Olga Wohlbrück
Du sollst ein Mann sein
Olga Wohlbrück

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Mit verstörtem Gesicht kam sie nach Hause. Markus öffnete selbst die Tür.

»Na endlich, du Ausreißerin!«

Er legte seinen Arm um sie und küßte sie durch den Schleier auf die kalte Wange. Seine Zärtlichkeit umfing sie wie ein warmer Luftstrom, und der starre Groll gegen ihn löste sich in einem dankbaren Lächeln.

Wie lieb und gut konnte er sein! So war er lange nicht gewesen. Aber wenn sie ihm jetzt sagte, daß sie Geld brauchte, so würde er wieder sein spitzes, kaltes Gesicht machen und verwundert, mißbilligend fragen:

»Aber, Kamilla – wo bist du denn mit deinem Gelde geblieben? Du müßtest ja noch zehn Tage reichen!« – – –

Nach Tisch setzte sie sich an seinen Arbeitstisch und stellte ihm eigenhändig die Tasse schwarzen Kaffee hin. Er legte den Arm um ihre Taille und lehnte den Kopf an ihre Brust.

»Wir könnten doch so glücklich sein, Kamilla ...«

Sie neigte sich über seine klare, lichte Stirn.

»Wir werden es auch sein, du wirst sehen, wir werden's«, murmelte sie bewegt.

Nein, heute war es ihr unmöglich, etwas zu sagen...

Sie wollte lieber wieder an ihren Vater schreiben und mit den letzten zweihundert Mark den größten Teil ihrer Schulden abtragen.

Am nächsten Tage sagte Markus:

»Frau Hofprediger läßt telephonieren und fragen, ob sie dich heute abend zum Jour von Frau Messer abholen soll.«

Er sah ihr gerade in die Augen, denn er hoffte, sie würde nein sagen. Aber sie wendete den Blick ab und nickte hastig.

»Ja, Markus, heute muß ich durchaus. Für heute hatte ich es ganz bestimmt versprochen.«

»Gut. Dann antworte ihr selbst, Kamilla...«

Er ging in sein Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Aber vergeblich wartete er darauf, daß sie zu ihm kommen würde...

Es war heute besonders große Gesellschaft bei Messers. Erst wurde Musik gemacht, dann deklamierte ein Fräulein Claire Nelzen vom Deutschen Theater. Auch Nülber war da, in einem Frack neuesten Schnittes – sehr bedeutend und sehr schweigsam, ängstlich gehütet von seiner »ewigen Braut«, wie man sie nannte, einer jungen schlanken Dame, mit einer Cléo de Merode-Frisur und einfacher Empiretoilette.

Von einer Gruppe löste sich Enzlehn und ging auf Kamilla zu:

»Meine Gnädigste ...«

Sie reichte ihm die Hand, die er ehrerbietig küßte.

»Markus nicht da?«

»Er arbeitet.«

»Und sie präparieren ihm das Terrain, wie?«

»Nein – wieso?«

Er lächelte sein kühles, ironisches Lächeln:

»Ärzte und Professoren müssen schöne Frauen haben, wenn sie reüssieren wollen, oder – kluge Mütter!«

Mit dem Blick streifte er die Frau Hofprediger, die einen Kreis von Damen um sich versammelt hatte und mit anmutiger Einseitigkeit von dem letzten Vortrag ihres Sohnes sprach.

Kamilla sah Enzlehn hochmütig an.

»Sie irren, Herr von Enzlehn, ich bin nur für eigene Rechnung hier.«

Claire näherte sich ihrem Bruder mit jener pretentiösen Bescheidenheit, die sehr gefeierte Theaterdamen in Gesellschaft auszeichnet.

»Willst du mich nicht vorstellen ...« »Meine Schwester ...«

»Ich freue mich riesig, gnädige Frau, Sie kennen zu lernen, und ich finde es gar nicht nett von Markus, daß er uns nicht längst bekannt gemacht hat. Wir sind Jugendfreunde. Markus hat viel im Hause unserer Mutter verkehrt.«

»Ja ... ich weiß ... ich bin ganz eingefühlt in die Jugend meines Mannes.«

»Jugend! Du lieber Gott! Er ist ja jetzt noch ein ganz junges Kerlchen. Fünfundzwanzig höchstens ... nicht wahr, Kurt?«

Rechtsanwalt Kurt Labisch begrüßte Kamilla und faßte Claire ungeniert unter den Arm.

»Markus war schon mit fünfzehn Jahren ein Weltweiser«, sagte er lachend.

Aber Kamilla fühlte sich unbehaglich. Sie begriff Markus, und beinahe ebenso hochmütig, wie er selbst sein konnte, sagte sie:

»Er beweist es jetzt aufs neue, indem er ohne die »Gesellschaft« auskommt, die wir zu unserem Vergnügen brauchen.«

»Vergnügen? Ach, verehrte Frau Kamilla, wer ist denn heute noch zum Vergnügen in Gesellschaft? Sie vielleicht, – weil Sie keinen anderen Beruf haben, als den einer schönen, jungen Frau. Aber sehen Sie sich mal um – wer ist hier zum Vergnügen?! Die Gesellschaft ist heutzutage eine Börse, wo der eine seine Ware sucht, der andere sie anbietet, wo Geschäfte und Verträge abgeschlossen oder wenigstens angebahnt werden, ja, wo man sogar gewinnen und verlieren kann. Sehen Sie, Frau Kamilla, unser Freund Enzlehn zum Beispiel hat sich diesen neutralen Boden ausgesucht, um seine Schwester dem Deutschen Theater abspenstig zu machen ...« »Schwatz' nicht aus der Schule, Kurt«, sagte Claire in gespielter Empörung und schlug mit dem Fächer nach ihm.

Aber Kurt fuhr fort:

»Ich dagegen habe mir hier einen dicken Herrn aufs Korn genommen, den ich Enzlehn als neuen Kapitalisten zuschanzen will – wofür ich mir zwischen Käse und Obst eine Stellung als Rechtsanwalt und Syndikus seines Theaters ausbedingen werde. Und die Pokertische – für wen sind die ...?«

Er rief die letzte Frage ziemlich laut mit seiner hellen Trompetenstimme in den übervollen Salon hinein.

Die Damen, die sich an die Tische herandrängten, waren nicht in der Minderzahl. Unter ihnen befand sich Kamilla Lukas.

Um ein Uhr hatte sie die zweihundert Mark, die sie der Hausfrau zurückzahlen wollte, verspielt, und Frau Hofprediger half ihr mit weiteren fünfzig Mark aus. Zehn Minuten später hatte sie dreihundert Mark gewonnen, aber um halb zwei sah sie hilfesuchend Enzlehn an, der mit unbeweglichem Gesicht die Goldstücke vor sich aufstapelte.

»Darf ich Ihnen aushelfen, gnädige Frau?« fragte er höflich und schob ihr ein Goldhäuflein hin.

Aber ehe Kamilla mit flüchtigem, erregten Kopfnicken das Geld berührt hatte, wurde es von einer kräftigen braunen Hand wieder zurückgeschoben, und Kurt Labisch sagte ziemlich laut:

»Frau Hofprediger läßt Sie bitten, aufzubrechen. Die alte Dame sinkt um vor Müdigkeit.«

»Ja ... selbstverständlich ...!«

Kamillas Züge waren müde und schlaff. Ihre grünen Augen schlossen sich, als wenn sie das Licht schmerzte. Sie ließ sich von Kurt den Mantel umgeben und folgte der geschwätzigen und noch sehr aufgeräumten Frau Hofprediger stumm über die Treppe zum Wagen  ...

Von Rykert kam keine Antwort auf Kamillas Brief. Sie telegraphierte. Darauf erhielt sie einige Tage später ein paar Zeilen von ihrer Mutter:

»Mein liebes Kind! Papa ist sehr erkältet. Er läßt Dir für Deinen Brief bestens danken und will Ende April, bevor er nach Karlsbad fährt, mit Dir sprechen. Ich hoffe, es geht Dir gut. Von hier kann ich Dir nichts Neues sagen, wir verkehren mit niemand. Auch von Bernhard hören wir nichts, wahrscheinlich geht es ihm gut. Mit Gruß und Kuß

Deine Mutter.«

Das war Rykertscher Geist und Rykertscher Stil. In wenigen trockenen Worten: eine Lüge, eine Lieblosigkeit und eine Bosheit.

