervé verlangt die Nachahmung der deutschen Idee, die »weder verrückt, noch ohne Grösse« sei, der Sozialist Renaudel sagt es ebenso, und der Royalist Jacques Bainville in der »Action Française« sagt es ähnlich, »einen wie grossen Widerwillen diese allgemeine Kasernierung den Völkern auch einflössen mag«. Bereits schliesst man in Paris die Läden um sechs, obgleich die Coiffeurs und die Barbiere, die Mieter und die Vermieter protestieren, und in allen Geschäften, Cafés und Restaurants darf nur noch die Hälfte der elektrischen Lämpchen glühen. Wir wissen nicht, was uns noch bevorsteht, aber wir werden jeder Einschränkung zustimmen, wenn sie der Abkürzung des Krieges dient. Und je mehr das Hinterland, das nirgends bisher das ungeheure Kriegsleid gebührend mitträgt, süssen Gewohnheiten entsagen muss, desto gewaltiger wird nach dem Kriege aus allen Völkern sich der Schrei nach Frieden erheben, von dem Herr v. Bethmann Hollweg neulich gesprochen hat. Dann wird in allen Völkern eine unwiderstehliche Bewegung nach Garantien drängen, durch die ein neues Massenmorden verhindert werden kann. Schiedsgerichte und internationale Abmachungen sind notwendig, aber doch nur wirksam, wenn in allen Ländern für ihre Wirksamkeit die richtige Grundlage, die richtige Atmosphäre geschaffen wird. Vorteil, Privilegien und Verdienst der einzelnen im Kriege müssen fortfallen, eine lückenlose Kontrolle, die nur durch einen wirklichen Parlamentarismus zu erreichen ist, muss mit dem System der » vollendeten Tatsachen« aufräumen und auch Mittel müssen gefunden werden, um dauernde Aufreizung zum Völkerhass vor ein Tribunal zu ziehen.

Aus Amerika und aus der Schweiz ist in diesen Tagen gemeldet worden, der Präsident Wilson und andere Neutrale planten eine Vermittelungsaktion. Schon vor seiner Abfahrt nach New York sprach der Botschafter Gerard zu seinen Bekannten von einem gerade eingetroffenen Briefe, der auf solche Absichten hinzudeuten schien. Nach den Reden des Reichskanzlers weiss alle Welt, dass Deutschland Verhandlungsvorschläge nicht ablehnen würde, und wenn diese Reden leider noch immer allerlei Deutungen zuliessen, so scheidet wenigstens der Gedanke an eine Annexion Belgiens aus. Es ist anzunehmen, dass man auch bei dem Besuche des Baron Burian in Berlin nicht nur von der polnischen Gegenwart, sondern dazwischen ein wenig auch von der europäischen Zukunft gesprochen hat. Das alles aber darf einstweilen nicht überschätzt werden, denn wenig Tatsachen zeugen von Friedensneigungen der Gegenseite, und der russische Kriegsminister versichert unter dem Beifall der Duma, dass Deutschland schon halb geschlagen und an ein Nachgeben Russlands nicht zu denken sei. Erst muss anscheinend die letzte der Möglichkeiten so ausgeschöpft werden, dass kein Opfer mehr gebracht werden kann, keine Qual mehr übrig bleibt. Nur das ist überflüssig, dass die Eroberer im Lehnstuhl, die niemals eine andere Politik kannten als den Tritt in den Bauch, der Menschheit eilig verkünden, sie könnten diesen oder jenen Friedensstifter nicht akzeptieren, denn er errege ihr Misstrauen und sein Gesicht gefalle ihnen nicht Das Gesicht des Herrn Wilson sieht keineswegs so aus, wie der Zeichnerwitz es darzustellen liebt. In den schon erwähnten »Acharnern« des Aristophanes macht der verständige Dikaiopolos für sich und die Seinigen Frieden mit den Spartanern und wird deshalb von allen Kriegsschreiern Athens als »Landesverräter« gescholten und mit Steinigung bedroht. Er legt in kluger Rede seinen Landsleuten dar, dass Sparta nicht alle Schuld trage, dass sie selber mit aufreizenden Worten und Taten manchen Fehler begangen hätten, und zieht sich, von dem Maulhelden Lamachos, der den Schild mit dem Haupte der schlangenhaarigen Gorgo schwingt, vertrieben, auf sein Landgut zurück. Dort geniesst er seinen Frieden, treibt Handel, häuft Speisen und Früchte, labt sich, während Athen hungert, an Lebkuchen, Krammetsvögeln, Krapfen und Magenwurst. Allmählich schleicht ein Athener nach dem anderen heran und bittet um einen kleinen Friedensschluck. Wir sind wahrhaftig nicht wie diese Athener; was dort leichtes Spiel war, ist hier schwerer Ernst, Lasten und Entbehrungen werden anders ertragen als in der damals längst schon von ihren Göttern verlassenen Stadt. Aber wenn wir auf die Lebkuchen gern verzichten, so ist es doch bedauerlich, dass kein Aristophanes uns die Wortathleten vom Halse schafft.

 

Herr v. Jagow, bis dahin Botschafter in Rom, wurde im Januar 1913, gegen seinen Wunsch, als Nachfolger des verstorbenen Kiderlen-Waechter zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes ernannt. Ziemlich am gleichen Tage, an dem er dieses Amt verliess, wurde in Petersburg Herr Stürmer beseitigt, der als Mittelpunkt der Friedensbestrebungen galt.

27. November 1916

Herr Gottlieb v. Jagow verlässt freiwillig das Auswärtige Amt. Herr Zimmermann siedelt aus dem bescheidenen Bureau in das grosse Arbeitskabinett des Staatssekretärs hinüber und gelangt von der Hofseite an die Wilhelmstrassenfront. Zum erstenmal richtet in diesem würdigen Raum ein Bürgerlicher sich ein. Und dieser Ausnahmemann kam nicht durch eine Glanztat, sondern in stetigem Aufsteigen auf der Leiter, durch eine Geschäftskenntnis, die ihn unentbehrlich erscheinen liess, und durch eine gewisse optimistische Frische, die von manchem als ein Stärkungsmittel empfunden wurde, ans Ziel. Obgleich der Unterstaatssekretär eigentlich nur die Aufgabe hat, die täglichen Mitteilungen entgegenzunehmen und dem Staatssekretär das Material vorzubereiten und zu sichten, nahm Herr Zimmermann in diesen Jahren bereits sehr stark an den politischen Entscheidungen teil, und die fremden Diplomaten suchten ihn, der immer sehr beschäftigt war, und immer Zeit zur Unterhaltung hatte, mit Vorliebe auf. Jetzt ist es ganz selbstverständlich, dass der Diener die ja gegenwärtig nicht sehr zahlreichen Botschafter und Gesandten, die in dem grossen Vorzimmer warten, zu ihm führen wird. Dort, in diesem Vorzimmer, sassen in den Schicksalstagen des Sommers 1914, als die Staatskunst sich in den Engpass verrannt hatte, die Vertreter der Mächte, harrend, schweigend oder doch nur flüsternd, weil bereits der eine in dem anderen den Feind seines Landes sah. Der alte Botschafter Oesterreich-Ungarns, der längst schon unter der Erde ruhende Graf Szögyényi, grübelte auf dem Sofa neben dem nun auch verstorbenen Grafen Taube und sagte bekümmert: »Woher soll die rettende Formel noch kommen? Ich glaube nicht mehr daran.«

Was dem Auswärtigen Amt, und was dem ganzen Regierungssystem zunächst fehlt, ist das, wovon man in Deutschland am meisten spricht, nämlich die Organisation. Es gibt in dem niedrigen Gebäude in der Wilhelmstrasse manchen gescheiten Mann, aber diese Männer sitzen oft nicht auf dem richtigen Platz, verwalten Gebiete, die ihnen unbekannt sind, und haben zu ihrer Unterstützung keinen sorgfältig ausgebauten Apparat. Wenn fortwährend geklagt wird, dieses Personal sei »exklusiv«, halte jeden Störenfried von der Tafelrunde fern, so ist diese Klage ja, der Himmel weiss es, nicht unberechtigt, erwähnt aber nicht einen Grundfehler, der in der unzureichenden Besoldung des diplomatischen Dienstes besteht. Den deutschen Botschaftern und Gesandten liefert nicht, wie den französischen Diplomaten, ein »Musée du Garde-Meuble« die schönsten Fauteuils und Tapisserien alter Schlösser, die Einkünfte sind beschränkt und mehr als einer setzt vom eigenen Vermögen zu. Will man nicht nur reiche Aristokraten oder Millionärssöhne nehmen, so muss man eine finanzielle Grundlage schaffen, die eine andere Auslese möglich macht. Und wer die Unkenntnis sieht, mit der so viel politisch schwätzende Leute die Verhältnisse und die Persönlichkeiten des Auslandes beurteilen, und Takt und eine von Aufdringlichkeit freie Weltgewandtheit nicht für entbehrliche oder alltägliche Eigenschaften hält, erkennt die Schwierigkeiten der Wahl. Im Auswärtigen Amt aber sollte man zunächst einmal die ganze Methode der Arbeitsteilung und Arbeitszuweisung einer Prüfung unterziehen. Der klügste Referent kann nicht mit Sicherheit über Länder referieren, in denen er niemals gewesen ist. Lässt es sich verstehen, dass man – und nicht etwa nur in Ausnahmefällen – in dem Geschäft des Deutschen Reiches dem Lapplandkenner auch zugleich das Referat über die Siouxindianer anvertraut? Auch Herr Zimmermann war früher, nachdem er Konsul in Kanton und in Tientsin gewesen war, Referent für Ostasien und den gesamten Orient, und nicht alle besitzen die Arbeitskraft, mit der er sich in Unbekanntes hineinzufinden verstand. Müsste dann nicht jeder, der ein Land, oder mehrere Länder, beurteilen soll, von einem Kreise gründlicher Spezialisten umgeben sein? Aber es gibt keine solche Einrichtung, und jeder Referent in der politischen Abteilung ist mit seinem Schmerz allein. Dazu kommt, dass die Arbeitsgebiete nicht immer scharf umgrenzt sind, dass der Unterstaatssekretär in das Gebiet des Staatssekretärs hineingerät, und der Reichskanzler manchmal das tut, was unter Umständen der Staatssekretär erledigen kann. Jetzt hat man sogar zwei Unterstaatssekretäre auf einmal ernannt. Doch die Vermischung der Befugnisse, gegen die nur ein Bismarck sich halbwegs schützen konnte, ist, wie gesagt, eine besondere Eigenschaft unseres Staatssystems. Es braucht beispielsweise kaum daran erinnert zu werden, dass auch im Frieden die Zivilgewalt vor allem, was als militärische Notwendigkeit bezeichnet wird, abzudanken pflegt.

In der nachbismärckischen Aera verwalteten nacheinander Freiherr v. Marschall bis zum Tausch-Prozess, Bülow bis zu seiner Erhöhung, Freiherr v. Richthofen bis zu seinem Tode, Freiherr v. Tschirschky bis zu seiner Versetzung nach Wien, und Freiherr v. Schoen bis zur Uebersiedlung nach Paris das Staatssekretariat. Nach der Schoen-Zeit bescherte Herr v. Bethmann Hollweg durch die Berufung des Herrn v. Kiderlen-Waechter denjenigen, die gern die Geste mit dem Gedanken verwechseln, einen sogenannten starken Mann. Ziemlich ein Jahrzehnt lang war unter den wechselnden Staatssekretären das deutsche Schicksal Herrn v. Holstein ausgeliefert gewesen, den man jetzt schamhaft einen Sonderling nennt. Als der nur durch die Unterlassungssünden der deutschen Politik ermöglichte Abschluss der französisch-englischen Entente die öffentliche Meinung in Deutschland erregte, arrangierte man die Fahrt nach Tanger, erzwang man das Zauberfest von Algesiras, um »das Prestige des Auswärtigen Amtes« wiederherzustellen. Dann kamen die alldeutsch Gesinnten, die diese ganze folgenschwere Tatenreihe von Fall zu Fall mit ihrem zustimmenden Jubel begleitet hatten, und hetzten, durch die versöhnliche Richtung der Aera Tschirschky-Schoen in grossen Zorn versetzt, alle politischen Schuljungen auf. Man hatte sie nur erheiternd gefunden, solange sie ihre professoralen Weltphantasien in kleinem Kreise einander mitgeteilt hatten, aber zur Heiterkeit war kein Anlass mehr, als sich mit ihnen, die im konservativen Lager immer auf Beistand rechnen konnten, ein einflussreicher Teil der Schwerindustrie verband. Seit langem wurde geklagt, die aristokratischen Herren des Auswärtigen Amtes verständen von den Wirtschaftsinteressen nichts, und in diesen zum Teil gewiss begründeten Klagen vergass man nur, dass die Gesamtpolitik des Deutschen Reiches, soll sie nicht auf das ärgste gefährdet werden, nicht in eine Abhängigkeit von einzelnen Interessen geraten darf. Die Affäre der Mannesmannschen Konzessionen, mit der man das Auswärtige Amt quälte, war nur ein Vorspiel zu der dann folgenden Entwicklung, in der bereits die Macht ungemein tüchtiger und ebenso herrschsüchtiger »Industriekapitäne«, die ihr Kapital in nie geahntem Masse mehren, Parteiorganisationen unterstützen, das Zeitungswesen zu beeinflussen streben und einen Staat im Staate bilden, äusserst fühlbar ward. Wie man nach der Verkündung der Entente cordiale durch die Politik von Tanger und Algesiras das Prestige des Auswärtigen Amtes wieder hatte auflackieren wollen, so erfand Kiderlen-Waechter, zur Neubelebung dieses Prestige, die Reise des »Panther« nach Agadir. Das Auswärtige Amt litt unter dem beklemmenden Gefühl, dass es nicht geliebt würde, und statt sich ein solides Gefüge zu geben und sich neuen Bedürfnissen anzupassen, träumte es gern von Popularität, suchte es von Zeit zu Zeit die vor dem Vorhang lärmenden Kraftanbeter zu befriedigen, indem es seine Muskeln sehen liess.

Wenn ein neuer Staatssekretär des Auswärtigen Amtes ernannt werden muss, wird nicht nur der Geist, sondern auch das Herz des Kandidaten geprüft. Es wird betont, der Staatssekretär müsse ein zuverlässiger Mann sein, sonst könne er hinter dem Rücken des Reichskanzlers allerhand Geschichten einfädeln und die Politik auf Wege führen, von denen der Reichskanzler sie zurückhalten will. Aber bei dieser Kandidatenprüfung spielt doch häufig auch der Gedanke mit, der Staatssekretär dürfe nicht einen Ehrgeiz haben, der noch höher strebt. Persönlichkeiten, die zu sehr wie Reichskanzlererben aussehen, richten leicht Verwirrung an. Herr Zimmermann, den übrigens Innerpolitisches wohl nie interessierte, besitzt, neben seinen anderen Qualitäten, die Eigenschaften unbedingter Zuverlässigkeit. Er ist in überraschendem Aufstieg vom Konsulatsdienst zu den höchsten diplomatischen Sphären gelangt, und zu anderen Sphären dürfte sein Sinn nicht gerichtet sein. Wenn auch gerade von einem Bürgerlichen, der diese Entwicklung durchgemacht hat, am wenigsten eine Abschaffung von Privilegien erwartet werden kann, so wird doch Herr Zimmermann aus langer Erfahrungen vermutlich wissen, was dem Betriebe, den er leiten soll, fehlt. Vor allem aber wird er hoffentlich aus diesen reichlichen Erfahrungen die Erkenntnis gewonnen haben, dass Augenblickstadel und Augenblicksbeifall gleichgültig sind und dass noch erheblich höher als das Prestige des Auswärtigen Amtes das Schicksal des deutschen Volkes steht.

 

Die Note, mit welcher die Entente die Friedensnote Wilsons beantwortete, war ein sehr inhaltreiches Dokument. Die Ententeregierungen begehrten »die Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros, die ihnen geschuldeten Entschädigungen, die Räumung der besetzten Gebiete von Frankreich, Russland und Rumänien mit den gerechten Wiedergutmachungen, die Reorganisation Europas, Bürgschaft für ein dauerhaftes Regime, das sowohl auf die Achtung der Nationalität und die Rechte aller kleinen und grossen Völker wie auf territoriale Abkommen und internationale Regelungen begründet ist«. Es war in der Note ferner die Rede von der »Zurückgabe der Provinzen und Gebiete, die früher den Alliierten durch Gewalt oder gegen den Willen ihrer Bevölkerung entrissen worden sind,« von der »Entfernung des osmanischen Reiches aus Europa« und der »Befreiung der Italiener, Slawen, Rumänen, Tschechen und Slowaken von der Fremdherrschaft«. Erst mehrere Monate später erfuhr man, dass gerade in diesem Januar 1917 der französische Ministerpräsident Poincaré eigenmächtig, ohne Genehmigung des Parlamentes, mit der Zarenregierung einen Geheimvertrag abschloss, in dem sich unter den »Kriegszielen« auch die Lostrennung des linken Rheinufers vom Deutschen Reiche befand.

15. Januar 1917

Haben die Ententeregierungen ihren Völkern am Ende des langen blutigen Weges die riesenhafte Beute, die verteilten Reichtümer einer zertrümmerten Welt, die Juwelen erbrochener Schatzkammern gezeigt, weil solche Lockung für müde Seelen unentbehrlich schien? Die Pariser Zeitungen, von denen manche gewöhnt sind, ihren Erwerb durch abenteuerliche Mittel zu suchen, schwelgen im Vorgenuss einer so unübersehbaren Herrlichkeit. Aber das Beste bleibt doch die Versicherung, dass die Entente es als ihre heilige Aufgabe betrachte, all die verschiedenartigen Stämme Zentraleuropas zu befreien. Mit welchem feinen Lachen hätten jene alten Franzosen, die noch die Ironie richtig verwendeten, diese plötzliche Liebe für die Bewohner der fernen Donauufer begrüsst! Voltaire zum Beispiel, in dessen »Ingénu« einige Personen sich immer darüber wundern, dass der junge Hurone nicht in der Bretagne geboren und trotzdem ein menschliches Wesen ist. Oder Montesquieu, in dessen »Lettres Persanes« die Pariser ausrufen: »Ah, der Herr ist ein Perser! Wie kann man ein Perser sein!« In England, wo es Stil war, europäische Nationalitätenprobleme nicht zu beachten, und wo noch in den letzten Friedenstagen der politisch geschulte Sir Edward Grey immer wiederholte, dass nur die europäische Frage, nicht die serbische Frage ihn interessieren könne, schneidet man jetzt nach der bunten Karte nationaler Familienbeziehungen ein neues, phantastisches Europa zurecht. In Paris, wo jeder fremde Theaterdichter als lästiger Konkurrent ferngehalten wird, bringt man Trinksprüche auf die Slowenen und die ungarischen Rumänen aus. Es ist wie eine Parodie auf die Freiheitsparole der französischen Revolutionsarmeen, deren zähester Gegner Pitt, der Engländer, war. Aber es ist keine lustige Parodie, denn neuer Jammer, neue Todesschrecken, neue Berge von Leichen bilden den Hintergrund, und weinende Frauen, Mütter und Kinder füllen die Zuschauerbank.

Die Ententemächte bieten von Zeit zu Zeit auch uns ihre Befreierhilfe an. Sie wollen uns bekanntlich vom Militarismus befreien. Der Minister Henderson hat neulich gesagt, der deutsche Militarismus habe sich herausbilden können, weil in Deutschland die Armee nicht in der ihr gebührenden Stellung gehalten worden sei. Die deutsche Militärmacht müsse entweder von einer Regierung, »die auf moralische Grundsätze angemessene Rücksicht nimmt«, wirksam kontrolliert werden, oder die Entente müsse durch Zertrümmerung des deutschen Militärkolosses der Gefahr zu Leibe gehen. Nichts ist gewiss übler und unmännlicher, als wenn jetzt auch sogenannte Liberale in Deutschland, die vor dem Kriege über die Aeusserungen des Militarismus sehr viel sagten und schrieben, sich stellen, als hätten sie diese Erscheinung nie gekannt. Es gehört zu den kleinen Mitteln solcher Charakterschwäche, Heer und Militarismus zu verwechseln und das, was man ehemals bekämpfte, mit dem zu vermischen, was in so überreichem Maasse sich ein ewiges Anrecht auf unseren Dank und unsere Bewunderung gesichert hat. Dass in der Organisation, im Bau und in der Verfassung des Deutschen Reiches eine tiefgreifende Aenderung vorgenommen werden muss, sehen heute auch viele ein, die weit rechts von uns stehen. Der Obrigkeitsstaat, um das Wort Richard Wittings zu gebrauchen, hat sich gründlich überlebt. Es ist unmöglich, dass die Männer, die das Schicksal des deutschen Volkes leiten sollen, fernerhin ohne Mitwirkung der Volksvertretung kommen oder gehen und fix und fertig sich präsentieren, wie die Venus den Salzwogen entsteigt. Es ist unmöglich, dass man Entscheidungen über Glück und Zukunft der Nation, der grossen Allgemeinheit und der einzelnen, auch fernerhin ohne Kontrolle, ohne Befragung des Parlamentes, hinter irgendwelchen verriegelten Türen fällt. Dieses olympische System muss dem parlamentarischen System weichen, die Volksvertreter müssen an der Regierung und an der Verantwortung teilnehmen, nicht immer nur verantwortungsfreie Nachtischredner sein. Wie in allen anderen Staaten, muss das Parlament, indem es der Weg zu wirklicher Macht wird, die Tatkräftigen und Talentvollen heranziehen, die politische Begabung entwickeln, und dann, so umgewandelt, endlich die Stellung einnehmen, die ihm in jedem anderen Kulturlande der Erde längst wie etwas ganz Selbstverständliches gehört. Nur die Privilegienbesitzer und die tatscheuen Vertagungspolitiker können behaupten, diese innere Neueinrichtung dürfe nicht während des Krieges geschaffen werden, habe heute nur eine geringe Wichtigkeit. Man sollte endlich einsehen, dass die dem Deutschen Reiche eine ganz neue Situation schaffen würde, dass sie mit Krieg und Frieden eng verbunden ist.

Aber welch ein Irrtum ist es, wenn die Freiheitsapostel der Entente glauben, dieses deutsche Volk werde sich von auswärts her kurieren lassen, werde seine Reformen vom fremden Schneider beziehen! Die im Auslande tausendmal geäusserte Ansicht, dass man in Deutschland die Psychologie anderer Völker nicht begreife, ist keineswegs unbegründet, aber sind diejenigen, die dem deutschen Volke die Freiheit zugleich mit der Unterwerfung diktieren wollen, Meister in der Psychologie? Wann hätte je ein Volk, das eine eigene grosse Geschichte besitzt, ein aufgezwungenes, von Fremden gezimmertes Regime ohne Abneigung gesehen? Wann hätten Parteien, die ein solches Regime hinnahmen und von ihm profitierten, etwas anderes als allgemeine Missachtung und schnellen Sturz erlebt? In der Verfassungskommission, die nach dem Fall Napoleons das legitime Königtum zurückrief, sassen ausser dem Grafen Nesselrode, dem Vertreter des Zaren Alexander, nur Franzosen, und weder Castlereagh, noch Metternich, noch Hardenberg nahm an den Beratungen teil. Aber niemals konnten die Bourbonen das untilgbare und schliesslich tödliche Spottwort abschütteln, dass sie »dans le fourgon de l'étranger«, im Gepäckwagen des Auslandes, zurückgekehrt seien. Und welch ein Wahn, dass man den Militarismus austilgen könnte, wenn es jemals gelänge, Deutschland so niederzuwerfen, zu zerstückeln und einzuschnüren, wie es die Entente in ihrer Karnevalsnote begehrt! Europa hätte von einem solchen Tage ab keine ruhige Stunde mehr. Das französische Revanchegefühl, das so störend erschien, wäre im Vergleich zu dem deutschen Vergeltungswillen nur ein blasser Trank. Der alldeutsche Bündlergeist gewönne, sobald er nicht mehr Weltherrschaft, sondern Wiederherstellung predigen würde, in allen Volksschichten eine ungeheure Werbekraft.

In der »Deutschen Tageszeitung« stand vor einer Woche ein schöner Artikel, der »Unterhändler-Ueberwinder« betitelt war. Wie man sich denken kann, wurde über die lendenlahme Gattung der Unterhändler allerlei Abfälliges, über das Edelgeschlecht der Ueberwinder sehr viel Rühmendes gesagt. Es wurde versichert, in den zwei Worten sei »der nie rastende Streit zwischen dem Krämerhaften und dem Heldenhaften, zwischen dem Sophistischen und Wahrhaftigen, zwischen undeutschem und deutschem Wesen« ausgedrückt. Danach wären Napoleon, der immer weiter überwinden wollte, und Lloyd George, der nicht unterhandeln möchte, deutscher als Bismarck, der jede der beiden Künste zur rechten Stunde übte und 1895 unter anderem erklärte, für »Eroberungs- und Renommierpolitik« seien »unsere Landwehren, unsere Familienväter nicht da«. Die Ueberwinder auf der Ententeseite, die noch nichts überwunden haben, begegnen sich mit jenen Vertretern des »Heldenhaften« und »Wahrhaftigen«, die bei uns vor dem Kriege das Erobererbanner schwangen und jetzt auf der Verwirklichung ihrer gewaltigen Wünsche bestehen. Aber bei der Entente führen die verantwortlichen Regierungen den Festzug der Tollheit, während bei uns die Staatsleiter die Sprache der Mässigung sprechen und die grosse Zahl der Verständigen die ewige Brandgefahr, die eine notwendige Folge der Vergewaltigungspolitik wäre, nicht verkennt. Jenem Geist entgegenzuwirken, den man Militarismus oder Pangermanismus nennt, hatten die Ententeregierungen in den Jahren vor dem Kriege manche Gelegenheit. Er ist gestärkt worden, als der Nationalismus in Frankreich neu erwachte, das Einkreisungsspiel verdächtige Formen annahm und russische Grossfürsten ihren Deutschenhass zur Schau trugen, wie er selber dann wieder das Kräftigungsmittel für das chauvinistische Gebaren der anderen gewesen ist. Indem die Regierungen der Ententemächte das Treiben der Pariser Giftblätter und ähnliches duldeten oder begünstigten, haben sie dafür gesorgt, dass der viel erwähnte Geist gedieh. Wenn sie jetzt, unter dem Vorgeben, den Militarismus, die alldeutschen Burgen und die reaktionären Mauern zu vernichten, die Vernichtung Deutschlands ankündigen, so beweisen sie nur, dass ihr Scharfsinn nicht auf der Höhe ihrer Raublust steht. Was könnte in allen Ländern Europas die Unruhestifter unschädlich machen, neue Aufreizung verhindern, die Völker wirklich befreien? Natürlich nur ein Frieden, der im Sinne des deutschen Angebotes und der Wilsonschen Note keine Unterdrücker und Unterdrückung duldet, keinen langen Zorn und keine unheilbare Erbitterung schafft. Für Lloyd George und Henderson, die an den wahren Lehren der furchtbaren Tragödie so blind vorbeitaumeln, passen die Worte, die ihr weiser Landsmann Dickens in den »Pickwickiern« den Vater Weller sprechen lässt. »Ob es der Mühe wert ist, so viel durchzumachen, um so wenig zu lernen, wie jener Waisenknabe sagte, als er mit dem Alphabet zu Ende war, das ist Geschmacksache – ich bin der Meinung, es ist nicht der Mühe wert.«

 

Am 31. Januar gab die deutsche Regierung den Vereinigten Staaten den Entschluss, von nun ab den Unterseebootkrieg ohne Einschränkung zu führen, bekannt. Kurze Zeit vorher hatte der Botschafter Gerard auf einem Bankett, das ihm zu Ehren gegeben wurde, die Meinung geäussert, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und Amerika nie während des Krieges so herzlich gewesen sei. Am 5. Februar teilte Wilson in einer Botschaft dem Kongress den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland mit. Gleichzeitig richtete er an die Neutralen die Aufforderung, dieses Beispiel zu befolgen, fand aber keine Zustimmung.

12. Februar 1917

Aus den Ententezeitungen ergibt sich, dass man am Morgen des 1. Februar in Washington, und auch in Paris und in London, etwas ganz anderes als die Ankündigung des unbeschränkten U-Boot-Krieges erwartet hat. Obgleich in Berlin sehr viele Personen genau wussten, was vorging, und in der zweiten Januarhälfte von Tag zu Tag die Entwicklung der Frage verfolgten, kamen nur unbestimmte Gerüchte über Genf ins Ausland, und Herr Gerard, der wohl von den U-Boot-Plänen gehört hatte, glaubte nicht daran. Es war in den Ententeländern bekannt geworden, dass der Hauptausschuss des Reichstages für den letzten Februartag einberufen worden sei und dass der Reichskanzler sprechen wolle, aber man nahm an, ein neuer Friedensschritt bereite sich vor. »Der Reichskanzler wird über Friedensfragen sprechen« stand am 1. Februar, im Augenblick der U-Boots-Ankündigung, über den Züricher Depeschen des »Matin«. Der »Times« wurde aus Washington gemeldet, Deutschland wolle sich mit dem »Frieden ohne Sieg«, den Wilson gewünscht hatte, einverstanden erklären, und das Londoner Blatt bemerkte, man müsse rechtzeitig zur Abwehr eines solchen »Manövers« gerüstet sein. Im »Figaro« vom 1. Februar schrieb Herr A. Fitz-Maurice, ein begnadeter diplomatischer Mitarbeiter: »Man wird noch einmal vom Frieden sprechen, und es ist in der gegenwärtigen Stunde vermutlich sogar schon geschehen. Wovon sollte Herr v. Bethmann Hollweg sonst gesprochen haben, als von dem hochherzigen Angebot Wilhelms II., das von seinen Feinden verbrecherischerweise abgelehnt worden ist?« Und Herr Fitz-Maurice goss die Schale seines Spottes auch auf das Haupt des Präsidenten Wilson aus, der gleichfalls »das Bedürfnis fühle«, neue Versuche zur Herbeiführung des Friedens anzustellen. Dieses Ereignis werde schon in kürzester Frist eintreten, denn Herr Wilson halte an seinen Ideen, und selbst an den aussichtslosesten, fest.

Es wird jetzt in Deutschland wieder häufig versichert, die Japaner würden, wenn Amerika mit uns Krieg führe, gewiss die Gelegenheit benutzen, gegen Amerika vorzugehen. Seit man, im August 1914, vor der japanischen Kriegserklärung, jeden Japaner in den Strassen Berlins umarmte und als sicheren Freund bejubelte, ist man immer wieder zu dieser japanischen Phantasie zurückgekehrt. Herr Motono, der neue Minister des Aeussern, hat am 23. Januar im Parlament zu Tokio eine Rede gehalten, die in der üblichen Weise alle Probleme der Gegenwart behandelt hat. Er hat von dem Triumph der Gerechtigkeit gesprochen, der diesen Krieg beenden müsse, und hat – mit jener ruhigen Unlogik, die den Staatsmann auszeichnet – behauptet, von dem Siege der Alliierten hänge die Sicherheit Ostasiens ab. Der Umstand, dass in der Note, mit welcher die Alliierten den Wilsonschen Friedensvorschlag beantworteten, die zukünftige Verteilung der deutschen Kolonien nicht unter den Kriegszielen erwähnt worden sei, habe in Japan einiges Aufsehen erregt. Aber die Note habe »nicht alle Friedensbedingungen der alliierten Mächte« enthalten, die japanische Regierung habe »alle Massregeln ergriffen, um die Rechte Japans zu sichern«, und es bestehe darüber zwischen ihr und den anderen Alliierten vollbefriedigende Einigkeit. Mit Amerika seien die Beziehungen durchaus freundschaftlich und »leichte Wolken« habe man im allgemeinen bald verscheucht. Es gebe »gewisse Fragen, in denen die beiden Regierungen nicht übereinstimmen können«, aber wenn man »loyal und ehrlich, mit dem Wunsch nach einer freundschaftlichen und versöhnlichen Lösung« an sie herantrete, werde eine Verständigung bestimmt zu erreichen sein. Ich hatte das Vergnügen, Herrn Motono zu kennen, als er, während des Russisch-Japanischen Krieges, in Paris Botschafter war. Der rundgeschnittene schwarze Bart, der sein gleichfalls rundes, von einer grossen Brille vergittertes Gesicht umrahmte, ist inzwischen vermutlich etwas angegraut. Sein intimster Freund war Finot, der Revue-Herausgeber und Soziologe, der zu der heute verbotenen Gattung der Europäer gehörte und damals nur gegen Russland einen Hass in der Seele trug. Motono nickte beifällig und ging dann als Botschafter nach Petersburg, wo er die immer engere Annäherung zwischen Japan und Russland betrieb. Seine Ministerrede ist nicht bindender als sein Kopfnicken und hat ungefähr den Wert, den jede offiziöse Wahrheit in Asien und in Europa besitzt. Immerhin darf wohl gesagt werden, dass wenig zu den Erwartungen berechtigt, mit denen mancher in Deutschland immer wieder nach Japan hinüberblickt. Das Bündnis mit Japan konnten wir haben, wie noch mancherlei anderes auch. Aber jeder einigermassen politisch denkende Mensch muss verstehen, dass ein Bündnis mit Japan ausgeschlossen blieb, wenn wir nicht bereit waren, entweder mit Russland oder mit England zusammenzugehen. Die Einigung mit einer der beiden in Ostasien dirigierenden Europamächte war eine selbstverständliche Vorbedingung und alles Weitere hing davon ab. Niemals konnte Japan daran denken, sich einem Deutschland zu verbünden, das gleichzeitig mit England und mit der russisch-französischen Gruppe auf unvertrautem Fusse stand. Der Weg nach Japan über Russland war nur möglich, wenn wir zuerst die Marokkodinge anders behandelten und dann auf eine Politik verzichten wollten, deren Friedensperiode mit der Entsendung der deutschen Militärmission nach Konstantinopel und mit der Unterstützung des österreichischen Ultimatums an Serbien schloss. Die Entente mit Japan und England wurde uns in den Jahren 1901 und 1902 angeboten, der Graf Hayashi wünschte sie, wie er in seinen Memoiren erzählt, und wie einige auch sonst schon wussten, sehr dringend, ein Abkommen mit Tokio wäre, nach einer Verständigung mit London, auch noch später zu erreichen gewesen, aber das Schicksal – oder wie man diese Leute sonst nennen soll – hat es nicht gewollt.

Herr Alfred Capus erklärt im »Figaro«, der Entschluss des Präsidenten Wilson, mit Deutschland zu brechen, habe in Frankreich »die Atmosphäre geändert« und die öffentliche Meinung wieder ins Gleichgewicht gebracht. Aus seinen Bemerkungen sieht man, dass dieses Gleichgewicht nach dem deutschen Friedensangebot und der ablehnenden Ententenote bedenklich geschwunden war. »Man vernahm,« sagt er, »in den Winkeln gefährliche Fragen, wie diese: was für ein Frieden wird aus diesen Wirren hervorgehen, und wann wird man ihn sehen?« Es war notwendig, fügt er hinzu, die Ausbeutung solcher Ideen schnell aufzuhalten, denn sie wurde »mit einer wahren Wut« besonders in den politischen Kreisen fortgesetzt. Dieses Stimmungsbild, das den Pariser Seelenzustand am Vorabend der neuen Wendung zeigen soll, ist gewiss zutreffender als dasjenige, das der Züricher Korrespondent des »Matin« von der gegenwärtigen Stimmung des deutschen Publikums entwirft. Er berichtet, die Ausbrüche des Hasses gegen Amerika seien wild und ungeheuerlich. Welchen Zwecken solche Schilderungen dienen sollen, ist wohl auch dem kindlichsten Gemüte klar. Darum sollte man achselzuckend jeden meiden, der Politik mit kraftschwülstigen Phrasen betreibt. Erfreulicherweise hat man in Deutschland die Kunde aus Washington zumeist ohne äussere Zeichen der Erregung aufgenommen und – von den Grosssprecherischen, Gedankenlosen und Abgestumpften ganz abgesehen – eine sehr vernünftige Haltung bewahrt. Unbeirrt durch ein immerhin ausserordentliches Ereignis, geht in Berlin jeder, wenn er nicht gerade wartend vor irgendwelchen Geschäften steht, seinen Geschäften nach. Wer nicht den täglichen Sorgenfaden abspinnen muss, ist mit ungleichem Glück bestrebt, hohe Aufgaben im Dienste der Allgemeinheit zu erfüllen. Damen des konservativen Adels lassen sich in illustrierten Zeitungen abbilden, wie sie, mit der Schneeschaufel in der Hand, für die Säuberung der Wilhelmstrasse – warum gerade der Wilhelmstrasse? – entschlossen tätig sind. Andere Personen von Rang und Stand vereinigen sich zu allerhand Komitees. Künstler und Gelehrte, die einen Bund gegründet haben, suchen für diesen Bund rastlos einen Zweck. Da ein Wirken im Interesse der Allgemeinheit nun einmal notwendig erscheint, werden, trotz der Papierknappheit, allwöchentlich schön ausgestattete Zirkulare mit vielen darauf gedruckten Worten verschickt. Ein hochbegönnerter Ausschuss wirbt auf herrlich ausgestatteten Druckbogen für eine Vereinigung, die durch Einführung einer neuen Atmungsmethode eine allgemeine Ertüchtigung erzielen will. Im Hintergrunde trägt ein wunderbares Volk Opfer, Sorgen, Leiden und Lasten mit einer beispiellosen ruhigen Kraft. Im Vordergrunde äussert sich der Kraftüberschuss bei den Berufenen in der unermüdlichen Abfassung von Vorschriften und bei den Unberufenen in einem umherschweifenden Betätigungsdrang.

