Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwei Tage sind Gabriele und Kemper bereits in Berlin. Der Abschluß mit der Kartonnagenfabrik war in den ersten zwei Stunden erledigt. Ebenso der Lieferungsvertrag wegen der Liköre. Einige Stunden bringt Gabriele bei ihrem Notar und Vermögensverwalter zu. Die übrige Zeit läßt sie sich neue Modelle vorführen in den ersten Schneiderateliers. Sieht sich alles an, kauft wenig. Nicht aus Sparsamkeit. Aber weil sie es langweilig findet, Geld zu zahlen, um auszusehn wie alle anderen. Sie hat früher nur immer Kleider nach eigenen Entwürfen getragen, und der unnachahmlich vornehme Stil ihrer Kleidung gab auch ihrem Wesen eine aparte, geschlossene Linie. In den wenn auch noch so kostbaren Modellen, die für eine xbeliebige Käuferin angefertigt sind, fühlt sie sich selbst als eine xbeliebige Frau, und das ständig begeisterte: »Nein, wie siehst du jetzt wieder entzückend aus!« geht ihr auf die Nerven. Er geht ihr überhaupt auf die Nerven! Sein ewiges Pendeln zwischen sentimentalen Rückerinnerungen und Selbstvorwürfen, zwischen hemmungsloser Begehrlichkeit und müder Erschlaffung macht sie kribbelig.

Sie vermeidet es, mit ihm allein zu sein. Schiebt aller Art Vergnügungen zwischen sich und ihn. Ihre Abende sind von acht Uhr ab, da sie ins Theater fahren, bis um drei Uhr morgens, wo sie aus irgendeiner Bar mit herabgelassenen Jalousien heraustreten, eine ununterbrochene Reihe von abwechslungsreicher Langweile. Am wohlsten ist ihr noch, wenn sie nach den zahlreichen drinks, zu denen sie den Mixern noch Rezepte zuruft, ihren Lieblingsburgunder vor sich stehen hat. Und wenn Kurt Kemper sie warnt: »Gabriele, trink' doch nicht soviel!«, dann steigt plötzlich wieder ein unerklärlicher blinder Haß gegen ihn auf. Wie kommt er dazu, ihr Vorschriften zu machen?! ... Weil er den Wein nicht verträgt? Darum soll sie auf das Einzige verzichten, was ihr augenblicklich Genuß bereitet? ... Sie fängt an, ihn ein bißchen zu verachten.

Manchmal tanzen sie zusammen. Aber die Nähe und Umarmung des ihr nur allzu vertrauten Körpers hat kaum noch Reiz für sie. Eines Abends tritt ein junger Mann in den Kreis der Tanzenden, der ihre Aufmerksamkeit erregt. Er überragt fast alle an Größe, sieht aus, als ob er aus dem Schaufenster eines ersten Herrenmodengeschäftes gestiegen wäre. So blendende Wäsche hat sie nur in London gesehn, ein so fabelhaft sitzendes Tanzjakett nur in Paris. Die gleichgültig höfliche Art, mit der er seinen Arm um die jeweilige Tänzerin legt, entfacht plötzlich den Wunsch in ihr, sich von ihm führen zu lassen.

»Ist wohl ein Eintänzer, dieser junge Mann?« fragt sie den Kellner, der eben Salzmandeln auf den Tisch stellt.

»Jawohl, gnädige Frau: Harry Milton, der berühmteste Eintänzer von Berlin. Soll ich ihn herschicken?«

»Ja bitte. Zum nächsten Slow Fox.«

Der Kellner tritt ab. Kurt Kemper trommelt nervös mit den Fingerspitzen auf den Tisch:

»Finde ich doch höchst überflüssig, Gabriele, was du da machst ...«

Sie sieht ihn an, sehr überlegen:

»Im Gegenteil. Ich finde es höchst notwendig.«

So schneidend hat sie noch nie mit ihm gesprochen. Er möchte aufbrausen, wie das sonst seine Gewohnheit ist, wenn er sich als Herr der Situation fühlt. Aber Gabriele ist unberechenbar, und ihr gegenüber ist er nur ein einzigesmal Herr der Situation gewesen ...

Gabriele verfolgt den Eintänzer mit den Blicken. Ein prachtvolles Tier, denkt sie. Als das Jazzorchester den Slow Fox beginnt, und »der berühmteste Eintänzer Berlins« auf ihren Tisch zuschreitet, bemächtigt sich ihrer Nerven eine leichte angenehme Erregung.

Sie bilden ein wunderschönes Paar, und ihre Glieder fügen sich aneinander in einem Rhythmus, der nicht nur in der Musik liegt ...

Gewiß ist er dumm wie Bohnenstroh, denkt Gabriele unbestechlich, und sie wirft ihm ein paar Brocken über die Schulter, auf die er antworten muß. Er ist gar nicht so dumm. Hat auch ein Stück Welt gesehn und eine leicht gelangweilte, kritische Einstellung zu den Frauen. Es plaudert sich ganz gut mit ihm während des Tanzes. Als er sie an ihren Platz zurückführt, sagt sie zu Kurt Kemper:

»Wir trinken wohl noch ein Glas Sekt zusammen?«

Kemper ist Lebemann genug, um zu wissen, daß solch eine Einladung nichts Außergewöhnliches ist. Aber diesmal hat sie etwas Verletzendes für ihn, und er muß seine ganze Weltgewandtheit zusammennehmen, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Gabriele stößt mit dem Eintänzer an und denkt: ob er sich wohl zur Liebe auch so abkommandieren ließe wie zum Tanz? ... Nur die Vorstellung, daß sie die Liebe bezahlen müßte wie einen Tanz, ist ihr unangenehm. Aber schließlich – – ob sie dem einen einen Hundertmarkschein gibt oder einem anderen den Ausbau einer Fabrik anbietet – der Unterschied liegt nur in der Höhe der Summe ...! Und wie eine Zwangsvorstellung verfolgt sie das Bild Kurt Kempers, wie er in dem Frankfurter Hotelzimmer ohne Kragen, mit herabgerutschten Hosenträgern vor ihr stand. Sie versucht, sich den »Mister Harry Milton« ohne Kragen vorzustellen. Ob ihr Gefallen an ihm auch mit seinem abgeknöpften Kragen verflöge ...?