Kamilla mußte sich an ihren Mann um Hilfe wenden. Aber sie hatte nicht den Mut, ihm Spielschulden zu gestehen, und schützte eine unerwartet hohe Schneiderrechnung vor.

Er gab ihr das Geld, ohne eine Bemerkung zu machen, aber die Art, wie er ihr die Scheine aufzählte, bereitete ihr unsagbare Pein.

Es folgten stille Wochen.

Kamilla rührte sich nicht aus dem Hause, bis Markus selbst ihr zuredete, unter Menschen zu gehen. Aber da sie immer nur den Kopf schüttelte, beschloß er, ihr einige Abende in der Woche zu opfern. So besuchten sie gemeinsam Ramins, machten eine Gesellschaft bei der Prinzessin Arnulf mit, die Markus in fast auffälliger Weise auszeichnete, und gaben schließlich selbst einen Abend, um sich für die Einladungen des Winters zu revanchieren, wobei die Messers sich nicht umgehen ließen.

Sie gehörten zu jenen, die sich so lange in einer Gesellschaft langweilen, bis man die Spieltische aufklappt. Und da die Prinzessin erklärte, daß es ganz gleichgültig sei, ob sie beim Trictrac oder beim Poker ihr Geld verlöre, konnte Markus als Wirt nichts anderes tun, als ein paar Spieltische aufschlagen lassen.

Dr. Labisch, der würdevoll seinen Orden und seinen etwas engen Frack spazieren führte, trat an Ramin heran:

»Wenn ich an die schönen Whistabende denke, da meine Frau noch lebte! Nicht wahr, Professor? Da war's noch gemütlich und ruhig. Jetzt spielen sich Tragödien am Spieltisch ab. Sehen Sie nur alle diese erregten Gesichter – das ist kein Spiel mehr. Die wollen wirklich Geld verdienen! Ich begreife in der Tat Markus nicht!...«

Er faßte Markus, der gerade vorbeiging, unter und führte ihn in dessen Arbeitszimmer, wo er ihm einen längeren Vortrag über die Unsittlichkeit des Pokerns hielt.

Nach der ersten Viertelstunde hatte Kamilla alle ihre guten Vorsätze vergessen. Sie spielte leidenschaftlich und mit immer höheren Einsätzen. Ihr Pech fiel auf ... sie verlor jedes Spiel. Ihre Hand, die das Blatt hielt, zitterte, ihre grünen Augen bohrten sich in den Bankier ein, der die Karten aufschlug.

»Hören Sie auf«, sagte Ramin warnend.

Er stand dicht hinter ihr und verfolgte seit einer halben Stunde ihren seltsamen, nervösen Eigensinn.

»Lassen Sie das, Frau Kamilla, es schadet Ihnen ...«

Schließlich umklammerte er ihre heiße, fiebrige Hand mit seinen kühlen, kräftigen Fingern.

»Genug!« sagte er herrisch.

Sie warf den Kopf zurück und sah ihn an. Er las Verzweiflung in ihrem Blick und stützte sie, als sie sich vom Spieltische erhob. In der allgemeinen Erregung war diese kleine Szene unbemerkt geblieben. Er führte sie fort in das leere Speisezimmer und öffnete das Fenster, damit die kühle Nachtluft ihr die erhitzten Schläfen kühle. Sie lehnte völlig erschöpft am Fenster, ihr Atem hob keuchend die Spitzen ihres ausgeschnitten Kleides.

Er stand mit dem Rücken gegen den Salon und schüttelte bekümmert den Kopf.

»Ich wollte es nicht glauben, als meine Mutter es mir sagte. Mein liebes, gutes Kind – was machen Sie?«

Große Tränen standen ihr in den Augen.

»Warum muß gerade ich verlieren – gerade ich?? Ich will ja nur einmal gewinnen, nur ein einziges Mal – das muß doch möglich sein! Es ist doch alles möglich, wenn man will!«

Sie sprach mit bebender Stimme, die jeden Augenblick abzureißen drohte vor furchtbarer Erregung.

»Gewiß ist alles möglich, wenn man will – auch das scheinbar Unmöglichste«, sagte Ramin langsam, nachdenklich, mit leiser Trauer in der Stimme. »Und gerade darum müssen Sie Herr werden über diese Leidenschaft. Sie müssen ihrer Herr werden – wollen!...«

Sie verschränkte die Hände über der Brust und schloß die Augen.

»Es ist sehr, sehr leicht, so zu sprechen, wenn man nie eine Leidenschaft im Leben gekannt hat und immer über alle menschlichen Schwächen erhaben gewesen ist!«

Er blitzte sie finster aus seinen tiefliegenden, dunkel beschatteten Augen an.

»Glauben Sie das wirklich? Können Sie sich gar nicht vorstellen, daß auch ich einmal mit einer Leidenschaft gekämpft habe, einer Leidenschaft, die auch das Lebensglück mehrerer Menschen gefährdet hätte – wenn ich ihr nachgab? Glauben Sie wirklich, daß mir die Versuchung niemals nahe getreten ist?«

Kamillas Wimpern warfen tiefe Schatten auf ihre bleichen Wangen. Sie hatte nichts mehr von ihrer hoheitsvollen, damenhaften Haltung – wie ein gescholtenes, zaghaftes Kind stand sie da.

Sein Blick hatte die kühle Klarheit verloren; er war umflort und bewegt. Er streckte Kamilla die Hand entgegen und umschloß ihre kalten, zitternden Finger in festem Druck.

»Und nun noch eins, mein liebes Kind: betrachten Sie alle diese Menschen nur als das, was sie sind: Marionetten, die sinnlos an den Fäden ihrer kleinen Passiönchen und Gefühlchen herumspringen. Halten Sie sich zurück von diesem häßlichen Strudel, der so manchen wertvollen Menschen verschlungen hat, und verlieren Sie den Maßstab nicht für eine Natur wie Markus!«

Sie nickte ihm zu – ernst, beinahe feierlich.

»So hat noch niemand mit mir gesprochen – ich danke Ihnen.«

Er fand das Lächeln des klugen, überlegenen Weltmannes wieder.

»Ihr Mann ist mein Schüler gewesen – das ergibt immer ein väterliches Verhältnis, und man nimmt sich leicht väterliche Rechte heraus.«

Er führte ihre Hand ritterlich an die Lippen.

In diesem Augenblick trat Markus in das Speisezimmer.

»Da sind Sie, Herr Professor, wir suchen Sie überall.«

»O Verzeihung ... das kleine Privatissimum hat sich wirklich etwas in die Länge gezogen.«

Professor Ramin rauchte eine Zigarette an, warf das Streichholz in die Aschenschale und erschien gleich darauf in Markus' Arbeitszimmer, wo einige Herren beim Glase Bier saßen und Prinzessin Arnulf mit vielen kleinen Grimassen eine Zigarre anrauchte.

»Nun, Kamilla, willst du nicht zur Gesellschaft zurück? Was ist dir?« fragte Markus, da Kamilla noch immer am halbgeschlossenen Fenster lehnte, mit schmerzlich verzogenem Mund, erschöpft und bleicher noch, als sonst.

»Was ist dir denn?« wiederholt« er. – »Komm, ich werde das Fenster schließen ... Du erkältest dich!«

Ein plötzliches Unbehagen überfiel ihn. Er mußte – ohne selbst zu wissen, warum – an jenen Abend in der Uhlandstraße denken, da er zu Frau Dr. Labisch ans Fenster getreten war, nachdem der Professor sie verlassen hatte. Ramin hatte ihr damals ebenso die Hand geküßt, wie jetzt eben Kamilla, hatte eine Zigarette angezündet und war hinübergegangen zu den anderen. Und sie war auch stehen geblieben am Fenster, wie jetzt Kamilla, und hatte wie verloren vor sich hingestarrt mit tiefumschatteten Augen aus weißem, gequältem Gesicht.