Wenn die Gegner meinen sollten, wir seien nervös, seien durch den Ansturm einer ganzen Welt, oder zweier Welten, aus unseren Gewohnheiten herausgerüttelt, dann sollte man ihnen die Bekanntmachungen des Berliner Polizeipräsidiums vorhalten, die in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vom 7. Februar erschienen sind. Diese Bekanntmachungen, die sich auf den Strassenverkehr und ähnliches beziehen, füllen achtzehn Spalten, von denen eine jede einhundertundzweiundsechzig Zeilen umfasst. Vieles, was dort angeordnet wird, entspricht unbestreitbar den Notwendigkeiten und ist zu unserem Nutzen und Frommen erdacht. Es ist begreiflich, dass vor Schlächterläden und Gastwirtschaften »an Stelle der bei herkömmlicher Gelegenheit herausgehängten oder herausgestellten Stühle mit weisser Schürze« zwar »weisse Fähnchen von höchstens 50 Zentimeter Länge und Breite ausgesteckt werden« dürfen, dass sie aber nicht mehr als 1 Meter über die Bauflucht vorragen, mindestens 60 Zentimeter vom Fahrdamm zurückbleiben und mit ihrer Unterkante mindestens 2,20 Meter über der Strassenoberfläche schweben sollen. Fragwürdiger wird manchem die neue Vorschrift erscheinen, wonach der zusammengefegte Schnee, selbst in Strassen ohne den bescheidensten Wagenverkehr, jetzt auf dem Fussgängerwege angehäuft wird. Muss die schon dünner bestiefelte Menschheit jetzt nicht mitunter in das hineingeraten, was man früher die Sauce nannte und was jetzt die Tunke ist? Das Ueberschreiten des Fahrdammes durch Fussgänger soll »auf dem kürzesten Wege, also rechtwinklig zum Bürgersteige geschehen«. Es empfiehlt sich, »den Strassendamm nicht an jeder beliebigen Stelle, sondern tunlichst nur an den Strassenkreuzungen zu überschreiten«, wo doch aber bekanntlich die Gefahr, überfahren zu werden, am ehesten besteht. »Das Ueberschreiten des Fahrdammes soll in beschleunigtem Schritt, jedoch ohne hastige Eile geschehen, derart, dass dem Fahrverkehr noch volle Beachtung geschenkt und erforderlichenfalls sofort haltgemacht werden kann.« Hat man nicht ein Recht zu sagen, dass das alles einen guten Begriff von der Unerschütterlichkeit unserer Verhältnisse gibt? Von rechts her sind wir jetzt durch die Militärbehörden reglementiert und von links her durch die Zivilgewalt, so dass uns gar nichts mehr fehlt. Wie Anzengrubers Steinklopfer sagt: »Es kann dir nix g'schehn.« Draussen tobt ein Weltkrieg, wie nie einer getobt hat, und jenseits des Ozeans droht uns Amerika. In gefestigtem Gleichmass, das kleinste Detail unseres geistigen und leiblichen Wohles bedenkend, geleitet man uns, an der Strassenkreuzung, fürsorglich über den Damm.

 

Es ist hier natürlich nur ein ganz geringer Teil, nur eine winzige Auslese, der Kriegsorganisationen zusammengestellt. Für Bastfasern und Abfälle wären beispielsweise siebzehn Gesellschaften, Ausschüsse, Kommissionen, Amtsstellen und Zentralen zu nennen.

19. Februar 1917

Der am Donnerstag wiederkehrende Reichstag wird die neuen Steuervorlagen vorfinden, deren Ertrag das Jahresdefizit decken soll. Es handelt sich nur um eine Milliarde zweimalhundertundfünfzig Millionen Mark, nur um das Defizit im ordentlichen Etat und nur um eine Kleinigkeit. Man wird die Kohle besteuern, die zu einem seltenen Genussmittel geworden ist, und will die Eisenbahntarife weiter erhöhen. Ausserdem wird ein Zuschlag zur Kriegsabgabe begehrt. Diese Kriegsabgabe war das unmoralische Resultat des sehr moralischen Gedankens, den Kriegsgewinnern, den grossen Kriegsprofitierern, einen Teil des Reichtums abzufordern, der in dieser Zeit der ungeheuren Opfer in ihre Behälter rinnt. Man behandelte jeden bescheidenen, am eigentlichen Kriegsverdienst unbeteiligten Sparer, jeden Familienvater, der durch emsiges Haushalten sein Vermögen schützte, und sogar jeden, der zehn Prozent verlor, ganz ebenso, wie die Dividendenfürsten, und schor die magere Tugend genau so wie die fette Zufriedenheit. Unter dem Eindruck dieser Massregel hat die Tugend leider vielfach ihre Widerstandskraft eingebüsst. Zahlreiche Leute fanden die Sparsamkeit nicht mehr reizvoll und wurden, ärgerlich oder fatalistisch, von einem grossen Ausgabebedürfnis erfasst. Die Gattinnen erhielten Pelzmäntel und Hüte von ungeahntem Umfang und allerlei Kleidungsstücke aus Spitzen und Battist. Wünsche, die nie die Grenze des Traumlebens überschritten hatten, wurden plötzlich erfüllt. Im Grunde könnte man mit gleichem Recht in jeder Vermögenssteuer eine Ursache zur Verschwendung sehen. Aber durch die Fassung der Steuerformel, durch das Hineingreifen in ganz bestimmte Jahresersparnisse wurde die Phantasie besonders erschreckt. In dem Bestreben, leichtsinnige Geldvergeudung zu bekämpfen und erziehlich zu wirken, hat neulich eine Behörde die Zettel mit Preisangaben aus den Schaufenstern verbannt. Aber mehr noch als die Betrachtung des Preiszettels treibt die Betrachtung des Steuerzettels gedankenlose Menschen zum Geldausgeben an.

Es ist anzunehmen, dass sich der Reichstag dann auch wieder mit den Ernährungssorgen beschäftigen wird. Wir müssen schon zufrieden sein, wenn man uns am Ende solcher Debatten nicht noch mit einer neuen »Organisation« beglückt Vor einiger Zeit bat ich einen gediegenen Fachmann, mir zu sagen, welcher Ausschuss oder welche Kriegsgesellschaft in einer Frage, wo es sich um Brotgetreide oder Futtergetreide handelte, zuständig sei. Der Fachmann erwiderte, das wäre ganz einfach, und teilte kurz und gütig das Folgende mit. Es gibt zunächst die Reichs-Getreidestelle zur Bewirtschaftung des Brotgetreides, die Reichs-Futtermittelstelle zur Bewirtschaftung der Futtermittel, die Reichs-Gerstengesellschaft, die noch einmal die Gerste bewirtschaftet, und die Bezugs-Vereinigung deutscher Landwirte, die sich gleichfalls mit der Bewirtschaftung der Futtermittel befasst. Daneben bestehen der Kriegsausschuss für Ersatzfutter, der aus vorhandenen und eingeführten Rohstoffen Ersatzfutterstoffe herstellt, die Kriegs-Stroh- und -Torf-Gesellschaft, die aus Melasse Futtermittel anfertigt, die Hafer-Einkaufsgesellschaft, die besonders Nährmittelfabriken versorgt, und die Reichs-Verteilungsstelle für Nährmittel und Eier, welche die Herstellung von Griess, Graupen, Grützen und Haferpräparaten betreibt. Da heute Gerste auch als Brotstreckungsmittel dient, Hafer sich, wenn wir genug davon hätten, zu Haferpräparaten umwandeln liesse, Roggen ebenso wie die Gerste und der Hafer verfüttert werden kann und auch sonst immer das eine das andere ersetzt, könnte es überflüssig erscheinen, dass neben der Reichsgetreidestelle noch so viele andere Instanzen bestehen. Das würde aber den Prinzipien organisatorischer Kunst völlig widersprechen, und darum hat man neben den erwähnten Behörden noch einige andere eingesetzt. Es gibt nämlich auch eine preussische Landes-Futtermittelstelle, eine preussische Verteilungsstelle für Nährmittel und Eier, eine Reichs-Hülsenfruchtstelle und die Zentralstelle für Heeresverpflegung, die bei der Beschaffung von Futtermitteln mitzuwirken hat. Wenn man erwägt, dass ausserdem die Zentraleinkaufsgesellschaft die Einfuhr von Brotgetreide, Futtermitteln und Nährmitteln selbständig vornimmt und dann die eingeführte Ware den Reichsverteilungsstellen zuweist, so zeigt sich dem bewundernden Geiste der darbenden Zeitgenossen ein ebenso sinnreicher wie erfolgversprechender Apparat. Gewiss, die Not ist für manche noch recht beissend, und der kleine Junge, der neulich den Brotvorrat der abwesenden Familie aufgegessen und sich dann aus Furcht vor Strafe erhängt hat, war vielleicht nicht nur durch Charaktermangel auf den falschen Weg geführt. Aber man tut, was man kann, und ein Teil der Bevölkerung ist, dank den zahlreichen Kriegsgesellschaften und Futterstellen, zweifellos versorgt.

Zu Kartoffeln soll uns die Reichs-Kartoffelstelle verhelfen, neben der es eine nicht ganz begreifliche Trockenkartoffel-Verwertungsgesellschaft und eine Kriegsgesellschaft zur Verwertung der Kartoffeln aus den besetzten östlichen Gebieten gibt. Beim Zucker ist die Sache komplizierter, denn wir haben da eine Reichs-Zuckerstelle mit einer besonderen Verteilungsstelle für Rohzucker, noch eine Zuckerzuteilungsstelle für das deutsche Süssigkeitengewerbe, eine preussische Landeszuckerstelle, eine Stärkesirupzentrale und eine Kriegs-Rübensaftgesellschaft, die ebenfalls im Sirup tätig ist. Als ich den erfahrenen Fachmann fragte, wer für Obst und Gemüse »zuständig« wäre, nannte er mir zunächst die Reichsstelle für Gemüse und Obst, die Gemüsekonservengesellschaft, die Kriegsgesellschaft für Obstkonserven und Marmeladen, die Kriegsgesellschaft für Dörrgemüse, die Kriegsgesellschaft für Weinobsteinkauf und -verteilung, die schon erwähnte Kriegs-Rübensaftgesellschaft und die Kriegsgesellschaft für Sauerkraut. Er fügte hinzu, dass auch eine Kriegs-Gemüsebau- und Verwertungsgesellschaft sich genau den gleichen Aufgaben widme, mit denen eine Geschäftsabteilung der Reichsstelle für Obst und Gemüse sich plagt. Um eine Lücke auszufüllen, ist in Preussen auch eine Landwirtschaftliche Betriebsstelle für Kriegswirtschaft eingerichtet worden, welche die »landwirtschaftliche Erzeugung durch Unterstützung der Bewirtschaftung der besetzten Gebiete und durch Lieferung und Austausch landwirtschaftlicher Betriebsmittel und Erzeugnisse im Verkehr mit den besetzten Gebieten und den verbündeten Staaten« fördern soll. Um eine andere Lücke auszufüllen, hat der Reichskommissar für Uebergangswirtschaft sich eine Abteilung für Volksernährung angegliedert, obwohl schon das Kriegsernährungsamt das gleiche Gebiet bearbeitete und es also eigentlich gar keine Lücke war. Man stelle sich vor – wenn man kann –, dass für Leder, Bekleidungsindustrie und anderes ganz ähnliche umfassende Einrichtungen getroffen worden sind. Man stelle sich vor, dass in Berlin ausserdem mehrere militärische Behörden diesen volkswirtschaftlichen Fragen ein besonderes Interesse zuwenden, und dass bei zahlreichen anderen Behörden jetzt ein volkswirtschaftlicher Beirat den Geist der Wissenschaftlichkeit repräsentiert. Man vergesse nicht, dass natürlich auch die Ministerien und Reichsämter, sämtliche Amtsstellen, Kammern, Verbände und Ausschüsse, die vor dem Kriege existierten, flott weiterschaffen und nicht einen Augenblick ruhen. Man vergesse nicht, dass ein grosser Teil der wirklich verantwortungsschweren Arbeit von den Stadtverwaltungen geleistet werden muss. Und man male sich aus – wenn der Gedanke die genügende Schwungkraft besitzt –, dass alle diese Obrigkeiten und Durcheinanderwirtschaftsämter korrespondieren, Gutachten erteilen und einholen, Fragen, Rückfragen und Umfragen aussenden, sich über sieben Zwischenstationen hinweg unterhalten und mitunter auf einem ebenso einwandfrei begründeten wie verschiedenartigen Standpunkt stehen. Man wird dann, vor diesem grandiosen Bilde, begreifen, warum uns die Marmelade fehlt.

Herr v. d. Osten hat neulich im Abgeordnetenhause dem preussischen Geist und der preussischen Verwaltung eine unbegrenzte Huldigung dargebracht. Aus dem weiteren Verlauf der Debatte hat sich bereits ergeben, dass man unter dem preussischen Geist mancherlei und noch einiges verstehen kann. Vielleicht verkörpern den guten preussischen Geist in diesem Kriege ganz besonders diejenigen, die nicht fortwährend als seine Verkörperung auftreten, mit seinen Patentinhabern oft in Konflikt gerieten und dann, ohne Familienbeziehungen in Bewegung setzen zu können, sich selbst in Bewegung setzten und dort draussen weilen – oder bis zu ihrem Ende weilten –, wo man für die Heimat kämpft und stirbt. Es hat jetzt keinen Zweck, diese Fragen zu erörtern, und im übrigen sind sie ja durch den Burgfriedenszaun gegen eine gründliche Untersuchung geschützt. Ueber die Wirksamkeit der preussischen Verwaltung während des Krieges haben sachkundige Beobachter hoffentlich recht umfangreiche Notizen gemacht. Man wird daraus vermutlich ersehen, dass einzelne tüchtige, pflichttreue Männer Vorzügliches geleistet haben, dass aber das auf dem Assessorismus und der Kastengunst aufgebaute System ziemlich vollständig versagt und vor allem das Schlimmste, die ungleiche Verteilung der Lebensmittel, verschuldet hat. Indessen, zum preussischen Geist gehört wohl auch die preussische Sparsamkeit. Wird sie, von allen sonstigen Budgetseiten ganz abgesehen, bei diesen neunhundertneunundneunzig Wirtschaftsstellen wirklich gewahrt? Diese Organisation ist offenbar nicht ganz geeignet, jedem das Essen zu sichern, das er braucht. Was aber isst die Organisation selber auf? Wenn man durch die Strassen Berlins wandelt, bemerkt man, dass in den wohlhabenden Vierteln ein solches Bureau sich, häuserfüllend, an das andere reiht. Es wachsen die Räume, wie es bei Schiller heisst. Diese Ueberlegungen sind besonders nützlich in einem Augenblick, wo der Reichstag ein kleines Nebendefizit von einer Milliarde zweimalhundertundfünfzig Millionen Mark ausgleichen muss. Es ist sehr töricht, wenn brave und bisher haushälterisch veranlagte Familienväter jetzt, vom Steuerschrecken ergriffen, ihr Geld um sich herumwerfen, aber in noch höherem Masse haben die zahlreichen Autoritäten, die uns leiten sollen, die Pflicht zu weiser Mässigung. Vor jedem Zusammentritt des Reichstages liest man: »Wir erwarten, dass der Reichstag ...« und dann folgt, was alles erwartet wird. Wir erwarten ungefähr das, was man im Kriege von jemandem erwarten kann, der sich mit einem hölzernen Säbel begnügt.

 

Die amerikanische Geheimpolizei hatte das Chiffretelegramm aufgefangen und dechiffriert, das die Weisungen des Staatssekretärs Zimmermann an den deutschen Gesandten in Mexiko enthielt. Herr Zimmermann ersuchte darin den Gesandten, er möchte für den Fall eines deutsch-amerikanischen Krieges dem Präsidenten Carranza ein Bündnis vorschlagen und Herrn Carranza auch nahelegen, in Japan vermittelnde Schritte zu tun. Das Telegramm wurde in Amerika in dem Augenblick veröffentlicht, als das Repräsentantenhaus gerade vor der Abstimmung über die Bewaffnung der amerikanischen Handelsschiffe stand. 403 Abgeordnete stimmten für diese kriegerische Massregel, nur 13 lehnten sie ab.

5. März 1917

Irgendeine indiskrete Person hat das Schreiben, in welchem der Staatssekretär Zimmermann dem deutschen Gesandten in Mexiko seine Bündnisvorschläge entwickelte und die notwendigen Weisungen erteilte, unterwegs oder am Bestimmungsorte aufgefangen, und so kommt es, dass der Präsident Wilson eine Abschrift dieses Briefes besitzt. Ein Anlass zur Verwunderung über den Reiseunfall des streng geheimen Staatsdokumentes besteht, wenn man es recht erwägt, wohl nicht. Es werden aus der neuen Welt ja immer noch von Zeit zu Zeit die merkwürdigsten Dinge gemeldet, und der verstorbene Geheimrat Ludwig Max Goldberger hat Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten genannt. Aber die Möglichkeit, dass heute ein ganz vertraulicher Brief ungelesen von der Wilhelmstrasse bis nach Mexiko gelangen und auch dort noch vertraulich bleiben könnte, ist gewiss äusserst gering. Das Schreiben des Staatssekretärs war gerade für die amerikanische Regierung besonders interessant. Es wurde darin den Mexikanern, als Preis für ein Bündnis gegen Amerika, der Besitz von Neumexiko und Arizona zugesagt. War es, wie man versichert, ein amerikanischer Geheimpolizist, der das Schriftstück zu dem Präsidenten Wilson trug? Diese Leute sind häufig nach den besten Vorbildern geschult. Die meisten von uns kennen die mexikanische Seele nicht so genau, wie man sie hoffentlich in der Wilhelmstrasse kennt, und können darum nicht beurteilen, welchen Eindruck das aus der Ferne kommende Angebot von Neumexiko und Arizona auf sie gemacht haben mag. Aber ausgeschlossen ist es auch nicht, dass ein Mexikaner sich durch den verbrecherischen Gedanken hat verführen lassen, noch besser als Neumexiko und Arizona seien zehntausend amerikanische Dollar in bar.

Man kann sich mit der Tatsache trösten, dass seit Beginn des Krieges Geheimdokumente in Hände geraten, für die sie nicht bestimmt sind, und dass eben erst die »Norddeutsche Allgemeine« einen Privatbrief des Unterstaatssekretärs im englischen Auswärtigen Amte, des Lord Hardinge, an seinen »lieben George«, den Botschafter Buchanan in Petersburg, veröffentlicht hat. Lord Hardinge äusserte darin bekanntlich allerlei Herbes über die russischen Reaktionäre und über den rumänischen Ministerpräsidenten Bratianu, und er hatte auch nicht gemeint, den Brief an den Freund eines Tages im deutschen Amtsblatte wiederzusehen. Nach dem Einmarsch in Brüssel wurden die vergessenen diplomatischen Aktenbündel mit den Berichten der belgischen Gesandten entdeckt. Im Mittelmeer wurde ein Postsack geangelt, den die gefangenen englischen Kuriere über Bord geworfen hatten und der Athener Gesandtschaftsbriefe mit giftigen Bemerkungen über den Griechenkönig enthielt. Vor einer Woche trugen rätselhafte Einbrecher aus dem österreichischen Generalkonsulat in Zürich fünfzigtausend Goldkronen und sämtliche Papiere fort. In Amerika sind so viel deutsche Schriftstücke vom geraden Wege abgekommen, dass man dort, wenn man will, ein Manuskriptmuseum einrichten kann. In taktvoller und vorschriftsmässiger Zurückhaltung hat die deutsche Presse wenig von diesen Dingen erzählt. Gewissermassen als Austauschdokument wurde vor kurzem ein Schreiben des italienischen Botschafters Cuchi-Boasso in Tokio abgefangen, das eigentlich nach Rom adressiert war und in fesselnder Weise von den »unverschämten Wucherpreisen« der Japaner sprach, sowie von der Notwendigkeit, ohne »schamhafte Vorurteile und Hemmungen« an die Teilung Chinas heranzugehen. Der Griff in fremde Aktentaschen gehört zu den Griffen, die auch in früheren Kriegszeiten fleissig geübt worden sind. Der sächsische Premierminister Graf Brühl, der sonst nur andere Taschen leerte, liess die Depeschen, die Friedrich der Grosse seinem Dresdener Gesandten schickte, pünktlich entwenden, und Friedrich vergalt diesen Beweis stiller Teilnahme, indem er durch den gekauften Kanzlisten Mentzel die sächsischen Regierungsschränke öffnen liess. Immerhin muss man konstatieren, dass die Geschäfte der Geheimagenten und Handschriftenforscher noch nie so geblüht haben wie in dieser phantastischen Gegenwart. Euripides, dessen Troerinnenklage uns Werfel herrlich wiederdichtete, und der Aeschylos des ewig durch die Jahrtausende rufenden »Gefesselten Prometheus« sind dieser Zeit nahe, aber auch für einen Balzac sind sie gemacht. Ein Gewimmel von Gestalten, die wir nie so gesehen hatten, ist aufgetaucht, hat sich auf das politische und auf das diplomatische Fach geworfen, will sich Wichtigkeit geben oder seine Gemütserregung in Taten umsetzen, hascht nach kugelsicheren Posten und bietet seine bisher unentdeckte Klugheit an. Und am äussersten Rande dieser betriebsamen Gesellschaft, die dem Dichter Heinrich Mann in Liebe und Verehrung empfohlen sei, wächst die Romantik der Spionage, der erfahrenen Brieföffner, der verborgenen, die Strasse belauernden Maskenritterschaft. Nein, noch niemals war alles Schriftliche so gesucht, jedes auf dem Papier stehende Staatsgeheimnis so zahlreichen Reisegefahren ausgesetzt. Noch niemals boten sich auf dem Wege zwischen Berlin und Mexiko so viel Hindernisse für einen vertrauensvollen Briefverkehr.

Während die übrige Presse, vom »Lokalanzeiger« bis zur »Kreuz-Zeitung«, dieses mexikanische Abenteuer mit wohltätigen Lobesworten erläutert, spricht sich der Politiker der »Deutschen Tageszeitung«, Graf Reventlow, sehr missbilligend darüber aus. Er sagt, diejenigen, die »auf die Geteiltheit der Stimmung in den Vereinigten Staaten grosse Hoffnungen für die Erhaltung des Friedens setzten«, müssten es bedauern und verurteilen, »dass gerade in diesem Augenblick eine deutsche Politik getrieben wurde, die mit der Beziehung auf Mexiko eine Politik der Lunte am Pulverfass« zu nennen sei. »Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet«, fährt er fort, »müsste das deutsche Angebot an Mexiko ganz unbegreiflich erscheinen,« besonders da Mexiko auch ohne Bündnis jeden deutsch-amerikanischen Zwist ausnutzen und ganz ebensoviel leisten würde wie ein verbündetes Mexiko. Wer, wie das »Berliner Tageblatt«, eine Politik wünsche, die nach Friedensschluss eine baldige Wiederherstellung normaler Verhältnisse gestatte, müsse das deutsche Bündnisangebot »auch unter diesem Gesichtspunkte bedauern«, denn die Amerikaner würden diesen Verlockungsversuch lange nicht verzeihen. Es berührt ein wenig befremdend, das alles vom Grafen Reventlow zu vernehmen, der auf deutsch-amerikanische Beziehungen so wenig Wert legte und die Lunte am Pulverfass so kräftig schwang. Dies erinnert an die Szene in »Wallensteins Tod«, wo Oktavio Piccolomini nach dem Morde zu Buttler sagt: »Ich hebe meine Hand auf!« und schmerzvoll versichert, er sei »nicht schuldig an dieser ungeheuren Tat«. Indessen, man muss den Betrachtungen des am Ziele seiner Wünsche unfrohen Grafen im allgemeinen zustimmen, denn die nach Mexiko verfrachtete Werbung erschiene auch dann mit einigen Irrtümern behaftet, wäre sie nicht vom rechten Wege abgeirrt. Der frische Unternehmungsgeist, von dem sie zeugt, schaltete die nüchterne Nachprüfung zu ungeduldig aus. Mexiko liegt jetzt seit einem halben Jahrzehnt im Revolutionsfieber, die Kassen dürften dort so leer sein wie die Munitionsschuppen und die mexikanische Armee ist vermutlich einigermassen geschwächt. Ein Staat, dem man versprechen kann, man werde mit ihm »gemeinschaftlich Krieg führen und Frieden schliessen«, ist das eigentlich nicht. Der Gesandte in Mexiko wird angewiesen, dem Präsidenten Carranza die Wiedergewinnung von Neumexiko und Arizona in Aussicht zu stellen. Es wäre gewiss interessant gewesen, bei dieser Mitteilung das Mienenspiel des schlauen Mexikaners zu sehen. Ferner heisst es in den Weisungen, dass Carranza »sich aus eigener Initiative mit Japan in Verbindung setzen, dieses Land zum Anschluss auffordern und gleichzeitig seine Vermittlung zwischen Japan und Deutschland anbieten« soll. Die Idee, dass man durch Vermittlung Carranzas das ziemlich selbstbewusste Japan gewinnen könnte, ist einigermassen sonderbar. Wenn Russland, England und Amerika, alle in Ostasien führenden Grossmächte, auf der anderen Seite stehen, wird Japan dem Einfluss Mexikos nicht sehr zugänglich sein. Es ist nicht wahrscheinlich, dass man auf diese Weise die Weltgeschichte vorwärtsbringt.

Natürlich spricht bei dem ganzen Vorfall kein vernünftiger Mensch von Moral. Erstens ist die Moral schon lange dasjenige, dessen Nichtbeachtung sich von selbst versteht, und zweitens hat sie mit der mexikanischen Angelegenheit nicht das mindeste zu tun. Es ist nicht unmoralisch, den Mexikanern für den Kriegsfall ein Bündnis anzubieten, und es wäre selbst nicht unsittlich, Japan zu fragen: Schöne Gelbe, willst du mit mir gehen? Wer so handelt, ist noch lange nicht das, was man, etwas schablonenhaft und ohne Kenntnis des Vorbildes, einen Machiavell zu nennen pflegt. Ebenso berechtigt nichts zu der Anklage, die Urheber des Planes hätten die Lunte an das amerikanische Pulverfass gelegt. Die Entwicklung der Dinge wäre wohl ungefähr die gleiche, auch ohne die mexikanische Korrespondenz. Man soll eine Aktion auch nicht deshalb verurteilen, weil sie misslungen ist. Den grössten diplomatischen Genies ist einiges vorbeigeglückt. Nicht der Erfolg, sondern die Anlage, die Fassung eines Unternehmens muss für das Urteil entscheidend sein. Nachdem wir uns so mit Gerechtigkeit angefüllt haben, dürfen wir wohl in Ruhe sagen, dass zwischen Berlin und Mexiko kein Juwel der Staatskunst verloren ging.

 

»Der Unterstaatssekretär Michaelis«, ist hier gesagt, »ist gewiss nicht Turgot und braucht nicht Turgot zu sein.« Der Reichskanzler Michaelis hätte ein Turgot sein müssen, aber er war es leider nicht.

12. März 1917

Als der grosse Turgot von Ludwig dem Sechzehnten zum Minister ernannt worden war, schrieb er dem zwanzigjährigen König einen ausserordentlich schönen Brief. Er wisse, sagte er darin, dass er allein gegen die Missbräuche werde kämpfen müssen, sowie gegen alle, die sich jeder Reform widersetzten und gewohnt seien, aus den Missbräuchen Gewinn zu ziehen. Als er durch seine sechs Edikte die Wegfronen, die Pariser Getreidepolizei und andere unerträgliche Schindereien abschaffte, erläuterte er diesen Schritt in einer Begleitrede, die Wilhelm Oncken »eine ergreifende Schutzrede für den kleinen Mann in Stadt und Land« und eine furchtbare Anklage gegen das System der Privilegien nennt. Er erklärte, die Privilegien seien »ursprünglich darauf begründet gewesen, dass der Adel allein den Kriegsdienst besorgte«, aber diese Zeiten wären vorüber, und die vielen Privilegierten wären nur noch »eine wirkliche Kraftminderung für das Reich«. In den zwanzig Monaten seiner Macht, die ihm durch ein Gichtleiden noch geschmälert wurden, verfügte er auch die Freiheit des inländischen Handels mit Getreide und Mehl. Er hob die Pachtverträge auf, die einigen Begünstigten die Ausbeutung des Postdienstes überlassen hatten, schuf den ersten französischen Eilwagendienst, setzte die Reisedauer auf ein Drittel der bis dahin üblichen Zeit hinab, organisierte eine staatliche Schiffahrt auf Flüssen und Kanälen und steigerte so, um zu den hungrigen Städten die Lebensmittel aus dem Lande bringen zu können, alle Möglichkeiten des Verkehrs. Als er die Grundzüge einer Verfassung entwarf, verstimmte er den König, und gleich darauf stürzte ihn die Intrige, die sich hinter den seidenen Röcken Marie Antoinettens verbarg. Das alte Regime war auf dem Wege zum Abgrund einem Genie begegnet – einem Manne, der es vielleicht ohne tragische Erschütterung zu einem neuen Regime hätte umbilden können, und der den schöpferischen Enthusiasmus, den wachen Sinn für alle Notwendigkeiten, den ruhigen Wahrheitsmut gegenüber den Volksmeinungen wie gegenüber dem Hof und dem Adel besass. Condorcet, der ihn mit der Beredsamkeit eines Liebenden geschildert hat, berichtet von ihm, er habe es für die höchste Geschicklichkeit gehalten, die Wahrheit zu sagen, und nie habe er sie verschleiert oder versteckt. Turgot selbst hat bemerkt: »Mit dem Ton der Rechtschaffenheit kann man alles sagen und noch einiges mehr, wenn man das Gewicht der Vernunft auf seiner Seite hat.«

Der Staatskommissar für Ernährungsfragen, der Unterstaatssekretär Michaelis, ist gewiss nicht Turgot und braucht nicht Turgot zu sein. Es ist nicht seine Aufgabe, auf neuen Grundlagen ein neues Staatsgebäude zu errichten, und wir leben auch, wie jeder sich sagen kann, nicht in einer vorrevolutionären Zeit. Einige der Fragen, die Turgot löste oder lösen wollte, ähneln freilich den Schwierigkeiten, mit denen Herr Michaelis zu kämpfen hat. Es ist wieder nötig, Nahrung in die Städte zu schaffen und, unter ganz anderen Verhältnissen als früher, die Transportmittel auszunutzen, und wieder muss der Widerstand derjenigen gebrochen werden, die »gewohnt sind, aus den Missbräuchen Gewinn zu ziehen«. Aber ganz abgesehen von dieser Wiederkehr oder dieser Fortdauer alter Probleme war etwas in der Abgeordnetenhausrede des Staatskommissars, das an Worte Turgots gemahnt. Es war darin jene starke Aufrichtigkeit, die zugleich die höchste Geschicklichkeit ist. Herr Michaelis sprach von »ausserordentlich schweren, ernsten Sorgen« und sagte, das Elend wäre nicht zu beschreiben, »das grausige Elend, wenn wir mit einem Male merkten, es reiche nicht«. Er versicherte, seine volle, schwere Verantwortung vor Gott und dem Volke stehe ihm immer vor Augen, und keiner werde ihn beirren. Er erklärte weiter, ein Amt, das ein Schwert ohne Schärfe sei, hätte er nicht übernommen, und wenn man ihm das Schwert stumpf machen wolle, werde er gehen. So sollte jeder sprechen und denken, der »vor Gott und dem Volke« eine Verantwortung trägt. Ob der Posten eines Staatskommissars für Ernährungsfragen die wünschenswerteste Einrichtung ist, mag verschieden zu beurteilen sein. Aber dieser Beamte redete in einer Sprache, die den vollen Reiz der Neuheit besitzt. Was wir sonst vernehmen, ist gewöhnlich ein Gemisch von Hymne und Wiegenlied. Dieser Sirup ist so ziemlich das einzige Nährmittel, das uns unerschöpflich fliesst. Als neulich Lloyd George sich über den U-Boot-Krieg äusserte, legte er alle drohenden Entbehrungen und Nöte mit grossem Freimut dar, und wir können uns nicht darüber täuschen, dass gerade diese Methode die Nervosität der englischen Stimmung gemildert hat. Auch bei dem deutschen Volke, das seit bald drei Jahren mit ernster Geduld seine Schicksalslast auf sich nimmt, wird derjenige am besten Gehör finden, der ihm furchtlos die Wahrheit und die noch notwendigen Opfer zeigt. Glaubt man, ein Volk fühle nach solchen Erlebnissen nicht aus dem Redesang die falschen Töne heraus? Dem Manne aber, der die Kraft hat, die Wahrheit zu sagen, traut es auch die Kraft des Helfers zu.

Herr Michaelis hat zugegeben, dass Eier, Milch, Butter, Obst, Gemüse und andere Lebensmittel »noch in grösseren Quantitäten in den ländlichen Gebieten vorhanden sind«. Diese schönen Dinge heranzuholen, ist nicht nur des städtischen Magens wegen nötig, sondern auch aus Gründen der Psychologie. Man würde die täglichen Kohlrüben mit weit grösserem Vergnügen essen, wenn man überzeugt wäre, dass es nirgends nach anderen Tafelfreuden riecht. Aber wenn alle Leute, die vom Lande oder aus begünstigten Gegenden heimkehren, mit sattem Lächeln von den Eiern erzählen, die sie in den Nestern draussen entdeckt haben, und von der Butter, die dort auf dem Brote leuchtet, dann erweckt die Kohlrübe nicht mehr das rechte Lustgefühl. Da der Staat nicht half, griff man zur Selbsthilfe, und jeder bestrebt sich, auf Umwegen das herbeizuholen, was auf graden Wegen nicht kommt. Das Aufspüren verborgener Quellen ist für jeden Städter und jede Städterin eine Nebenbeschäftigung geworden, die man neben dem eigentlichen Berufe eifrig betreibt. Wer in den Abendstunden zu den Berliner Bahnhöfen geht, begegnet einem Strom von Männern, Frauen, jungen Mädchen und Kindern, die mit Säcken, Schachteln und sonderbaren Paketen beladen sind. Sie kommen von den Dörfern und den Kleinstädten, wo sie allerlei Geniessbares gekauft haben, und sie gehören sehr verschiedenen Klassen von Essern an. Mit unleugbarer moralischer Berechtigung und erfreulicherweise auch mit Erfolg hat der Berliner Magistrat dagegen Protest erhoben, dass die Polizei diese persönlichen Bemühungen verhindern wollte, mit denen die Bevölkerung der mangelnden Einfuhr nachzuhelfen versucht. Gern würden wir nur noch erfahren, wo die nahrhaften Postsendungen hinverschwinden, die so häufig unterwegs stecken bleiben, als wären es geheime Bündnisanträge für den Präsidenten von Mexiko. Das alles sind kleine Bilder aus der Zeitgeschichte, die zweifellos von gewissenhaften Chronisten aufgezeichnet werden, und manches ist gewiss sehr eigenartig, für gut genährte Nachkommen sehr interessant und höchst pittoresk. Aber aus der Gegenwart heraus betrachtet, ist es daneben leider auch ungeheuer ernst. Noch ist, zum Glück, jenes grausige Elend nicht da, von dem der Staatskommissar sprach, und es wird diesem standhaften Volke hoffentlich erspart bleiben, aber auch die heutige Sorge lastet schwer. Wie sollten wir das nicht empfinden, wenn wir, in den wartenden Menschenreihen vor Läden und Markthallen, die Augen der Mütter sehen?