»Sprich doch, Kamilla ...«

Seine Stimme war heiser. Seine lichten Augen ruhten in namenloser Pein auf ihr.

Sie lächelte. Aber das Lächeln war so armselig, so unsicher, daß er ihre Hand fallen ließ, die er in Bangigkeit ergriffen hatte.

»Es ist nichts, Markus ... wirklich. Ich muß jetzt zu den anderen hinein. Ich wollte, sie wären schon fort ...«

Sie ging müde, wie gebrochen, in den Salon, und die Schleppe ihres weißen Spitzenkleides ringelte sich ihr nach wie eine tote Schlange. Für Markus kam eine schwere Zeit.

Das Jahrgeld, das ihm der Vater angewiesen hatte, schrumpfte unheimlich zusammen. Und doch konnte er es nicht über sich bringen, Kamillas Sorglosigkeit zu zerstören.

Er fühlte, daß er seiner Frau augenblicklich nichts bieten konnte, daß sein freiwilliges Studententum ihm in den Augen der Gesellschaft beinahe den Stempel der Lächerlichkeit aufdrückte. Nur die Eleganz seiner Hausführung nahm seiner Ehe das Votum, das einer Studentenehe anhaftet. Er wußte, daß die Meisten in seinem späten Studium nichts als die Marotte eines reichen Mannes erblickten und sie nur als solche gelten ließen. Es war ein »origineller Luxus«, den er sich erlaubte. Das machte ihn beinahe interessant, wie ja auch Professor Ramin, weil er Gelehrsamkeit mit der Weltgewandtheit eines Grand-Seigneur verband, in ihren Augen ein interessanter Mann war.

Vergeblich versuchte er in der ersten Zeit, Fühlung mit einigen Studierenden zu gewinnen. Einsam, wie er in der Schule war, blieb er auch jetzt.

Dr. Labisch verstand sein Streben nicht. Markus' eigenwillige Selbstbestimmung, wenn auch vom Vater gebilligt, ging ihm wider den Strich.

Kurt war zu sehr mit sich beschäftigt, um sich Markus viel widmen zu können. Er hatte das Glück gehabt, sich mit einem ziemlich bekannten Rechtsanwalt assoziieren zu können, und der gleiche Beruf verband die beiden, einander bisher völlig fremden Menschen so eng und fest, daß wenig Raum und Zeit für die Pflege rein privater Beziehungen blieb.

Enzlehn zählte für Markus als Freund nicht mehr mit. Kaum verknüpfte ihn noch ein leises Band mit dem Enzlehn seiner Jugend. »Wenn ich nicht den Professor hätte, – wer weiß, ob ich alles durchführen könnte!« sagte Markus einmal zu Kamilla, als er sich besonders mutlos fühlte.

Seine ganze kindliche Bewunderung und Verehrung für den Mann war wieder in ihm lebendig geworden, seit er in ihm zum zweiten Male seinen geistigen Führer gefunden.

Wenn Kamilla in Gesellschaft war, beschützt von der Frau Hofprediger, dann kam es öfter vor, daß er allein beim Professor saß.

War Markus dann wieder zu Hause und Kamilla kehrte heim, so fragte er kaum nach dem, was sie selbst gesehen und erlebt hatte, sondern ließ sie teilnehmen an der starken, frohen Stimmung, die er aus der Grunewaldvilla mit nach Haus gebracht und aus der heraus er Worte fand, die wie volle, reine Glockentöne in den zerfahrenen Gesellschaftssabbat hineindröhnten, dessen Nachklänge ihr noch im Kopfe herumschwirrten  ...

Es war jedesmal ein schweres und häßliches Zurückkehren zur Nüchternheit des täglichen Lebens, wenn die rein materielle Sorge um die nächste Zukunft sich ihm ruckweise näherte.

Auch der Gesellschaftsabend in seinem Hause hatte ihm eine unklare, peinigende Erinnerung hinterlassen.

Und als Professor Ramin ihm zwei Tage später, vom Katheder grüßend, zulächelte, da war das Lächeln, mit dem er antwortete, unsicher und befangen, und er senkte den Kopf über das aufgeschlagene Heft, weil ihm eine schwüle, beklemmende Röte in die Schläfen stieg.

Da es das letzte Kolleg des Tages war, pflegte er meist unweit von der Universität auf den Professor zu warten und zu Fuß mit ihm über die »Linden« durch die Friedrichstraße bis zur Stadtbahn zu gehen. Dort erwartete den Professor sein Wagen, mit dem er meist noch etliche Besorgungen machte, während Markus mit der Bahn bis zum Savignyplatz fuhr.

Oftmals hatte ihn auch der Professor im Wagen mitgenommen und dann an der Ecke des Kurfürstendamms und der Grolmannstraße abgesetzt.

Markus freute sich jedesmal auf dieses kurze Zusammensein und kam an diesem Tage immer später, als an den anderen, aber angeregt und mit frohen Augen nach Hause.

Heute war es ihm unmöglich, mit dem Professor zusammen zu sein. Raschen Schrittes, als fürchte er, eingeholt zu werden, lief er die Treppe der Hochschule hinab, sprang draußen in ein Auto und ließ sich nach Hause fahren.

Mit dem Drücker schloß er die Entreetür auf und ging gleich in sein Arbeitszimmer hinein, um Bücher und Hefte aus der Hand zu legen.

Kamilla saß an seinem Schreibtisch. Sie hatte das Bild des Professors nahe zu sich herangerückt und den Kopf tief über ein Blatt Papier gebeugt, das sie mit einem Bleistift beschrieb.

Als Markus ins Zimmer trat, drückte sie das Blatt in der Hand zu einem Klumpen zusammen.

»So früh, Markus?«

Ihr Ton klang leicht erregt.

»Ja ... was schreibst du da?«

»Ich ... nichts. Nichts von Bedeutung. Wirtschaftsrechnungen ...«

»Zeig her ...«

Er sagte es noch lachend und küßte sie in den Nacken dabei, da wo kleine Härchen sich ringelnd sträubten.

»Aber laß doch, Markus. Das sind meine Sorgen.«

Sie schüttelte den Kopf, lachte gezwungen und riß das Papier hastig in kleine Stücke. »Warum tust du das, Kamilla ... Was soll das?«

Er stand da, ganz steif, mit blassem Gesicht, und fuhr sich mit der Hand mehreremal nervös über die Stirn.

»Was soll das, Kamilla?«

Sie wendete sich ab und ging zur Tür.

Er faßte sie bei der Hand.

»Nein. Du bleibst da – !«

Ihre grünen, schillernden Augen waren jetzt beinahe schwarz im Dunkel des Zimmers. Sie schloß die Lippen fest aneinander und zuckte die Achseln.

Er ließ ihre Hand los, und sie setzte sich gerade und abwartend in einen hochlehnigen, dunklen Eichenstuhl, in dem sie streng und asketisch aussah wie eine byzantinische Heilige.

Markus näherte sich langsam dem Schreibtisch. Es war, als suchte er nach Worten, während er das Bild des Professors behutsam mit spitzen Fingern auf seinen Platz rückte.

»Warum bist du nicht offen zu mir, Kamilla?«

Er sprach es mehr bekümmert, als heftig. Das gab ihr Mut.

»Ich bin offen ... Du willst mir nur nicht glauben. Ich rechnete. Da, du kannst es sehen – es sind nur Zahlen auf den einzelnen Schnitzelchen.«

Er streckte die Hand aus, als wollte er sich davon überzeugen, aber da er ihr bitteres Lächeln sah, ließ er die Hand wieder fallen und sagte:

»Ich glaube dir.«

Er setzte sich an den Schreibtisch und malte mit dem Bleistift Figuren in die Luft. Er tat es nur, um Zeit zu gewinnen, seine Gedanken zu sammeln.

»Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, Kamilla – jetzt machen sich die Folgen fühlbar. Aber wenn es nur das ist – wir sind jung ... wir können uns bescheiden. Nicht wahr, Kamilla, das kannst du?«

Er sah ihr angstvoll in die Augen, aber sie wich seinem Blick aus und schüttelte abermals den Kopf. Leise fragte er:

»Brauchst du viel?«

»Mehr, als du entbehren kannst.«

Sie sagte es hart, beinahe geringschätzig.