Die politischen Wortführer jener Kreise, die man gewöhnlich als das Junkertum bezeichnet, und die nicht nur aus wirklichen Junkern bestehen, begehen einen ausserordentlichen Fehler, indem sie zum mindesten den Anschein erwecken, als begriffen sie den vollen Ernst dieser Dinge nicht. Dieser Fehler ist um so grösser, da er mit der offenen und heftigen Kampfansage gegen die Minderung ihrer Privilegien, gegen die unvermeidliche Erneuerung des Staates zusammentrifft. Man hat die Rede gelesen, die eben wieder der gelehrte und nur fanatisch jeder neuen Lehre abgeneigte Graf Yorck v. Wartenburg im Herrenhause gehalten hat. Auch der kleinste Schritt vorwärts erschreckt diesen besorgten Hüter der Vergangenheit. Immer wird uns wiederholt, die schwierige geographische Lage Deutschlands, mit den Feinden ringsum, mache die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems zur Pflicht. Uns will scheinen, Deutschland müsse gerade wegen dieser geographischen Schwierigkeit von Männern regiert werden, die ohne jedes Vorurteil, in voller Oeffentlichkeit ausgesucht und nur in der politischen Schule, nicht in der Wiege als die Klügsten erkannt worden sind. Es wird auch immer wieder darauf hingedeutet, wieviel wir dem Alten verdanken, und wir wissen, dass sein Verdienst bedeutend war. Aber sogar Ludwig der Sechzehnte konnte mit einigem Recht – wenn auch mit sehr viel weniger Recht – an den Rand jenes Verfassungsentwurfes, den der schon zur Ungnade verurteilte Turgot ihm überreichte, zornig die Bemerkung schreiben, Frankreich verdanke dem alten Regime »den Ton und den Platz, den es in Europa hat«. Graf Yorck v. Wartenburg findet die Mitwirkung des Reichstages beim Hilfsdienstgesetz »revolutionär«, ganz wie Herr v. Heydebrand den »Ruin« prophezeit, falls wir keine Kriegsentschädigung erhalten sollten, und wie man in diesen Kreisen vor dem Kriege die »vaterlandslose« Sozialdemokratie für fähig zum Schlimmsten hielt. Wir andern glauben weder an Revolution noch an Vaterlandslosigkeit und Ruin. Aber die Krankheit naht den Nationen in verschiedenen Formen, und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass vorgebeugt werden muss und dass die Zeit reif ist für furchtlose Erneuerer, die nicht mit halber Seele an ihre Aufgabe gehen. Macht und Einfluss dürfen ebensowenig unter den hohen Giebeldächern aufgespeichert werden wie Butter, Obst und Speck.

 

Am 14. März meldete die Petersburger Telegraphen-Agentur, die schon verbreiteten Nachrichten bestätigend, dass in Petersburg die Revolution ausgebrochen sei. Am nächsten Tage kam die Nachricht, der Zar habe, unfreiwillig, abgedankt. Zuerst bot man dem Grossfürsten Michael die Zarenkrone an. Der Grossfürst stellte die Bedingung, dass »das Volk durch ein Plebiszit, ausgedrückt durch seine Repräsentanten in einer konstituierenden Versammlung, die Regierungsform und die neue Verfassung des russischen Staates festsetzen muss«. In Frankreich trat, was eine geringere Umwälzung war, Briand zurück. Ribot bildete das neue Kabinett.

19. März 1917

Das Demissionsgesuch Briands ist, ob das Kabinett nun verschwinden oder aufgefrischt wiederkehren wird, keines jener Ereignisse, von denen neue Wege zu neuen Zielen gehen. In Ländern mit parlamentarischem Regime demissionieren Minister, wenn sie abgenutzt sind und die Mehrheit der Volksvertretung nicht mehr hinter sich haben, und die Grundformen des Staates sind gerade infolge des glatt funktionierenden parlamentarischen Ventils keinen Erschütterungen ausgesetzt. Ueberall, wo national geeinte und zum Staatsgefühl erzogene Völker wohnen, hat sich dieses Regime als ein ausgezeichnetes Hausmittel zur Stärkung der Monarchie und aller Konstitutionen bewährt. Es regelt den Blutumlauf, belebt den Appetit, beugt jeder Verstopfung vor. Briands Gloria erblich schon seit dem Augenblick, wo mit der rumänischen Armee seine ganze Balkanpolitik zusammenbrach. Er hatte, gegen den Willen Kitcheners und vieler Engländer, und trotz der Opposition der Clemenceau-Gruppe, das gemischte Expeditionskorps des Generals Sarrail in Saloniki gelassen und jetzt siecht diese unglückliche Armee, mit deren Existenz man die Rumänen gelockt hatte, tatenlos im Schlamm Mazedoniens hin. Es hat nicht viel genützt, dass Briand damals sein Ministerium umbildete und den bedächtigen Joffre in ein Ehrenamt schob. Seine Gegner wurden nur noch heftiger, und das Publikum war, weil er den Ruf nach neuen Männern fast ganz überhört hatte, schwer enttäuscht. Seine ungewöhnliche Rednergabe, hinter der nur eine mässige Tatkraft steht, gewann ihm bei den Abstimmungen in der Kammer noch immer den Sieg. Die Abneigung des Landes gegen allzu häufige Ministerkrisen kam ihm zustatten, aber seine Gefolgschaft bröckelte ab.

Dostojewski, der für Deutschland kein Herz hatte, die Verjagung der Türken aus Konstantinopel erträumte und – was die ganze Eitelkeit solcher überheblichen Missionstheorien beweist – überzeugt war, dass am russischen Wesen die Welt genesen müsse, hat auch die Nachahmung französischer Einrichtungen und französischer Manieren immer bitter gerügt. In seinem Tagebuch erzählt er von einem Russen und seiner Gattin, die in Ems nur französisch miteinander sprachen und, da sie diese Sprache nicht gründlich beherrschten, einige Mühe hatten, einander zu verstehen. Die politischen Gedanken Dostojewskis sind, ungefähr wie die Gedanken mancher preussischen Herrenhausmitglieder, Bestandteile einer verschollenen Zeit, aber der Nachahmungstrieb, den er tadelte, lebt in Russland weiter und tritt in dem Handeln der russischen Revolutionsführer deutlich hervor. Das parlamentarische Regime, das die Gesundheit und Stetigkeit der Staatsverfassung am besten verbürgt, könnte gewiss auch in Russland sich bewähren, aber statt es aus den besonders eigenartigen Verhältnissen des Landes heraus erstehen zu lassen und es im russischen Boden festzupflanzen, gibt man ihm eine nachgeahmte, unverfälscht westliche Form. Dies ist wenigstens die Empfindung, die sich aufdrängt, wenn wir erfahren, dass eine konstituierende Versammlung den neuen Zaren wählen oder anerkennen soll. Etwas jäh und unvermittelt werden da die mystischen Schleier zerrissen, mit denen bisher die Zarenwürde sich umgab. Das schnelle Tempo ist ja in fast allen Revolutionen, nur nicht in der englischen, zunächst unvermeidlich gewesen, nach und nach renkt sich dann manches wieder ein und man muss sich hüten, in der ersten Stunde von fern her ein Urteil über eine Bewegung zu fällen, die voll ungeheuerer Möglichkeiten ist. Einstweilen aber denkt man doch an das russische Ehepaar in Ems, das statt der Heimatsprache ein nur halb erlerntes, nur halb verständliches Französisch spricht.

Während die Revolutionspartei nach westlichem Muster gearbeitet hat, haben der Zar Nikolaus und seine nun eingesperrten Minister und Ratgeber treu an den Regeln festgehalten, in denen preussische Stockreaktionäre die Zusammenfassung aller Staatsweisheit und die einzige Garantie des monarchischen Gedankens sehen. Bis zum letzten Augenblick haben sie alle Zugeständnisse, die das Volk begehrte, abgelehnt. Was über die Vorgänge in den Zarenzimmern berichtet wird, ist ja zumeist in den Grenzstationen und in Stockholm der freiwaltenden Kaffeehausphantasie entsprungen, aber es steht fest, dass der Dumapräsident Rodsjanko den Zaren zum Nachgeben gedrängt, und dass der Zar die Mitwirkung der Duma und die Absetzung der volksfeindlichen Minister verweigert hat. Man meinte, die Duma fortschicken, die Presse und das Volk durch Zensur und Belagerungszustand knebeln zu können, und vertraute auf die Macht. Jeder Schritt weiter auf dem Wege der Vorwärtsentwicklung erschien dem Zaren und seinen Beratern als eine Begünstigung, eine Herausforderung der Revolution. Aber gerade weil man sich sträubte, den neuen Geist nicht sah und sich an die Vergangenheit anklammerte, führte man das Unheil herauf. Immer, seit Jahren und Monaten, hatte man den Vertretern volkstümlicher, zeitgemässer Politik die Tür verschlossen, immer wieder nur der kleinen Gruppe, die das Bestehende konservieren wollte, die Leitung der Geschäfte anvertraut. Solche widernatürliche Zurückdrängung des lebendigen Zeitempfindens hat sich noch immer auf die eine oder die andere Weise gerächt. Wer das disziplinierte deutsche Volk, das zu politischer Erregung nicht veranlagt ist, einigermassen kennt, weiss, dass hier jede Vorbedingung für vulkanische Ausbrüche fehlt. Aber wenn es seine innere Kraft und nach aussen hin seine Weltstellung bewahren soll, dann kann es nicht das einzige Kulturvolk der Erde bleiben, das – als wäre es allein unmündig – von jeder wirklichen Mitregierung, von jeder Mitverantwortung für sein Schicksal ausgeschlossen ist. Mit gutem Grunde verbinden die preussischen Reaktionsblätter diesmal nicht, wie sonst bei solchen Gelegenheiten, mit dem Hinweis auf die russischen Ereignisse Warnungen vor der sogenannten »demokratischen Gefahr«. Ganz abgesehen von der Verschiedenheit russischer und deutscher Verhältnisse ist es deutlich, dass Nikolaus II. gerade solchen Warnern seine Trübsal verdankt.

Der nun entpurpurte Zar sagt in seinem Abschiedsmanifest, dass er sich nicht von seinem Sohne trennen wolle, der bekanntlich ein seit langem kränkelnder Knabe ist. Als Karl V. freiwillig die Krone abgelegt hatte, sah er gern den immer fieberkranken jungen Don Carlos, sein Enkelkind. Leopold v. Ranke erzählt in seiner Geschichte des Don Carlos, dass der zerquälte, zum Jähzorn neigende Prinzipe am ruhigsten und glücklichsten war, wenn Karl V. von seinen grossen Erlebnissen sprach. Gern stellt man sich vor, dass der Privatmann Nikolaus so, nach Ordnung der jetzt noch konfusen Angelegenheiten, den aufhorchenden Sohn unterhalten wird. Nikolaus hatte nicht die aussergewöhnlichen Herrschertalente, die der Fürst mit dem Reiche ohne Sonnenuntergang besass. Er hatte auch an seiner Seite keinen Minister, wie Gravella, der nach seinem eigenen Bekenntnis »Versprechungen nach Zeit und Umständen« zu geben verstand. Aber beide, er und Karl, glaubten, ein unwandelbares Prinzip zu verkörpern, und immer geraten eines Tages die unwandelbaren Prinzipien mit den Naturgesetzen in Konflikt. Der Autoritätsglaube bricht zusammen und über den gewaltigsten Reichen, über denen die Sonne nicht unterging, geht die Sonne plötzlich auf. Leider kann man sich an dem russischen Lichte noch nicht bedingungslos erfreuen. Erst müsste sich das als echt erweisen oder abgestreift werden, was zunächst wurzellos erscheint. Und die Erwecker verbinden, einstweilen noch, den Ruf der Freiheit mit der stürmischen Mahnung zum Krieg, zur Eroberung, zum Hass gegen einen Feind, den die Mehrheit des Volkes gar nicht kennt. Man sagt den Massen: »Wacht auf!« und wirft sie, unter der neuen Sonne, zum Todesschlummer auf ein blutiges Feld.

 

Die Konservativen pflegen, wenn man von der Diplomatie spricht, hervorzuheben, dass nicht alle adligen Diplomaten aus alten Geschlechtern stammen, dass manche bürgerlichen Millionärsfamilien angehören, die erst geadelt worden sind. Als wenn es darauf ankäme und als wenn nicht ein neuer Adliger ebenso konservativ auftreten könnte wie jemand, der eine ganz unübersehbare Ahnenreihe hat! Aber es kommt überhaupt nicht auf die Personen an – Aristokraten aus der Diplomatie wegzutäuschen, ist ja auch nur ein Vorurteil –, sondern auf die Prinzipien, nach denen die auswärtige Politik angelegt und geleitet wird. Diese Prinzipien waren in Deutschland bisher militärisch-konservativ.

26. März 1917

Die Konservativen, die Alldeutschen und die schwerindustriellen Generalsekretäre pflegen zu betonen, dass ihre Abneigung gegen Herrn v. Bethmann Hollweg nicht durch die innerpolitischen Angelegenheiten verursacht sei. Sie verurteilen also in erster Linie die Art, wie der Nichtgeliebte die auswärtige Politik betrieben hat und betreibt. Immer, wenn die Konservativen die diplomatische Führung bekämpfen, richten sie den Dolch eigentlich gegen das eigene Herz. Denn nach wie vor ist die Diplomatie, mit sehr wenigen Ausnahmen, aus den Mitgliedern der konservativen Adelsfamilien zusammengesetzt. Bei der Forderung, dass die Diplomatie durchaus und unbedingt verbürgerlicht werden müsse, spielen mancherlei Spiesserempfindungen mit. Es ist unbestreitbar, dass der deutsche Aristokrat, der nicht im Gutshof stecken geblieben, sondern viel im Ausland gewesen ist, mitunter sehr wertvolle diplomatische Eigenschaften besitzt. Er ist zumeist grundverschieden von dem ostelbischen Typus, hat nationalistische Augenbinden abgelegt, sieht die Dinge von einer gewissen Höhe, bewegt sich mit weltmännischem Takt und kennt nur häufig den Geist der Initiative nicht. Mancher Bürgerliche, der unter den heutigen Verhältnissen in den exklusiven Kreis emporsteigt, will zu sehr den Beweis der Tüchtigkeit erbringen, und ist leicht zu Zugeständnissen an mächtige Stimmungen und zu allerhand Uebereifer verführt. Aber wenn man es auch vermeiden muss, in solcher Frage bürgerliche Vorurteile an die Stelle der adligen Vorurteile zu setzen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass bis zur gegenwärtigen Stunde fast alle diplomatischen Posten den konservativen Familien des Gothaischen Kalenders überlassen sind. Die Angehörigen dieser Standesgemeinschaft verwalten in ungestörter Besitzfreude das Gebiet der auswärtigen Politik. Und wie die Konservativen das Personal stellen, so haben sie, und haben die anderen Gegner des Reichskanzlers gerade in den letzten beiden Jahrzehnten der deutschen Auslandspolitik die Wege vorgeschrieben, die Ziele gesteckt. Nicht »Pazifisten« und liberale Verständigungsfreunde haben, wie kaum erst gesagt zu werden braucht, einen wirklichen Einfluss ausgeübt.

War etwa die Haltung Deutschlands auf den beiden Haager Konferenzen nicht vorwiegend konservativen Anschauungen und Forderungen angepasst? Die deutschen Vertreter lehnten die Anträge, die auf Rüstungsbeschränkung oder auf obligatorische Schiedsgerichte hinstrebten, vorschriftsmässig ab. Dann kamen die Flottenprogramme, und der Flottenverein und andere Vereine agitierten für den Bau der grossen Schlachtschiffe, in denen man die wichtigsten und ausschlaggebenden Hilfsmittel der neu verkündeten »Weltpolitik« sah. »Hüten wir uns, dass wir nicht bei uns den Imperialismus züchten, dessen wir andere beschuldigen!« rief am 8. Februar 1900 Eugen Richter im Reichstag, und er sagte weiter: »Die Alldeutschen stecken die Grenzen des neuen Weltreiches ab: Marokko, Kleinasien, Brasilien, und die Flottenprofessoren machen es schon ganz ebenso.« Er fügte noch hinzu: »Die Stimmung, die man künstlich erzeugt hat, muss notwendig in dieser verderblichen Richtung weiterwirken,« aber für die Herren der Stunde wog die Meinung des liberalen Parteiführers nicht schwer. In Uebereinstimmung mit den Tendenzen der Rechtsparteien und der Flottenvereinler wurden in Berlin dann alle Vorschläge, die eine deutsch-englisch-japanische Entente betrafen, abgelehnt. Die Konservativen und die Alldeutsch-Nationalliberalen können auch nicht sagen, dass die deutsche Marokko-Aktion nicht nach ihrem Geschmack gewesen sei. Sie waren immer gegen Abmachungen mit Frankreich auf dem Boden des Marokkogeschäftes und begrüssten die kraftvollen Schläge von Tanger und Agadir. Wer voraussagte, dass man so, statt nach bismärckischer Lehre den alten französisch-englischen Zwist zu erhalten und auszunutzen, Frankreich und England eng zusammenbringen werde, galt vielen als eine schwache Seele und als ein unzuverlässiger Patriot. Nach keiner Seite hin konsequent eine Verständigung zu suchen und eine unfruchtbare Allerweltspolitik »Weltpolitik« zu nennen, entsprach besonders dem alldeutschen Kraftideal. Die Konservativen und Nationalisten üben heute eine sehr absprechende Kritik. Der Hinweis lohnt sich, dass die Politik, aus der die Entwicklungen hervorgingen, ihre Politik gewesen ist.

Und hat sich dann weiter irgend etwas ereignet, wovon gesagt werden könnte, dass es im Widerspruch mit ihren Ansichten, ihren Methoden stand? Sie gründeten den Wehrverein, schufen andere Organisationen, und ihren Unternehmungen, Schriften und Propagandamitteln wurde offizielles Wohlwollen zuteil. Sie haben, oft vergessend, dass in der Politik stark sein auch klug sein bedeutet, die Kraft des Knotenzerhauers verehrt. Nachdem man den Kampf mit einer ganzen Welt aufgenommen hat, kann doch niemand ernsthaft behaupten, der deutschen Politik habe es an Kraft gefehlt. Es ist, wie bisher, auch jetzt nicht förderlich, auf die Vorgeschichte des Krieges nachprüfend einzugehen. Aber was erscheint einem konservativen oder alldeutschen Bethmann-Gegner dort tadelnswert? Doch gewiss weder die Zurückweisung der Haldaneschen Angebote noch die Entsendung der Militärmission nach Konstantinopel, die ein sehr wichtiger Vorgang war. Auch gewiss nichts von dem, was in den eigentlichen Krisentagen geschah. Hat Herr v. Bethmann Hollweg während des Krieges den Vorwurf der »Schlappheit« – im konservativen Sinne – verdient? Dem Unterseebootkrieg hat er, ohne noch weiter auf Amerika Rücksicht zu nehmen, in dem Augenblick zugestimmt, wo er ihm am aussichtsvollsten schien. Kein vernünftiger Mensch kann behaupten, die Kriegführung werde irgendwie gehemmt. Jene, 1870 von Bismarck beklagten Einflüsse, »die ihre Wirksamkeit nicht politischen Erwägungen verdankten, sondern Gemütseindrücken,« existieren diesmal nicht. Wird die Ruhe der Konservativen und der Generalsekretärpartei nur durch die Kriegszielsorge gestört? Herr v. Bethmann Hollweg hat ihnen in seinen letzten Reden ein bemerkbares Entgegenkommen gezeigt. Und die Konservativen wenigstens, die keine Phantasten sind, wissen genau, dass auch ein Reichskanzler, der ihr besonderes Vertrauen besässe, nicht so handeln könnte, wie ein alldeutscher Wanderredner spricht. Am Biertisch und am Schreibtisch mag man die Grenzen weit hinausrücken, aber die Operationen der verantwortlichen Staatsleiter sind durch die Tatsachen etwas enger begrenzt. Was also wollen die Konservativen eigentlich, wo findet sich in der auswärtigen Politik der letzten zwanzig Jahre und der Gegenwart für sie ein Grund, laut zu tadeln, verstimmt herumzuflüstern, oder auch nur in verschlossenem Herzen ungehalten zu sein? Im allgemeinen wurden doch nach ihren Grundsätzen unseres Schicksals Sterne gelenkt.

Doch es blieb eines, was ihnen vielleicht ernstliche Sorge schuf. Sie glaubten eine Weile lang, der Reichskanzler bereite eine Annäherung an die Westmächte vor. Sie selbst wünschten eine Politik, die eine Aussöhnung mit Russland gestatten könnte, und hatten gegen den westlichen Staatengeist eine tiefwurzelnde Antipathie. Wir dagegen meinen, dass Sympathien und Antipathien in der Auslandspolitik nicht mitsprechen dürfen, und dass nur derjenige Staatsmann nützlich und nüchtern handelt, der sich und dem kommenden Geschlechte alle Möglichkeiten offen hält. Jetzt ist Russland nicht mehr das Zarenreich, für heilige Allianzen zur Abwehr demokratischer Ansprüche nicht mehr geeignet, als Verbündeter den meisten Konservativen gewiss sehr viel weniger begehrenswert. Selbst wenn der revolutionäre Jugendtraum vorüberwehen sollte, wird einiges davon übrigbleiben, wird das alte reaktionäre Russland nicht so schnell wieder erstehen. Der Gedanke, die deutsche Politik einseitig an Russland zu binden, verlor, wie man annehmen muss, für konservative Denker seinen Reiz. Die Befürchtung, dass dieser Weg verbaut werden könnte, ist also keine Befürchtung mehr. Gibt es, vom Haag bis heute, etwas, was uns als Fehler und Irrtum erscheinen kann? Es gibt allerlei dieser Art. Können die nationalistischen und rechtsstrebenden Elemente etwas auf dem Wege bemängeln, den die Staatskunst ging? Wenig oder nichts. Sie zeigen eine Abneigung gegen die auswärtige Politik von gestern und von heute, weil Herr v. Bethmann Hollweg, vorläufig nur mit Worten und Versprechungen, bereit scheint, die auswärtige Politik von morgen auf neue innere Grundlagen zu stellen. Und weil sie nicht zugeben wollen, dass ein grosses Volk seine Widersacher stärkt und seine Lebensinteressen schwer schädigt, wenn es sich durch staatliche Einrichtungen und Auffassungen dauernd vom Empfinden aller anderen Kulturvölker trennt.

 

Am Ostersonntag, den 8. April, erschien der kaiserliche Ostererlass. Der Kaiser forderte den Reichskanzler auf, ihm »bestimmte Vorschläge« für die »Umbildung des Preussischen Landtags« vorzulegen, und sprach aus, dass der Gesetzentwurf »unmittelbare und geheime Wahl« enthalten solle und dass »für das Klassenwahlrecht in Preussen kein Raum mehr« sei. – An der Westfront gab es kein heiteres Osterfest. Im deutschen Heeresbericht vom 9. April wurde der Beginn der Schlacht bei Arras mitgeteilt.

10. April 1917

Der Frühling hat lange gezögert, auf die Welt zu kommen, was man ihm nicht übel nehmen kann. Die Strassen hatten in diesen Ostertagen manchmal eine Sonnenseite, aber noch reckte sich nirgends ein grünes Blatt. Freundlich und verheissungsvoll hat der kaiserliche Ostererlass das Volk berührt. Er kündet eine Schöpfung an, die noch in der Knospe sorgsam umschlossen liegt. Zunächst hat das Signal die Wirkung, dass uns nun Liberale, Fortschrittsenthusiasten und volkstümliche Freiheitshelden in Massen erstehen. Schon seit einiger Zeit tauchen, dem Wehen des Windes folgend, ungeahnte Demokraten auf. Leute, die noch eben erklärt hatten, innerliche Fragen seien gänzlich uninteressant und dürften jetzt gar nicht besprochen werden, sind von einem jähen Erneuerungseifer durchglüht. Leute, die überklug oder geringschätzig drum herumgingen, sind plötzlich so vertraulich, als ob sie immer dabei gewesen seien. In den Jahrzehnten nach der napoleonischen Epoche erzählten mehrere Millionen harmloser Europäer, sie hätten bei Waterloo mitgekämpft. Noch zahlreicher sind gewöhnlich die Veteranen einer siegreichen Idee. Der Liberalismus oder die Demokratie reicht allen bewegt die Hand. »Angenehm überrascht, Sie bei uns zu sehen!«

In seinem Erlass sagt der Kaiser, das glückliche Ende des Krieges sei, wie er zuversichtlich hoffe, nicht mehr fern. Mit tiefer Freude wird der Tag dieses glücklichen Endes begrüsst werden, aber die schnelle Erfüllung der Hoffnung hängt, wie wir alle wissen, nicht nur von Deutschland ab. Wird das zur Freiheit erwachte russische Volk bald die Waffen fortlegen, um die Früchte der befreienden Tat zu sichern und unter einem entwölkten Himmel die Schätze emporzubringen, die in der russischen Erde und, fast reicher noch, in der russischen Seele ruhen? Den Petersburger Intellektuellen mag die Kriegsansage Amerikas, des grössten demokratischen Staatengebildes, als eine Bestätigung ihrer Ideen und als ein Grund zu neuer Schlachtenbegeisterung erscheinen, aber im Dorfe kann die amerikanische Kunde nicht über Monate hinwegwirken, denn der Bauer blickt auf sein Feld, nicht über den Ozean. Nacheinander haben nun die Regierungen der Mächte, gegen die Russland kämpft, feierlich erklärt, dass keine Begünstigung des gestürzten Zarentums von ihnen zu erwarten sei. Wie wir selber unser Hausrecht wahren, so müssen wir fremdes Hausrecht achten und einer Wiederholung alter Sünden, einem Versuch, der Reaktion Handlangerdienste zu leisten, wäre auch das deutsche Volk in seiner gegenwärtigen Stimmung gründlich abgeneigt.

Solche Bestrebungen, die innere Gestaltung eines anderen Landes zu regeln oder zu beeinflussen, sind noch immer von Fehlrechnungen ausgegangen und haben noch immer zu Fehlschlägen geführt. Man braucht nicht noch einmal auf die schon mehrfach hier erwähnte Restaurationsepoche hinzuweisen und nur daran zu erinnern, dass selbst Bismarck falsch rechnete, wenn er sich auf dieses Gebiet begab. In seinem Buche »La Mission de M. de Gontaut-Biron à Berlin« erzählt der Duc de Broglie die Tätigkeit des ersten Botschafters, der nach dem Kriege 1870/71 Frankreich in Berlin vertrat. Herr v. Gontaut-Biron war, wie der Duc de Broglie, ein strenger Royalist und Antirepublikaner, und Bismarck wünschte für Frankreich eine republikanische Staatsform, von der er sich eine abschreckende Wirkung auf diejenigen Grossmächte, die etwa Allianzgedanken hegen konnten, versprach. Als Thiers nach seinem Bekenntnis zur Republik von der Präsidentschaft zurücktreten musste und, für nur kurze Zeit, der Royalismus mit Mac Mahon zu triumphieren schien, empfand das Bismarck als sehr unbequem. »Wir sind sicherlich nicht verpflichtet,« wurde dem etwas königsmacherisch veranlagten Botschafter v. Arnim telegraphiert, »Frankreich wieder zur Macht zu helfen und durch Konsolidierung seiner inneren Situation und durch Einsetzung einer regulären Monarchie dem Lande die Fähigkeit zu geben, Allianzen mit Mächten zu schliessen, die bisher in freundschaftlichem Verhältnis zu uns stehen.« Gerade die von Bismarck bevorzugte Republik hat die militärische Erstarkung durchgeführt und sich Bündnisse in umfangreicher Weise verschafft. Die innere Entwicklung eines anderen Volkes zu beobachten und in Rechnung zu stellen, ist von deutschen Staatskünstlern leider oft versäumt worden, aber sie vorzuschreiben, ist immer unlohnend und falsch.

Der Erlass des Kaisers erklärt, dass »sofort beim glücklichen Ende des Krieges« das neue Wahlrecht in Preussen geschaffen werden wird. Es ist klar, dass genug Bedenken übrig bleiben, dass nur das gleiche Wahlrecht annehmbar sein könnte, dass eine sofortige Umwandlung, durch Reichstagsbeschluss, zu wünschen wäre, dass aber die hohe Bedeutung der Worte, es sei nach den gewaltigen Leistungen des ganzen Volkes »für das Klassenwahlrecht in Preussen kein Raum mehr«, unverkennbar und unleugbar ist. Kann nun bis zu dem Tage des Friedens nichts anderes geschehen? Man muss immer wiederholen, dass jetzt der Verfassungsausschuss des Reichstages die Pflicht hat, die Formen für die Mitregierung und Mitverantwortlichkeit der deutschen Volksvertretung zu schaffen und dem Reiche das parlamentarische Regime vorzubereiten, das eine ruhige, stetige Entwicklung, eine Festigung der Monarchie und des ganzen Staatsgebäudes, eine ganz neue Verständigungsmöglichkeit und damit die heute unentbehrlichen Vorbedingungen einer erspriesslichen auswärtigen Politik sichern soll. Gern würde man inzwischen auch die Gewissheit haben, dass der Hauptausschuss des Reichstages,, der das Recht zur Prüfung der ausserpolitischen Angelegenheiten erlangt hat, von diesem Rechte wirklich Gebrauch macht und sich über alle Vorgänge informiert. Niemand konnte viel erhoffen, regelmässige Kontrolle ist ohne parlamentarisches System und ohne eng geknüpfte Beziehungen zur Regierung nicht denkbar, aber versucht der Hauptausschuss, in den Grenzen des jetzt Möglichen seine Sendung zu erfüllen? Gleichzeitig wird wohl der Reichskanzler sich fragen müssen, ob die Persönlichkeiten, die heute an seiner Seite so gewaltige Aufgaben lösen sollen, immer die geeignetsten sind, und ob es nicht dringend notwendig wäre, sich für manche Posten nach neuen Männern umzusehen. In der inneren und in der auswärtigen Politik müssen in dieser Stunde die klügsten und klarsten Geister zu Hilfe gerufen werden, und für Rücksichten auf persönliche Annehmlichkeit, Aemtereinflüsse und kleine Bureaukabalen ist die Zeit zu ernst. Aber auch die Parteien, die im Namen von Volk und Fortschritt sprechen wollen, täten gut, sich zu prüfen, sich zu erneuern und zu bedenken, dass nicht nur der leitende Staatsmann die Zeichen der Zeit erkennen muss. Allzu vorsichtig hat die Fortschrittliche Volkspartei es vermieden, den Gedanken des parlamentarischen Systems auszusprechen, und bisher die Formulierung der grössten, unabweisbar herantretenden Zukunftsfrage den Nationalliberalen und der Sozialdemokratie anvertraut. Zwischen all diesen Forderungen des Tages sieht heute jeder von uns immer wieder die Schlacht, die bei Arras tobt. Man kann den Männern, die dort im Trommelfeuer aushalten, noch am ehesten seine Dankbarkeit zeigen, wenn man mit Voraussicht und Willenskraft das daheim Nötige tut.

 

Selbst in »liberalen« Kreisen betrachtete mancher den Gedanken des »parlamentarischen Systems« mit einer seltsamen Scheu. Es schien notwendig, darzulegen, dass der Parlamentarismus keineswegs die gifthaltige fremde Frucht ist, als die man ihn in Unkenntnis, Gedankenlosigkeit und absichtlicher Irreführung, hinzustellen pflegt.

23. April 1917

Was ist das parlamentarische System? Das enge Zusammenwirken von Volk und Staatsoberhaupt, das Gleichgewicht der Kräfte, die Ausschaltung unsichtbarer Einflüsse, die volle Klarstellung und Teilung der Verantwortung, die Schule für die politische Erziehung und für die Selbsterziehung der Parteien. Das parlamentarische System erhebt in allen monarchischen Ländern die Monarchie über plötzliche Volksstimmungen, weil das Ventil in solchen Augenblicken gleichsam mechanisch funktioniert, ein neuer Ministerpräsident vortritt und die Volksvertretung für die missliebigen Regierungstaten wie für den Regierungswechsel einen Teil der Verantwortung trägt. Das parlamentarische System sichert, soweit das möglich ist, die Nation gegen unerwartete Entschlüsse und gegen überraschende Ernennungen, aus denen dann leicht Unzufriedenheit, leises und lautes Uebelreden, untergrabende Zweifel an dem Urteil der höchsten Stelle entstehen. Wer einen Kanzler, einen Ministerpräsidenten oder einen Minister bekämpfen will, muss das in offenem Parlament, mannhaft, ohne der öffentlichen Kritik auszuweichen, unter Darlegung seiner Gründe tun. Es nützt ihm nichts mehr, durch Schlüssellöcher zu flüstern, im geheimen seine Beziehungen spielen zu lassen, im Verborgenen Gift zu streuen.

Wie schafft man das parlamentarische System? Es ist dazu weder nötig, dass man die Welt aus den Angeln hebt, noch ist es erforderlich, dass man den Pelion auf den Ossa stülpt. Die Minister treten zurück, sobald in einer entscheidenden Frage das Parlament ihnen sein Vertrauen versagt. Der Monarch beruft dann die Parlamentspräsidenten und, wenn er volle Klarheit gewinnen will, die Parteiführer zu sich, hört ihre Meinung und ernennt, so mit allen Informationen versehen, den neuen Mann. Es ist nicht schwer, das Parlamentsvotum mit Garantien zu umgeben, und man kann, um eine Uebereilung zu hindern, beispielsweise festsetzen, die Abstimmung solle erst am Tage nach der Debatte vor sich gehen. Die Regierung kann auch das Parlament auflösen, wenn sie in Neuwahlen wieder eine Mehrheit zu erlangen hofft. Man mag aus dem Reichskanzler einen Ministerpräsidenten, aus den Staatssekretären Minister machen und so ein Reichsministerium bilden, wenn man das für richtig hält. Man kann den Bundesrat ausgestalten, kann den Einfluss der Bundesstaaten sicherstellen. Dass die Minister aus dem Parlament genommen werden, ist auch in demokratischen Ländern kein zwingendes Gebot. Vorteilhaft wird es immer sein, einige Parlamentsmitglieder in die Regierung zu setzen, weil so die Verbindung gewahrt und dem Parlament die einzige wirkliche Möglichkeit einer andauernden Kontrolle gegeben wird. Wenn ein Holländer, ein Schwede, ein Däne oder sonst irgendein Bürger irgendeines Kulturlandes dies alles liest, wird es ihm vorkommen, als buchstabiere ein Erwachsener das Abc. In weit zurückliegenden Schülertagen haben die Völker, mit Ausnahme der Deutschen, der Oesterreicher und der nun schnell nachholenden Russen, diese Fibelweisheiten gelernt. Das alles ist ihnen längst zur Selbstverständlichkeit geworden, und sie fühlen sich sehr wohl dabei. Nichts ist zugleich naiver und unwahrer als die Behauptung, dass in diesem Kriege die Ueberlegenheit des preussisch-deutschen Systems bewiesen worden sei. Die Erfolge Deutschlands wurden durch die bewundernswerte Widerstandskraft, den Opfermut, die Vaterlandsliebe des Volkes und durch die glänzenden Fähigkeiten der heute bahnweisenden Feldherren und der militärischen Organisatoren herbeigeführt. Würden diese Dinge mit dem preussischen Regierungssystem zusammenhängen, so könnten die Franzosen nicht so zäh ausharren, hätten die Engländer nichts Organisatorisches zustande gebracht. Nicht die kriegerische Leistung eines Volkes hängt vom Regierungssystem ab, wohl aber, im Krieg und im Frieden, die Politik. Und man darf gewiss sagen, dass unsere Politik nicht immer die allerbeste, die allererfolgreichste gewesen ist.