»Dann werde ich ...«

Er unterbrach sich.

»Nein, Kamilla, hör' zu. wir wollen einen Überschlag machen von dem, was wir noch brauchen, und dann – «

»Und dann – was?«

Sie stand auf und riß Markus den Bleistift aus der Hand, der sie nervös machte.

»Und dann wendest du dich an deinen Vater, und er schickt dir ein paar tausend Mark und viele gute Ermahnungen. Und das nutzt doch alles nichts. Damit ist uns auf die Dauer nicht geholfen! Ich weiß aber, dein Vater kann augenblicklich nicht mehr für uns tun – er kann nicht.«

»Woher weißt du das?«

Er sah sie erschreckt an.

»Papa hat geschrieben – ganz Bremen weiß es.«

Markus stampfte mit dem Fuße auf:

»Was weiß ganz Bremen? Was willst du damit sagen?«

Er stand vor ihr, leichenblaß, mit flackernden Augen, am ganzen Körper zitternd. Sie lenkte ein.

»Siehst du, Markus, das wollte ich vermeiden ... warum regst du dich so auf? Ich will dir doch helfen – und du bist ungerecht und undankbar.«

»Verzeih, Kamilla ... Aber du mußt verstehen – aus Liebe zu mir verstehen – wie furchtbar das ist, was du da sagst!« Sie setzte sich zu ihm und lehnte ihren Kopf an ihn.

»Laß mich nach Bremen, Markus, laß mich zu Papa ... Du wirst sehen, ich bringe Geld mit. Und dann haben wir keine Sorgen mehr. Sei doch nicht starrköpfig, Markus ...«

Er drückte ihren Kopf an sich und streichelte ihr Haar.

»Nein, Kamilla ... das geht nicht – das darfst du nicht ... das will ich nicht.«

»Warum willst du nicht ... warum?«

Sie rüttelte ihn und bohrte ihre Augen in die seinen, als wollte sie ihre ganze Seele, all ihren Willen in ihn hineingießen durch ihren Blick.

»Ich kann nicht von dem Gelde deines Vaters leben, von diesem Gelde nicht – ! Wenn mein Vater seinen Namen nicht hergegeben hat zu diesem Geld, dann gebe ich mein Haus nicht dazu her. Das, was dein Vater dir bisher gegeben hat, übersteigt mein Jahrgeld um mehr, als das Doppelte. Und da uns von meinem Gelde nur ein kleiner Rest geblieben – so würde ich also ein halbes Jahr vom Gelde deines Vaters leben, von seinem Gelde studieren. Das kann ich nicht!«

»Du kannst nicht, du willst nicht ... Und ich?!«

Er seufzte bang auf.

»Wir sind also nicht eins ... du und ich? Wirklich nicht?«

Sie antwortete nicht und wiederholte eigensinnig:

»Laß mich nach Bremen!«

»Nein!«

Eine kurze Pause folgte. Man hörte den schweren Atem der zwei Menschen, die jeder um ihren Willen rangen. Dann fügte er langsam hinzu, scharf jede Silbe betonend:

»Die Schwiegertochter von Reimar Lukas hat nur ein Vaterhaus – das Vaterhaus ihres Mannes! Es gibt keinen Weg, der von uns zurückführt zu euch. Jetzt geh, Kamilla ... wir wollen uns beruhigen. Dann werden wir zu einer Klärung kommen ... wir sind doch keine kleinen Kinder.«

»Ich nicht – «

Ihre Worte verloren sich in einem krampfhaften Aufschluchzen, und sie ließ die Tür heftig hinter sich ins Schloß fallen.

Markus riß das Fenster auf und atmete die feuchte, frische Luft ein. In seinen Pulsen hämmerte es, sein Herz pochte, als sollte es ihm die Brust sprengen.

Jetzt war es doch gekommen in sein Leben, das Häßliche und Rohe  ...

Und es kam ihm von dem Wesen, das er über alles liebte, an dem alles Schönheit war und süßester Liebreiz  ...

Das Rykertsche Blut – rücksichtslos und gewalttätig!

Wenn er es »ihr erst ausgetrieben hatte«, wie Bernhard sagte! Aber bis dahin?  ...

Warum hatte sie das Bild des Professors vor sich hingestellt? Hatte sie verglichen, oder – – –

Wieder schoß ihm das Blut siedend heiß zu Kopf. – –

Abends schrieb er einen Brief an seinen Vater. Er erwähnte kein Wort über die Szene mit Kamilla.

Ganz am Schluß fragte er – was er bisher vermieden hatte – nach dem Gang des Geschäftes. »Wenn auch für den Außenstehenden unmerklich, – so mögen sich doch, dir allein wahrnehmbar, kleine Niederungen bei der schwankenden Konjunktur zeigen. Stoß mich nicht völlig aus dem Kreise jener, die teilhaben dürfen an den Sorgen und Freuden unseres Hauses.« – –

Am selben Tage brachte ein Depeschenbote Herrn Rykert, der eben mit dem Zylinder auf dem Kopfe von der Börse kam, zwei Telegramme. Das eine war aus Paris:

»Seit einer Woche krank. Hospital Hotel Dieu. Bitte sende Geld, da völlig mittellos. Bernhard.«

Das andere aus Berlin von Kamilla:

»Könntest Du zur Besprechung nach Berlin kommen? Bedarf Deines Rates, Kamilla.«

Die Pariser Depesche steckte er in den Mantel seines Überziehers. Die Berliner – warf er seiner Frau zur Durchsicht auf den Tisch.

»Na Frauchen, was meinst du?«

Sie antwortete mißbilligend und würdevoll:

»Das hätte dir Markus telegraphieren sollen.«

Die schlauen Äuglein des kleinen Mannes sprangen vergnügt im kalten, nackten Zimmer mit den teuren Möbeln umher.

»Aber warum denn, Frauchen? So ist's ja viel gemütlicher.«

Und er ging gutgelaunt hinüber in sein Kontor, wo er dem Laufjungen ein verschlossenes Zinnkännchen mit einer warmen, dicken, roten Flüssigkeit abnahm.

Es ging ihm immer recht elend im Frühjahr. Er fühlte sich schwach zum Umblasen.

Abends fragte Frau Rykert:

»Wann fährst du nach Berlin?«

Er meckerte vor sich hin.

»Wie ich sagte – wenn ich nach Karlsbad gehe! Schon auf der Hinfahrt, freilich, freilich ...«

Er näherte sich ihr mit katzenartiger Freundlichkeit und streichelte ihren Rücken.

»Es sind noch drei Wochen bis dahin«, entgegnete Frau Rykert, ohne ihren Mann anzusehen, als fühlte sie seine Finger nicht auf ihren Schultern. Aber ihre langen, breiten Zähne spielten mit der Unterlippe. »Was sind drei Wochen, Frauchen? Hilfe braucht man gleich, aber auf einen ›Rat‹ kann man auch ein paar Wochen warten.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenkerte vergnügt mit den Beinen.

Frau Rykert legte eine Zeitung, die vor ihr lag, in vier, dann in acht Teile zusammen und preßte die wohlgepflegten, aber stumpfen Nägel auf die Büge.

»Vielleicht ist sie in Verlegenheit, braucht Geld ...«

»Wer... Kamilla?«

Rykert blieb erst mit offenem Munde mitten im Zimmer stehen und zwinkerte entsetzt mit den Augen:

»Frauchen, Frauchen ... Du sprichst recht leichtsinnig. Kamilla in Verlegenheit! Die Schwiegertochter von Herrn Lukas! Erbarm dich! Wie kannst du so den Kredit schädigen von einer ersten Firma? Ich begreife dich nicht!«

Er schüttelte bekümmert den Kopf.

»Nun haben wir unsere Tochter an den Sohn eines ersten Bremer Bürgers verheiratet – und du redst solche Sachen!«

»Sagtest du nicht selbst, daß Reimar Lukas augenblicklich schlecht steht...?«

»Ich? Ich hätte so was gesagt?«

Herr Rykert kreuzte die Hände über der Brust und blickte vorwurfsvoll gen Himmel. Dann glitt er langsam auf seinen weichen Hausschuhen bis zum Tisch.