Warum brauchen wir das parlamentarische System? Wir brauchen es zunächst, weil Deutschland nur auf diesem Wege zu einer gesunden, kräftigen und stetigen Auslandspolitik gelangen kann. Besässen wir heute schon dieses System, so würde die politische Führung des Krieges, auch in ihrem Hinstreben auf den Frieden, ungleich leichter sein. Wer das nicht glauben will, ahnt nichts von der Fremdheit, mit der die parlamentarisch oder demokratisch regierten Völker uns gegenüberstehen. Jeder einzelne fühlt sich dort als Teilhaber der Staatsgesellschaft und kann meinen, durch die Beauftragten, die er gewählt hat, sein Schicksal mitzubestimmen, während der Deutsche, ohne persönliche Mitwirkung, seine Regierung und sein Schicksal fertig empfängt. Wenn Minister parlamentarisch regierter Länder hinter dem Rücken der Volksvertretung gefährliche Verpflichtungen eingehen, wird nicht das System, sondern werden nur die Minister und die unaufmerksame Volksvertretung dafür verantwortlich gemacht. Das Volk, dem solches widerfährt, muss die Folgen sich selber zuschreiben, denn es hat seine Angelegenheiten unzuverlässigen Personen anvertraut. Alles Misstrauen, aller Argwohn der anderen Nationen hat sich gegen den Staat gerichtet, in dem ihnen die traditionelle Methode jede parlamentarische Einwirkung auf die Zusammensetzung der Regierung, jede Mitwirkung bei Entscheidungen und jede Kontrolle auszuschliessen scheint. So hatten und haben wir, ganz unabhängig von allen Ereignissen, den demokratischen Geist gegen uns, der nun einmal die Welt beherrscht. Nicht nur durch eine formale Verfassungsfrage, sondern durch eine Frage der Weltanschauung, der geistig-politischen Atmosphäre, der Staatsauffassung, der individuellen Selbständigkeit fühlen sich die anderen von uns getrennt. Sie glauben, dass wir ihnen so wenig gleichen, wie der Pietist dem Freidenker gleicht. Ein grosses Volk soll sich den eigenen Charakter gewiss unverfälscht erhalten, aber dazu ist nicht notwendig, dass es sich politisch isoliert. Das deutsche Volk muss aus dieser Isolierung herausgelangen, wenn es die Früchte seiner gewaltigen Leistungen glücklicher als bisher geniessen will. Und es muss sich dabei nicht nur von dem Wunsche leiten lassen, den Anschluss zu suchen, sondern auch von dem Gedanken, dass es ja wirklich für eine Regierungsweise, die ihm jede Mitbestimmung und jede Verantwortung abnimmt, zu reif und zu erwachsen ist. Es muss sich auch sagen – und vor allem die amtlichen Staatswächter müssen sich sagen –, dass nach dem Kriege der heute im Inlande und an den Grenzen des Auslandes zurückgehaltene Meinungsstrom hereinfluten wird und dass das anderswo längst bewährte parlamentarische System solche Ströme ableitet und reguliert. Das Staatsoberhaupt gewinnt enge Fühlung mit dem Volke, indem es direkt mit dem Volksparlament in Verbindung tritt. Aber alle Kämpfe spielen auf der Vorderbühne, zwischen dem Parlament und den Ministern, und niemals werden Grundformen des Staates, niemals wird die höchste Stelle, die Verkörperung des bleibenden Prinzipes, von ihnen berührt.

Wer ist gegen das parlamentarische System? Alle diejenigen sind gegen dieses System, die nicht wissen und in hinduselnder Gedankenträgheit nicht wissen wollen, was es ist. Im Namen der »starken Monarchie« wird es von denjenigen angefeindet, die nur wünschen, ihren eigenen Einfluss stark und unvermindert zu sehen. Ihnen wäre mit der Ausschaltung aller Unverantwortlichen, mit Uebersichtlichkeit und Klarheit natürlich nicht gedient. Skeptisch achselzuckend sprechen auch die vielen vom parlamentarischen System, denen das heutige Geschlecht der Parlamentarier nicht durchweg als regierungsfähige, heilbürgende, staatsmännische Elite erscheint. Ihnen muss man wiederholen, nicht jeder Abgeordnete brauche ein Minister zu werden, nicht jeder Minister müsse ein Abgeordneter gewesen sein. Ganz von selbst werden sich die Erneuerung und die Heranbildung des parlamentarischen Personals vollziehen. Die Tatkräftigen, die hier die Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer Ideen, zum Handeln auf grossem Schauplatz erblicken, werden herbeikommen, die Verantwortung wird zügelnd wirken, und wie in anderen Ländern werden diejenigen, die einmal an der Regierung teilgenommen haben, den auftauchenden Fragen mit vermehrter Erfahrung und Geschäftskenntnis gegenüberstehen. Aber gegen das parlamentarische System sind auch manche Parlamentarier, denen ihre Parteistellung solche Abneigung keineswegs gebietet, und vielleicht noch niemals in der Geschichte haben Volksvertreter sich so zaghaft gegen eine Mehrung ihrer Rechte gesträubt. Der Graf von Chambord, der lieber sein weisses Lilienbanner als die französische Königskrone haben wollte, war so jungfräulich scheu. Herr Bassermann hält es mit der Lilie und lehnt jede Möglichkeit, nicht nur reden zu müssen, ab. Es wäre eine überflüssige Grausamkeit, nach der Frage »Was ist das parlamentarische Regime?« die Frage aufzuwerfen »Was ist Bassermann?« Neuerungsfeindliche Routine, Mangel an Selbstvertrauen, der behagliche Hang, anderen die Verantwortung zu lassen und nur die Luftwellen durch den Klang der Worte in Bewegung zu setzen, wirken auf manchen ein. Ueber all das wird die Entwicklung hinweggehen, vorwärtsgedrängt durch die Notwendigkeit. Es kann sein, dass der Verfassungsausschuss des Reichstages die Verse des gleichfalls früh ermatteten Otto Erich Hartleben nachsprechen wird:

»Auch meine Hand ist kraftlos.
Flattert im Morgensturm Wogend des Banners Tuch, bestrahlt vom Frührotglanz,
Nicht taugt in meine Hand der bewegte Schaft.«

Aber dann kann die Antwort nur lauten: »Stärkere sollen dem Sturme begegnen«, wie es in dem Gedichte weiter heisst.

 

Die Franzosen unternahmen ihre vergebliche Offensive in der Champagne. Am 24. Mai meldete der österreichisch-ungarische Heeresbericht den Beginn der zehnten Isonzoschlacht.

29. Mai 1917

Pfingsten, das liebliche Fest. Im Westen und auf den nackten, glühenden Karsthöhen wird weitergekämpft. Die zwecklose Offensive des Generals Nivelle hat wieder unzählige helläugige Jünglinge und unzählige Väter, die mit dem letzten Blick im Todestaumel noch die Kinderstube sahen, in das ungeheure Massengrab hinuntergestürzt. Jetzt kommandiert der populäre Pétain, der Verdun durch seine Entschlossenheit gerettet haben soll und nun wahrscheinlich neue Pläne entwerfen, eine neue Schlachtorgie veranstalten wird. Niemals kann der Fernweilende, und böte er all seine Gehirnkraft auf, sich in das hineindenken, was dort auf dem zerrissenen, bis in die letzten Tiefen zerbrannten Boden, beim Sturm auf aschengraue Hügel, bei dem Eindringen in Gräben, beim Nahkampf und unter der Raserei des Trommelfeuers geschieht. Der Franzose Henri Barbusse, der lange als Soldat in den Schützengräben lag, schildert in seinem Buche »Le Feu«, tolstoihaft unheroisch und ohne Verschönerungsmittel, die erlebte Not, die Erwartung, den Angriff, die plötzlichen Umwandlungen der Menschennatur, den Tod in Flammen und Schlamm. Zwischen dem kriegerischen Literaturmist, den die Honorarhelden häufen, steht dieses Buch hoch aufgerichtet, wie das harte Kreuz des Leidens zwischen den pathetischen Werken einer glatten Bildhauerkunst. Es führt die Kriegshetzer aller Hinterländer an den Ort der Tat, konfrontiert sie mit den Opfern ihrer Gewissenlosigkeit. Kann man in Frankreich dieses Buch lesen, ohne von der nichts verhüllenden Darstellung qualvoll erschüttert zu sein? Und darf man den Frühling atmen, ohne an die zu denken, die ein Anrecht auf ihn hatten wie wir?

Pfingsten, das liebliche Fest. Die gewaltige Mehrheit der braven Menschen, die ohne marktschreierische Prahlerei ihr Vaterland lieben, der Bekümmerten und Sorgenden, die still ihr Leid und die schwere Last des Tages tragen, bleibt im Schatten und wird kaum bemerkt. Immer weiter drängen sich hüben und drüben Journalisten, Redner, Vereinsbonzen und andere Vaterlandsretter nach vorn ans Licht. Sie alle warnen vor einem »vorzeitigen« Friedensschluss und werden auf ihrem Lehnstuhl oder ihrer Bierbank ihn immer »vorzeitig« finden, heute und morgen, in zwei Jahren und in vier. Und neben ihnen breiten, während die grosse und gute Masse des Volkes mit tiefernsten Empfindungen durch diesen Frühling schreitet, die Unberührten, die »am liebsten nichts mehr davon hören und lesen wollen«, ihre seelische Unbefangenheit aus. In den Hotels auf den höchsten Preisspitzen und in den Moderestaurants findet man kein Zimmer und keinen Stuhl. Der »neue Reichtum«, den in Paris schon unzählige Montmartrelieder besingen, wirft sich auf alle Errungenschaften der Kultur. Die älteren Grossverdiener, die fast schon patrizierhaften, kaufen Zeitungen in Berlin und Burgen am Rhein. Damen hüpfen in kurzen Kleidern, die nicht immer ihre Körperlichkeit reizvoll präsentieren, so munter herum, als strahlte die ganze Welt in Sonnenlicht. Von den Possenwitzen haben noch immer die dümmsten das meiste Glück. Auf dem Rennplatz im Grunewald wurden am Himmelfahrtstage am Totalisator zwei Millionen umgesetzt. Dies geschieht zur Veredelung der Pferderassen, wie der Krieg, nach einer früher viel gepredigten Ansicht, die Menschenrasse veredeln sollte, und wie bekanntlich alles in der Welt immer nur der Veredelung dient.

Pfingsten, das liebliche Fest. Sprach man nicht vorgestern von Verfassungsreform, innerer Umgestaltung, parlamentarischem System? Die reaktionären Kreise, die eine Ausschaltung der unsichtbaren Einflüsse, eine Verhinderung der Hintertürpolitik, ein System der Oeffentlichkeit und der klaren Verantwortung weit mehr fürchten als die preussische Wahlreform, haben die Sturmglocken in Bewegung gesetzt und sich gestellt, als müssten sie den Thron schützen, den in allen anderen monarchischen Ländern gerade das parlamentarische System am besten schützt. Kluge Vermittler haben in allen Winkeln den Parlamentariern zugeflüstert, der Reichskanzler habe zum Glück ausgleichend wirken können, aber weitgehende Anträge und Beschlüsse würden alles verderben, der Augenblick sei schlecht gewählt. Am 31. Mai könnte man den hundertsten Geburtstag Georg Herweghs feiern, der einst in prachtvoll hinflutenden Rhythmen »der Freiheit eine Gasse« sang. Auch Herwegh war kein Tatmensch, und wer seine Briefe und die Briefe seiner Frau liest, gelangt zu der Ueberzeugung, dass er auf den Weg des handelnden Volksmannes nur durch diese leidenschaftlich liebende und hassende Emma Herwegh gedrängt wurde, die ihn schrankenlos bewunderte und ihm gegenüber ihre überlegene, kritische Schärfe vergass. Er ist bei Dossenbach, wo seine phantastisch bunte, nicht ganz saubere und höchstens für eine revolutionäre Schmierenkomödie geeignete »Pariser Legion« von den württembergischen Truppen im April 1848 auseinandergeknattert wurde, nicht feige gewesen, nicht von seiner Frau unter dem Spritzleder eines Wagens versteckt worden, und diese Spritzlederverleumdung wurde ihm nur von strebsamen Staatsdienern angespritzt. Aber er war, wie so viel andere, ein Sturmvogel, der ankündigend vorausfliegen, nicht ein Mann des Vollbringens, der einen Sturm starknervig lenken kann. Im Jahre 1847 schrieb Emma Herwegh aus Berlin: »Die Menschen sind zu kalt, zu gefühllos hier und nehmen das ganze Elend ihrer politischen und sozialen Verhältnisse wie ein Verhängnis auf, nicht wie ein Uebel, das zu bewältigen ist und mithin auch bewältigt werden muss.« Es kann sein, dass sie in ihrer Ungeduld und in ihrer Ueberhitzung zu unfreundlich urteilte, und es kann auch sein, dass ihr Urteil im allgemeinen zutreffend war. Wir, denen diese Zeit von gediegenen Historikern vielfach umschleiert wurde, können und müssen nur das eine sagen: dass uns bei jeder Begegnung mit den damals führenden Geistern eine Fülle von idealistischer Begeisterung, männlicher Wahrhaftigkeit, fortreissender Schwungkraft entgegentritt. Herwegh, Freiligrath, Prutz, Robert Blum, Karl Schurz, Hoffmann v. Fallersleben, Karl Vogt, Uhland, Johann Jacoby, Gottfried Kinkel und die anderen hatten gewiss nicht immer den Blick für die Realitäten, aber es bestand eigentlich keine Ursache zu der selbstgefälligen, bequemen und gern belohnten Meinung, man sei über ihre ganze Gedankenwelt hinausgelangt. Eben erst, bei der Unterhaltung über das parlamentarische System, haben wir wieder gesehen, dass die Grundbegriffe der Freiheit, die den anderen Völkern im Blute sitzen, vielen bei uns noch etwas sehr Fernes sind. Selbst honette Liberale begreifen nicht, dass das Recht, bei der Einsetzung und Absetzung verantwortlicher Geschäftsleiter mitzubestimmen, das entscheidende und unterscheidende Wahrzeichen ist. Das Herwegh-Geschlecht gründete nicht das Reich, aber es verpasste den Anschluss nur, weil es zu weit vorauseilte, und nicht, weil es zu weit hinten blieb. Es hatte eine Flamme in sich, mit der man nur ungern manche Lichter von heute vergleicht.

Pfingsten, das liebliche Fest. Je mehr die russischen Revolutionsminister sich äussern, desto deutlicher sollte es doch allen politisch Beschäftigten oder Geschäftigen werden, dass jede Aufforderung zu einem Sonderfrieden, jeder rednerische Versuch, Russland durch besondere Versprechungen zu gewinnen, ein Fehler ist. Nur wenn man dieser Revolutionsregierung sagte: »wir bieten all unseren Gegnern ohne Ausnahme einen Verständigungsfrieden an,« konnte sie vor ihre Alliierten hintreten und in dem Bewusstsein, nichts für sich allein zu wünschen, dort der Anwalt des Friedensgedankens sein. Da Herr v. Bethmann Hollweg alles Gute nur Russland allein versprach, einen Unterschied zwischen Russland und den anderen Ententemächten machte, versichern die russischen Minister nun doppelt laut, sie würden ihre Verbündeten nicht im Stich lassen und ihre Treue sei kein leerer Wahn. Noch einige andere Minister haben in den letzten Tagen gesprochen: Lloyd George, der den U-Boot-Krieg für eine deutsche Illusion erklärte, und Ribot, der uns das linke Rheinufer lassen will und, wie es scheint, keine Kriegsentschädigung, sondern Wiederaufbaugelder begehrt. Der alte Ribot, der immer in singenden Beschwörertönen und nie in unakademischen Heftigkeiten schwelgte, hat, mehr als seine Vorgänger, hassvolle Wendungen vermieden, aber sein Kriegsprogramm ähnelt noch den Kriegszielen Briands; wie seine Vorgänger spricht er von der Rückeroberung Elsass-Lothringens, und darüber hinaus hatte auch nicht Briands Erobererseele, hatte nur die glühende Phantasie der Pariser Presswüteriche gestrebt. Dies alles kündet noch nicht das Erwachen der Vernunft und des Friedens an. Vielleicht kommen Frieden, Vernunft, innere Erneuerung so plötzlich und mit so starkem Sprunge, wie in diesem Jahre, alle lange zurückgedämmten Kräfte an einem Morgen entfesselnd, der Frühling kam. Auf den letzten Seiten des Buches »Le Feu« schildert Barbusse, wie auf der Ebene, zwischen entstellten Leichen, eine Gruppe französischer Soldaten übermüdet kauert, die dem Granatenhagel und dem Entsetzen des fliessenden Lehms, der hinabziehenden, überflutenden, erstickenden Schlammerde entronnen sind. Die einen sind verwundet und werden nicht weiter gelangen, andere recken sich wieder der Hoffnung entgegen, und alle vertiefen sich, als wollten sie sich von der Erregung, die sie umschnürt, befreien, in ein durcheinanderhastendes Gespräch über den Krieg. Der Kamerad Paradis spricht von einer Bäuerin, die ihnen in einem Dorfe gesagt hat, es müsse schön sein, einen Sturmangriff zu sehen. Ein auf dem Bauche liegender, schon verendender Jäger stösst bei dieser Erzählung, wie zum Abschied von der Welt, sein derbstes Schimpfwort hervor. »Niemand wird es wissen, wie es war,« sagen alle, »wir selbst werden es vergessen, soviel Unglück wird umsonst dagewesen sein.« »Ah, wenn man sich daran erinnern würde,« rufen andere, »es gäbe keine Kriege mehr!« Sie sagen in ihrem Elend, auf der grauenhaften Ebene, noch manches tief menschliche Wort, aus dem die unendliche Sehnsucht nach Glück und Frieden klingt. Und es ist nur trostlos, dann zu bedenken, dass dieses, in seinen Endzielen die Sonne grüssende Buch im Dezember 1915 vollendet wurde, und dass jetzt bereits das Pfingstfest von 1917 hinter uns liegt.

 

Der Staatssekretär Dr. Solf hielt am 7. Juni in der Albert-Halle des Leipziger Kristallpalastes eine Rede über englische und deutsche koloniale Kriegsziele und sagte, dass »wir unseren Kolonialbesitz wiederholen und diesen Besitz nach Möglichkeit zu einem widerstandsfähigen und wirtschaftlich leistungsfähigen Gebiet ausgestalten wollen.« Er fuhr fort: »Gleichzeitig wollen wir der künftigen Gefährdung des europäischen Friedens entgegenwirken, die in der von unseren Gegnern in grossem Stile geplanten Militarisierung Afrikas droht.«

11. Juni 1917

Der Staatssekretär des Reichskolonialamts, Dr. Solf, ist im allgemeinen bei den Verkündern machtpolitischer Ideen nicht sehr beliebt. Er kennt die Welt und beurteilt die Dinge nicht so, wie sie dem Geiste wildgewordener Pfahlbürger sich darstellen, sondern so, wie sie wirklich sind. Das Hausgeflügel will nicht, dass seine festgegründeten Meinungen durch diejenigen angetastet werden, die über die Hofmauer hinübersahen. Auch angenehme weltmännische Formen erwecken bei manchen Kulturträgern einen instinktiven Verdacht. Der Name des Herrn Dr. Solf war seit langem auf die Proskriptionsliste gesetzt. Hatte der Staatssekretär nicht angedeutet, dass die »Freiheit der Meere« ohne Unterjochung Belgiens denkbar sei? Wie könne er, fragten seine Widersacher, koloniale Zukunftspläne entwickeln, ohne gleichzeitig die belgische Küste zu fordern, mit allem, was dazu gehört oder auch nicht dazu gehört? Habe sein koloniales Programm nicht nur den Zweck, die ernste Aufmerksamkeit des Publikums von dem grossen europäischen Annexionsprogramm abzulenken, und wie solle man in einem neuen Kriege, der ja kommen muss, das Kolonialreich verteidigen, wenn man nicht Ostende und Zeebrügge und das übrige behält? Herr Dr. Solf hat nun vor einigen Tagen in Leipzig gesprochen, und prompt reicht ihm der Politiker der »Deutschen Tageszeitung« wieder einen Giftbonbon. Dieser alldeutsche Leitartikler sagt zwar, dass Herr Dr. Solf »von gewissen Illusionen hinsichtlich Grossbritanniens zurückgekommen zu sein scheine«, aber er fügt hinzu: »wir wollen das keineswegs kategorisch behaupten«, und er traut dem Staatssekretär noch immer eine anglophile Gemütsstimmung zu. Herr Dr. Solf hat in Leipzig erklärt, dass wir unseren Kolonialbesitz wieder erlangen und dass wir ihn ausgestalten müssen, und er hat die Bedeutung eines zusammenhängenden Kolonialreiches gezeigt. Das alles hat er ganz ähnlich oder genau so auch früher schon gesagt. Natürlich lehnen die Annexionisten auch solche Kolonialgewinne nicht grundsätzlich ab. Wenn man ihnen ein gutes Stück aus Europa herausschneidet, nehmen sie, ohne sich zu ekeln, auch Afrika.

Dr. Solf hat in seiner Rede, ohne es zu nennen, das deutsch-englische Kolonialabkommen, das vor dem Kriege vereinbart wurde, gestreift. Es handelte bekanntlich, während gleichzeitig ein anderes Abkommen die Bagdadfrage regelte, von den portugiesischen Kolonien. Schon einmal, 1898, hatten Deutschland und England den portugiesischen Afrikabesitz in Interessensphären eingeteilt. Seit 1913 war der neue Vertrag so ziemlich fertiggestellt. Er gab uns Angola, die Inseln San Thomé und Principe und die Nordhälfte von Mozambique. Wir erhielten in diesen Gebieten ein Vorkaufsrecht und Einspruchsvollmachten und konnten, bis zu einer späteren völligen Besitzergreifung, mancherlei Nutzen aus ihnen ziehen. Ich habe früher gesagt, dass dieses Abkommen bis zum Unglücksjahr 1914, und zwar bis zu den letzten Julitagen, nicht mit der Berliner Unterschrift versehen worden sei. Das ist bestritten worden, aber die Tatsache steht fest. Erst später wird man sich darüber äussern können, ob die Unterzeichnung aus guten oder aus zweifelhaften Gründen, mit Recht oder mit Unrecht unterblieb. Kritische Betrachtungen, die immer auf halbem Wege halt machen müssen, dienen zu nichts. Interessant ist nur, heute nachzulesen, was damals französische Chauvinisten schrieben, denen jede deutsch-englische Aussprache sehr unbequem war. »Glücklicherweise«, erklärte Herr André Mévil, der Auslandsredakteur des »Echo de Paris«, »bleiben die höheren englischen Interessen bestehen, trotz Herrn Lloyd George und seiner Klientenschaft«. Dass England eine Vernichtung Frankreichs durch Deutschland auch jetzt nicht zugeben könne, leuchte ohne weiteres ein. »Um so schlimmer, wenn die nachdenklichen Geister der liberalen Partei nicht sehen, wie gefährlich es ist, länger die Hilfstruppe eines Demagogen wie Lloyd George zu bleiben, der nur die alten Grundlagen der britischen Kraft zu zerstören träumt!« Grey und Asquith wurden ganz ähnlich behandelt, bevor man sie auf den Triumphwagen hob. Es war die letzte Abendröte des Friedens vor dem blutigen Morgenrot.

Portugal ist ja nun auch eine kriegführende Macht. Die portugiesischen Soldaten bluten, ohne den Grund zu begreifen, an der Westfront und der Poet Gomez Carillo bereimt ihre Heldentaten, wie einst sein grosser Vorgänger Camoes in den »Lusiaden« den Ruhm der portugiesischen Weltfahrer besang. Mit allen anderen kämpfenden Staaten wird Portugal die Ehre haben, an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, wenn eines Tages der Wahnsinn dieses Kriegs ausgetobt haben wird. Vielleicht wird man ihm nahelegen, seine Kolonien zu opfern, um so den Grossmächten die Einigung zu erleichtern und eine edle Mission zu erfüllen. Das »zusammenhängende« deutsche Kolonialreich würde freilich durch diese portugiesische Opfergabe noch nicht erstehen. Eine flüchtige Betrachtung der Karte lehrt, dass dazu noch anderes nötig ist. Sollte ein solches Ziel in einem Verständigungsfrieden, durch einen Ausgleich, in gemeinsamer Beratung sich erreichen lassen, so wäre ein Widerspruch dagegen gewiss nicht angebracht. Man hat in Deutschland wohl ziemlich allgemein begriffen, dass nur ein grosses zusammenhängendes Kolonialgebiet sich im Notfalle selber versorgen und gegen feindliche Angriffe behaupten kann. Auch wenn man einen Frieden ersehnt, der neue Kriege ausschliesst, vermag man nicht den grossen Vorteil zu verkennen, der sich aus einer territorialen Zusammenfügung der Kolonien ergeben muss. Es ist also durchaus begreiflich, dass Dr. Solf eine solche Lösung, die schon Kiderlen-Waechter begehrte und nur mit diplomatischer Unzulänglichkeit anbahnte, heute hoffend erstrebt. Muss man sagen, dass niemand verpflichtet wäre, in Begeisterung zu schwelgen oder sich zu stellen, als erwarte er von dem äquatorialen Eden nun alles, was uns an Schätzen fehlt? Erstens ist es kein Eden, und zweitens sind die Schätze anscheinend nur noch dünn gesät. Den Rest des Kautschuks werden kluge Handelsleute der uns feindlichen Nationen wohl jetzt während des Krieges ausgerottet haben, in rücksichtsloser Benutzung der ungeahnten Gewinnmöglichkeit. Aehnlich dürfte es sich mit einigen anderen Dingen verhalten, die dem Leben und dem afrikanischen Boden einen Reiz verleihen. Das neue Reich würde uns vorläufig wenig bringen können, es würde Geld und Menschenkräfte von uns fordern, und beides wird nach dem Kriege nicht im Ueberfluss zur Verfügung stehen. Den zusammenhängenden Kolonialbesitz würden erst kommende Generationen geniessen, aber man muss ja auch an diese Zukunftsgeschlechter denken und darf nach soviel Erlebnissen nicht alles Glück für sich haben wollen, nicht einem engen Gegenwartsegoismus verfallen. Die heutige Generation, und wohl auch noch die nächste, wird ja genug, damit zu tun haben, hier, in der Heimat, ein neues Reich nach neuen Grundsätzen herzustellen. Sie wird sich mit der Aufgabe befassen, hier eine neue Ordnung, eine von der bisherigen etwas abweichende, zu schaffen, und den befohlenen Staat in eine Gemeinschaft verantwortlicher, gleichbeteiligter Menschen umzubauen. Die Kraft selbständiger, freier Menschen wird eines Tages auch ferne Notwendigkeiten vielleicht besser bewältigen, als die exakteste Bureaukratie. Aber bevor man die Schlafkrankheit am Kongo beseitigt, muss man die letzten Spuren derjenigen überwinden, die in Deutschland ziemlich verbreitet gewesen ist.

Der Politiker der »Deutschen Tageszeitung« verzeichnet die Tatsache, dass Dr. Solf die englische Versündigung gegen die weisse Rasse moralisch entrüstet besprochen habe, mit feiner Ironie. »Wenn das Stinktier«, bemerkt er, »seinem Namen gerecht wird, so gehorcht es ohne Reflexion sozusagen seinem kategorischen Imperativ, während beim Briten die Hypokrisie das Leitmotiv ist.« Wie sagt Leonore von Este im »Tasso« von den Worten jener Edeln, denen sie verständnisvoll zu lauschen liebt? »Ich höre gern dem Streit der Klugen zu, – Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust – So freundlich und so fürchterlich bewegen, – Mit Grazie die Rednerlippe spielt.« Wer in deutschen und französischen Zeitungen das vergleicht, was man heute Polemik nennt, begegnet einer Erscheinung, auf die man immer wieder – es geschieht hier nicht zum ersten Male – hinweisen muss. Eine intime Geistesverwandtschaft zwischen den nationalistischen Wortführern zu beiden Seiten des Blutmeeres tut sich auf. Maurice Barres schreibt von den deutschen Sozialisten, die nach Stockholm gereist sind, sie seien »vom Gold des Kaisers bedeckt«. Ein Mann der »Täglichen Rundschau« schreibt von jenem Ramsay Macdonald, der sich seit drei Jahren so mutvoll mit den englischen Kriegspolitikern herumschlägt, er gehe »als Reichslügenkommissar nach Petersburg«. In einem fleissig zusammengestellten Buche über den Einfluss des deutschen Geistes in Frankreich hat der Baseler Privatdozent Dr. Meissner, ein Jahrzehnt vor dem Kriege, viele Beispiele solcher geistigen Wechselwirkungen angeführt. Er versichert, alle Unterschiede seien besonders auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung verschwunden, denn die Chronisten in Deutschland befleissigten sich heute französischer Formvollendung, und die Chronisten in Frankreich deutscher Gründlichkeit. In der Tat – es ist so, wie es der Schweizer Gelehrte konstatiert. Der Krieg hat diese innigen Beziehungen, die schon lange vorher bestanden, nicht zerstört. Ein schöner Ausgleich ist zwischen vielen edlen Geistern Europas erfolgt. Und man wird nur hoffentlich, in weiser Erkenntnis, die Neger in Afrika nicht noch einmal mit dem Schreckensruf begrüssen: wir bringen euch die europäische Zivilisation.

 

Seit dem »Ostererlass« hatte der schon vorher grosse Zorn der Konservativen und Alldeutschen sich noch sehr gesteigert. Eifrig versuchte man auch, dem höchsten Manne des Reiches zu beweisen, die Politik der »schwächlichen Kriegsziele« und der noch weit mehr verhassten inneren Neugestaltung bedrohe die Monarchie.

18. Juni 1917

Die »Kreuz-Zeitung« hat einen Mitarbeiter, der seit Beginn seines Erdenwallens, und nicht erst seit Beginn seines öffentlichen Wirkens, Wolfgang Eisenhart heisst. Ein solcher Name erweckt hohe Erwartungen und man muss ihn wie eine Ritterrüstung oder einen Federbusch zu tragen verstehen. Wolfgang Eisenhart hat die Verpflichtungen, die seine drei Silben ihm auferlegen, bisher treu erfüllt. Wenn man ihn auch am liebsten als einen stürmenden Mann mit geschwungenem Degen sich ausmalt, so ist doch unverkennbar, dass der mehr häusliche Beruf eines alldeutsch-konservativen Literaten gleichfalls reiche Gelegenheit zu ritterlicher Betätigung gibt. Ungefähr einmal wöchentlich tritt Wolfgang Eisenhart in dem Blatte der feudalen Familien als Warner auf. Er warnt seine privilegierten Leser natürlich nicht vor ihren eigenen Fehlern, ersucht sie nicht, nun endlich von den Ereignissen zu lernen, und zeigt ihnen nicht die eigene Schuld. Er warnt sie vor dem modernen Geiste, vor den umwälzenden Ideen. Er kündet für den Fall, dass dieser Geist weiter frech und fessellos einherschreiten dürfe, einen Weltuntergang an. Kassandra hatte ja ihren Beruf etwas anders aufgefasst. Aber jene Art des Wahrsagens, die mit der Wahrheit in zu enger Verbindung steht, war schon in Troja teils unbeliebt, teils unstatthaft. Wolfgang Eisenhart prophezeit Abgründe und rät dann dringend, auf dem Wege, der zu den gefährlichen Stellen führt, weiter zu gehen. Neulich hat er all die Katastrophen, die bei einem Verständigungsfrieden, bei einem Frieden ohne umfangreiche Annexionen unvermeidlich seien, warnend aufgezählt.

Auseinandersetzungen über Kriegsziele sind, wie sich gezeigt hat, im allgemeinen unfruchtbar. Sie sind indessen nicht ganz zu vermeiden, da man die anderen, die ohnehin sich wirksamer Förderung erfreuen, nicht ganz allein reden lassen darf. Der Artikel Wolfgang Eisenharts war zudem ein ausgezeichnetes Demonstrationsobjekt. Beinahe alle Sophismen und alle Scheingründe, mit denen gut veranlagte Köpfe verdreht werden, waren darin vereint. »Die erste Wirkung eines solchen Friedens«, sagt Wolfgang Eisenhart, »wäre ein vollständiges Sinken des deutschen Ansehens in der ganzen Welt.« Auch einen Frieden, der uns unsere Kolonien, oder andere im Austausch, wiederbrächte, würden die erdbeherrschenden Engländer als eine deutsche Niederlage zu schildern verstehen. Sie würden sagen, dass »ein unerhörter deutscher Eroberungszug gescheitert sei«. England und Amerika würden auch der Menschheit den Glauben beibringen, die Staaten mit wahrhaft freier Volksregierung hätten sich dem preussisch-deutschen System überlegen gezeigt. Ein solcher Ausgang des Krieges wäre, in der Meinung der Welt, »eine Niederlage des monarchischen Prinzips«. Wie alle seine Gesinnungsgenossen verwirft also Wolfgang Eisenhart, mit einer recht bedenklichen Geste, jeden Verständigungsfrieden im Interesse der Monarchie. Aber das monarchische Prinzip, das diese merkwürdigen Schatzhüter wahren wollen, kommt gar nicht in Frage, da ja auf beiden Seiten monarchische Staaten kämpfen und die Monarchie somit immer auf der siegenden Seite ist. Dagegen ist es allerdings nicht unmöglich, dass das »preussisch-deutsche System«, das konservativ-bureaukratische, aus diesem Kriege etwas geschwächt hervorgehen wird. Wolfgang Eisenhart und seine Freunde sind der Ansicht, dieses Unglück müsse unter allen Umständen vermieden werden, und schon deshalb müsse der Krieg bis ins Endlose weitergehen. Sie sollten sich doch überlegen, ob es klug sei, solche Forderungen ganz offen zur Rettung einer Parteiherrschaft aufzustellen. Und würde selbst nach dem glanzvollsten Siege aus dem Gedankenkreise der Welt die Tatsache sich wegwischen lassen, dass das deutsche Volk unsagbar Staunenswertes geleistet, dass es in diesem Kriege aber auch bei Nationen, die nicht nach dem obrigkeitlichen System erzogen sind, grosse organisatorische Leistungen und sogar unerwartete Neuschöpfungen gegeben hat? Die Möglichkeit, auch in einem frei sich selbst verwaltenden und weniger gegängelten Staatswesen gewaltige Machtmittel zu entfalten, ist für jeden, der lernen will, dargetan. Wenn Wolfgang Eisenhart dann sagt, die Ententemächte würden die Meinung verbreiten, dass »ein ungeheuerer deutscher Eroberungszug gescheitert sei«, so fordert das gleichfalls eine Antwort heraus. Zunächst, und nur nebenbei, die Antwort, dass die Ententemächte, nach der unvorsichtigen Bekanntgabe ihrer weitgerichteten Hoffnungen, doch einige Schwierigkeit haben würden, den eigenen Misserfolg, das Scheitern der eigenen Pläne zu verhüllen. Aber wer hätte denn den Ministern, Journalisten und Geschichtsschreibern der Entente und den neutralen Zuschauern die Möglichkeit verschafft, der Welt zu erzählen, ein deutscher Eroberungsfeldzug sei missglückt? Doch nur diejenigen, die leichfertig, mit unvergleichlicher politischer Unfähigkeit und kraftvollem Lärmbedürfnis von grossartigen Eroberungen gesprochen haben und noch heute nicht gewissenhafter und nicht klüger geworden sind. Immer wieder ist hier gesagt worden, diese Ankündigung einer noch nicht geborgenen Beute werde es den Gegnern leicht machen, eines Tages den Erfolg der glanzvollen deutschen Waffentaten zu bekritteln und herabzuziehen. Aber wenn die deutsche Regierung erklärt, dass sie einen Verteidigungskrieg führe, schreien alle Heimkrieger, indem sie ihre Armmuskeln herumzeigen, sie kämpften für Machtzuwachs und neues Gebiet. Und weil diese Athleten so die Kehlen überanstrengt haben, soll jeder gute Verständigungsfrieden verworfen werden, soll die Erde weiter von Blut dampfen wie ein einziger, ungeheuerer Opferaltar? Wolfgang Eisenhart, Sie sind zu hart!