»Tja ... das kommt davon, wenn man nur halb zuhört...«

Er tippte mit dem knochigen Zeigefinger auf die Zeitung.

»Ich komme zu dir und erzähle dir, was man in der Stadt sagt und munkelt, und nur weil ich vergesse hinzuzufügen, daß das alles Unsinn ist, da glaubst du, ich ...?! Nun frage ich einen Menschen! Die eigene Frau verdreht einem das Wort im Munde! Die eigene Frau! ...«

Frau Rykert lehnte ihren Kopf zurück und starrte unbeweglich vor sich hin. Jetzt konnte sie sich auf eine zweistündige Rede gefaßt machen.

Herr Rykert fing dann immer bei dem Danziger Abend an, wo er sie hatte singen hören, und ging sein ganzes Leben mit ihr durch bis zur gegenwärtigen Stunde. Er sprach dabei viel von seiner Arbeit und was er alles für Frau und Kinder getan, und sprach noch mehr von dem Undank, den er geerntet. Eine lieblose, kaltherzige Frau, einen Tunichtgut als Sohn. Dazu kritzelte er jedesmal auf ein Zettelchen alle Summen, die er ausgegeben, und addierte sie. Dann erschrak er selber vor dem Resultat. »Denke, Frauchen, so viel ... das hab' ich ja selbst nicht gewußt – und nun ist das der Dank?!« Wo er sich selber doch gar nichts gönnte, wo er vier Jahre einen Anzug trug! Seit zehn Jahren sich kaum einen Pelz hatte machen lassen, und nun in schlaflosen Nächten kämpfte, ob er sich die Karlsbader Reise leisten sollte! Nur für seine Familie war ihm nichts zu schade gewesen.

Zum Schluß zog er immer ein großes buntgekantetes Taschentuch und schnaubte sich lange und umständlich, wobei er die Augen bedeckte, wie um die Tränen zu verbergen.

In den ersten Jahren, als Frau Rykert noch weniger steifnackig war, hatte sie solche Reden zu widerlegen versucht. Aber er hatte dann jedesmal einen Tobsuchtsanfall bekommen, ihr seine Nägel ins Fleisch gedrückt, sie am Halse geschüttelt, als wolle er sie erdrosseln, und wirklich geweint, mit krampfhaftem Aufschluchzen, bis zur völligen Erschlaffung.

Da hatte sie es allmählich aufgegeben, zu erklären, zu entschuldigen oder gar sich zu rechtfertigen.

So war es auch diesmal. Und wie sonst immer erhob sie sich wortlos von ihrem Platz, band ihrem Manne die enge schwarze Krawatte auf, knüpfte ihm den Kragen ab und sagte mit ihrer ruhigen, modulationslosen Stimme:

»Wenn du willst, werde ich Kamilla schreiben.«

»Ja ... ja ... Frauchen. Schreib ihr. In drei Wochen spätestens bin ich da, spätestens! Jetzt bin ich krank ... fühl doch, wie naß ich bin – alles kalter Schweiß. Nicht wahr, du fühlst es?«

»Ja, ich fühl' es ...«

»Also schreib ihr. Ich bin sehr krank, wenn's morgen nicht besser wird, muß ich den Arzt holen. Komm, Frauchen, bring mich zu Bett. Bist ein braves Weib ... ein gutes Weib.«

Und während sie ihn auskleidete wie ein kleines Kind, streichelte er ihren Rücken, ihre Arme.

Sie aber biß die Zähne zusammen und brachte ihm dann einen Teller Bouillon und kaum angebratenes Beafsteak ans Bett, damit er sich kräftige nach der großen, schweren Aufregung.

»Du ißt auch, Frauchen, nicht wahr?«

Er aß geräuschvoll und gierig, mit lüsternen, gefräßigen Blicken.

Sie nickte.

»Jawohl, sei unbesorgt.«

Er hielt sie bei der Hand fest, bis er eingeschlafen war. Unterdessen war ihr Essen kalt geworden. Aber sie hätte auch nichts herunterbringen können von dem, was auf dem Tische stand. Leise schlich sie sich aus dem Zimmer, nahm eine Tasse Mich zu sich und schrieb dann einen jener farblosen, trockenen Briefe, die Kamilla Tränen ohnmächtigen Zornes in die Augen trieben. Markus hatte darauf bestanden, daß der Haushalt vereinfacht würde.

»Gesellschaften geben wir keine mehr, wir kommen ganz gut mit einem Mädchen aus. Das Schlimmste wird der Verzicht auf die Sommerreise sein. Aber wir werden uns durch kleine Ausflüge in die Umgegend entschädigen – und am Ende lassen sich doch acht bis vierzehn Tage an der Ostsee herausschlagen.«

»Ja ...«

Kamilla nickte apathisch.

»Es wird schon gehen, Kamilla, nicht wahr? Mit einem bißchen guten Willen und einem bißchen Liebe?«

Er stand hinter ihr und legte seine Wange an ihr braunes, duftendes Haar. Ein heißes, leidenschaftliches Sehnen erfüllte ihn, daß es zwischen ihnen wieder so würde, wie im Anfang ihres Berliner Aufenthalts. Er hatte sich durch Kurt Labisch einige tausend Mark beschafft, die er im September von seinem Jahrgeld abtragen wollte.

Es war das erste geliehene Geld, und es hatte ihm Mühe gekostet, die peinliche Empfindung darüber, die Verstimmung vor Kamilla zu verbergen.

Nur eines war ihm notwendig erschienen: die größte Sparsamkeit.

Wenn sie ihm nur ein wenig dabei half ...!

Aber ihre Finger ruhten kalt in seinen warmen Händen, und kein Druck antwortete dem seinen.

Das Mädchen meldete den Professor Ramin.

Kamilla riß sich los, ungestüm, verwirrt.

»Was ist dir denn, Kamilla ... So antworte doch ...?«

»Ich will nicht, ich fühle mich nicht wohl ...«

Sie lief beinahe in ihr Zimmer, ohne Markus' verstörtes Gesicht zu beachten. Ramin fragte nach ihr.

»Ich wollte die jungen Herrschaften zu einer Spazierfahrt einladen. Es ist ein wundervoller Sonntag heute!«

Markus stammelte unverständliches Zeug. Seine Frau wäre nicht wohl ... er müßte arbeiten ... sie hätten heute früh schon einen Spaziergang gemacht.

»Dann kann ich aber doch ein Stündchen hierbleiben?«

Markus zupfte nervös an seinem Kragen.

»Gewiß, Herr Professor ... bitte.«

Er führte ihn in sein Arbeitszimmer, bot ihm von den Zigarren an. Aber sein Gesicht blieb eigentümlich starr und gespannt.

»Schade, Markus, das Stubenhocken bekommt Ihnen nicht, auch Ihre Frau gefiel mir nicht recht in letzter Zeit ...«

Markus wendete sich ab, um ein Streichholz zu entfachen.

»Das ist oft so im Frühjahr, Herr Professor, bei nervösen Menschen.«

Seine Hand zitterte leicht, mit der er Ramin das Streichholz hinhielt.

»Ja, Markus, da haben Sie recht. Alle Sorgen, alle Freuden empfindet man im Frühjahr doppelt. Und es ist gut, wenn man dann nicht allein ist.«

»Ich habe meine Frau, Herr Professor!«

Es klang zum erstenmal etwas wie Hochmut in den Ton hinein, den er Ramin gegenüber anschlug.

Der Professor richtete seine kühlen, klaren Augen mit ernster Gelassenheit auf Markus' blasses Gesicht.

»In der Jugend ist jeder so viel mit sich beschäftigt, da mag es vorkommen, daß man vorübergeht am Leben des anderen, auch wenn dieses Leben teurer ist als das eigene ...«

»Ein Dritter kann weder eine Liebe noch eine Ehe beurteilen, Herr Professor. Meinen Sie nicht auch? Er ist eben immer der Dritte und der ...«

» – Überflüssige«, warf der Professor ein und lächelte.

Das Lächeln hatte für Markus etwas Aufreizendes. Aber der Professor blieb ganz ruhig.

Bald darauf verabschiedete er sich:

»Um mich für die entgangene Spazierfahrt zu entschädigen, müssen Sie heute zu uns kommen. Aber mit Ihrer Frau, lieber Markus, nicht wahr?«

Kamilla hörte, wie die Entreetür zuschlug. Sie kam zu Markus, als glaubte sie, den Professor noch zu finden.

»Er ist schon fort?« sagte sie mit gemachtem Bedauern.

Er meinte eine große Enttäuschung aus ihrem Ton zu lesen und wagte nicht, sie anzusehen.

»Ich muß arbeiten«, sagte er kurz. »Und abends muß ich zum Professor.«

»Du allein?«

»Ja ... ich muß ... allein gehen. Du verfügst dann wohl über deinen Abend wie du willst.«

»Ja ... wie ich will.«

Sie stand noch eine Weile am Tisch. Eine Strähne ihres Haares hatte sich gelöst, und sie drehte und zwirbelte daran in heimlicher Unruhe.

»Hat er nach mir gefragt?« entfuhr es ihr plötzlich.

»Wer? ... Nein ... Warum? Warum sollte er nach dir fragen?«

Er schlug ein Buch auf und merkte nicht, daß es verkehrt lag.

»Warum glaubst du, daß der Professor nach dir gefragt hat ...?«

»Worüber habt ihr gesprochen die ganze Zeit ...?«

»Über ...« Es würgte ihn etwas an der Kehle, so ungewohnt war ihm jede kleinste Lüge.

»Ich bitte dich, geh, Kamilla ... lch muß wirklich arbeiten ... wirklich.«

Und er beschattete seine Stirn mit der Hand und las eifrig in den verkehrten Zeilen.

Zögernd, mit einem schweren Seufzer, verließ sie das Zimmer.

Aus Bremen hatte sie wieder ein paar nichtssagende Worte bekommen, von ihrem Wirtschaftsgeld besaß sie kaum noch fünfzig Mark. Sie konnte sich nicht an Markus wenden, der Vater kam nicht vor zwei Wochen – – so spielte sie. Wieder und immer wieder, voll glühenden Hasses gegen die Karten, die sie immer wieder narrten, voll Angst und Unruhe und Beschämung. Wenn Ramin es ihrem Manne sagte – – – Was dann?

Sie erinnerte sich noch an seine Worte, die er damals über Bernhard gesprochen: »Sein Weg führt abseits von uns!«

Würde er dasselbe nicht auch von ihr sagen: »Dein Weg geht abseits von mir ...« Sie mußte diese schreckliche Geldsache in Ordnung bringen. Das ging so nicht weiter.

Während Markus abends bei Ramins war, wollte sie noch einen Versuch machen.

Am peinlichsten war es ihr, heute Enzlehn zu treffen. Aber er schnitt ihr jedes entschuldigende Wort ab durch seine ruhige, respektvolle Art. Bevor er ihr nicht Revanche gegeben, dürfte von einer Schuld ihrerseits nicht die Rede sein. Im übrigen könnte sie doch mit Leichtigkeit etwas Geld aufnehmen, wenn ihr Spielschulden peinlich wären. Das passiere bei den Damen alle Augenblicke.

»Ja ... Sie glauben? Aber wer borgt mir denn?« Er zuckte die Achseln.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, gnädige Frau, vielleicht weiß es mein Freund Trebiner – ein Finanzgenie ersten Ranges!«

Er stellte ihr einen sehr eleganten Herrn vor, den sie öfter in dem und jenem Hause gesehen, aber nie beachtet hatte. Jetzt erst fiel ihr der Name auf.

»Sie kennen ja meinen Mann?«

»Ganz flüchtig, gnädige Frau. Nur genügend, um mich zu wundern, daß Sie überhaupt in Verlegenheit kommen. Freilich – Spielschulden gesteht man nicht gerne ein.«

»Herr von Enzlehn hat Ihnen schon von meinem Pech gesprochen?«

Sie wendete sich dem Direktor zu; der aber hatte sich bereits unter die anderen Gäste gemischt.

»Das brauchte es gar nicht. Ich habe Sie öfter beobachtet, gnädige Frau. Sie haben bodenloses Pech. Lassen Sie doch das Spielen!«

Sein kurzer Ton flößte ihr Vertrauen ein.

»Ich will ja auch nicht mehr, nur meinen Verpflichtungen möchte ich nachkommen!«

»Natürlich. Ich werde sehen, was sich tun läßt. Sie werden einen Wechsel unterschreiben müssen, den will ich gern akzeptieren – Enzlehn zu Gefallen.«

»Mein Vater ist in zwei Wochen in Berlin – dann ist es mir eine Kleinigkeit, ihn einzulösen!«

»Sagen wir lieber: vier Wochen, gnädige Frau. Väter sind manchmal unpünktlich!«

Kein Lächeln milderte die Impertinenz seiner Worte. Sie bemerkte es nicht in ihrer Aufregung.

»Mein Vater ist Gustav Rykert in Bremen. Sie können sich über ihn erkundigen!« Er schnitt jedes weitere Wort mit einer Geste ab.

»Das weiß ich, gnädige Frau, ich brauche keine Erkundigung.«

»Wie soll ich Ihnen danken?!«

»Mir?«

Er machte eine kurze Notiz in sein Taschenbuch.

»Vielleicht beteiligt sich Ihr Herr Vater am ›Künstlerischen Theater‹«, sagte er nebenbei. »Ich persönlich rechne wenig auf Dank und mache mir nichts aus Undank. Aber wenn ich meinem Freunde Enzlehn einen Gefallen erweisen kann – Ich bin dieser Tage in ... in Bremen ... vielleicht geben Sie mir ein paar Zeilen an Ihren Herrn Vater mit?«

Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie hastig und verlegen:

»Ja gern ... nur dürfen Sie nichts – «

» – von unserer kleinen Abmachung sagen. Nein, gnädige Frau, das bleibt unter uns.«

»Mein Vater würde mißtrauisch werden ...«

Trebiner sah sie an, wie ein Erwachsener ein kleines Mädchen ansieht, das ihm mit wichtiger Miene von seinen Puppen erzählt.

»Wann darf ich mich bei Ihnen einfinden, gnädige Frau?«

»Übermorgen vormittag zwischen elf und zwölf. Mein Mann ist um die Zeit nie zu Hause.«

Trebiner überhörte auch diese letzte Ungeschicklichkeit.

»Den Brief an Ihren Vater, gnädige Frau, darf ich mir dann auch wohl abholen?«

»Ja gewiß ...«

Sie gab sich alle Mühe, ihre Freude zu verbergen, aber Frau Messer, die sie beobachtet hatte, kam einen Augenblick später auf sie zu und drückte ihr die Hand.

»So ein Trebiner ist eine wahre Rettung, nicht wahr, Liebst«? ... Ein gebildeter, eleganter Mensch mit guten Manieren – er hat früher sogar mal etwas geschrieben ... Sehen Sie sich all die Damen an. Die Hälfte von ihnen steht in Trebiners Notizbuch ... Und nun, liebste Frau, an die Arbeit! Jetzt wollen wir doch sehen, ob wir diesmal Glück haben!«

Das ist aber das letztemal! sagte sich Kamilla, als sie die Karten in die Hand nahm.

Sie setzte höher als sonst und verlor wie immer. – – – – – –

In Hause angelangt, löste sich die Erregung der letzten Stunden in heftiges Weinen auf. Wenn sie nur morgen das Geld bekäme – sie schwor es sich zu, nie wollte sie wieder in jener Gesellschaft erscheinen.

Nie  ...

Markus war vom Grunewald zu Fuß nach Hause gegangen. Er war den ganzen Abend nervös und unruhig gewesen.

»Wo ist denn Ihre Frau?« hatte Ramin gleich zuerst gefragt. Und dann hatte er den Wagen schicken wollen, um Kamilla zu holen.

Markus war beinahe heftig geworden.