Die Welt, fährt Wolfgang Eisenhart fort, würde auch deshalb an eine Minderung der deutschen Machtfülle glauben, weil in Zukunft England und Amerika gleichfalls in der Lage sein würden, grosse moderne Volksheere aufzustellen. Das ist allerdings zu befürchten, und mancher hat denn auch, im Gegensatz zu den Freunden Wolfgang Eisenharts, die Ansicht vertreten, dass nach dem Eingreifen Englands die Konsequenzen des amerikanischen Eingreifens recht erheblich seien. Aber wenn wir Ostende und Zeebrügge und sonst noch allerlei behalten sollten – würden dann England und Amerika ihren neuen Volksheeren sagen, sie könnten nun ruhig nach Hause gehen? Eine Weltkoalition würde sich dauernd gegen Deutschland vereinigen, die Mittel der reichsten Erdenvölker würden zu immer gewaltigeren Rüstungen gegen Deutschland aufgeboten werden und die deutsche Machtstellung wäre nicht gestärkt. »Zu diesem schwersten Schaden Deutschlands bezüglich seines Prestiges und seiner Weltgeltung«, erklärt Wolfgang Eisenhart sodann, »kämen die unendlichen Schwierigkeiten, sein Wirtschaftsleben, soweit dieses auf Exportindustrie und Welthandel beruht, wieder aufzubauen.« Und wenn wir nun fremde, selbständige Volksteile unter das Joch zwingen, eine Politik schrankenloser Gewalt mit den Methoden des Fronvogtes durchtrotzen wollten, würde dann die Welt geneigter sein, ihren Hass aufzugeben, ihre Häfen und ihre Städte wieder unseren Waren zu öffnen, oder würde unser Handel nicht überall verschlossene Türen und eisige Abweisung finden, nicht einem Weltbunde von Nichtkäufern gegenüberstehen? »Der Kaufmann verlangt für sein Werk Frieden und einigermassen gesicherte Zustände«, bemerkt Wolfgang Eisenhart, den eine plötzliche Erleuchtung überfällt. Ja, und weil der Kaufmann und das ganze schaffende, arbeitsame Volk Frieden und einigermassen gesicherte Zustände wollen, wird man nach dem Kriege hoffentlich in allen Ländern mit denjenigen abrechnen, die den Völkerfrieden zu gering achten und deren sogenannte Politik heute noch die Verlängerung des Kriegszustandes und die unheilbare Vergiftung allen Erdenlebens erstrebt.

Wolfgang Eisenhart meint, wir würden vermutlich »die Enttäuschung« erleben, dass die Engländer sich weigern würden, von der französischen Kanalküste und von den »anstossenden Gebieten Frankreichs« wieder wegzugehen. Eine solche, leider unwahrscheinliche Handlungsweise würde uns nicht »enttäuschen«, sondern erfreuen müssen, denn sie würde den französischen Stolz grenzenlos verletzen und wäre die Einleitung zu einer gänzlichen Umgestaltung der europäischen Situation. Dann kehrt Wolfgang Eisenhart zu dem, was sein Herz besonders belastet, zurück. »Am schlimmsten«, versichert er noch einmal, »würden die Rückwirkungen eines ungenügenden Friedens auf unser inneres politisches Leben« sein. »Eine verzweifelte Stimmung« würde »über das deutsche Volk kommen, deren tiefer Pessimismus jeden nationalen Aufschwung unmöglich macht«. Das Volk würde »irre an seinen nationalen Idealen, irre an seiner Regierung, irre an seiner Zukunft werden«, und »dann ist der Boden bereitet für die unheimlichen Mächte einer staats- und völkerzersetzenden sozialen Demokratie«. Was Wolfgang Eisenhart hier vorbringt, haben in den letzten Monaten viele seiner Gesinnungsgenossen mit ähnlicher Deutlichkeit gesagt. Es ist im Interesse des Volksganzen wirklich notwendig, dass man diese Warner vor ihren eigenen Worten warnt. Das deutsche Volk weiss, dass es weiterkämpfen muss, weil es nun einmal in der Dornenhecke drin ist und weil der Selbsterhaltungstrieb vorwärtsdrängt. Es muss kämpfen, weil in diesem Augenblick noch kein Ausweg ins Freie sich erspüren lässt. Es muss kämpfen, weil auch auf der Feindesseite die dort noch übermächtige Schar der Annexionisten, der Marktathleten, keine Beendigung der grauenvollen Orgie will. Es kämpft, weil es seinen Heimatboden, seine Selbständigkeit liebt. Aber man sollte nicht sagen und schreiben, die Fortsetzung des Krieges, über solche Ziele hinaus, sei notwendig zur Niederhaltung der Demokratie. Man sollte das nicht der Demokratie sagen, die im Lande die schwere Last trägt, und nicht der Demokratie, die in den Schützengräben liegt.

 

Professor Friedrich Wilhelm Foerster hatte, von den Münchener Hochschullehrern mit dem grossen Bann belegt, seine Lehrtätigkeit an der Münchener Universität für einige Zeit eingestellt und wirkte von Zürich aus für die Völkerverständigung. Im Herbst dieses Jahres nahm er die Vorlesungen in München wieder auf.

25. Juni 1917

An Professor Dr. Fr. W. Foerster in Zürich.

Ihr letzter Artikel, den Sie in der »Neuen Zürcher Zeitung« veröffentlicht und mir mit freundlichen Grüssen in einem Sonderabdruck gesandt haben, ist mir zu einem jener wohltätigen Erholungsplätze nachgefolgt, wo man einige von den Eindrücken dieser Jahre abzubaden oder abzuspülen versucht. Sie verleben, lieber und sehr verehrter Herr Professor, mit einer Gruppe deutscher Landsleute diese Zeit in der Schweiz, und wie Prinz Hohenlohe und andere äussern Sie Ihre Gedanken in der Schweizer Presse – so frei, wie man, trotz allem, im Lande der Berge atmet, schreibt und druckt. Allerdings spiegelt sich ja heute in der Schweiz die ganze europäische Zerrissenheit, wie sich die Wildheit der Natur in einem schweizerischen Bergsee widerspiegelt, und Sie sind in diesem Augenblick dort Zeuge von Vorgängen, über die sich sehr viel sagen liesse und über die man als Deutscher am besten nur möglichst wenig sagt. Aber die von Ihnen und Ihren Freunden geführte Diskussion kann schon deshalb ungestört durch Parteileidenschaften sich vollziehen, weil sie, ähnlich wie das Wirken des Ihnen benachbarten Franzosen Romain Rolland, den Leidenschaften keiner Partei dienen soll. Diese Aussprache auf einer nicht eng überwachten Tribüne wird zweifellos kommenden Geschichtsschreibern wichtig für die Beurteilung der heutigen geistigen Strömungen erscheinen, denn es ist ja anzunehmen, dass es eines Tages wieder Geschichtsschreiber geben wird. Sie kann für die Gegenwart Bedeutung haben, wenn diejenigen, die auf dieser Tribüne das Wort ergreifen, stets bemüht bleiben, mit gleich ruhigem Gerechtigkeitssinn nach beiden Seiten hin zu sehen. Verbannte, und auch solche, die sich freiwillig verbannt haben, empfinden häufig neben der Bitterkeit, die sich aus den Tatsachen ergibt, noch eine besondere Verbitterung. Auch diese kann leicht den Blick trüben, wie es nationalistische Ueberreiztheit tut. Sie sind, sehr verehrter Herr Professor, immer bemüht gewesen, Ihr Urteil von beschränkter Einseitigkeit loszulösen, und Sie haben auch nie, wie einige Ihrer pazifistischen Exilgenossen, im ungestörten Zufluchtsort sich zum Kritiker und Richter über alle aufgeworfen, die daheim, im Lande geblieben sind. Sie verteidigen in Ihrem Artikel den Prinzen Hohenlohe, dessen Aeusserungen von konservativ-alldeutschen Blättern mit persönlicher Schärfe verdammt wurden, aber Sie bezichtigen diejenigen, die in Deutschland »zu allen Irrtümern und Unterlassungen schweigen«, nicht übler Knechtsgesinnung, sondern begnügen sich mit der Bemerkung, dass dort »diese Anschauung nur verstümmelt zu Worte kommen kann«. Sie verlangen Gehör für die Männer, die draussen von der freien, neutralen Höhe die Welt überblicken, und vergleichen sie mit dem Flieger, der weit hinter die feindlichen Linien fliegt. Was haben Sie, hoch über den Kampfreihen schwebend, erkundet, und welchen Rat, welche Belehrung bringen Sie uns von diesem Fluge mit?

Sie sagen, man verkenne bei uns noch völlig, dass eine Politik, die immer noch »Trümpfe« in der Hand behalten wolle, noch an Annexionen denke und mit »Schlaubergereien« zum Ziele kommen wolle, längst nicht mehr zeitgemäss sei. Die Sache des Weltfriedens hänge jetzt davon ab, »dass eine überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes sich prinzipiell und unzweideutig gegen alle Annexionen ausspricht und eben dadurch sein aufrichtiges Eingehen auf die Idee einer neuen Völkerordnung und seinen Abscheu vor jeder Fortsetzung des alten Rüstungselends dokumentiert«. Dieser Meinung weite Verbreitung zu verschaffen, haben einige von uns nicht erst seit heute und gestern sich bemüht. Jede offene oder versteckte Angliederung Belgiens und jede Unterjochung irgendeines politisch selbständigen Volksteiles sind vom ersten Augenblick an energisch bekämpft worden, obgleich es schwierig scheinen konnte, in leidenschaftlich bewegten Kriegstagen solche Mässigung einem Volke zuzumuten, dessen Heer seine Fahnen siegreich durch immer neue Länder trug. Und wie sollte man Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie weiter sagen, »auch die stärksten Gründe unmittelbarer politischer Klugheit« hätten die deutsche Regierung jetzt veranlassen sollen, den Russen »nicht im Sinne einer einseitigen deutschrussischen Entente« zu nahen, sondern »mit einem klaren europäischen Programm«? Indem die deutsche Staatsmannskunst den Russen immer wieder, und zuletzt noch in der »Norddeutschen Allgemeinen«, mit allzu deutlicher Betonung ankündigte, dass sie von Russland nichts gewaltsam nehmen wolle, erweckte sie den Eindruck, dass sie mit den Verbündeten Russlands anders verfahren wolle, hinderte sie die Petersburger Regierenden, einen wirksamen Druck auf die Alliierten auszuüben, führte sie ganz selbstverständlich nur immer bestimmtere bundestreue Erklärungen Russlands herbei. Das ist hier, an dieser Stelle, vorausgesagt worden, als Herr v. Bethmann Hollweg, das milde Antlitz gen Osten gewendet, seine Rede hielt. Man sah abermals einen jener psychologischen Irrtümer, die sich seit Beginn des Jahrhunderts in stetiger Folge aneinanderreihen.

Aber wie muss nach Ihrer Ansicht, verehrter Herr Professor, das »klare europäische Programm«, das »wirklich erlösende europäische Wort« aussehen, mit dem Deutschland vor die Nationen hintreten soll? Hier, in diesem entscheidenden Punkte, sprechen auch Sie nicht das klare, erlösende Wort. Nur darüber lassen Sie keinen Zweifel, dass Deutschland erklären müsse, es sei zu einem Verständigungsfrieden mit allen Gegnern und zum Verzicht auf jegliche Gewaltpolitik bereit. Indessen werden Sie mit uns sich zu der Meinung bekennen, dieses »europäische Programm« Deutschlands, das leider nicht existiert, müsse über das bisherige System der Allianzen hinweg die Grundlinien und das praktische Funktionieren der grossen Völkerinteressengemeinschaft zeigen, von der man bisher nur in Gemeinplätzen zu sprechen pflegt. Die Männer, die ein solches Programm zu entwerfen hätten, dürften nicht die Staatsweisen von gestern sein, müssten frische Beherztheit, Wirklichkeitssinn, Weltkenntnis, gänzliche Gleichgültigkeit gegen alle Schablone vereinigen, und das doktrinäre Menschheitsphilosophentum wäre dabei ebensowenig zu gebrauchen wie die verkrachte diplomatische Routine und die militaristisch-bureaukratische Tradition. Diese Männer dürften auch nicht sagen, wie es in einer Regierungsrede geschah, dass wir gern geneigt wären, uns »an die Spitze« einer Völkervereinigung oder einer vereinigenden Aktion zu stellen. Sie müssten auch wissen, dass eine solche Aktion sich gar nicht ohne grundlegende Veränderungen im Innern, ohne parlamentarisches System, ohne Abschaffung jeder Geheimpolitik herbeiführen lässt. Aber wenn die Bekanntgabe eines solchen Weltkontraktes die Friedensströmungen wohl überall antreiben, wenn sie der russischen Regierung auf der Konferenz, die jetzt zur Revision der Ententeziele einberufen werden soll, zweifellos eine wirkliche Möglichkeit zu starkem Auftreten bieten würde – jene Forderungen territorialer und anderer Art, mit denen die Alliierten Russlands ihre Reden schmücken, blieben vorläufig weiter bestehen. Die Zurückgewinnung Elsass-Lothringens zum mindesten ist nicht nur der Traum einiger Boulevardphantasten, und eben noch hat ein englischer Minister auf eine Anfrage im Unterhause geäussert, dieses sei eine Selbstverständlichkeit. Soll das deutsche Volk, unbesiegt und in seiner Kraft unerschüttert, Strassburg an Frankreich zurückgeben, oder soll es sonst eine Bedingung annehmen, die ihm als ein Akt der Demütigung, der Unterwerfung erscheinen muss? Nur einem völlig besiegten und erschöpften Deutschland würden solche Zugeständnisse zu entreissen sein. Sie wollen gewiss nicht das Strassburger Münster aus dem deutschen Juwelenschatze herausbrechen lassen und wünschen vermutlich, wie viele von uns, ein freies, im Rahmen des deutschen Staatenbundes sich selbst verwaltendes Elsass-Lothringen, wo der unvergängliche Baum der eigenen Kultur endlich die Möglichkeit hätte, unverkünstelt zu gedeihen. Und Sie werden auch über das Wort »Demütigung« nicht mit der Bemerkung hinweggehen wollen, dass es einen dehnbaren Begriff ausdrücke und dass bei der grossen Neuregelung der Welt nicht Empfindlichkeiten befragt werden dürften, sondern allein die Gesetze der nüchternsten Betrachtung und der Vernunft. Wenn man Wirklichkeitspolitik treiben will, dann muss man die Menschen nehmen wie sie wirklich sind. Wenn man ein neues Europa errichten will, kann man es nicht für erdachte Wesen berechnen, muss man es für lebendige Menschen von Fleisch und Blut erbauen. Im »Figaro« hat neulich Herr Albert de Pourpourville, um dem französischen Publikum ein belebendes Gift einzuspritzen, in einem Artikel »La Haine nationale« von dem ganz Deutschland untilgbar beseelenden Franzosenhass erzählt. Das vielstämmige deutsche Volk habe neben dem »Joch der Furcht und der Sklaverei,« unter dem es zusammengepfercht sei, immer noch ein anderes Bindemittel gebraucht, und dieses Bindemittel sei der finstere Hass gegen die Lateiner und Griechen – »von denen wir abstammen« – und gegen jedes heitere Schönheitsideal. »Die Söhne Odins und Thors werden das eiserne Schwert und den von Feindesblut vollen Becher nicht eher niederlegen«, bevor nicht die französische Rasse ausgerottet sein wird. »Der Hass gegen Frankreich bleibt das Prinzip, die Grundlage, das göttliche Dogma« der Deutschen, und »in diesem Punkte dachte Bebel wie Reventlow, und Liebknecht stimmt mit Westarp überein«. In deutschen Provinzblättern hat ungefähr zu gleicher Zeit ein feldgrauer Romanschriftsteller, der Liebe und Krieg in edelsinnigen Geschichten zu verbinden pflegt, auf Grund seiner Eindrücke dargelegt, die Bevölkerung der besetzten nordfranzösischen Gebiete sei trotz allen Wohltaten, die man ihnen erweise, von einem nicht zu besänftigenden Hass gegen die Deutschen erfüllt. Selbst die Hygiene und die Ordnung, die ihr jetzt beigebracht worden seien, schätze sie in ihrer Verbissenheit gering. Herr de Pourpourville ist, um zarte Worte zu gebrauchen, ein Verrückter oder eine Kanaille, und niemand von uns braucht daran zu erinnern, dass die grosse Mehrheit des deutschen Volkes, unberührt von dem wirren Geist eines polternden Bardentums, Frankreich gegenüber nicht das leiseste Hassgefühl empfand. Der feldgraue Schriftsteller, der gewiss seinen Dichtergenossen Arndt und Körner den Hass gegen die mitunter auch reformatorische napoleonische Fremdherrschaft nachzufühlen weiss, kann nicht begreifen, dass auch ein anderes Volk sich immer nur mit innerer Auflehnung den Befehlen des Eroberers beugt. Aber wenn aus diesem Kriege, was ja nicht wahrscheinlich ist, Deutschland mit einer dauernd sichtbaren Kränkung hervorginge, dann würde allerdings vermutlich Herr de Pourpourville nachträglich recht behalten, eine feindselige, zornige Stimmung würde sich im deutschen Volke festwurzeln und nicht leicht zu bannen sein. Und der feldgraue Schriftsteller würde nicht leidenschaftsloses Vergessen predigen, sondern weit eher Unversöhnlichkeit.

Zur Lösung welcher Aufgaben müssen alle freiheitlich gesinnten, aufgeklärten und klarblickenden Deutschen ihre Kräfte zusammentun? Zunächst zu jener inneren Erneuerung, die, wenn sie Bestand haben soll, nicht nur eine gründliche Erneuerung der Institutionen, sondern auch eine Erneuerung des Geistes werden muss. Wie weit wir davon noch entfernt sind, zeigt sich täglich im kleinen und im grossen, hat sich erst eben wieder gezeigt, als die »Norddeutsche Allgemeine« bemerkte, Herr Wilson sei ein schlimmerer Autokrat, als es Nikolaus je gewesen – wobei wohl nicht jeder sich überlegte, dass der amerikanische Präsident immerhin in der wichtigsten Lebensfrage der Nation, vor der Kriegserklärung, die Meinung des Parlamentes einholen muss, nichts ohne Votum des Parlamentes vermag. Es hätte überraschen können, dass die Erklärungen, mit denen die deutsche Majoritätssozialdemokratie die Stockholmer Fragen beantwortete, gerade über diese Dinge kurz hinwegglitten, wenn man sich nicht sagen müsste, dass die innere Neugestaltung nicht vor ein auswärtiges Tribunal gehört. Würde sich in der dumpfen Atmosphäre nationaler Bedrücktheit der freie Geist so entwickeln, wie wir es wünschen, oder wäre er nicht allzubald, nach kurzem, heftigem Auftrieb, in seinem Fluge gehemmt? Ein Fortschritt im Innern, neben dem der Hass gegen die Aussenwelt gedeihen würde, hätte auch im besten Falle nur einen sehr kümmerlichen Wert. Die zweite Aufgabe, die mit der ersten an manchen Punkten eng zusammenhängt, würde es ja gerade sein, den Chauvinismus überall dort auszurotten, auszuräuchern und auszubrennen, wo er die Völker verführt, die Luft vergiftet und den Brandstoff zusammengetragen hat. Sie werden gewiss zugeben, dass man da, wie der Vater, der seine Kinder mit gleicher Liebe liebt, nach allen Seiten blicken muss und auch die Ententepresse nicht vergessen darf. Weder die Presse jenes Lord Northcliffe darf vergessen werden, der schon im Jahre 1903 seinem bewundernden Komplicen, dem Chefredakteur des »Matin«, seine deutschfeindlichen Wünsche gestand, noch die italienische Blättergruppe, deren bezahlte Stimmen die harmlose Volksmasse aufwiegelten, noch jener beträchtliche Teil der Pariser Presse, dem Emile Zola den Namen »la presse immonde« erfand. Es wäre doch eine höllische Ungerechtigkeit, kämen diese Unheilstifter der Ententeseite statt an den für sie reservierten und numerierten Pranger als lorbeergeschmückte Helden auf eine Ehrenbank. Die nationalistische Pest würde gewiss nicht schwinden, sondern noch zunehmen, wenn diese Leute das Recht gewinnen sollten, ihren Triumph, ihr Werk, ihre Macht eitel zu rühmen und jeden Verständigen im eigenen Lande niederzuschreien. Wir haben vor allem die Pflicht, bei uns aufzuräumen, aber alles Aufräumen hilft nichts, wenn anderswo das Treiben der Intriganten und Tollhäusler weitergeht. So zeigt sich immer wieder, dass die Welt zur Ruhe und zu glücklicheren Zuständen nur durch einen Verständigungsfrieden gelangen kann, der nirgends die brutalen Machtpolitiker befriedigt und nirgends ein Gefühl der Demütigung hinterlässt. Auch Sie teilen gewiss, verehrter Herr Professor, die Ueberzeugung, dass das schönste europäische Programm, oder das schönste Weltprogramm, nur neue Unglücksperioden vorbereitet, wenn es einen anderen als diesen Frieden erstrebt. Man schafft kein besseres Europa, indem man neue Sümpfe anlegt oder Vulkane von einer Stelle an die andere versetzt.

 

Im Hauptausschuss des Reichstags hielt am 6. Juli der Abgeordnete Erzberger seine – nicht veröffentlichte – Rede, die den äusseren Anstoss zur Bethmann-Krisis gab.

9. Juli 1917

Um was handelt es sich? Zunächst ganz einfach darum, die Dinge zu Wasser und zu Lande nicht immer nur durch einen Nebel hindurch zu sehen, nach drei Kriegsjahren die Wahrheit höher als die Schönfärberei zu schätzen, und dann – nicht nervös, aber nüchtern – aus den Tatsachen die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Kindliche Stubengelehrte, schwerindustrielle Generalsekretäre und ihre angestellten Schreiber, unklare Phantasten und klare Charlatane behaupten noch immer, man könne gewaltige Eroberungen machen und die Welt liege, wenn wir nur zugreifen wollten, zu unserer Verfügung da. Es wäre, auch wenn die Möglichkeit sich böte, verwerflich und unklug zugleich, fremde Völker unter ein Joch zu zwingen, fremde Selbständigkeit zu zertreten, aber diese Möglichkeit bietet sich nicht. Die grosse Mehrheit des Reichstages hat das eingesehen, und sie wird von der Regierung die unzweideutige Erklärung fordern, dass Deutschland auf jede Annexion verzichte, sich nur verteidigen wolle und nach allen Seiten hin bereit zu einem Verständigungsfrieden sei. Späte Erkenntnis ist sicherlich besser als gar keine, und die wahren Schwächlinge sind gewöhnlich diejenigen, die bis zuletzt am heldenmütigsten schreien. Aber muss wiederholt werden, dass zur Beschleunigung des Friedens die ausgezeichnetste Erklärung über unsere versöhnlichen Absichten, der deutlichste Verzicht auf jegliche Besitzerweiterung nicht genügt? Wenn man in absehbarer Zeit zum Frieden kommen, und wenn man nach diesen ungeheuerlichen Mordjahren im Innern ein halbwegs ruhiges Leben, nach aussen hin eine neu aufbauende Politik ermöglichen will, dann muss man dafür sorgen, dass das deutsche Volk von den anderen Kulturvölkern der Erde nicht mehr als ein einflussloses, beherrschtes, unselbständiges Untertanenvolk, die deutsche Regierungsgewalt nicht mehr als ein unkontrolliertes, im geheimen planendes und verfügendes, ungehemmt schaltendes Fatum betrachtet wird. Dann muss der Reichstag mit der Zustimmung zum Verständigungsfrieden auch die Sicherheit dafür fordern, dass in Zukunft Kanzler und Minister nur im Einverständnis mit der Volksvertretung regieren, kommen und gehen dürfen, dass sie in allen wichtigen Angelegenheiten ein Vertrauensvotum des Parlaments anrufen müssen, dass kein Beschluss über Krieg und Frieden oder über andere Schicksalsfragen ohne die rechtzeitige, gründliche, freie Mitwirkung des Parlaments gefasst werden darf. Dann muss, sofort, mit einem System gebrochen werden, das die höchste Staatsspitze, weil es ihr alle Verantwortung zuweist, den gefährlichsten Stürmen aussetzt, dem deutschen Volke jeden wirklichen Einfluss auf sein Geschick verwehrt und heute alle Bemühungen, zum Frieden zu gelangen, zehnfach schwierig oder ganz vergeblich macht.

Herr Erzberger hat – nachdem der Sozialdemokrat Noske am Tage vorher schon ähnliches gesagt hatte – im Hauptausschuss des Reichstages in zwei grossen Reden Tatsachen beleuchtet, die mancher seit langem erkennt und nicht mit gleicher Freiheit auszusprechen vermag. Er hat gewissermassen von oben bis unten das ganze Gebäude geprüft und hat sich besonders eingehend mit dem U-Boot-Krieg, mit den Berechnungen, Voraussagungen und Wirkungen, zu denen ja auch das Eingreifen Amerikas gehört, befasst. Herr Erzberger ist ein sehr gescheiter, behender, fleissiger, kenntnisreicher, überall auftauchender Mann, der während des Krieges als freiwilliger Diplomat vielerlei unternommen und in vieles hineingeblickt hat, im Süden und im Norden, an kleinen und grossen Höfen, in Italien, in der Schweiz, in Skandinavien und anderswo gewesen ist. Wenn man jetzt nach seinen Beweggründen und seinen Hintermännern sucht, so ist das ja gewiss ein interessantes, aber doch nicht gerade ein notwendiges Bemühen. Es ist unbestreitbar, dass neben der Sozialdemokratie am genauesten das von den Kaplänen und vielen anderen Vertrauensmännern informierte Zentrum die Stimmung im Lande zu beurteilen weiss. Diese Stimmung drängt nicht – man soll in den Ententeländern keine Illusionen hegen – zu einem Frieden, der Unterwerfung und Demütigung bedeuten würde, die Verteidigungskraft ist ungemindert, der Entschluss zur Selbstbehauptung ungeschwächt, aber aus allen Schichten des Volkes steigt, noch ungeordnet und uneinheitlich, eine Fülle von Fragen, Zweifeln, Vorwürfen, Mahnungen und Forderungen empor. Noch steht diesem Volke, das zu lange von der politischen Selbständigkeit ferngehalten worden ist und in politischen Systemen wenig Bescheid weiss, das Ziel seines Verlangens nicht deutlich vor Augen, und nur der Friedenswunsch wird mit voller Klarheit gefühlt. Aber auf allen lastet die Empfindung, dass nicht nur die Organisation eines einzelnen Verwaltungszweiges, nicht nur die Ernährungsorganisation oder die Kohlenversorgung versagt hat, sondern dass die Organisation des Staates uns in die gegenwärtige Lage hineingeführt hat und immer weiter führt. Das deutsche Volk hat seine politischen Geschäfte arg vernachlässigt, aber es hat in seinen nichtpolitischen Geschäften die schärfste Urteilskraft, die beweglichste Intelligenz, den ruhigsten Tatendrang gezeigt. Es war in hohem Masse bedenklich, ein solches Volk auf die Dauer von jeder Mitregierung, jeder Mitverantwortung auszuschliessen, es von oben herab, obrigkeitlich, bureaukratisch regieren zu wollen, es ganz wie die Völker einer fernen Vergangenheit vor einer verschlossenen goldenen Tür geduldig auf die Männer und die Schicksalssprüche harren zu lassen, die man ihm schickt. In einer schweren Krisis, wie wir sie durchleben, muss jeder im Volke sich stolz als ein selbständiger Teilhaber der staatlichen Gesellschaft fühlen, muss er wissen, dass von ihm gewählte Vertrauensmänner, die er morgen fortschicken kann, die Verwalter seines Gutes sind, und dass er, der frei einherschreitende Staatsbürger, sich Glück und Unglück selber mitgeschaffen hat. Wenn ihm alles aus einer unsichtbaren, unkontrollierbaren Verborgenheit auferlegt wird, dann muss der Augenblick kommen, wo er vor der verschlossenen goldenen Tür das Missverhältnis einer solchen Machtverteilung begreift.

Man versichert, dass die unveröffentlichte Rede des Herrn v. Bethmann Hollweg im Hauptausschuss nur eine Wiederholung gesammelter älterer Aussprüche gewesen sei. Sollte es, was unser Herz noch nicht glauben will, ein Schwanengesang gewesen sein, so wäre also die Legende, dass die Schwäne vor dem Tode besonders ergreifend singen, noch einmal widerlegt. Es wäre eine eigenartige, obgleich nicht überraschende Fügung, wenn Herr v. Bethmann Hollweg nun infolge von Angriffen fiele, bei denen die U-Boot-Frage und die gegenüber Amerika befolgte Politik im Vordergrunde stehen. Den allzu ausschweifenden Erwartungen und Schätzungen, die ihm in dieser Frage entgegengehalten wurden, hat er Monate hindurch hartnäckig widersprochen, die Auffassung, dass die Beteiligung Amerikas den Krieg nicht erschweren und verlängern könnte, hat er bekämpft, gegen den mit populären Schlagworten entfesselten Ansturm hat er sich lange gewehrt. In dieser Abwehr haben wir ihn unterstützt, die Meinung, dass die amerikanische Hilfe keine Stärkung für die Entente bedeuten würde, haben wir, gleich ihm, nicht geteilt. Heute, wo es klar wird, dass nur aus dieser Hilfeansage die Entente den Mut zur Fortsetzung des Krieges, zu einem neuen Winterfeldzuge schöpft, sieht er sich in den Blättern getadelt, in denen noch im vorigen Winter jede Mahnung, den Bruch mit Amerika zu vermeiden, als ein Zeichen unverbesserlicher Yankeeliebe oder schmählicher Schwäche bezeichnet worden ist. Hat Herr v. Bethmann Hollweg die Energie, die er in jenen Monaten seines Widerstandes unleugbar aufwendete, auch bei anderen Gelegenheiten gezeigt? Niemand hat, es muss noch einmal bedauernd konstatiert werden, allzuviel von einer Betätigung dieser unentbehrlichen Eigenschaft bemerkt. Herr v. Bethmann Hollweg hat sich während des Krieges mit dem alldeutschen Chauvinismus auseinandersetzen müssen, aber er hat die Gefährlichkeit dieser weitverschleppten Epidemie erheblich zu spät erkannt. Er hat die Fehler seiner Vorgänger wieder korrigieren wollen und hat sie nach kurzen Verbesserungsversuchen fortgesetzt. Immer zurückweichend, hat er von der Macht, die in seinen Händen lag, ein Stück nach dem anderen fortgegeben, bis ihm wenig übrig blieb. Er klagte über vieles, aber er machte es mit. Von der Vergangenheit, von der auswärtigen Politik der letzten Friedensepoche zu reden, lehnt jeder, der seine Gedanken nicht dem offiziellen Schema anpasst, in einer Zeit beschränkter Meinungsäusserung am liebsten ab. Hat Herr v. Bethmann Hollweg zur Neugestaltung der inneren Verhältnisse dem deutschen Volke bisher etwas anderes als Worte gebracht? Verheissungen, deren Einlösung er vertagte, schön klingende Sätze über die »Tüchtigen«, während er bei der Auswahl des Regierungspersonals die ehrwürdigsten Traditionen weiter befolgt. Im ganzen Verwaltungsapparat kaum eine neue Seele, im Auswärtigen, Amte die Talleyrands von vorgestern, nach Fehlern und Fehlschlägen die gleiche ummauerte Abgeschlossenheit. Sollte Herr v. Bethmann Hollweg uns verlassen, so wird man ihm nachrufen, dass er sich des rechten Weges oft bewusst gewesen ist und nur leider häufig einen anderen beschritten hat. Sollte er die Absicht und die Möglichkeit haben zu bleiben, so wird er nun hoffentlich einsehen, dass er nur mit einem neuen System, nur mit dem parlamentarischen System, dem Friedensschlusse näherkommen, das Reich über diese bitterernste Zeit ohne Erschütterung hinwegleiten und ihm im Innern wie draussen eine glücklichere Zukunft sichern kann.

Gemessen an diesem grossen Gebot, das deutsche Volk durch seine Vertretung an der Regierung zu beteiligen und das Regime der verschlossenen Tür in ein Regime der geordneten Oeffentlichkeit zu verwandeln, sind alle Personenfragen winzig klein. Ob Herr v. Bethmann Hollweg sein Amt abgibt oder behält, ist daneben ebenso unerheblich, wie das Ratespiel, ob Herr Erzberger es gut mit Bethmann oder besser mit einem noch versteckten Kandidaten meint. Man spricht von einem »Koalitionsministerium«, das Herr v. Bethmann Hollweg oder sein Nachfolger bilden solle, und man versteht darunter ein Ministerium mit reservierten Plätzen für die Führer, der Reichstagsparteien. Aber ein Parlamentarierkabinett, das nicht vom Willen, nicht vom Vertrauensvotum des Reichstages abhinge und nach geleisteter Arbeit durch einen ausserhalb des Parlaments vollzogenen Machtspruch beseitigt werden könnte, wäre ein haltloses Gebilde, würde im Lande keine Erwartungen erwecken, und in dem an wirklichen Parlamentarismus gewöhnten Auslande erst recht nicht, und nichts wäre damit erreicht. Die Reichstagsfraktionen beraten über eine Erklärung, die ihre innerpolitischen Forderungen zusammenfassen soll. Man möchte sie beschwören, nicht aus Halbheiten ein Ganzes zu erkünsteln, nicht eine Kompromissformel zu bringen, der später wieder, unter dem Druck der Ereignisse, andere Formeln folgen müssten, sondern gleich, mit Kraft und Klarheit, alles Notwendige auf einmal zu tun. Es ist für Volk, Staat und Staatsoberhaupt unerlässlich geworden, die Macht und die Verantwortung neu zu teilen, es ist eine unabweisbare Notwendigkeit geworden, das deutsche Volk in seinem eigenen Bewusstsein und in den Augen der Welt zu einer Gemeinschaft selbständiger Staatsteilhaber zu erheben, ihm die schwarzen und die heiteren Lose nicht mehr aus der Wolkenhöhe zufliegen zu lassen, ihm das Recht und die inhaltschwere Pflicht der Mitbestimmung zu verleihen. Jeder pflegt um so williger und um so entschlossener seine Bürde zu tragen, je mehr er die Empfindung haben darf, dass nicht er die Sache des Staates, sondern dass der Staat seine Sache sei. Aber wenn man jetzt wieder kompromisselt und halbherzig Kleinigkeiten bietet und annimmt, dann ist es unvermeidlich, dass die heute in Fragen, Zweifeln, Mahnungen und Forderungen durcheinanderwallende Stimmung sich vereinheitlichen, auf bestimmte Ziele hinstreben und laut sich äussern wird. Will man warten – bis zu diesem Augenblick?

 

Am Tage nach dem Auftreten Erzbergers kamen Hindenburg und Ludendorff nach Berlin. Herr v. Bethmann Hollweg glaubte damals, sich noch halten zu können, und schlug dem Kaiser die schleunige Einbringung der preussischen Wahlrechtsvorlage – mit dem gleichen Wahlrecht – vor. Nach der Kronratssitzung vom 9. Juli stimmte der Kaiser diesem Antrage zu. Aber die Stellung des Herrn v. Bethmann wurde nun von allen Seiten unterminiert. Am 10. Juli liess der Kronprinz eine Anzahl Parlamentarier zu sich rufen und man nahm ihre Meinungsäusserungen über den Reichskanzler zu Protokoll. Die Nationalliberalen liessen durch den Prinzen Schönaich-Carolath dem Chef des Zivilkabinetts erklären, dass Herr v. Bethmann Hollweg nicht mehr zur Leitung der Reichsgeschäfte geeignet sei. Unmittelbar darauf fiel auch das Zentrum ab. Hindenburg und Ludendorff kehrten am 13. Juli nach Berlin zurück. Am folgenden Tage reichte Herr v. Bethmann Hollweg sein Entlassungsgesuch ein. Am gleichen Tage wurde, ohne Befragung und Mitwirkung des Reichstags, Herr Dr. Michaelis zum Reichskanzler gemacht.

16. Juli 1917

Herr v. Bethmann Hollweg wäre gern noch geblieben, und er hat das vielleicht etwas zu deutlich gezeigt. Darüber sollten nicht diejenigen übel reden und übel reden lassen, die seit Albrecht dem Bären die Mehrzahl der Staatsposten festhalten und versichern, dass das die Mannentreue sei. Heute vor vierzehn Tagen, als noch kein Blitz niederzuckte, habe ich gesagt, Herr v. Bethmann Hollweg sollte sofort die Reichsregierung umgestalten, die Parteiführer in ein Ministerium berufen, sich dann, als erster parlamentarischer Ministerpräsident, vom Reichstag das Vertrauen votieren lassen und nach solcher Tat und solchem Erfolge aus dem Amte gehen. Jeden, der ein wenig Unterscheidungsvermögen besitzt, möchte man fragen, ob bei dieser, in parlamentarischen Staaten üblichen, öffentlichen Methode der Regierungswechsel nicht würdevoller, klarer sich abspielt, als bei einem System, das vom Dunkel umgeben ist und, wie wir eben wieder gesehen haben, zu geheimen Intrigen und verstecktem Minenlegen verführt. Die Presse mit dem warmen Brustton pflegt zu behaupten, in den parlamentarisch regierten, und besonders in den romanischen Ländern übten persönlicher Ehrgeiz, leidenschaftliche Parteigängerei, Korruption und Verhetzung einen verderblichen Einfluss aus. Ach, ein Teil der deutschen Presse hat, ohne den Witz und die formale Glätte, die romanischen Sitten und Töne sich vollständig angeeignet, und die Haltlosigkeit ist hier mindestens so gross wie dort. Aber Fürst Bülow und Herr v. Bethmann Hollweg wären, wenn wir das parlamentarische System hätten, auch nicht aus dem politischen Leben ausgeschaltet, nicht zu dem einsamen Leben verabschiedeter Staatsmänner verurteilt, und auch das wäre würdiger und nützlicher zugleich. Sie wären von dem Regierungsplatz in den Kreis der Parlamentarier hinuntergestiegen, sässen, wie Briand, Grey und Asquith, nun auf der Bank der Volksvertreter, könnten immer wieder zum verlassenen Platz hinaufgelangen und inzwischen dem Parlament und dem Volke ihren Rat und ihre, durch lange Erfahrung wertvolle Mitwirkung leihen. Herr v. Bethmann Hollweg brauchte nicht in Hohenfinow still zu philosophieren, er würde bei jeder wichtigen Gelegenheit das Wort ergreifen, würde nicht nur auf eine Vergangenheit zurückblicken, sondern auch eine Zukunft vor sich sehen. Fürst Bülow hätte nicht sein Buch zu schreiben brauchen, sondern hätte, wie ein vom Regierungssitz entfernter Beaconsfield oder Gladstone, mit glänzender Beredsamkeit im Parlamente gekämpft.

Für alle, die jetzt in der Presse und mit tönender Rede Herrn v. Bethmann Hollweg umwüteten, war er bei dem Ausbruch des Krieges ein Heros, ein grosser Mann. Sie lobten beglückt seine Kriegspolitik, sie priesen ihn, weil er das Lügennetz des niedrigen Schurken Grey zerrissen habe, sie zogen mit Fahnen und Huldigungsworten vor sein Haus. Einige von uns, die über den Verlauf der Dinge, der vergangenen und der kommenden, nicht nach fertigen Meinungsrezepten dachten, konnten an solchen Huldigungen nicht teilnehmen, so klar sie auch die Pflicht erkannten, aus der vollendeten Tatsache die unvermeidlichen Konsequenzen zu ziehen. Sie betrachteten es als höchste Selbstverständlichkeit, dass das bedrängte Vaterland nun mit aller Kraft geschützt und verteidigt werden müsse, und sie schlossen einstweilen das Buch der Vergangenheit, um der Gegenwart zu dienen, aber sie tranken sich keinen Rausch an und nahmen gelassen von denjenigen, die heute die strengen Richter des ersten Kriegskanzlers spielen, den Vorwurf der Lauheit und der kritischen Nüchternheit hin. Es war eine etwas seltsame Entwicklung, dass dann im Verlaufe des Krieges diese Nüchternen häufig an die Seite des Reichskanzlers traten, den sie nicht mitbejubelt hatten, und wie in der Seele des Herrn v. Bethmann Hollweg seit dem Kriegsbeginn ein Zwiespalt sich offenbarte, so blieb auch bei denen, die so überraschend seine gelegentlichen Parteigänger wurden, eine unleugbare Zwiespältigkeit bestehen. Aber in schwer bewegter Zeit darf man nicht am Gestern kleben, muss man weiterschreiten, Rückblicke auf schon historisch Gewordenes vertagen, kann man nicht auch noch denjenigen sich anschliessen, die in Unkenntnis, Unverstand und marktschreierischem Kraftgetue alles darauf anlegen, das Unheil auszudehnen, die Gefahr zu erhöhen.

Es war vorauszusehen, dass das ganze Ausland sagen und schreiben würde, noch einmal habe jetzt Deutschland die Reaktion, der Annexionismus, die Partei des starren Machtgedankens triumphiert. Und dieser Eindruck konnte nicht ausbleiben, da der Sturz des Herrn v. Bethmann Hollweg durch die Konservativen, die Schwerindustriellen, die Alldeutschen und ihren Anhang vorbereitet und erzwungen worden ist. Aber es wäre ein ausserordentlicher Trugschluss, wenn man meinen sollte, dieser Sieg wäre mehr als der Sieg über einen einzelnen Mann. In Deutschland dürften nur sehr wenige verkennen, dass kein Personenwechsel die notwendige Entwicklung aufzuhalten vermag. Der neue Reichskanzler, Herr Dr. Michaelis, wird in den chauvinistischen und fortschrittsfremden Blättern mit zudringlichem Eifer gerühmt? Er wird nicht ihre Wünsche erfüllen können, denn es ist gar nicht möglich, ihre Wünsche zu erfüllen. Der Reichstag wird nach so dramatischen Stunden überzeugt sein, er habe nun vorläufig wieder genug getan? Er wird dann bald erfahren, dass das ein Irrtum war. So bestimmt wie der niederfallende Stein irgendwo aufschlagen muss und nicht in der Luft hängen bleiben kann, so bestimmt muss im Innern des Reiches die Idee einer neuen Verteilung von Macht und Verantwortung vorwärtsdringen, bis das Ziel erreicht sein wird. Wenn Herr Michaelis, dem man ernste Sachlichkeit und Energie nachrühmt, diese Notwendigkeit erkennt, wird er dem Volke und der höchsten Staatsspitze einen grossen Dienst erweisen, Stürme ablenken und den Friedensschluss beschleunigen, aber all seine Energie würde nicht ausreichen, um dem, was kommen muss und wird, den Weg zu versperren. Die Volksvertretung wird, auch wenn sie selber nur zögernd zugreift, das Recht erhalten, an der Regierung mitzuwirken, über das Kommen und Verschwinden der leitenden Vertrauensmänner öffentlich zu entscheiden, bei den Schicksalsfragen der Nation, bei Krieg und Frieden, rechtzeitig zu prüfen und den Willen dieser grossen, starken Volksgemeinschaft kundzutun. Der ausschlaggebende politische Unterschied wird verschwinden, der das deutsche Volk von den frei sich selbst verwaltenden Völkern trennt und rund um uns herum eine misstrauische, verletzende, jede deutsche Auslandspolitik schädigende Stimmung schuf. Mit diesem oder mit einem anderen Manne wird das Unvermeidliche geschehen. Die Hüter der alten Regierungsmethoden wissen es, und die hassvolle Verbitterung, die noch einmal in Angriffen auf den Gestürzten sich entladet, rührt von diesem Wissen her. Die »Kreuz-Zeitung« sagt, dass Herr v. Bethmann Hollweg, der die Demokratie begünstigte, »mit einem seltenen Masse von Unfähigkeit und Missgeschick die Geschicke Preussens und Deutschlands an oberster Stelle geleitet hat«. So rächt man sich an Personen, wenn man die Tatsachen nicht auslöschen kann. In früheren Tyrannenzeiten wurde der Bote, der eine schlechte Kunde überbrachte, gerechterweise geköpft. Herr v. Bethmann Hollweg war nur ein Bote – er sah und meldete den unvermeidlichen Zusammenbruch der konservativen Staatsidee.

Heute vor drei Jahren vollzogen sich, in der Heimlichkeit noch und ohne Wissen der Völker, die Ereignisse, aus denen dieser unerhört entsetzliche Krieg entstand. Schon nahte der Augenblick, wo Herr v. Bethmann Hollweg vom Fenster des Kanzlerpalais herab die Glückwunschreden anhörte und die Fahnen des Vereins deutscher Studenten oder ähnlicher Vereinigungen im Abendwinde wehen sah. Die Konservativen und ihre schwerindustriell-alldeutschen Freunde befürchteten kein Emporkommen der Demokratie. Ihre Auffassungen von der Wirkung der Kriege auf die Volksideen und ähnliches waren, wie aus manchen Aeusserungen sich nachweisen liesse, ganz anderer Art. In einem französischen Roman schwärmen ein Jüngling und ein Mädchen für die freie Liebe, und sie schwärmen so lange, bis ihre Schwärmerei zu den üblichen sichtbaren Folgen führt. Mit Befremden und Bestürzung betrachten sie das Resultat, das als unwiderlegbare Tatsache vor ihnen liegt. »Ein Ereignis,« fügt der Romanschriftsteller hinzu, »das indessen ohne Schwierigkeiten vorherzusehen war ...« »Evénement pourtant pas difficile à prévoir.«

 

Die Antrittsrede, die Herr Dr. Michaelis am 19. Juli im Reichstag hielt, bereitete den nicht Allzuvielen eine erste Enttäuschung, die so unvorsichtig gewesen waren, dem Wirken des neuen Reichskanzlers hoffnungsfroh entgegenzusehen. Von der Friedensresolution, die nun angenommen wurde, sprach Herr Dr. Michaelis in mehrdeutigen Wendungen, von der inneren Neugestaltung sprach er meist eindeutig, aber schön fügte er hinzu: »Ich bin nicht willens, mir die Führung aus der Hand nehmen zu lassen«, worauf man rechts freudvoll »Bravo!« rief.

23. Juli 1917

In einem Worte kann man alles zusammenfassen, was bisher vom Reichstag für die innere Erneuerung des Deutschen Reiches durchgesetzt worden ist. In dem einen Worte: nichts. Die Abgeordneten, die zum Kronprinzen gerufen wurden, um über Herrn v. Bethmann Hollweg auszusagen, fühlten sich ja vielleicht in ihrer Bedeutung erhöht. Diejenigen, die ihre belastenden Erklärungen zu Protokoll gaben, glaubten, die Weltgeschichte vorwärtszubewegen, und wurden selber an unsichtbaren Drähten vorwärtsbewegt. Als der unbeliebt gewordene Reichskanzler über Bord geworfen werden sollte, durften sie die Gerechtigkeit des Urteils bescheinigen, und stolz gaben sie ihre Unterschrift. Als der neue Mann ausgesucht und ernannt wurde, kümmerte sich niemand mehr um sie. Der Parlamentarismus, den nun schon recht viele für notwendig halten, sieht nicht ganz so aus. Er operiert nicht in einem Schlosszimmer, sondern vor allem Volke, in der Oeffentlichkeit. Unter diesem Parlamentarismus tragen die Volksvertreter ihre Beschwerden auf der Tribüne vor, zwingen, wenn es ihnen nötig erscheint, die Regierung durch ein Votum zum Rücktritt und übernehmen durch klares Handeln die volle Verantwortung. Ein diensttuender Geheimparlamentarismus führt uns nicht vorwärts zu einem System geregelter Kontrolle und neuer Machtverteilung, sondern nur noch tiefer in Zustände hinein, wo alles undurchsichtig ist, alles auf persönlichen Entschliessungen und unkontrollierbaren Einflüssen beruht.

Sah man in der Reichstagssitzung am Donnerstag soviel Tatkraft und soviel sicher schreitende Erkenntnis, dass man überzeugt sein kann, nun werde schnell das Notwendige geschehen? Zu sicheren Erwartungen berechtigt weder die Rede des Herrn Michaelis, noch die Haltung der Parteien. Man braucht nicht auf die Aeusserungen zurückzukommen, in denen der Herr Reichskanzler mit beamtlicher Vorsicht »engere Fühlung« ohne Schädigung der konstitutionellen Grundlagen verhiess und es wünschenswert nannte, dass geeignete Vertrauensmänner der grossen Parteien in leitende Stellen berufen würden, wobei »das verfassungsmässige Recht der Reichsleitung zur Führung der Politik nicht geschmälert werden darf«. Das Uebel, durch das Deutschland innerlich beunruhigt und nach aussen in seiner Kraftentfaltung gehemmt wird, kann nicht durch ein paar dünne Tropfen überwunden werden, die ein gewiss gut gesinnter, aber zaghafter Hausdoktor mit dem Tropfenzähler in reichlich viel Wasser gleiten lässt. Als der Ernährungskommissar Michaelis im preussischen Abgeordnetenhause so scharf dem Egoismus gewisser Klassen entgegentrat, habe ich gesagt, manche seiner Worte hätten an Worte jenes grossen Turgot erinnert, der die Zeichen seiner Zeit erkannte und bereit war, die Forderungen seiner Zeit zu erfüllen. Die Reichstagsrede des Herrn Michaelis hatte wenig Aehnlichkeit mit der Sprache des unerschrockenen Reformators, und es ist bisher nicht möglich, auf ihn den Vers anzuwenden, den Voltaire zur Begrüssung Turgots schrieb:

»Je crois en Turgot fermement:
Je ne sais pas ce qu'il vent faire,
Mais je sais que c'est le contraire
De ce qu'on fit jusqu'à présent.«

Nein, es ist bisher nicht möglich, von ihm zu sagen: »Ich glaube fest an Michaelis, ich weiss nicht, was er tun wird, aber ich weiss, dass es das Gegenteil von dem ist, was man bis heute getan hat.« Und muss man nach seiner Rede nicht sogar bezweifeln, dass er auch nur, ohne gebunden zu sein, den Weg eingeschlagen hätte, den, allzu bedenksam und tastend, Herr v. Bethmann Hollweg ging? Es ist, nach der Donnerstagprobe, nicht möglich, fest an Herrn Michaelis zu glauben, und es ist ebensowenig möglich, fest an diesen Reichstag zu glauben, der es bisher nicht fertigbrachte, der Hemmschuhtaktik einen energischen Willen, den Halbheiten ein klares Programm entgegenzustellen. Aber fest kann man, wie an das Walten der Naturgesetze, an die kommende Neugestaltung des Reiches, an die Neuteilung von Macht und Verantwortung glauben, weil die Tatsachen stark sein werden und die Notwendigkeit dahin drängt. Damit die »konstitutionellen Grundlagen« nicht ernstlich gefährdet werden, damit in schwer bewegter Zeit der am höchsten ragende Pfeiler des Gebäudes in ruhiger Stetigkeit dastehe, wird man genötigt sein, das Mittel anzuwenden, das in allen anderen Ländern vorausschauende Staatsweisheit zur Verhinderung von Erschütterungen, zur Ablenkung der Stürme ersann. Man wird, wie dort, die Volksvertretung an der Regierung beteiligen, bei der Ernennung oder Absetzung der Männer, die das Schicksal des Volkes leiten, mit einem unkontrollierten Geheimverfahren brechen, wird aussprechen müssen, dass von nun ab das vom Volk gewählte Parlament, und also das Volk selber, die Mitentscheidung, die Mitverantwortung für das Bleiben oder den Sturz der Regierungen und für alle Lebensfragen übernimmt. Man rufe doch nicht, um diese Neuordnung zu hindern oder Krüppelgewächse wie einen Reichsrat zu empfehlen, die Abneigung der Bundesstaaten an! Es kann nicht schwer sein, den Bayern und Württembergern zu zeigen, dass auch ihr Interesse stärkeren Schutz gegen Missgriffe, vermehrte Sicherung des Reichsganzen, Ausübung wirklicher Macht durch den Reichstag verlangt.

Lässt sich ohne Selbsttäuschung sagen, dass durch die Rede des Reichskanzlers und durch die Friedensresolution der Mehrheit viel für die Beschleunigung des Friedens erreicht worden sei? Die Friedensresolution wird, trotz dem spöttischen Gebaren der nationalistischen Ententepresse, manchem Kriegsgegner in Russland, Frankreich und England wohl als nutzbares Argument dienen, aber noch einmal muss wiederholt werden, dass die innere Reform heute eindrucksvoller als Friedensformeln wäre, weil sie allein, wenigstens bei einem Teile der Menschheit draussen, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sympathie zu schaffen vermag. Und wie kann die Friedensresolution eine volle Werbekraft ausüben, wenn man in Deutschland bereits wieder bemüht ist, ihren Wert zu verkleinern, ihren Sinn umzudeuten, alles Erdenkbare zur Zerstörung der Wirkung zu tun? Kaum steht die Friedenspalme im Schaufenster, versucht man auch schon wieder, sie zu knicken, zupft man von allen Seiten an ihr herum. Alle Konservativen, Schwerindustriellen und Alldeutschen versichern, Herr Michaelis habe mit der Erklärung, dass »die Grenzen des Deutschen Reichs für alle Zeit sichergestellt werden müssen«, trotz seinen Worten über Verständigungsfrieden, Ausgleich und dauernde Versöhnung der Völker, sich sämtliche Möglichkeiten gewahrt. Sie versichern auch, die Resolution, die immerhin »erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen« mit schwer zu übertreffender Deutlichkeit ablehnt, könne verschiedenartig ausgelegt werden, und jede der Mehrheitsparteien habe sich dabei etwas anderes gedacht. So machen, wie gewöhnlich, diese deutschen Nationalisten den gleichgestimmten Naturen auf der Gegenseite die Arbeit leicht. Man sagt dort drüben den Völkern, die Kundgebung des Reichstags sei bedeutungslos oder ein zweideutiges Manöver, und man kann das glaubhaft machen, indem man auf deutsche Zeugnisse verweist. Sollte nicht zum mindesten der politische Sinn diese deutschen Heimkrieger hindern, die feindlichen Kriegspropheten bereitwillig aus allen Verlegenheiten zu ziehen? Wenn er vorhanden wäre, gewiss.

Haben die Konservativen, die Alldeutschen, die zwischen links und rechts herumschwankenden Gestalten, und alle, die sonst noch den Sturz des Herrn v. Bethmann Hollweg leidenschaftlich begehrten, etwas, was ihnen aufrichtige Befriedigung bieten könnte, erreicht? Herr v. Bethmann Hollweg wandelt unter den Bäumen von Hohenfinow, Herr Michaelis sitzt an dem Schreibtisch im Arbeitszimmer der Reichskanzler, aber die Tatsachen sind geblieben und weichen nicht. Diejenigen, die Herrn v. Bethmann Hollweg steinigten, haben ihn nicht wegen der Fehler verfolgt, die er begangen hat. Diese Fehler haben sie mitverschuldet und gefeiert, und ihre erregte Gemütsstimmung war in Wahrheit durch eine Entwicklung verursacht, die sie mit heraufgeführt haben, die Herr v. Bethmann Hollweg nicht ändern konnte und Herr Michaelis nicht ändern kann. Wenn sie den Drang spürten, ihre Missstimmung über Fehlrechnungen, über das Emporkommen der Demokratie, über so viel anderes kräftig zu entladen, schlugen sie auf das Haupt der Reichsleitung los. Nach ihrem missglückten Versuch, die Juden ins schlechteste Licht zu setzen, kam der Bethmann-Pogrom. Sie waren wie ein Dichterling, der, wenn ihn etwas drückt, ein zornig-trauriges Gedicht auf seine Treulose macht und sich dann sofort besser fühlt. Sie brauchten Herrn v. Bethmann Hollweg, denn sie erleichterten sich in Angriffen gegen ihn. Sie brauchten ihn auch, weil es ein altes Gebot ist, dass man die üble Laune der Zeitgenossen auf eine geeignete Zielscheibe lenkt. Jetzt ist er fort, und sie dürften schon heimlich empfinden, dass er ihnen fehlt. Den neuen Reichskanzler müssen sie schonen, denn sie haben ihn, unvorsichtigerweise, als den Ihrigen begrüsst. Nein, auch sie haben nichts Gutes erreicht, und man sieht es ihnen an, dass sie nicht zufrieden sind.

 

Die Ernennung des Herrn v. Kühlmann zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wurde, zugleich mit den anderen Veränderungen in der Regierung, am 5. August offiziell angezeigt. Am 28. Juli machte Herr Dr. Michaelis seine Mitteilungen über den im Januar zwischen Poincaré und der zaristischen Regierung abgeschlossenen Geheimvertrag.

30. Juli 1917

Es scheint ziemlich sicher, dass Herr Richard v. Kühlmann Staatssekretär des Auswärtigen Amtes werden wird. Man kann nur mit dem Dichter sprechen: »Weiss nicht, ob ich ihn bejammern, oder preisen soll sein Los.« Aber er war gewissermassen prädestiniert, er trug das Zeichen auf der Stirn. Seit einigen Jahren war er, wie man bei sehr schnellem Wachstum zu sagen pflegt, gewaltig in Schuss geraten, und etwas früher oder etwas später musste er der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sein. Er ist erst vierundvierzig Jahre alt, hat noch die glückliche Kraft der Jugend und etwas sehr Männlich-Bestimmtes, das teils von klarer Erfassung der Dinge und teils von starkem Selbstgefühl herrührt, und wird durch seine äussere Erscheinung, durch die Sicherheit seines Auftretens und durch seine sachliche, gänzlich vorurteilslose Anschauungsweise den Parlamentariern und allen, die mit ihm zu tun haben werden, wahrscheinlich gefallen. Er kennt einen grossen Teil der Welt, war in vielen Ländern, und obgleich ja manche Bureausesseldrücker, Stammtischgetreue und Redaktionsspinnen einen inneren Argwohn gegen auslandskundige Personen hegen, ist für einen Leiter der auswärtigen Angelegenheiten Weltkenntnis doch nicht unbedingt eine hinderliche Eigenschaft. Kühlmanns Vater, der in Bayern seinen Familiensitz hatte, war Direktor der anatolischen Bahnen in Konstantinopel, sein Grossvater von der Mutterseite war der Dichter Oskar v. Redwitz, und ohne zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Anteil unterscheiden zu wollen, kann man sagen, dass der Sohn nüchternen Geschäftssinn und künstlerisches Empfinden besitzt, die Zahlen eines Finanzprojektes schnell beherrscht und die Schönheit eines Verses oder eines seltenen Sammlungsobjektes zu geniessen weiss. Er ist zwar in Konstantinopel geboren, aber weder die erste Umgebung, noch die vielartigen Volksbilder, zwischen denen er dann später sich bewegte, haben den bayerischen Grundzug seines Wesens verwischt. Zum ersten Male wurde sein Name genannt, als der Kaiser, am Beginn der unseligen Marokkogeschichte, die Reise nach Tanger unternahm. Der Kaiser, der unterwegs, in Lissabon, vielerlei erfahren hatte, zögerte, den marokkanischen Boden zu betreten, bis auf Weisung des Auswärtigen Amtes der junge, in Tanger residierende Kühlmann durch Wind und Wellen mit neuen Mitteilungen zu ihm kam. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Haager Gesandtschaft und einem Aufenthalt in Washington wurde Kühlmann zum Ersten Botschaftssekretär in London ernannt und dort verhandelte er, während Fürst Lichnowski die diplomatische Oberleitung hatte, mit der englischen Regierung über alle Einzelheiten des neuen Bagdadvertrages und über den Afrikavertrag, der dem Deutschen Reiche unverkennbar grosse Vorteile schuf. Er hatte diese komplizierten Fragen sehr eindringlich studiert und man sagt, dass er sich in allen technischen, finanziellen und sonstigen Details mit den englischen Fachmännern sachkundig auseinanderzusetzen verstand. Als Gesandter im Haag organisierte er, während des Krieges, seinen Amtsbetrieb, ohne sich um irgendeine Tradition oder Schablone zu kümmern, und er holte sich aus den verschiedensten Berufsständen Mitarbeiter heran. In Konstantinopel, wo er dann die Leitung der Botschaft übernahm, knüpfte er, ohne sich in alle Angelegenheiten der nicht immer ganz einträchtig beieinander hausenden Deutschen mehr als nötig hineinziehen zu lassen, seine früheren ausgezeichneten Beziehungen zu den Türken wieder an. Er ist das Sonntagskind der Diplomatie, und nur die lange Krankheit seiner klugen, kunstliebenden Frau und ihr früher Tod warfen Schatten auf seinen Weg. Jetzt wird er, als Staatssekretär, zeigen müssen, ob all das, was manche bei ihm zu finden meinen, wirklich in ihm liegt. Er wird zeigen müssen, ob er ein klares Bild von der Gestaltung des Friedens und von der Politik, zu der dieser Frieden führen soll, vor sich sieht. Er wird zeigen müssen, ob er jenen höheren Ehrgeiz und jene wahre Selbstsicherheit besitzt, die nicht dem Ehrgeiz und der Sicherheit des Augenblicksjongleurs gleichen und nur einem staatsmännischen, zu weitgesteckten Zielen strebenden Geiste eigen sind.

Der neue Reichskanzler, Herr Dr. Michaelis, hat vorgestern die Vertreter der Berliner Presse um sich versammelt und ihnen einen Bericht über die geheimen Verhandlungen der französischen Kammer, die am ersten und zweiten Juni stattfanden, mitgeteilt. Während Enthüllungen sonst in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vorgenommen werden, hat der Herr Reichskanzler das persönliche und mündliche Verfahren gewählt. Er richtete, über die versammelten Journalistenhäupter hinweg, an die französische Regierung die Frage, ob sie bestreiten wolle, dass Poincaré, zunächst eigenmächtig und dann mit nachträglicher Zustimmung Briands, am 27. Januar mit der Zarenregierung einen Vertrag abgeschlossen habe, der den Franzosen für den Fall des Sieges Elsass-Lothringen, das Saarbecken und »weitgehende Gebietsveränderungen am linken Rheinufer« versprach. Er erzählte, dass die französischen Sozialisten Moutet und Cachin die Kunde von diesem Vertrage aus Russland mitgebracht hatten, dass Ribot auf Drängen des Sozialistenführers Renaudel den Vertrag vorlegen musste und dass Herr Ribot von der Linken lärmend und mit dem Rufe: »Das ist schändlich!« unterbrochen wurde, als er die These aufstellte, das Russland der Revolution müsse halten, was das Russland des Zaren versprochen hat. Diese Dinge waren in der Hauptsache nicht mehr ganz unbekannt: die »Berner Tagwacht« hat sie zuerst ans Licht gezogen, und schon vor Abschluss der Aera Bethmann Hollweg sind sie wiederholt in offiziösen Artikeln aufgetaucht. Es ist viel von diesen geheimen Dokumenten gesprochen worden, die der Arbeiter- und Soldatenrat oder die russische Revolutionsregierung in Petersburg den beiden französischen Sozialisten Moutet und Cachin übergab. Der Hinweis auf diesen von Poincaré widerrechtlich abgeschlossenen Geheimvertrag führte auf dem französischen Sozialistenkongress, nach dem Vortrage der beiden heimgekehrten Sendboten, den Stimmungsumschwung und den Beschluss, nach Stockholm zu gehen, herbei. Auf Verlangen der Linken, die Aufklärung über das Abkommen haben wollte, wurde die Geheimsitzung der Kammer abgehalten, und der ganze Vorgang hat unverkennbar den Einfluss der zu einem Verständigungsfrieden geneigten Kreise gestärkt. Die kannibalischen Phantasien des Herrn Poincaré und seiner Gesellen wurden und werden von dem ganzen deutschen Volke mit einem Achselzucken abgetan. »Sie sollen ihn nicht haben,« wie der längst verewigte Nicolaus Becker sang.

Die Friedensresolution hat so gut gewirkt, wie sie wirken konnte, und sie würde noch stärker wirken, könnten Lloyd George und die anderen ihr nicht drei zugkräftige Argumente entgegenstellen. Das erste Argument lautet: der Reichstag hat nicht die Macht, seine Ansicht durchzusetzen, denn er entscheidet so wenig über den Frieden wie über den Krieg, kann die Regierung, die gegen seinen Willen handelt, nicht absetzen und fordert ja selber noch nicht einmal mit der nötigen Entschiedenheit das parlamentarische System. Der zweite Einwand heisst: Herr Michaelis hat zwar scheinbar der Resolution, so wie er sie auffasse, seine Zustimmung erteilt, aber er hat auch von der »Sicherung der Grenzen« gesprochen, was viel und noch mehr, Annexionen und anderes bedeuten kann. Der dritte besagt: die konservativen und alldeutschen Blätter versichern ja in allen Tonarten, Herr Michaelis habe sich alle Türen offen gehalten und keineswegs an einen annexionslosen Frieden gedacht. Der Herr Reichskanzler hat sich gestern gegen die feindliche Auslandspresse gewendet, die irreführend behaupte, er habe »der von der Mehrheit des Hauses gefassten Entschliessung nur unter dem schlecht verschleierten Vorbehalt deutscher Eroberungswünsche zugestimmt«. Man kann nicht bestreiten, dass die konservative, alldeutsche und schwerindustrielle Presse ganz so wie die feindliche Auslandspresse spricht. Die »Deutsche Tageszeitung«, die »Kölnische Volkszeitung« und ähnliche Organe behaupten täglich, unter »Grenzschutz« müsse die Angliederung Belgiens verstanden werden, und ohne Belgien gebe es für unsere Grenze keinen Schutz. Gewiss ist das nicht die Meinung des Herrn Reichskanzlers, aber der Reichstag wird ihn im September doch fragen müssen, was er unter Sicherung der Grenzen nun eigentlich versteht. Der Reichstag wird dann beurteilen können, ob das Gewollte mit der Versöhnungspolitik vereinbar ist, die er in seiner Friedensresolution vorbereitet hat. Er wird dann auch beurteilen können, ob der Wert der Sicherung die Schwere der Opfer, die vor dem Ziele noch gebracht werden müssten, überwiegt. Man nehme an, die Friedensresolution wäre als deutsches Programm zu Anfang des Jahres 1915 bekanntgegeben worden, als England noch zögernd an den Kontinentalkrieg heranging und die französische Regierung die allzu aufstachelnden »Greuelakten« zurückhielt, und man hätte auf dieser Grundlage den Frieden zustande gebracht. Hätten die Erhaltung von so viel inzwischen erschlagener Volkskraft und die Ersparnis von siebzig Milliarden, vom übrigen gar nicht zu reden, nicht eine bessere Sicherung der deutschen Zukunft ermöglicht, als vielleicht irgendeine Grenzverschiebung sie schafft? Man nehme an, dass der Sicherung wegen nur eine Verlängerung des Krieges um sechs Monate nötig sei. Das sind soundso viel Menschen, sind zwanzig Milliarden, ist vor allem auch eine weitere Herabminderung jener jetzt dreizehnjährigen und vierzehnjährigen Jugend, die unter den heutigen Ernährungsverhältnissen schon ins Arbeitsleben geworfen worden ist. Schutz des Landes besteht nicht nur in mechanischen Grenzmassregeln, sondern auch in der Bewahrung des Menschenmaterials und der Volksgesundheit, in der Kräftigung heranwachsender Generationen, in der Erhaltung der ökonomischen Kraft. Es ist zum Vergleiche notwendig, die Sicherungen kennenzulernen, auf die Herr Michaelis andeutend hingewiesen hat.

In diese schlecht geklärte Welt, in der die Nebel noch keineswegs von allen Wassern gewichen sind, tritt, falls er endgültig ernannt wird, nun Herr v. Kühlmann als Staatssekretär. Er kann zu einer grossen Rolle berufen sein, oder auch nur zu dem Alltagsgeschäft des Amtsdiplomaten, der mit Geschicklichkeit über das Seil balanciert. Will er die übliche Politik betreiben, die, mit dem Blick auf das Nächstliegende, sich für den Frieden allerhand kleine Möglichkeiten wahren möchte, für solchen Preis die Verewigung feindlicher Koalitionen unvermeidlich macht, die Zukunft verbaut? Oder will er eine Politik wählen, die sich alle grossen Möglichkeiten und alle Zukunftswege offen hält? Wie er sich auch stellen möge, eine offene Sprache ist heute allen Winkelzügen, die einer veralteten Methode angehören, vorzuziehen. Es gibt Zeiten, wo Ehrlichkeit eine diplomatische Tugend wird. Herr v. Kühlmann wird das Auswärtige Amt vielleicht neu beleben und ihm ein festeres Gefüge verleihen. Aber die Hauptsache ist, dass er selber sich klar ein Ziel setzt und dann unbeirrbar bleibt. Er wird starke Einflüsse und Forderungen von allen Seiten herandringen sehen. Sichern Sie die Grenzen Ihres Reiches, Exzellenz!

 

Die Friedenskundgebung des Papstes wurde am 16. August in Rom, am nächsten Tage auch in Berlin veröffentlicht. Am 21. August äusserte sich der Reichskanzler Dr. Michaelis im Hauptausschuss des Reichstags über die Kundgebung in einer Rede, die eine »Begrüssung«, aber sonst nichts Wesentliches enthielt. Am 22. August kam es dann im Hauptausschuss zu einem sehr erregend wirkenden Zwischenfall, als Herr Michaelis den Versuch machte, sich von der Friedensresolution zu trennen und versicherte, dass er niemals erklärt habe, auf dem Boden dieser Resolution zu stehen. Die Mehrheitsparteien, denen Herr Michaelis in vertraulichen Besprechungen seine Zustimmung zu der Resolution ausdrücklich beteuert hatte, wollten diese Ableugnung nicht hinnehmen, und Herr Michaelis kehrte nun, sehr bedrängt, in neuen Erklärungen wieder zu seinem ersten Standpunkt zurück. Bei den Mehrheitsparteien verstärkte dieser Vorfall sehr erheblich die Auffassung, dass Herr Michaelis nicht der geeignete Kanzler sei. Aber entscheidende Schritte hielt man für verfrüht.

20. August 1917

Möge die Reichsregierung geeignete stilistische Ausdrucksmittel finden, um in ihrer Antwort an den Papst – die selbstverständlich nicht ablehnend lauten wird – den »Grundgedanken« der Friedenskundgebung voll zu begrüssen und über zweifelerregende Gedanken leicht, ohne Gefährdung des zerbrechlichen Gefässes, hinwegzugehen! Da zu viel Dreinreden diese Arbeit nur stören könnte, befasst man sich, die Ereignisse erwartend, besser mit einer anderen literarischen Angelegenheit. Der jetzige Reichskanzler, Herr Dr. Michaelis, hat im Dezember 1914 in der »Furche«, dem Organ der Deutsch-christlichen Studentenvereinigung, einen Aufsatz erscheinen lassen, der »Eine neue Zeit« betitelt und in der ernsten Weihnachtsstimmung, fünf Monate nach Kriegsbeginn, geschrieben ist. Der tief religiös empfindende Verfasser stellt dort die Frage, »ob das deutsche Volk, seine Regierung, seine Vertreter, seine Genossen« imstande sein werden, »die Aufgabe der neuen Zeit zu erfassen und zu erfüllen«. Er sagt, alle diejenigen, »die schon ein Auge und ein Ohr für die Offenbarung Gottes in der Weltgeschichte hatten«, sähen jetzt klar, »dass das Geschehen in der Welt einem göttlichen Heilsplan entspringt«. Zweifellos habe Gott eine besondere Aufgabe für das deutsche Volk, und er könne sie dem deutschen Volke anvertrauen, da hier trotz allem sittlichen Verfall der Glaubensgedanke am reinsten bewahrt werde, »die Kluft zwischen Staatsmoral und normalerem Sittlichkeitsbegriff nicht unüberbrückbar« sei. Es sei aber die höchste Zeit gewesen, »dass die dröhnenden Schläge an die Herzenstür des deutschen Volkes erklangen«, denn schon sei man dem Abgrund entgegengeeilt und »das innere politische Leben, ein Spielball der krass selbstsüchtigen Machtbedürfnisse der Parteien«, hätte unvermeidbar zum Bürgerkriege geführt. Die Schuld der alten Zeit, die Schuld im privaten und im öffentlichen Leben müsse erkannt werden, denn nur so könne eine neue Zeit erstehen. » Welcher Demokrat kann nach dem kläglichen Fiasko des Parlamentarismus in England, der republikanischen Staatsverfassung in Frankreich die Forderung nach parlamentarischer Herrschaft in Deutschland erheben – wer wird dem Kanzler die Schlinge eines Verantwortlichkeitsgesetzes über den Hals werfen wollen?« Auf der anderen Seite dürften die Parteien Vorrechte und Einfluss nicht egoistisch festhalten, eine notwendige Wahlrechtsreform nicht nur am Parteinutzen messen, denn die Völker würden nur dann gesegnet werden, wenn sie » Gerechtigkeit regiert«.