»Meine Frau ist müde. Sie kann wirklich nicht kommen!«

Der Professor hatte die Brauen zusammengezogen, die Lippen fest aneinandergeschlossen, wie immer, wenn er eine lebhafte Bewegung unterdrückte. Dann war er zerstreut gewesen, nachdenklich. Und noch zwei-, dreimal hatte er gesagt: »Sie hätten doch Ihre Frau mitbringen sollen!«

Kamilla schlief noch nicht, als Markus kam.

Sie hatte gerötete Augenlider. Etwas hilfloses, Kindliches lag in ihrem Gesicht, was ihm fremd war.

»Du hast ja geweint, Kamilla«, fragte er tonlos.

Sie versteckte ihren Kopf in seinen Arm.

»Ja Markus ... Als ich mir vorstellte, wie Ihr den Abend zusammen verbringt ... Ihr ... und ...«

Sie fing wieder an zu weinen wie ein kleines Kind.

Er faßte sie plötzlich bei den Schultern, so hart, daß sie leise aufschrie.

»Was hast du, Markus ...?«

Sie sah sein Gesicht bleich, mit zuckenden Lippen, und erschrak.

»Höre, Kamilla, das geht nicht so! Ich brauche Ruhe zur Arbeit, Ruhe ... Du mußt fort, du mußt nach Bremen ... zu meinem Vater, zu Mami. Morgen bringe ich dich zur Bahn. Es ist besser so für uns beide ...«

»Aber Markus ... warum denn ... was ist denn ...?«

Sie hielt seine Hände fest und sah ihn erschreckt an.

»Du mußt nicht fragen, Kamilla – du mußt tun, was ich dir sage. Es ist zu unserem Besten. Morgen um halb zwölf bringe ich dich zur Bahn. Daß du vorläufig das Haus deiner Eltern nicht besuchen kannst, ist klar, aber dies Opfer mußt du mir bringen. Ich bringe auch ein Opfer – indem ich mich von dir trenne. Im Sommer hole ich dich dann ab ... Aber morgen mußt du fahren ...«

Sie war ganz bleich geworden, kalt bis in die Fingerspitzen.

Er ging jetzt mit großen Schritten im halbdunklen Schlafzimmer auf und ab und sprach ausdruckslos und laut.

Es war, als wollte er sich selbst überzeugen, daß alles, was er auf dem langen Wege von der Grunewaldvilla bis hierher überdacht und sich innerlich abgerungen hatte, das einzig Richtige, das einzig Mögliche war.

»Oder wenn du willst, Kamilla, – ich bringe dich selbst nach Bremen. Es wird dir gut gehen dort. Man wird dich lieb haben, dich hüten und pflegen. Glaub' mir, Kamilla...«

Er war jetzt wieder zu ihr getreten und drückte ihre Hand an seine brennende Stirn.

»Morgen kann ich nicht«, sagte sie leise.

»Dann übermorgen. Mir wird's ja selbst schwer.«

Sie schüttelte den Kopf. Ein gequälter Ausdruck legte sich um ihren Mund.

»Auch übermorgen nicht.«

»Warum auch übermorgen nicht? wann denn? Nächste Woche?«

Sie warf plötzlich ihre Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf an ihre Brust.

»Ich will bei dir bleiben, Markus, laß mich hier ...«

Er fühlte das pochen ihres Herzens. Und das seine antwortete in gleichem Schlag. – –

Warme Aprilsonne flutete durch das offene Fenster in Markus' Arbeitszimmer; ein lauer Wind bewegte die zurückgezogenen Stores und wehte ihm den Duft gelber Nelken und Veilchen aus weißer Kristallschale zu, während er Exzerpte aus dickleibigen Folianten auf schmale, lange Blättchen niederschrieb.

Kamilla saß in dem hohen Lehnstuhl und fuhr mit der Nadel träge durch eine überflüssige Stickerei.

»Du solltest mich die Auszüge machen lassen«, sagte sie endlich. »Du brauchst ja nur die Stellen leicht anzustreichen.«

Markus nickte zerstreut.

»Ja, Kamilla ... das wollen wir künftig so machen. Es spart mir viel Zeit, wenn's dir nur nicht langweilig wird?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es wird mir nicht langweilig. Ich bin froh, dir zu helfen.«

Er hatte sich wieder seiner Arbeit zugewendet, und der Wagenlärm von draußen verschlang ihre Worte, so daß er sie nicht hörte. Sie aber stickte träge weiter. – – – –

Die Tage wollten kein Ende nehmen. Ihr Vater mußte heute oder morgen eintreffen. Dann war sie die drückende Schuld los. Bis dahin hatte sie keinen ruhigen Augenblick. Gestern war sie seit drei Wochen zum ersten Male wieder bei Frau Messer gewesen. Sie hatte nicht spielen wollen. Der Reiz des grünen Tisches war endgültig für sie vorbei. Aber dann saß sie plötzlich doch unter den anderen – aus Schwäche und weil sie sich langweilte mit den alten Damen und jungen Mädchen im Nebensalon. Da war es ihr denn wieder gegangen wie früher, obwohl die Leidenschaft des Spieles sie nicht mehr mitriß, und nur eine nervöse Unruhe, die Unzufriedenheit mit sich selbst, sie erfüllte. Als sie gleichmütig und gelangweilt den Spieltisch verließ, waren neue Gäste hinzugekommen, darunter der Professor. Er hatte sie noch gesehen, wie sie sich von ihren Partnern verabschiedete, hatte sie mit seinen klugen Augen unter den buschigen Brauen zornig angeblitzt und ihr kurz den Rücken gedreht. Er hatte ihr nicht einmal die Möglichkeit gelassen, sich zu rechtfertigen, und sie war dann gleich nach Hause gefahren und wurde ein Gefühl des Unbehagens nicht los bis jetzt.

Das Mädchen klopfte an und brachte Briefe herein.

»Aus Bremen?« fragte Kamilla.

»Ja. Ein Brief von meinem Vater und für dich ...«

Markus stockte und sah noch einmal auf die bekannten großen Schriftzüge.

» – Für dich von Professor Ramin – merkwürdig!«

»So – für mich?«

Sie sprang auf und stellte sich hinter Markus' Stuhl.

»Gib her.«

»Warte, Kamilla, ich werde das Kuvert aufschneiden.« »Nein, laß nur ...«

Sie zerrte ihm den Brief aus der Hand. Markus senkte den Kopf auf die Tischplatte und spielte mit seinem Papiermesser. Er hörte, wie sie hinter seinem Rücken den Umschlag aufriß und wie er zu Boden fiel. Dann war es still. Nach einer Weile drehte sie ein Blatt um. Dann war es wieder still, und er hörte nur ihren Atem – kurz und beschleunigt.

»Was ist es, Kamilla, eine Einladung?«

Er wußte, daß sie das Verlogene aus seiner Frage heraushören mußte, denn die Frau Hofprediger war verreist, und es konnte keine Einladung sein. Es war ihm aber gleich in diesem Augenblick. Da plötzlich fuhr er auf.

»Was tust du?«

Mit einem Ruck hatte er sich umgewendet und stand Kamilla mit flammenden Augen gegenüber.

Langsam, den starren Blick geradeaus gerichtet, riß sie den silbergrauen Brief in kleine Fetzen.

»Warum zerreißt du diesen Brief?« herrschte er sie an.

Eine tiefe Röte stieg in ihr elfenbeinfarbenes Gesicht.

»Bitte, Markus, frage nicht. Bitte tu es nicht ...!«

Sie trat ans Fenster und warf die Schnitzel hinaus in den warmen Aprilwind.

»Warum hast du den Brief zerrissen, frage ich?«

Es war, als käme ihr erst jetzt das Bewußtsein von dem, was sie getan. Aber sie fand den Mut der Wahrheit.

»Du solltest ihn nicht lesen, Markus. Ich wußte mir nicht anders zu helfen.«

»Du zwingst mich, den Professor zu fragen, was er dir geschrieben hat,« brachte er mit mühsamer Beherrschung hervor.

»Nein, das wirst du nicht tun. Lieber Markus, ich bitte dich ... tu's nicht.«

Er schüttelte kurz auflachend den Kopf und stemmte seine geballten Hände in die Rocktaschen.