Religiöse Anschauungen müssen das unantastbare Privateigentum des einzelnen Menschen bleiben und nur als etwas beinahe Selbstverständliches ist zu sagen, dass die Auffassung, das Geschehen in der Welt entspringe einem göttlichen Heilsplan, nicht dem von Dogmenfesseln befreiten Menschheitsgedanken entspricht, der Gutes und Böses nicht mehr als unvermeidbare »Schickung« hinnehmen will. »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«, sagt der General Illo zu Wallenstein, und es ist klar, dass dieses Wort ganz besonders für Männer, die zum Handeln berufen wurden, für Wallenstein und für leitende Staatsmänner gilt. Auch die These, dass einem Volke eine besondere Sendung übertragen, eine besondere Weihe verliehen sei, hat immer nur sehr viel Misstrauen und Aerger verursacht und den Völkern, an deren Wesen die Welt genesen sollte, wenig genützt. Blickt man vorurteilsfrei in die Vergangenheit, so muss man feststellen, dass von allen Volksrichtungen, die sich zu einer Mission berufen fühlten, am ehesten die französische Revolution starke Spuren hinterliess. Aber Herr Michaelis hat denjenigen, die seine Worte zu wörtlich nehmen könnten, ja auch gezeigt, dass er den mystischen Quietismus nicht für ein Ideal des täglichen Lebens halte, und hat nicht im Vertrauen auf eine alles regelnde Vorsehung die Hände eremitenhaft in den Schoss gelegt. Er hat nicht erwartet, dass das Manna vom Himmel falle, und hat als Ernährungskommissar, wie es die wirkliche höhere Bestimmung des Menschen ist, in der eigenen Tätigkeit das Heil gesucht. Warum glaubt er, oder warum glaubte er im Jahre 1914, einem grossen Volke müsse sein Schicksal von oben gesandt werden, ein Volk von siebzig Millionen Menschen müsse seine Regierungen, Krieg, Frieden und alle zukunftsschweren Beschlüsse ohne Mitwirkung seiner Vertreter empfangen, müsse von jeder Mitverantwortung und von jeder Mitentscheidung ausgeschlossen sein? Solche Mitverantwortung und solche Mitentscheidung des Volkes fordern diejenigen, denen der Vorsehungsstaat als ein unhaltbares und unmögliches Vorzeitgebilde inmitten einer andersdenkenden Welt erscheint.

Herr Michaelis äussert in jenem Aufsatz die Meinung, der Parlamentarismus habe in England und in Frankreich ein klägliches Fiasko erlebt. Aehnlich hatte noch manch anderer, der vom Auslande wenig wusste, im Jahre 1914 die Kraft und die innere Festigkeit der feindlichen, parlamentarisch regierten Länder unterschätzt. Leute, die bei flüchtigen Rundfahrten und bei flüchtigen Schriftstellern das komplizierte Wesen fremder Völker studiert hatten, sahen überall Verrottung und Niedergang, und so täuschte man sich damals mit der Hoffnung, schon der Wachsengel auf dem ersten Kriegsweihnachtsbaum werde ein Friedensengel sein. Nur die zähe Ausdauer des Volkes und die ausserordentliche Ueberlegenheit militärischer Führer brachten uns über die Folgen solcher Fehlrechnungen und solcher Unkenntnis hinweg. Was die oberflächlichen Beurteiler Frankreichs für Eigenschaften des Parlamentarismus halten, sind Erscheinungen, die dort unter allen Regierungsformen auftraten und deren schädlicher Einfluss im kritischen Augenblick durch eine grosse Lebenskraft und eine immer regsame Intelligenz abgewehrt wird. Der Parlamentarismus hat, indem er ein notwendiges Ventil für den Volkswillen öffnete, der Staatsform in Frankreich eine durch kein anderes System erreichte Stetigkeit verliehen. Kann man bestreiten, dass unter diesem Parlamentarismus Frankreich sehr viel politische Erfolge erzielt, ein kostbares Kolonialreich gewonnen und seine Armee, die unter dem Kaiserreich verschlampte und in eine eitle Routine verfiel, neu geschaffen und erzogen hat? Presskorruption und andere widrige Uebel sind an keine Regierungsmethode gebunden und werden heute bei uns von Kreisen, die jeden Parlamentarismus bekämpfen, freigebig eingeführt. In England aber besteht das parlamentarische System nun seit der bewundernswert staatsmännischen Umwälzung des siebzehnten Jahrhunderts, und alle Grösse und Macht des britischen Reiches wurden unter dieser Herrschaft, wurden von den Parlamenten und ihren Ministern aufgebaut. Die beiden Pitt, Canning, Peel, Palmerston, Disraeli und Gladstone verkörpern nicht gerade ein »klägliches Fiasko«, und bis zu unserer Zeit gingen aus dem englischen Parlamente Staatslenker, die an Begabung wohl nicht zu weit hinter unseren bureaukratischen Ministern zurückbleiben, hervor. Fürst Bülow, der ein Gegner des Parlamentarismus war (ist er es auch heute noch?), sprach im November 1906, als er im Reichstag eine Rede Bassermanns über das »persönliche Regiment« beantwortete, von England, »wo das parlamentarische System seit Jahrhunderten zu allgemeiner Zufriedenheit und zum Segen des Volkes besteht«. Auch der sechste Reichskanzler wird nach einer eingehenderen Beschäftigung mit diesen Dingen gewiss erkennen, dass der Parlamentarismus dem englischen Volke die innere Festigkeit und die Weltstellung gegeben und ihm jenen unvergleichlichen Einfluss auf die Geister verschafft hat, der uns, trotz Austauschprofessoren und Kulturdoktoren, versagt geblieben ist.

Während Wilson und die englischen Minister in ihren Reden und Noten sich gewöhnlich auch mit unseren häuslichen Verhältnissen befassen, sagt die Kundgebung des Papstes über die notwendige Demokratisierung Deutschlands kein Wort. Das ist klug und korrekt, und es bedarf wirklich nicht fremder Ratschläge, um denjenigen in Deutschland, die sich nicht unter tausend Ausflüchten und Scheingründen gegen die Wahrheit verschliessen, die Unmöglichkeit der bisherigen Zustände und die Unvermeidlichkeit einer völligen Umwandlung darzutun. Oder sollen wir diese Zustände treu und trotzig gerade deshalb bewahren, weil das gesamte Ausland ein Regime, wo ohne parlamentarische Kontrolle, ohne Mitwirkung und Einspruchsrecht der Volksvertretung Schicksal und Regierungen gemacht werden, misstrauisch und neigungslos beurteilt und in einer Aenderung die Vorbedingung für eine Wiederherstellung des Friedens und für eine vernünftige Friedenspolitik sieht? Auch da wieder hat ein Vorgänger des Herrn Michaelis, Fürst Bismarck, das Richtige gesagt. Er nennt das allgemeine Wahlrecht »die stärkste der freiheitlichen Künste«, wobei er sich mit Recht als Meister der politischen Beschwörung fühlt. Er habe, fährt er fort, dieses Wahlrecht unbedenklich »mit in die Pfanne geworfen, um das Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsere nationale Omelette zu stecken«, und er zeigt so, dass man dem Gegner rechtzeitig die Waffe aus der Hand nehmen soll. Heute muss jeder deutsche Staatslenker, der über die bureaukratischen und höfischen Mauern in die Welt hinausblickt, das parlamentarische System »mit in die Pfanne werfen«, und zwar den ganz richtigen Parlamentarismus, nicht ein im voraus diskreditiertes Zwittergeschöpf. Widerstrebt eine solche Aufgabe seinen Empfindungen und Anschauungen, so hätte er sein Amt nicht übernehmen dürfen, denn er passt dann nicht in die Zeit. Der Hauptausschuss des Reichstages, der am Dienstag seine Beratungen wieder aufnimmt, wird hoffentlich einsehen, dass er durch Zögern und Unentschlossenheit schon viel verschuldet hat. Nur weil er lau und uneinig die Dinge gehen liess, wurden noch einmal, während das deutsche Volk kämpft und ausharrt, Reichskanzler und Minister in der wohlbehüteten Verborgenheit eines Geheimkabinetts, ohne die mindeste Befragung der Volksvertretung, ernannt. Auch das Zentrum wird sich sagen müssen, dass der edle Friedenswunsch des Papstes sich nicht verwirklichen lassen wird, solange die innere Neugestaltung des Deutschen Reiches ausbleibt, die geistige Brücke zu den anderen Nationen fehlt. Nur wer den Mut hat, mit dem System absolutistisch-bureaukratischer Vorsehung zu brechen, beschreitet den Weg zu einer friedlichen Machtentwicklung und gibt dem Volke sein Recht. Soll ohne prüfende Mitarbeit, ohne Zustimmung der vom Volke gewählten Männer das Schicksal niederfahren dürfen, das schwer das Haus des einzelnen und das Haus der Gesamtheit trifft? Nein, jeder soll davon durchdrungen sein, dass nichts in heimlicher Wolkenhöhe, nichts ohne den Willen seiner Vertreter geschehen könne, dass er selber an Macht und Verantwortung teilnehme und dass wirklich, soweit menschliche Einrichtungen es verbürgen können, » Gerechtigkeit regiert«.

 

Um denjenigen, die nachgerade nicht immer wieder vor »vollendete Tatsachen« gestellt werden wollten, etwas zu bieten, regte Herr Dr. Michaelis die Schaffung einer »freien Kommission« an, und wirklich wurde dann ja, für die Prüfung der Antwortnote an den Papst, aus sieben Parlamentariern und sieben Bundesratsmitgliedern ein solches Kollegium zusammengesetzt. Mit dem Glockensozialisten Heilmann, der das parlamentarische System nicht haben will, rechnete man etwas später, im Oktober, auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Würzburg kräftig ab.

27. August 1917

Wer heute zu den griechischen Dichtern flüchtet, kehrt, nur auf einem Umwege, immer wieder zu seinem Ausgangspunkte zurück. Es gehen sehr viel unterirdische Ströme aus der Tiefe der Zeiten zur Gegenwart. Im »Gefesselten Prometheus« und im »Oedipus« rauschen Gedanken, die auch heute die Welt erfüllen. Das unendliche Leid der »Trojanerinnen« hallt auch heute über die Erde, die prahlerischen Heimkrieger des Aristophanes verlangen auf jedem Markte den unendlichen Krieg. Im »Bittgang der Mütter« des Euripides sprechen der Chor und die handelnden Personen von Recht und Macht. Theben hat die Bestattung der sieben erschlagenen Helden von Argos verweigert, und Theseus zieht mit seinen Athenern zum Schutze des verletzten Völkerrechtes aus. Er sagt den flehenden Müttern Worte, die Wilamowitz-Moellendorff mit seiner hohen Uebersetzungskunst folgendermassen wiedergibt:

»Ich wünsche nur, dass auch das ganze Volk den Zug beschliesst.
Wenn ich es will, so werden sie's beschliessen;
allein die Bürger folgen williger,
wenn sie mitreden dürfen. Hab' ich selber
doch mein Athenervolk aus Untertanen
zu freien Bürgern gleichen Rechts erhoben.«

Die Athener, die über Krieg und Frieden und über das Schicksal ihrer Stadt entscheiden dürfen, stimmen dem Unternehmen zu. Vor zweitausendvierhundert Jahren zeichnete Euripides in seinen Versen die Scheidegrenze zwischen dem »freien Bürger« und dem »Untertan«.

Ist es dem deutschen Volke zu verübeln, dass es nachgerade das für sich fordert, was alle anderen Kulturvölker besitzen und was Athen vor zweitausendvierhundert Jahren, und lange vorher, besass? Es will, dass ohne die Versammlung seiner gewählten Vertrauensmänner kein Entschluss, für den es mit Glück und Leben einstehen müsste, gefasst werden darf. Das, und nichts anderes sonst, muss Sinn und Ziel der »Parlamentarisierung« sein. Jede neue Einrichtung, die man uns beschert, kann nur dann einen Wert haben, wenn sie zu diesem Ziel führt. Herr Michaelis meint, Naturnotwendigkeiten ablenken zu können, und bietet seine »freie Kommission« als Beruhigungsmittel an. An solchen Quacksalbereien haben diejenigen, die es »nicht fühlen«, von jeher ein besonderes Vergnügen gehabt. Herr Michaelis sagt, dass jetzt im Kriege nicht die Zeit zu grösseren Reformen sei. Nun, Bismarck errichtete während eines Krieges sogar das Deutsche Reich. Man hat auf der Suche nach Argumenten immer behauptet, die »Parlamentarisierung« sei durch den bundesstaatlichen Charakter des Reiches erschwert. Bei Erschaffung der »freien«, aus Bundesratsmitgliedern und Reichstagsabgeordneten gemischten Kommission hat man sich nicht um solche Bedenken gekümmert, und man hat kein Hindernis darin gefunden, dass schon ein Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten besteht. Die Wahrheit ist doch, dass man die Parlamentarisierung nicht haben will, weil sie eine wirkliche Kontrolle bringen, alle heimlichen Entschlüsse und Einflüsse beseitigen, das Kommen und Gehen der Regierungen nach modernen Grundsätzen, die weit mehr als zweitausend Jahre alt sind, regeln würde, und dass man in der »freien Kommission« mit Recht eine vollendete Harmlosigkeit, das unschuldigste der Gewächse, sieht. Es ist anzunehmen, dass man sich von diesem gemischten Laboratoriumsprodukt sogar mancherlei verspricht. Muss der unbequeme Hauptausschuss, der eben noch den Reichskanzler mit der Friedensresolution bedrängt hat, nicht einiges von seinem Reiz verlieren, wenn man eine höhere Instanz über ihn setzt? Die Herren Mitglieder der »freien Kommission« werden, bis obenhin angefüllt mit den wichtigsten Staatsgeheimnissen, zu ihren Parteifreunden kommen, und entweder werden dann die ungestümeren Freunde sich fügen, oder es werden Reibungen und Spaltungen entstehen. Indessen, sollte man solche Erwartungen hegen, so wird die Enttäuschung wohl bald nachfolgen, und die »freie Kommission« wird in das Dunkel zurücksinken, aus dem sie, wie heute die Regierung und die Regierungsmassnahmen, kam. Es wird keiner heroischen Kraftanstrengung bedürfen, um diesen Leichnam einzuscharren.

Gewiss müssen – wer könnte daran zweifeln? – die Gedanken der Heimat zuerst immer wieder zu den im Feuerorkan kämpfenden und blutenden Männern gehen. Aber der Reichstag würde diesen Männern und dem ganzen ausharrenden Volke gegenüber nicht seine Pflicht erfüllen, wollte er sich nicht beeilen, die Vorbedingungen für eine werbekräftige Friedenspolitik und die Grundlagen für eine Beteiligung der »freien Bürger« an den Staatsgeschäften herzustellen. Das ist nur zu erreichen, indem man die Sicherheit dafür schafft, dass der Reichstag an der Regierung teilnimmt, dass keine Regierung ohne das Vertrauen des Reichstags auf ihrem Platze bleiben kann. Nur so kann der Argwohn entkräftet, nur so kann den Bewegungen der Unzufriedenheit im Innern ein »Deich« entgegengestellt werden, und alles andere ist Firlefanz. Aber es gibt ja auch sogenannte Volksmänner, die vom parlamentarischen System am liebsten nichts hören möchten, weil sie sich oder ihren Parteien die Fähigkeiten zum Mitregieren nicht zutrauen, oder weil sie nur auf eine Doktrin hinstarren, oder weil sie sich vorsichtig in ihr Schneckenhaus zurückziehen und die Teilnahme an der Verantwortung scheuen. Zu ihnen gehören einige überkluge Personen im sozialdemokratischen Lager, wie Herr Heilmann, der in der »Glocke« seine Parteifreunde stirnrunzelnd vor der Parlamentarisierung warnt. Die Sozialdemokratie, versichert er, würde in eine unerträgliche Lage kommen, denn sie würde sich entweder dauernd vom Einfluss auf die Regierung ausschliessen, den feindlichen Parteien den Staat überlassen müssen, oder sie würde sich an der Regierung beteiligen und dann mit der Verantwortung für alle Regierungshandlungen belastet sein. Als ob in den parlamentarisch regierten Staaten die Sozialdemokraten nur die Wahl hätten, Minister zu werden oder jeden Einfluss zu verlieren, und als ob es ihnen nicht auch dort überlassen bliebe, ohne Ministersitz ihren Einfluss geltend zu machen und einer Regierung je nach Gefallen ihre Unterstützung zu gewähren oder zu entziehen! Nur ein Unterschied besteht: in einem absolutistisch-bureaukratischen Staate ist selbst der Einfluss der stärksten Partei immer nur etwas Fragwürdiges, denn die Existenz der Regierung hängt nicht von einem Votum des Parlamentes, sondern von der Entscheidung anderer Stellen ab. In einem parlamentarisch organisierten Staate ist es selbstverständlich, dass eine grosse Partei nicht, wie es unter dem Fürsten Bülow den neunundsiebzig Sozialdemokraten passierte, dauernd ausgeschaltet werden kann. Und weil Herr Heilmann keine Verantwortung tragen möchte, soll die Volksvertretung aufs Reden beschränkt bleiben und die Regierung unkontrolliert? Deshalb sollen die deutschen Geschäftsleiter ohne und gegen den Willen des Parlamentes ernannt werden, soll bei jeder Entscheidung über das Volksschicksal der Reichstag ahnungslos und machtlos beiseite stehen? Derjenige ist ein merkwürdiger Menschheitsfreund, der lieber seine Doktrin als das lebendige Volksgut schützt. Aber es gibt ja Leute, die ruhig das Haus brennen sehen, wenn nur ihr Vogelbauer gerettet ist.

Der Abgeordnete Stresemann hat vorgestern an Reden erinnert, die früher einmal Bassermann gehalten hat. In der Tat hat Bassermann, besonders bei einem Ereignis, das nicht genannt zu werden braucht, »sichere Garantien« verlangt. Die sicheren Garantien sind nicht geschaffen worden und nachsichtig hat man, zum Schaden des deutschen Volkes und zum Schaden der deutschen Weltstellung, den längst als unhaltbar erkannten Zustand bis zum heutigen Tage hingeschleppt. Jetzt hält fast jeder die Umgestaltung für unvermeidlich – worauf also wartet man noch? Es ist kein heiterer Gedanke, dass vor zweitausendvierhundert Jahren politische Wahrheiten anerkannt waren, die man heute erst verteidigen und durchsetzen muss. Statt den Freiheitsbegriff zu übernehmen, hat man bei uns musterhaft die Texte studiert. Nicht schärfer, nicht richtiger, nicht leuchtender kann der Begriff erklärt werden, als es in der Tragödie des Euripides geschah. Wer sein Schicksal selbst oder durch seine gewählten Vertreter beschliessen darf, ist ein freier Bürger, der andere ist, mag er auch im Geiste Karl Marxens zu wandeln glauben, ein Untertan.

 

Zwei russische Beamte, Burzew und Schegolow, hatten dem »New York Herald« Telegramme des Deutschen Kaisers und des Zaren übergeben, die in den Petersburger Archiven gefunden worden waren. Aus diesem Telegrammwechsel ergab sich, dass währenddes Russisch-Japanischen Krieges Wilhelm II. versucht hat, den Zaren für ein Bündnis zu gewinnen. In fünf Aufsätzen, von denen der erste am 10. September erschien, wurde in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« dieses Dokumentenmaterial vervollständigt und kommentiert. Eine spätere Geschichtschreibung wird das Material als wertvollen Beitrag ansehen und in selbständigen Kommentaren ihre Schlüsse daraus ziehen. – Graf Luxburg, der deutsche Gesandte in Buenos Aires, hatte in seinen durch den schwedischen Gesandten beförderten, von den Amerikanern aufgefangenen Chiffredepeschen die deutsche Regierung ersucht, argentinische Dampfer »ohne Hinterlassung von Spuren« zu versenken, und den argentinischen Minister des Aeussern einen »notorischen Esel« genannt. Es kam in Buenos Aires zu deutschfeindlichen Kundgebungen, am 14. September rief man, erst nach einigem Zögern, den Grafen »zur mündlichen Berichterstattung« heim. Der deutsch-schwedische Zwischenfall, der aus dieser Affäre entstanden war, wurde am 13. Oktober durch eine Erklärung der deutschen Regierung beigelegt. Die deutsche Regierung sprach ihr Bedauern über das Verfahren des Grafen Luxburg aus und erklärte, ähnliches werde nicht wieder geschehen.

17. September 1917

Die in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« veröffentlichte Aufsatzreihe über die deutsch-russischen Verhandlungen der Jahre 1904 und 1905 hatte einen sehr wertvollen und schönen Schluss. Im letzten Artikel wurde das Telegramm mitgeteilt, in dem Wilhelm II. dem Zaren dringend riet, die Entscheidung, ob der Krieg mit Japan fortgesetzt werden solle, der Duma anzuvertrauen. »Ich würde an Deiner Stelle nicht die erste und günstigste Gelegenheit vorübergehen lassen, mit dem Empfinden und Wollen Deines Landes in bezug auf Krieg und Frieden enge Fühlung zu gewinnen, indem Du dem russischen Volke die langgewünschte Möglichkeit gibst, die Entscheidung über seine Zukunft selbst zu treffen oder an dieser Entscheidung teilzunehmen, wozu es ein positives Recht hat ...« »Die Entscheidungen, die zu treffen sind, sind in ihren Folgen so furchtbar ernst und so weitreichend, dass es ganz unmöglich ist für irgendeinen sterblichen Herrscher, die Verantwortung dafür auf seine eigenen Schultern zu nehmen, ohne die Hilfe und den Rat des Volkes ...« Diesen Worten, die man in grosser Schrift der Geschichte einer leider sehr langsam dämmernden, neuen Zeit voranstellen könnte, stimmt jeder, der auch das Gebäude des Deutschen Reiches durch eine rechtzeitige Umwandlung gegen Erschütterungen gefestigt sehen möchte, bedingungslos zu. Wo man der Volksvertretung in allen wichtigen Lebensfragen einen Teil der Macht und der Verantwortung übergibt, sichert man ebensosehr die Monarchie wie das Volk. Es ist klar, dass diese Mitwirkung des Parlamentes nicht erst dann beginnen darf, wenn aus einer lange verfolgten Politik die toddrohende Krisis hervorgegangen ist. Ein Parlament kann den Schicksalsgang nur dann überwachen, wenn keine Verträge und Verpflichtungen ohne sein Wissen abgeschlossen werden, keine Regierungen gegen seinen Willen ihre Tätigkeit fortsetzen dürfen, und wenn es nicht nur, wie berühmte Spezialärzte, in den Stunden der Ratlosigkeit herbeigerufen wird. Der Zar und seine Regierungen verstanden nicht, sich von ehrwürdigen Traditionen freizumachen, mit einer grossen gewinnenden Geste das Parlament zu wirklicher Mitentscheidung aufzufordern, und immer nahmen sie das, was sie mit der einen Hand gaben, mit der anderen wieder zurück. Wo volkstümliche Staatsmänner nötig gewesen wären, leiteten gut empfohlene Beamte, die auf den neuen Wegen schreckhaft zögerten und in freier Luft hüstelnd sich einhüllten, die Geschäfte, und schon am 21. Juli 1906 wurde die erste Duma aufgelöst. So kam nach dem Kriege, der alle Tiefen aufgewühlt hatte, das Land nicht mehr zur Ruhe, und die Kräfte, die man nicht im Rahmen des Staates zu benutzen wusste, brachen ungeregelt, stossartig, empörerisch überall hervor. Für das Zarentum waren die Worte des Kaisers ein vorüberwehendes Blatt vom Baume der Erkenntnis, für Deutschland aber hat man sie im rechten Augenblick aus der Verborgenheit geholt. Konservative Zeitungen haben mit eigentümlicher Logik gesagt, die Ansicht, die der Kaiser so eindringlich und überzeugend aussprach, sei dem besiegten, geschwächten Russland gegenüber richtig gewesen, für das unbesiegbare, starke Deutschland habe sie keine Gültigkeit. Also nur Völker, die den Feind nicht abwehren, im Sturm nicht standhalten, dürfen »das positive Recht« der Mitbestimmung besitzen, und das wunderbar kämpfende und ausharrende deutsche Volk soll, gerade seiner Tugenden wegen, zur »Entscheidung über seine Zukunft« nicht berechtigt sein?

Nicht alles, was in den fünf historischen Aufsätzen des Regierungsblattes stand, hat so angenehme Empfindungen geweckt. Ohne dass die Welt etwas ahnte, wäre es gegen Ende 1904 beinahe zum kriegerischen Konflikt mit England und Japan gekommen, und man hätte sich dann eines Morgens der vollendeten Tatsache gegenübergesehen. England und Japan wollten nicht dulden, dass Deutschland die russische Flotte mit Kohlen versorgte, und die deutsche Regierung fragte in Petersburg an, ob Russland bereit wäre, Deutschland in einem solchen Konflikte »mit allen Mitteln beizustehen, über die es verfügt«. Graf Lamsdorff beeilte sich zu entgegnen, dass sein erhabener Herrscher diese Frage in bejahendem Sinne zu beantworten geruht habe, und warum sollte Russland in seiner damaligen Lage die unerhoffte Hilfe des mächtigen Deutschlands verschmähen? Seltsam ist nur, dass der unbekannte Geschichtsforscher, der die amtlichen Aktenstücke zusammengestellt und kommentiert hat, hier hinzufügt: »Für die Dauer des Russisch-Japanischen Krieges war mit Hilfe dieser Abmachungen ein wirksamer Schutz der bedrohten deutschen Interessen erreicht.« Man sieht nicht recht, welche deutschen Interessen in dieser Kohlenfrage bedroht gewesen sind. Und bot diesen Interessen das in der Mandschurei festgehaltene und geschlagene Russenheer oder bot ihnen die phantastische Russenflotte einen wirksamen Schutz? Wahrscheinlich hätte die ausserordentliche diplomatische Geschicklichkeit Bülows sich im letzten Augenblick dort, wo die staatsmännische Voraussicht versagt hatte, einrenkend und rettend bewährt. Ganz unverständlich aber ist, wie man inmitten einer solchen, auf die Gewinnung Russlands und Frankreichs hinzielenden Politik den Marokkodonner loslassen und nach dem Sturze Delcassés die Konferenzdrohung schwingen konnte, die auch den verhandlungsbereiten Rouvier in das englische Lager hinübertrieb. Es war nicht heiter, in Paris mitzuerleben, wie erst der Legationsrat v. Flotow und dann der Botschafter Fürst Radolin gegen ihre bessere Ueberzeugung den aufgeregten Rouvier auf die »Folgen« einer Konferenzverweigerung aufmerksam machen müssten, und die strahlenden Gesichter der auf dem Quai d'Orlay lauernden Engländer zu sehen. Aber alle Warnungen fanden in Berlin selbst bei den ruhig Denkenden keine Unterstützung und wurden von den Leuten, die schon damals prädestiniert waren, in die jetzt gegründete »Vaterlandspartei« einzutreten, unpatriotisch und hochverräterisch genannt. Was war das Schlussergebnis der ganzen Bemühungen, ein deutsch-russisches Bündnis herzustellen? Der russische Vertreter auf der Algeciras-Konferenz bekämpfte natürlich gemeinsam mit den französischen und englischen Diplomaten die deutschen Ansprüche, und am 5. April 1906, bei der Etatberatung im Reichstage, konstatierte der Abgeordnete v. Hertling, Russland habe »Deutschlands freundliche Haltung« während seiner Katastrophe mit Undank belohnt. Und Graf Hertling und der Reichstag wussten noch gar nicht, wie weit die deutsche Regierung in ihrer »freundlichen Haltung« gegangen war ... Im gleichen April 1906 schloss die russische Regierung, die mehr als zwei Milliarden brauchte und sich gewiss kleine animierende Andeutungen über das deutsche Bündnisangebot gestattete, in London und Paris einen Anleihevertrag ab.

Das alles gehört zur belehrenden Vergangenheit. Jetzt kümmern uns noch mehr die diplomatischen Künste der Gegenwart. Graf Luxburg, der in Buenos Aires dem schwedischen Gesandten so witzige Chiffredepeschen zur Beförderung nach Deutschland übergab, ist leider verspätet abberufen worden, als er bereits die argentinische Aufforderung, heimzureisen, erhalten hatte und eigentlich gar nicht mehr vorhanden war. Auf den Anschlagzetteln eines Theaters im Norden Berlins liest man zur Empfehlung der neuen Posse: »Wirklicher Humor, grosser Erfolg!« Graf Luxburg ist, wie seine von den Amerikanern erbeuteten telegraphischen Stilproben zeigen, mit Humor ausgestattet, und nur der Erfolg hat ihm gefehlt. Er ist dabei, entgegen der allgemeinen Annahme, durchaus nicht unintelligent und unbegabt. Ich habe das Vergnügen gehabt, am Abend vor seiner Abreise nach Argentinien, im ersten Kriegsjahre, am Tische eines gemeinsamen Freundes seiner Henkersmahlzeit beizuwohnen, und er hat damals den Eindruck eines geistig beweglichen, vielleicht zu beweglichen, und unter kluger und fester Führung gewiss verwendbaren Mannes gemacht. Nur – er hatte so eine gewisse Manier, den Rest der Welt nicht hoch zu schätzen, die Grundsätze eines kraftvollen Herrentums zu betonen und jene bald lächelnde, bald scharfe Ueberlegenheit zu zeigen, die uns so viel Liebe gewonnen hat. Uebrigens ging er so ungern nach Argentinien, als hätte er sein ganzes Missgeschick vorausgeahnt. Auch solche Persönlichkeiten können an der richtigen Stelle etwas leisten, und man soll sie nur nicht in fremde, ihrem Geiste fremdartige Länder schicken, wo es Sympathien zu wahren oder zu werben gilt. In einem Lande wie Argentinien braucht man einen Mann, der sich als Vertreter des Deutschen Reiches, aber nicht in jedem Augenblick als Vertreter einer höheren Weltordnung fühlt. Dass in der sorglosen Halbgottlaune grandios spöttische Depeschen hinausgeschmettert werden, ist nicht erstaunlich, und dass diese diskreten Geistesprodukte dann einem mit dem Chiffreschlüssel versehenen Gegner in die Hände fallen, ist schon beinahe eine Selbstverständlichkeit. Die schöne Helena sagt bei jedem Umfall ihres Herzens: »Das ist die Fatalität.«

Die argentinische Regierung hat, als sie dem Grafen Luxburg die Pässe überreichen liess, sehr verständig erklärt, dass diese Massregel nur gegen den verunglückten Geschäftsträger, nicht gegen Deutschland gerichtet sei. Wir erfahren wenig und nichts Zuverlässiges über argentinische Stimmungen, aber das Missvergnügen ist hoffentlich in der Stunde verschwunden, in der sein Urheber verschwand. Aber es kann nicht verschwiegen werden, dass in Schweden eine sehr starke Unzufriedenheit in sehr starken Worten geäussert wird. Man sagt dort, Graf Luxburg habe den schwedischen Gesandten, der seine Depeschen, ohne ihren Inhalt zu kennen, vertrauensvoll beförderte, strafbar hintergangen, und man vermisse in der amtlichen, von der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« veröffentlichten Erklärung »ein Wort des Bedauerns über die schiefe Lage, in die ein deutscher Beamter Schweden gebracht hat«, und »ein Wort des Tadels für die Art, wie das arglose Vertrauen Schwedens belohnt worden ist«. Die bisher deutschfreundliche »Nya Dagligt Allehanda«, die in ihrer Nummer vom 13. September sich also ausspricht, fügt diesen Bemerkungen dann noch erheblich schärfere zu. Sie sagt auch, es sei »eine ausgezeichnete Gelegenheit verpasst worden, das Netz der schädlichen Vorurteile zu lockern«, mit dem man die deutsche Nation während des Krieges so fleissig umsponnen hat. Diese Sprache ist überaus milde im Vergleich zu derjenigen, die das »Aftonbladet«, ein gleichfalls keineswegs zur Entente neigendes Blatt, seit vier Tagen führt. Es wird dort auch betont, dass in dieser Angelegenheit »auch in den Kreisen, die mit warmer Sympathie den deutschen Kampf gegen eine ganze Welt verfolgen, nur eine absolut einheitliche Meinung« zu finden sei. Niemand in Deutschland, niemand in der deutschen Presse hat den Grafen Luxburg entschuldigt, niemand, kein einziges Blatt, keines auf der Rechten und keines auf der Linken, hat sich für seine Handlungsweise erwärmt. Niemand wollte seinetwegen einen Zwist mit Argentinien heraufbeschwören lassen, und wenn man dem entgleisten Diplomaten zuliebe die schwedischen Freunde ins Ententelager treiben würde, so würde das in ganz Deutschland erst recht niemand, absolut niemand, verstehen. Aber das ist, wie nicht erst gesagt zu werden braucht, eine Unmöglichkeit. Und man hat nur diesen ganzen Zwischenfall zuerst so behandelt, als ob der Schutz der diplomatischen Hausehre die Hauptsache sei. In den letzten Tagen war aus manchen Anzeichen zu ersehen, dass in den Ententeländern die nicht zu brechende Widerstandskraft im Westen und die wilden Ereignisse in Russland allmählich Eindruck machen und dass mancher dort nachdenklich wird. Es ist sehr bemerkenswert, dass sogar der »Temps« plötzlich sagt, die deutsche Antwortnote an den Papst könnte, falls sie wirkliche Lösungen vorschlage, »eine gewisse Aufmerksamkeit erfordern«, und dass dieses wichtigste Blatt der französischen Kriegskabinette von der »allgemeinen Abnutzung der Streitkräfte« spricht. Die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit hat, wenn auch die Vaterlandsretter der »Deutschen Vaterlandspartei« das Gegenteil behaupten, nicht die gegnerischen Kriegsparteien, sondern diejenigen, die zum Verhandlungstische drängen, gestärkt. Aber wenn heute einer der noch unbeteiligten Neutralen sich feindselig gegen uns wenden wollte, so würde der kriegerische Geist schnell durch neue Hoffnung belebt. Herr v. Kühlmann hat in seiner Antrittsrede ernste, vortreffliche Worte über die berechtigten Empfindungen der Neutralen gesagt. Die gegenwärtigen Empfindungen der Schweden scheinen, wenn man auch gern erst die deutsche Darstellung abwarten möchte, nicht ganz unberechtigt zu sein. Zu keiner Zeit war es nötiger, wachsam nach allen Seiten hin zu blicken, neue Schwierigkeiten ohne langes Zögern zu beseitigen und nicht zu warten, bis ein Zwischenfall zu einem Ereignis geworden ist. Das dürfte ungefähr das ganze deutsche Volk, in all seinen politischen Lagern, verlangen, obgleich es die Möglichkeit, »die Entscheidung über seine Zukunft selbst zu treffen oder an dieser Entscheidung teilzunehmen«, nach drei Jahren voll unvergleichlicher Kriegsleistung noch nicht besitzt.