»Komisch – meine Frau bekommt Briefe von einem Herrn, und ich darf nicht einmal fragen, was dieser Herr geschrieben hat!«

»Das ist nicht irgendein Herr, Markus, das ist ein Mann, den wir beide verehren ... ja, ich verehre ihn ebenso wie du ... ebenso wie du!« wiederholte sie heftig.

Er nickte wie abwesend.

»Das verstehe ich, Kamilla, aber du solltest mir sagen können, was er dir schreibt!«

»Später werde ich's dir sagen, später ... jetzt nicht. Bitte, Markus, jetzt nicht ...!«

Wieder umklammerte sie ihn mit ihren Armen, wieder war es derselbe hilflose, beschwörende Blick.

Aber diesmal sah er über sie hinweg, kühl und beinahe hochmütig.

»Ich hoffe, der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, wo du mir Aufschluß gibst über deine seltsame Art. Du verdankst es jetzt wirklich nur meiner Verehrung für Ramin, daß ich deinem – sagen wir kindischen Benehmen fürs erste keine ernstere Bedeutung beimesse!«

Seine Stimme hatte eine dunkle Färbung angenommen, wie er mit der tiefen Falte zwischen den Brauen und den schmalen Lippen langsam und scharf – ohne äußere merkliche Erregung jedes Wort herausbrachte, mußte Kamilla an Herrn Reimar Lukas denken.

Es war etwas Unerbittliches in seinem Ton, etwas, was über allen Leidenschaften stand, über seiner eigenen Liebe zu ihr.

Er schien es nicht zu merken, daß sie das Zimmer verließ. Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich nicht. Als hätte sich die zurückgedämmte Erregung dieser Stunde eingemeißelt in seine Züge, um dort zu erstarren in eisiger Unbeweglichkeit.

Die Luft wurde kühler.

Er fröstelte und schloß das Fenster...

Gegen seine Gewohnheit nahm er eine von den starken Zigarren, die er nur für seine Gäste bereit hielt, und rauchte sie an. Es war wie ein Opiat...

Dann griff er zu dem Brief seines Vaters.

Bremen, den 15. April 19..

»Lieber Markus!

Längere Zeit habe ich geschwankt, ob ich Dir von dem Vorkommnis der letzten Tage Mitteilung machen soll. Doch mir scheint, es ist besser, Du bist orientiert, als in Unklarheit über Verhältnisse, denen gegenüber Du einen bestimmten Standpunkt wahren mußt.

Vor drei Tagen etwa meldete sich bei mir im Kontor ein Mann, der seinen Namen nicht sagen wollte, sich aber – als wir allein waren – als der Bruder Deiner Frau: Bernhard Rykert, entpuppte. Er war in sehr reduziertem Zustand und hatte nur noch wenige Mark in der Tasche. Er hat zuletzt sechs Wochen im Krankenhaus in Paris gelegen und sich dort nach seiner Genesung das Geld für die Reise nach Bremen von ehemaligen Freunden zusammengebettelt.

Sein Vater hat ihn ohne jede Unterstützung gelassen, trotz wiederholter Briefe und eines Telegrammes, das vom Anstaltsarzt gegengezeichnet war. Der Mann sagte, er hätte sich ursprünglich an Dich wenden wollen, aber mit Rücksicht auf Deine Frau hätte er es unterlassen. Das war der Grund, warum ich ihm weiter Gehör schenkte.

Er bat mich, ich möchte mich seiner annehmen, worauf ich ihm erwiderte, daß ich bei dem gespannten Verhältnis, das zwischen uns und seinem Vater bestünde, ihm eine Beschäftigung bei mir in Bremen nicht geben könne. Um so weniger, als er sich bei seinem eigenen Vater nicht bewährt hätte, und alle versuche seines Vaters, ihm in Bremen eine geregelte Tätigkeit zu schaffen, an seiner Unlust zur Arbeit gescheitert wären. Die Erklärung, die er mir für sein Verhalten gab, lautete derartig belastend für Rykert, daß ich erst eine aus Haß und Rachsucht gewobene Verleumdung darin erblickte. Darauf erbot er sich, mir Einzelheiten zu geben, die jeden Zweifel beseitigen würden. Die Danziger Geschäftspraxis Rykerts war eine Häufung von Verbrechen niedrigster und gewissenlosester Art. Es genügt, wenn ich Dir von dem Selbstmord eines Offiziers erzähle, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte, von dem Untergang einiger unverhältnismäßig hoch versicherter Frachtschiffe, bei denen nicht nur die Versicherungsgesellschaft betrogen wurde, sondern Menschen ihr Leben eingebüßt haben. Ein junger Heizer entkam bei der Katastrophe, wurde von einem australischen Dampfer aus den Wellen gefischt und landete nach langen Kreuz- und Querfahrten in Lyon. Dort bildete er sich als Chauffeur aus und kam später zu der Gesellschaft, deren Direktor Bernhard Rykert eine Zeitlang gewesen. Auf einer der langen Touren, die B. mit ihm durch Frankreich gemacht, kamen sie ins Gespräch. Der Chauffeur sprach noch gebrochen deutsch, zeigte auch seine Papiere aus der Danziger Zeit und erzählte B. die »Filouterie« des Danziger Reeders, Herrn Rykert. Die Mannschaft hatte erst unterwegs erfahren, welchem Wrack sie ihr Leben anvertraut hatte. Die »Experten-Kommission« hätte alles »in Ordnung gefunden«! kaum waren sie acht Tage auf offener See, als der Kapitän erklärte, daß sie nicht weiterführen. Aber bevor sie noch in einen Hafen einlaufen konnten, brachte ein unbedeutender Sturm das überladene Schiff zum Kentern, wobei außer diesem Manne alles zugrunde ging.

So weit B.s Mitteilungen, die nur zu deutlich einige dunkle Gerüchte bestätigen, die allmählich den Weg nach Bremen gefunden haben. Leider zu spät. Ich bin nun doppelt froh, daß ich mich von jeder Verbindung mit Rykert, der seinen eigenen Sohn in das dunkle Getriebe seiner Geschäftspraxis einführen wollte, ferngehalten habe. Halte es auch, nachdem, was ich erfahren, für geboten, jede Verbindung mit dem Manne aufzugeben und von dem auf diese Weise erworbenen Gelde unter keinen Umständen weder direkt noch indirekt Nutzen zu ziehen. B. ließ mir Namen und Adresse des betreffenden Chauffeurs hier, damit ich mich persönlich erkundigen könne. Doch scheint mir eine Verfolgung dieser Angelegenheit wenig Zweck zu haben. Rykert ist der Vater Deiner Frau. Der Öffentlichkeit gegenüber dürfen immer nur Differenzen privater Natur die Erklärung unserer Spannung sein. Auch Kamilla würde ich nur schonend oder gar nicht von den Motiven unseres endgültigen Bruches sagen. Als Deine Frau hat sie sich Deinem Willen und den Gesetzen unseres Hauses zu fügen.

Über B. bin ich mir noch nicht schlüssig geworden. In Bremen darf er keinesfalls bleiben; andrerseits möchte ich ihn nicht durch Versagen meiner Hilfe auf eine Geldquelle anweisen, die für ihn ebenso versiegt sein muß, wie für Kamilla.

Ich werde noch nachdenken und Dir meinen Entschluß mitteilen. Ich leugne nicht, daß ich vorläufig zu B. nur wenig Vertrauen habe. Etwas von des Vaters Art geht immer auf die Kinder über.

So, lieber Markus, schluck' das Peinliche herunter, wie ich es heruntergewürgt habe. Und trage soviel wie möglich davon allein! Denn Du bist der Mann, und Deine Frau wird Dir leichter gehorchen, wenn sie Dich stark und aufrecht sieht, als wenn Du mit ihr über Unabänderliches klagst.

Mami wird allmählich froh und ruhig wie früher. Die Bengels entwickeln sich gesund und in gerader, einfacher Linie.

Die Schmutzkügelchen, mit denen Rykert zaghaft unser Haus bewirft, dringen nicht in die Stille des Familienzimmers. Aber die Zeiten sind schwer, und die Kinder sind noch so jung!

Es grüßt Dich bestens

Dein Vater.«

Markus las den Brief immer wieder.

Und er las vieles, was nicht darin stand mit Worten – – .


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