 

Die Note, mit welcher die deutsche Regierung den Friedenschritt des Papstes beantwortete, war vom 19. September datiert. Sie enthielt die Versicherung, dass es der deutschen Regierung am Herzen liege, »im Einklang mit den Wünschen Seiner Heiligkeit und der Friedenskundgebung des Reichstages am 19. Juli d. J. brauchbare Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden zu finden,« und betonte, als erstes deutsches Regierungsdokument, die Notwendigkeit von Abmachungen »für eine gleichzeitige und gegenseitige Begrenzung der Rüstungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft«. Am 2. September war in Königsberg die »Deutsche Vaterlandspartei« gegründet worden, der Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg und der Grossadmiral v. Tirpitz übernahmen das Präsidium. Im Heere und im Lande begann, von Behörden und amtlichen Personen kräftig unterstützt, eine gewaltige Werbetätigkeit. Am 6. Oktober interpellierten dann die Mehrheitsparteien die Regierung über diese alldeutsche und »vaterländische« Agitation, und am 9. Oktober unternahm der Reichskanzler Dr. Michaelis, indem er durch den Admiral v. Capelle die Geschichte von dem missglückten Marineputsch vortragen liess und drei »Unabhängige Sozialdemokraten« anklagte, einen Ablenkungsversuch. Aus diesem Geschehnis ging die neue Krisis, die Oktober-Krisis, hervor.

24. September 1917

Die nicht in bureaukratischer Atmosphäre erzeugte Note an den Papst kündet das Kommen eines »neuen Geistes« an. Wenn dieser neue Geist wirklich einkehren soll, ist es zunächst notwendig, dass das deutsche Volk sich vor seinem eigenen Bewusstsein mit dem, was man die belgische Frage nennt, und was nie eine Frage hätte werden sollen, auseinandersetzt. Nachdem der Krieg unvermeidbar geworden, der Kriegszustand erklärt war, erschien in den Morgenblättern vom 1. August 1914 die halbamtliche Mitteilung, dass die Einberufung des Reichstags zum 4. August in Aussicht genommen sei. In dieser Reichstagssitzung erklärte der Reichskanzler, Herr v. Bethmann Hollweg: »Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht auch schon belgisches Gebiet betreten müssen«, und er fügte hinzu: »Das widerspricht den Geboten des Völkerrechts.« Er sagte weiter, Frankreich sei zum Einfall bereit gewesen, das hätte verhängnisvoll werden können, Deutschland sei infolgedessen gezwungen gewesen, sich »über die Proteste der luxemburgischen und belgischen Regierung hinwegzusetzen«, aber »das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärischer Zweck erreicht ist«. Man hat diese Worte, die damals, wie der stenographische Bericht dartut, mit Beifall aufgenommen wurden, sehr heftig getadelt, und auch Leute, deren Kopf sonst klar ist, und deren Herz richtig schlägt, haben besonders nach der Auffindung der Brüsseler Dokumente gemeint, Herr v. Bethmann Hollweg hätte den Satz vom Unrecht besser unterdrückt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Welt draussen uns stärkere Sympathien gespendet hätte, wenn schon am 4. August versucht worden wäre, einen von der belgischen Regierung begangenen Neutralitätsbruch festzustellen. Aus den belgischen Aufzeichnungen über die Schritte der englischen Militärattachés, der Oberstleutnants Barnardiston und Bridges, ergibt sich deutlich, dass die englischen Militärs sehr ungeniert die Verführerrolle spielten und dass die belgische Regierung vom geraden Wege abirrte, indem sie die englischen Vorschläge entgegennahm. Aber die Welt hat und hätte immer eingewendet, dass von der belgischen Regierung keine bindenden Abmachungen getroffen worden seien, dass der belgische General Jungbluth auf die Zumutungen des Oberstleutnants Bridge geantwortet habe, Belgien könne sich selber schützen, und dass in dem Bericht über die Anträge des Herrn Barnardiston sich die Bemerkung finde: »Der Einmarsch der Engländer in Belgien solle nur nach einer Verletzung unserer Neutralität durch Deutschland geschehen.« Ob Herr v. Bethmann Hollweg am 4. August von Unrecht oder Recht sprach, war für den Eindruck im Auslande wohl ziemlich gleich. Advokatenkunst wäre in diesem Falle schwerlich viel wirksamer gewesen als eine ethisch gefärbte Aufrichtigkeit.

Am gleichen Tage, unmittelbar vor dem Abbruch der deutsch-englischen Beziehungen, sandte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herr v. Jagow, dem deutschen Botschafter in London, dem Fürsten Lichnowsky, die Weisung: »Wollen Sie, bitte, jedes Misstrauen, das die grossbritannische Regierung in bezug auf unsere Absichten haben könnte, zerstreuen, indem Sie die ganz formelle Zusicherung wiederholen, dass, sogar im Falle eines bewaffneten Konflikts mit Belgien, Deutschland sich unter gar keinem Vorwand belgisches Gebiet aneignen wird. Die Aufrichtigkeit dieser Erklärung ist durch die Tatsache bewiesen, dass wir Holland unser feierliches Versprechen gaben, seine Neutralität aufs strengste zu achten. Es ist augenscheinlich, dass wir uns nicht belgisches Gebiet aneignen könnten, ohne uns zugleich auf Kosten der Niederlande zu vergrössern.« Diese Erklärungen waren damals etwas ganz Selbstverständliches, einen anderen Standpunkt schien es gar nicht gehen zu können, denn niemand – niemand ausserhalb des engeren alldeutschen Kreises und einiger geschäftigen Konsortien – hatte auch nur in jenen kühnen Launen, denen mitunter der harmloseste Bürger sich hingibt, an eine Wegnahme Belgiens gedacht. Konnte das deutsche Volk, das mit seinem letzten Blutstropfen den eigenen Boden und die eigene Freiheit verteidigen und niemals dem Gebot eines fremden Machthabers sich beugen würde, das nationale Leben eines anderen Volkes zerschlagen, den Willen eines anderen Volkes unterjochen, den Besitz fortnehmen wollen, den ein anderes Volk sich in langer Arbeit geschaffen hat? In diesem Lande hier, wo der Kampf für die Befreiung des Individuums von Glaubensfesseln gepredigt worden ist, sollte man, im zwanzigsten Jahrhundert, zur Unterwerfung fremder Selbständigkeit ausgezogen sein? Hat hier nicht Kant gelehrt, ist hier nicht nationales Freiheitsverlangen in leidenschaftlichen Liedern emporgerauscht, liest man in unseren Schulen nicht den »Abfall der vereinigten Niederlande«, spielt man auf unseren Bühnen nicht »Wilhelm Tell«? Und was musste schliesslich das Ergebnis sein, wenn man über die Erklärungen und Zusagen der Regierung, über das geschriebene und das ungeschriebene Recht achselzuckend hinweggehen wollte, und wenn, nach einem Kriege von vielen Jahren, die Kettung Belgiens wirklich gelang? Minderung der nationalen Einheit, Geschwürfrass am gesunden Körper des Reiches, immer neue feindliche Weltkoalitionen, Aussperrung von allen Bereichen des Handels und des Geistes, endloses Rüstungsfieber, endlose Hinderung politischer Bewegungsfreiheit, endloser Kampf. Die ungeheuere Mehrheit des deutschen Volkes ersehnte nicht einen solchen unerfreulichen und gefährlichen Gewinn. Sie zog zum Schutze des eigenen Hauses, nicht zur Wegnahme des fremden in den Krieg.

Im Frühling 1915 aber begann dann, mit reichen und starken Mitteln, die annexionistische Agitation. Die sechs wirtschaftlichen Verbände verfassten, unter Führung des schwerindustriellen Zentralverbandes, das Programm und legten es, wie eine Rechnung, von der nichts abgelassen werden könnte, Herrn v. Bethmann Hollweg vor. Eine ähnliche Wunschliste verfertigte der Alldeutsche Verband, und dann trat man, im Namen des Idealismus, an »die Führer der deutschen Bildung«, an die Universitätsprofessoren, heran. Anhänger für die Kriegsziele wurden geworben, Listen wurden herumgereicht, und die Philosophen, die Historiker und die Völkerrechtslehrer schrieben in grosser Zahl ihre Namen ein. Es fanden sich Philosophen, die Kant widerlegten, und Historiker, die klar bewiesen, Belgien sei nur ein Verlegenheitsprodukt politischer Rechenkünstler und darum eigentlich gar kein Staat. Es fanden sich Völkerrechtslehrer, die wie Polonius bereit waren, abwechselnd zu versichern, eine Wolke sehe aus wie ein Walfisch oder wie ein Kamel. Diese Bewegung blieb nicht ganz ohne Abwehr, an einem Julinachmittag wurde in einem Sieben-Männer-Kreise, in einer Gelehrtenvilla des Grunewalds, eine Erklärung verabredet, die etwas kompromisslich endete, aber aussprach: »In rein sachlicher Erwägung bekennen wir uns zu dem Grundsatz, dass die Einverleibung oder Angliederung politisch selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker zu verwerfen ist.« Ungefähr hundert meist sehr beträchtliche Männer, berühmte Gelehrte, ehemalige Staatssekretäre, Unterstaatssekretäre und andere hohe Beamte, Geistliche, Mitglieder des Hochadels, Handelsherren, Grossindustrielle und Diplomaten gaben ihre Unterschrift. Dies waren die ersten Tage des Streites, und leider hat dann die Partei der Machtpolitiker mit weit mehr Tatkraft, Organisationssinn, rücksichtsloser Draufgängerei gekämpft und hat sich auch freilich weit mehr förderlicher Gunst erfreut als die Partei des Rechtes und der Vernunft. Es wurde behauptet, der Widerspruch gegen die Annexionsgelüste könnte die Stimmung verderben, und um nicht als ein »Flaumacher« zu gelten, blieb mancher, der hätte reden müssen, stumm. Gewöhnlich sprechen diejenigen, die, über Rechtsgrundsätze und Verpflichtungen hinweg, an das Ziel ihres Begehrens gelangen wollen, ihre Pläne und Absichten nur behutsam aus. Hier war es umgekehrt: diejenigen, die für den Rechtsgedanken eintraten, flüsterten und die anderen sprachen laut. Es kam hinzu, dass Herr v. Bethmann Hollweg, der niemals die Annexion Belgiens oder der belgischen Küste gewollt hat, das entscheidende Wort, wenigstens in der Oeffentlichkeit, vermied. So konnten die grossen Machtpropheten immer wieder Gläubige finden, wurden die Gemüter immer weiter erhitzt. Durch die Unklarheit der Regierungssprüche, durch die Begünstigung des annexionistischen Kraftgebarens schuf man für den Tag des Friedens und für den Tag, wo die Herausgabe Belgiens zugestanden werden sollte, Schwierigkeiten, eine gedrillte Opposition, eine organisierte Unzufriedenheit. Und nur weil die Annexionisten zu lange ihren Willen hinausgerufen haben, können die Gegner Deutschlands heute sagen, dass der selbstverständliche, schon am 4. August 1914 ausgesprochene grundsätzliche Verzicht auf Belgien ein Rückzug, ein Einsargen unerfüllbarer Wünsche sei.

Hat diese Zwiespältigkeit in der Leitung, aus der ein immer schärferer Zwiespalt im Volke hervorgehen muss, jetzt aufgehört? Keineswegs. Die deutsche Note an den Papst, die der Reichskanzler unterzeichnet hat, erklärt, die deutsche Regierung sei zu einem Frieden im Einklang mit den päpstlichen Vorschlägen und der Friedenskundgebung des Reichstags bereit. Im gleichen Augenblick werben amtliche Behörden ganz offen für die neue »Vaterlandspartei«, die das Volk gegen die Friedensresolution und für den Annexionsfrieden aufrufen will. Die Vorgesetzten legen ihren Untergebenen die Beitrittslisten vor. Sie senden ihnen die Aufforderung, an einer Versammlung – die heute in Berlin stattfinden soll –, teilzunehmen, mit der freundlichen Frage: »Sie kommen doch ...?« Unter Jakob dem Zweiten wurde den Beamten ein Gelöbnis, dass sie die königliche Politik unterstützen wollten, abverlangt. Ein Zollbeamter schrieb: »Ich habe vierzehn Gründe, den Befehlen Seiner Majestät zu gehorchen – dreizehn junge Kinder und eine Frau.« Weiss der Herr Reichskanzler, dass ein solcher Gewissenszwang, natürlich ohne nachweisbare Drohung, auch heute ausgeübt wird? Weiss er, dass diese Bemühungen sich gegen die Politik richten, die er in seiner Note vertritt? Es dürfte wohl endlich Zeit sein, eine gewisse Einheitlichkeit herzustellen. Es dürfte auch Zeit sein, bis in die letzten Winkel Klarheit darüber zu verbreiten, dass die Herausgabe Belgiens der deutschen Zukunft und dem Ansehen des deutschen Namens nur nützlich werden kann. Sollen auch nach dem Kriege viele noch den Unsegen, der aus einer Vergewaltigung hervorgegangen wäre, ahnungslos verkennen, die unabänderliche Gültigkeit des Rechtes gering achten und stirnrunzelnd sagen, dass eine schöne Gelegenheit verpasst worden sei? Diejenigen, die so sprächen, wären dann sehr entfernt vom »neuen Geist«.

 

In Flandern versuchen die Engländer schrittweise vorzudringen, bedecken alles Gebiet vor ihren Linien mit ihren Geschossen, und von den deutschen Verteidigern wird in der immer erneuten Abwehr Unsagbares ertragen und Unsagbares vollbracht. Am Ausgang des Rigaischen Meerbusens wird von den deutschen Truppen die Insel Oesel besetzt. In Berlin wird, während der Kaiser unterwegs nach Konstantinopel ist, die neue Krisis akut. Am 22. Oktober treten die Vertrauensmänner des Zentrums, der Nationalliberalen, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokratie zusammen, verabreden einen gemeinsamen Schritt, um den Rücktritt des Reichskanzlers herbeizuführen, und geben ihren Wunsch, bei der Ernennung des Nachfolgers mitzuwirken, dem Chef des Zivilkabinetts kund.

15. Oktober 1917

Ist es nicht widerwärtig, ist es nicht geradezu unanständig, dass man sich hier im Lande immer wieder mit inneren Krisen, mit stets neu beginnenden politischen Kläglichkeiten beschäftigen muss, während in Flandern, unter dem wahnwitzigen Eisenhagel, all die Männer kämpfen und leiden, die ausersehen sind, die längst verwüsteten Hügelrücken von Passchendaele und Poelkapelle zu decken und den Engländern den Weg in die flandrische Ebene zu versperren? Alle Gedanken müssten dort bei dieser Hügelschlacht, bei diesen ausharrenden, noch im Tode zur Heimat blickenden Menschen sein, und doch muss man sich mit dem Schutt befassen, der immer wieder aus dem brüchigen Bau eines veralteten Staatssystems dunstverbreitend auf die Strasse fällt. »Wenn man jetzt wieder kompromisselt«, habe ich am neunten Juli, während der Bethmann-Krise, gesagt, »und halbherzig Kleinigkeiten bietet und annimmt, dann ist es unvermeidlich, dass die heute in Fragen, Zweifeln, Mahnungen und Forderungen durcheinanderwallende Stimmung sich vereinheitlichen, auf bestimmte Ziele hinstreben und laut sich äussern wird. Will man warten – bis zu diesem Augenblick?« Und am elften Juli: »Wenn man nicht nach der Julikrisis immer wieder neue Krisen, und schärfere, erleben will – und wer könnte das in dieser Kriegszeit wollen? –, dann muss man in der gegenwärtigen Stunde nicht ein Viertelchen, nicht die Hälfte des Notwendigen, sondern das Ganze tun.« Es ist weder ein Viertelchen, noch die Hälfte, noch das Ganze, es ist gar nichts getan worden, statt des Herrn v. Bethmann Hollweg haben, ohne Befragung des Reichstags, unbekannte Ratgeber einen auf seinem Spezialgebiet ausserordentlich tüchtigen, in der grossen Politik unerfahrenen Beamten herbeigerufen, und daraus ergibt sich ganz selbstverständlich, wie es jeder Sehende voraussagen musste, eine Herbstkrisis, die man vielleicht in den Winter hinein verschleppen, aber nicht durch Beseitigung des Herrn v. Capelle oder durch andere Umbesetzungen beenden wird. Die sichere und stetige Führung des Reiches, die wir brauchen, ist nur noch möglich, wenn der Reichskanzler nicht in höfischen Vorzimmern, sondern gemeinsam mit der Volksvertretung ausgesucht wird, und wenn er am ersten Tage erklärt, dass er genau so lange auf seinem Posten bleiben werde, wie ihm der Reichstag, durch unzweideutige Abstimmungen, Unterstützung und Vertrauen bekunden will. Ein Reichskanzler, der so spricht und so handelt, kann stark und unbeirrt vorwärtsgehen. Jeder andere muss fortwährend seitwärts schielen, herumtasten, geheime Einflüsse fürchten, und das Land treibt dann, während alles sich zu den kämpfenden Heeren hinwenden sollte, in unerträgliche Wirren hinein.

Wer trägt die Schuld daran, dass nach der Julikrisis eine Herbstkrisis gekommen ist? Erstens jene Ratgeber, die glaubten, den Reichstag beiseite lassen zu können, und in der ernstesten Zeit der deutschen Geschichte einen Reichskanzler wählten, wie man beim Blindekuhspiel den gerade sich darbietenden Mitspieler greift. Dann Herr Dr. Michaelis, der auf ausgezeichnete Leistungen zurückblicken kann, politische Kenntnis und Kunst, aber jetzt erst, im höchsten Amte, schnell zu erwerben hoffte, und der, als seine Gönner ihn vorschlugen, es nicht notwendig fand, zu fragen: was sagt der Deutsche Reichstag dazu? Schliesslich dieser Reichstag, der nicht im richtigen Augenblick vernehmlich aussprach, dass er bei der Wahl des Reichskanzlers gehört werden wolle, dass die Propheten nicht mehr aus weihevoller Verborgenheit zu uns entsendet werden dürfen, und dass leider auch nicht mehr, wie in den Tagen Aarons, ein mystisches Handauflegen genüge, um sie mit Weisheit zu erfüllen. So kam Herr Michaelis als ein Fremder zur Volksvertretung, der versteckte Ursprung seiner Sendung stimmte misstrauisch, auch glänzenderer Staatsmannsgeist hätte diesen Geburtsfehler nicht ausgleichen können, und vergeblich suchte der aus seiner regelmässigen Laufbahn herausgerissene, nirgends sonst festwurzelnde Bürdenträger Anschluss und Halt. Er glaubte, mit kleinen Zugeständnissen die Mehrheit gewinnen zu können, gab bei der Ministerschaffung zwei und einen halben Posten dem Parlamente, berief sieben Parteiführer zur Beratung über die Papstnote, und jeder sah doch, dass er immer vorsichtig dorthin blickte, wo sein Schicksal gemacht wurde und wo der Ausgangspunkt seines plötzlichen und sehr trügerischen Glückes war. Die ärgerliche Missstimmung darüber, dass die plötzliche Gunst unbewanderter und verantwortungsfreier Personen genügt hatte, in dieser schweren Zeit einen sehr verdienstvollen, aber politisch nicht vorbereiteten Mann an die Spitze der Reichsleitung zu stellen, lag im Reichstag in der Luft. Es war nur ein Zufall, dass sie sich gerade bei der unbegreiflichen Erklärung über das Flottendrama und bei dem Vorstoss gegen die drei »Unabhängigen« entlud.

Man hat in den Reichstagszimmern hinter verschlossenen Türen viel darüber hin und her geredet, ob man jetzt versuchen solle, eine schnelle Lösung herbeizuführen, oder ob Abwarten besser sei. Der Abgeordnete Conrad Haussmann hat soeben geschrieben, dass die Fortschrittliche Volkspartei »ihrer Ueberzeugung in der Form, die dem Staatsinteresse und der Loyalität gleichmässig entspricht, Ausdruck gegeben hat«. Die Sozialdemokratie hat öffentlich ihre Meinung geäussert und am Schlusse der Debatte über die alldeutsche Agitation im Heere für den Missbilligungsantrag gestimmt. Andere Parteien haben die Vertagung vorgezogen, weil die Dinge von selbst reifen würden, oder weil ihnen die Geschichte der »Unabhängigen« kein sympathischer Anlass zu einer entscheidenden Bemühung schien. Auch der Gedanke, dass man nicht wieder durch Ueberstürzung einem unerwünschten Kandidaten die Tür öffnen dürfe, hat hemmend gewirkt. Die Leute links sahen mit Abneigung, dass rechts und von einzelnen Politikern der Mitte für einen bekannten Bezauberungskünstler, dem eine ereignisvolle Vergangenheit anhaftet, eifrig geworben wird. Die Abgeordneten haben sich diesen Verlegenheiten durch eine schnelle Abreise entzogen und es gemacht wie der Ehemann in einem alten Gedicht, der nicht weiss, was er seiner Frau kaufen soll, und ihr darum lieber gar nichts kauft. Sie wollen, als wäre alles in schönster Ordnung, erst am fünften Dezember wiederkommen, und ihr ganzes Verhalten sieht – die Welt ist Zeuge – nicht übermässig heldenhaft aus. Gab es, wenn sie jetzt in der Kanzlerfrage nicht unumwunden ihre innersten Gedanken aussprechen wollten, wirklich nichts anderes für sie zu tun? Was macht jener Verfassungsausschuss, den sie eingesetzt haben, und der uns die Neugestaltung des Reiches verschaffen soll? Er hat sich nicht überanstrengt und immer hören wir nur, wie jeder zur eigenen Entschuldigung auf den anderen deutet: »Die Nationalliberalen sind nicht dafür zu haben« – »das Zentrum will nicht mitmachen« – »die Fortschrittler sind zu schlapp.« Die wahre Wahrheit ist, dass der eine dem anderen nicht sehr viel vorzuwerfen hat. Dieser Verfassungsausschuss müsste erklären: »Der Reichskanzler ist nach Befragung der Parteiführer zu ernennen und legt sein Amt nieder, wenn die Mehrheit des Reichstags ihm ihr Misstrauen votiert.« Das wäre, ein für allemal, eine prinzipielle Feststellung, an der heute alle vorbeireden, und die Schaffung eines Zustandes, den heimlich jeder als den allein richtigen erkennt. Vielleicht lesen die Mitglieder des Ausschusses gelegentlich nach, was Zarathustra von demjenigen sagt, der am Abend schon seine »Morgen-Tapferkeit« vergisst. Die wenigsten von ihnen brauchen zu befürchten, dass eine solche Versenkung in Nietzsche sie zu Uebermenschen machen wird.

Die Blätter so ziemlich aller Parteien protestieren jetzt dagegen, dass der Staatssekretär des Reichsmarineamts geopfert, oder dass er allein geopfert werden soll. Die Konservativen und die Alldeutschen wollen gar keine Sühne erlauben, die Linksblätter konstatieren, dass Herr Dr. Michaelis ebenso bedeutungsschwer wie der Staatssekretär gesprochen habe und die Verantwortung trage, und diejenigen Organe, die den bekannten Bezauberungskünstler – den Fürsten Bülow, um ihn zu nennen – zum Sitz der Macht zurückführen möchten, schliessen sich in scharfer Sprache dieser Auffassung an. Es ist, wie schon gesagt, auch wenig wahrscheinlich, dass die Preisgabe irgendeines Staatssekretärs genügen wird, und es würde auch nichts durch das Verschwinden des Herrn Helfferich erreicht. Nur das noch immer treu an Helfferich hängende Herz einiger sonst aufrechten Liberalen würde getroffen werden – dieses Herz, neben dem selbst das vielbesungene »goldene Weaner Herz« einem Kieselsteine gleicht. Auch durch die kühne Erschaffung noch eines parlamentarischen Staatssekretärs und durch ähnliche Mittel würde Herr Dr. Michaelis kaum für längere Frist ein Schicksal hinauszögern können, dessen erster Grund in einem »vice d'origine«, wie man in Frankreich sagt, in einer fehlerhaften Herkunft seiner Kanzlerschaft liegt. Möge er die philosophische Heiterkeit haben, um mit dem alten Philemon zu sprechen: »Lass uns zur Capelle treten, letzten Sonnenblick zu schauen!« Das eine ist – ob nun der Reichstag vorhanden ist, oder ob nicht – nachgerade wohl klar, dass kein Kanzler eine gradlinige, starke, einheitliche Politik mehr führen kann, der sich nicht auf den Willen der Volksvertretung stützen darf, das Parlament nicht schon im Augenblick seines Kommens hinter sich geschart hat, von unsichtbaren Gewalten abhängt und zwischen unparlamentarischen Einflüssen, die ihn beseitigen können, und dem Parlament, das er zum Regieren braucht, hin und her balancieren muss. »Wenn man nicht nach der Herbstkrisis immer wieder neue Krisen, und schärfere, erleben will – und wer könnte das in dieser Kriegszeit wollen? –, dann muss man in der gegenwärtigen Stunde nicht ein Viertelchen, nicht die Hälfte des Notwendigen, sondern das Ganze tun.«

 

Am 23. Oktober begaben sich die Vertreter der vier Mehrheitsparteien gemeinsam zu dem Chef des Zivilkabinetts Herrn v. Valentini, um ihm zu sagen, dass Herr Dr. Michaelis, nach einstimmiger Ansicht der Reichstagsmehrheit, nicht der geeignete Reichskanzler sei. In einer Herrn v. Valentini überreichten schriftlichen Erklärung baten sie, dass der vom Kaiser zu bestimmende neue Kandidat sich vor Annahme des Kanzleramtes mit der Mehrheit verständigen möge. Nach einigem Zögern wurde die Entlassung beschlossen, am 26. Oktober reichte Herr Dr. Michaelis sein Rücktrittsgesuch ein. Das Kanzleramt wurde dem Grafen Hertling angeboten, und Graf Hertling erklärte sich unter der Bedingung, dass er die Unterstützung der Mehrheit finde, zur Annahme des Amtes bereit. Er verhandelte fünf Tage mit den Parteiführern, und am 2. November wurde, nachdem er dem Programm der Mehrheit zugestimmt hatte, seine Ernennung offiziell proklamiert. Aber neue Schwierigkeiten begannen, gegen die schon halb zugestandene Berufung des Fortschrittlers v. Payer zum Vizekanzler und die Entlassung Helfferichs von diesem Posten regte sich ein starker Widerstand, dem Graf Hertling sich zu beugen schien. Die Mehrheitsparteien traten geschlossen für diese Forderungen ein, und am Abend des 8. November wurden endlich der Rücktritt Helfferichs und die Berufung Payers bekanntgemacht.

5. November 1917

Während in Italien die Heere der Verbündeten den Tagliamento erreichten, überschritt Deutschland, in seiner inneren Entwicklung, den Rubikon. Als das deutsche Volk am zweiten November aufwachte, besass es noch nicht das parlamentarische System, aber ein erhebliches Stück davon. Zum ersten Male hat die Volksvertretung sich nicht vollendeten Tatsachen gegenübergesehen. Zum ersten Male starrte sie nicht dogmengläubig, erwartungsvoll und untätig auf die Wolke, die den Gipfel des Berges umhüllt. Zum ersten Male führte sie durch die Festigkeit ihrer Beschlüsse den Rücktritt eines Reichskanzlers herbei. Zum ersten Male sprach die Parlamentsmehrheit in aller Form den Wunsch aus, den vom Monarchen bezeichneten Kandidaten vor seiner Ernennung kennenzulernen, und zum ersten Male verständigte sich der Kandidat, bevor er das angebotene Amt annahm, mit den Mehrheitsparteien. Zum ersten Male wird der Reichstag durch eine Abstimmung bekunden, ob er die neue Regierung unterstützen will. Zum ersten Male wird der Reichskanzler vor der Volksvertretung nicht nur als ein Ueberbringer des königlichen Willens, sondern als ein Sachführer der Krone und des Volkes stehen. Das ist noch nicht die volle Erfüllung notwendiger Wünsche, und es ist doch, an dem, was hinter uns liegt, gemessen, schon sehr viel. Bei weitem nicht alle in Deutschland begreifen, was es bedeutet und was eines Tages die unausbleibliche volle Erfüllung bedeuten wird. Viele empfinden noch nicht, wie sehr der Staat sich wandelt und wie sehr ihre Stellung als Staatsbürger sich wandeln muss, wenn die von ihnen beauftragten, durch den Stimmzettel ernannten Vertreter an der Auswahl der leitenden Personen und an der Verwaltung des gemeinsamen Gutes beteiligt sind. Viele erkennen noch nicht, dass dann der Staat aus einer Zwangsinstitution zu einer Genossenschaft, einer Gesellschaft verantwortlicher Menschen emporwächst, und dass so die Staatsidee ihren eigentlichen, natürlichen Sinn wiedergewinnt. Als die Begleiter des Kolumbus nach ihrer Irrfahrt das Land betraten, ahnten sie nicht, dass es ein neu entdeckter Erdteil sei. Ganz so betritt mancher den Boden einer neuen Welt.

Es war oft seltsam zu sehen, mit welchen Vorurteilen, welchem Missverstehen, welcher Fremdheit die Hohen und die Niedrigen bei uns das parlamentarische System betrachteten, das sich doch überall, in allen gesitteten Ländern dieses Planeten, als Produkt staatsmännischer Klugheit und Erfahrung, als ein Mittel zur Festigung des Staatsgebäudes und zur Erweckung der schlummernden Kräfte, erwiesen hat. Ich habe in diesen Jahren aus dem Munde der Hohen und der Niedrigen sehr viele Antworten gehört, die nichts waren als die immer gleiche Wiederholung einer über die Wirklichkeit hinweggleitenden, von der Wirklichkeit ablenkenden Litanei. Herr v. Bethmann Hollweg pflegte zu entgegnen, unsere Parteiverhältnisse liessen die parlamentarische Regierungsform nicht zu. Aber Koalitionsministerien sind bei uns ebenso möglich wie anderswo, und ein Reformator, der immer nur die gegenwärtige Gestaltung, und die gegenwärtigen Gestalten, anblickt, gelangt nie zur Reform, Herr Dr. Michaelis war erstaunt über die Ansicht, das parlamentarische System habe sich in anderen Ländern, zum Beispiel in England und in Frankreich, recht gut bewährt. Aber eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Gegenstande ergibt doch, dass die französische Unruhe durch keine andere Regierungsform so dauernd gebändigt werden, die französische Volkskraft durch kein anderes System so zur höchsten Energie und Leistung angespornt werden konnte, wie durch die parlamentarische Selbstverwaltung, und dass die englische Weltherrschaft aus dem parlamentarischen Geiste entstand. Auch die Meinung Tocquevilles, nur die Autokratie sei für eine Politik der »grossen Unternehmungen« günstig und nur die Demokratie verbürge ein ruhiges Völkerglück, ist zu künstlich und durch die Ereignisse widerlegt. Der Verfasser der »Démocratie en Amérique« war, als er diese Theorie aufbaute, zu sehr vom Bilde Napoleons erfüllt. Es muss noch konstatiert werden, dass auch zahlreiche unserer Liberalen dem Gedanken des parlamentarischen Systems so schüchtern auswichen, als wären sie die Glücklichen, die ein Wechsel nur erschrecken kann, oder als scheuten sie die Verantwortung. In solchen Dingen, hat Börne einmal gesagt, ist nichts zu fürchten als die Furcht.

Graf Hertling hat sich bis zuletzt als Gegner des parlamentarischen Systems bekannt. Dennoch hat er den Rubikon überschritten, die ersten, entscheidenden Anfänge der grossen Neuerung halb hingenommen und halb gebracht. In der Vorrede zu den von ihm übersetzten Bekenntnissen des heiligen Augustinus erwähnt er die Behauptung, die Konfessionen enthielten ein quietistisches Element. Er sagt dazu, dass es für den gläubigen Christen ein Werk der Gottesliebe und der völligen Hingabe an Gott gebe, vor welchem der Wert alles anderen verschwinde, dass aber »die Pflicht berufsmässiger Tätigkeit in Eingliederung in die gottgegebene Gesellschaftsordnung damit nicht beseitigt« sei. Die Lösung der Aufgabe für den einzelnen lasse sich nicht in eine allgemeine Formel fassen, sie werde »je nach Gemütsart und Geistesrichtung wie nach den verschiedenen äusseren Umständen« vollbracht. Wenn man will, kann man in solchen Worten die philosophische Begründung seines jetzigen Verhaltens sehen. Aber er war in diesen Tagen natürlich nicht in erster Linie der Philosoph, der aus dem Saft der Erdendinge die rein geformte Blume des Gedankens aufstreben lässt, sondern der ganz irdische Politiker, dessen staatsmännische Kunst ohne quietistische Lebensweisheit die »äusseren Umstände« zu benutzen oder ihnen zu folgen weiss. Jeder von denen, die gestern und vorgestern noch, wie er, gegen das parlamentarische System sprachen, wären den gleichen Weg gegangen, weil nur kurzsichtige Toren und grobe Vabanquespieler noch meinen können, ein Widerstand gegen die »äusseren Umstände« sei heilbringend, möglich und aussichtsreich. Und diese »äusseren Umstände« werden zwingend, über jedes Hindernis hinweg, ganz von selbst dazu führen, dass man auf dem Wege des Parlamentarismus bis zur vollen Erfüllung weitergehen wird. Wenn dann kein Zweifel mehr daran bestehen wird, dass jede Regierung nur mit dem Vertrauen einer Reichstagsmehrheit regieren kann, Volk und Volksvertretung bei der Wahl ihrer Geschäftsleiter und bei wichtigen Lebensfragen nicht mehr vor vollendete Tatsachen gestellt werden dürfen, dann werden die festen Grundlagen für ein gesundes, von geheimen Einflüssen befreites Staatsleben geschaffen sein. Wenn die Beteiligung der Parlamentarier an der Regierung zur Regel, zur Selbstverständlichkeit geworden sein wird, dann werden sehr schnell die tatfrohen, ideenreichen, politisch begabten Männer zu einem Schauplatz hindrängen, wo man seine Kräfte regen und nutzen kann. Es wird nicht mehr nötig sein, jedesmal mit der Laterne in alle Winkel Deutschlands hineinzuleuchten, wenn man einen talentvollen Minister braucht.

Vorläufig freilich sind wir noch nicht so weit. Vorläufig sind noch die geheimen Einflüsse bemüht, das wieder einzureissen, was eben aufgebaut worden ist. Sie schrecken nicht davor zurück, die ruhige Entwicklung zu stören, neue Krisen zu schaffen und wieder den inneren Hader zu entfesseln, der doch nachgerade entbehrlich scheint. Sie möchten etwas wie einen Gesslerhut auf eine Stange setzen und den Reichstag fortjagen, wenn er sich vor dem Gestell nicht verneigt. Das »Programm« und die politischen Ideen des Grafen Hertling werden aufs äusserste bekämpft. Es wird versucht, oder ist doch versucht worden, die Ernennung eines fortschrittlichen Abgeordneten zum Vizekanzler und die Berufung eines anderen Fortschrittlers in das preussische Staatsministerium zu hindern, und man will, dass entweder Helfferich im Amte bleiben oder dass das Amt mit dem Vizekanzler verschwinden soll. Die Fortschrittliche Volkspartei hat sich über jene Berufungen nur in Wunschform geäussert, die Sozialdemokratie hat deutlich erklärt, sie sei nur unter solcher Voraussetzung zur Unterstützung bereit. Die Linke kann nur dann in der Lage sein, dem Grafen Hertling ihr Vertrauen zu schenken, wenn er neben dem guten Willen, den er hat, auch einen starken Willen zeigt. Sie will der Regierung loyal die Möglichkeit schaffen, gesichert, ohne Unfälle auf geradem Wege vorwärtszugehen. Aber sie wird diese Absicht sofort aufgeben müssen, wenn die Regierung in der ersten Stunde sich auf krumme Wege drängen lässt. Manches deutet darauf hin, dass Graf Hertling mit ungetrübtem Blick die Situation überschaut. Der eben erst in das Berliner Idyll versetzte Staatsmann kämpft ersichtlich einen entscheidenden Kampf. Können die Erben des Gesslerhutes glauben, es genügte, zwei Abgeordnete fernzuhalten, um für immer den vielzitierten neuen Geist auszusperren? Diesen Eindringling müssen sie schon ertragen, sie werden ihn nicht mehr los. Was zur Erneuerung Deutschlands zu einer hellen, gerechten Staatseinrichtung noch fehlt, wird sich einfinden und nicht ein Tipfelchen von dem, was eben errungen wurde, wird wieder fortzulöschen sein. Die Vertreter des alten Geistes sollten begreifen, dass diesmal sie vor einer unwiderrufbaren vollendeten Tatsache stehen.

 


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