Der Eintänzer weiß sich den intensiven Blick dieses schönen, rassigen Weibes nicht zu erklären. Aber er ist zu lange beim Geschäft, um sich in Romanspielereien zu verlieren. Irgendwo daheim in einem bayerischen Gebirgsnest sitzt seine Frau, die Frau des Toni Miller, und scharrt das Geld zusammen, das er ihr schickt, um ihren kleinen Landbesitz zu vergrößern, in den sich später die zwei Buben mit dem Mädel teilen sollen. Die wissen nix vom Beruf des Vaters und würden im Leben nicht den Erzeuger in dem eleganten Herrn mit dem englischen Namen wiedererkennen.

Gabriele tanzt noch drei Tänze mit Mister Milton.

»Ich denke, wir gehen jetzt«, sagt Kurt Kemper, als sie mit ihrem Partner an den Tisch zurückkehrt.

Sein Ton ist immer gereizt, wenn er unter dem Einfluß zu reichlich genossenen Alkohols steht. Gabriele hat dann nur ein Gegenmittel: ihn unter schweren Burgunder zu setzen.

Unter dem halbgeleerten Sektglas des Eintänzers liegt ein Hundertmarkschein. Er kneift ihn mit den Fingern der rechten Hand zusammen und steckt ihn in die Westentasche. Dann verabschiedet er sich mit einer Verbeugung, und Gabriele sieht noch, wie er ebenso unpersönlich, kühl und höflich seinen Arm um ein kleines, schlankes Mädchengestell legt.

Im Auto läßt Kurt Kemper seiner Gereiztheit freien Lauf: wenn sie mit ihm ein Tanzlokal besuche, brauche sie nicht einen bezahlten Lümmel als Tänzer zu nehmen! Und überhaupt – er verstünde diese Schamlosigkeit der Frauen nicht! Ebenso könnten sie sich ja einen Geliebten für die Nacht aussuchen und bezahlen!

Gabriele sieht gelangweilt aus. Nur als sein Wortschwall kein Ende nimmt, sagt sie kurz: »Fraglich, ob nun gerade du der geeignete Moralprediger bist!?«

Wie ein kaltes Sturzbad ist es für ihn.

Als sie im Hotel ankommen, wartet sie nicht, bis er den Chauffeur entlohnt, sondern läßt sich gleich vom Lift hinauffahren in ihr Zimmer, das von Kurt Kempers Raum durch einen Salon getrennt ist.

Es ist drei Uhr nachts, als sie ein Rütteln an ihrer Tür hört.

Sie stellt sich schlafend. Das Rütteln wird von einem nachdrücklichen Klopfen abgelöst. Schließlich hört sie ihn flüstern, bittend, ärgerlich: »So mach' doch keine Geschichten, Gabriele. Du weißt doch, in welcher Verfassung ich bin! ...« Sie antwortet durch die geschlossene Tür.

»Weiß ich, weiß ich. Selbstvorwürfe ohne Ende. Angst vor der Rückkehr nach Lörnach, vor dem Wiedersehn mit deiner Frau ... hast du mir alles schon zehntausendmal gesagt ... Es wird nicht besser, wenn du es noch einmal sagst! ... Im Gegenteil. Und zudem hab' ich Kopfschmerzen ... Also bitte geh'.«

Wie ein gescholtenes Kind steht er vor der geschlossenen Tür. Wenn er nur loskommen könnte von ihr! ... Aber er braucht sie noch. Ihre starre Unbeugsamkeit ist sein Halt. Er fühlt wohl, daß er jetzt eine unwürdige Rolle spielt. Aber er fühlt auch, daß er krank ist, und – sucht Zuflucht in dem Gedanken. Ein Kranker ist nicht verantwortlich ... Ein Kranker hat Anrecht auf Nachsicht! ... Und morgen – muß er Toni telephonieren. Es geht einfach nicht, daß er sie ohne jede direkte Nachricht läßt. Immer nur Grüße durch Wagner – das muß ja selbst dem Prokuristen auffallen ... Schließlich hat Theresens Tod sicherlich auch Toni beeindruckt, sonst hätte nicht sie selbst ihm die Nachricht telegraphiert! ... Er hatte geglaubt, brieflich von ihr Einzelheiten zu erfahren, soweit sie ihr bekannt geworden waren. Aber gegen ihre Gewohnheit hatte Toni ihm nicht eine einzige Zeile geschrieben ... Er war keine Schachzüge von seiner Frau gewöhnt. Ihr Schweigen reizt ihn maßlos. Er will nicht dastehn vor ihr wie ein Deserteur, will sein Übergewicht nicht verlieren! Hat vielleicht auch ganz auf dem Grunde seiner Seele das Bedürfnis, ihre ruhige, stille Stimme zu hören, ihre stets zur Anpassung an seine Wünsche bereiten Antworten.

Vielleicht sagt sie ihm auch etwas über den Jungen. Er hat noch immer nicht den Mut gehabt, nach ihm zu fragen, hat sich mit den Worten des Prokuristen begnügt: »Der Junge ist gut aufgehoben.« Hat Vogel-Strauß-Politik getrieben, den Kopf in den Sand gesteckt.

Wie lange konnte das noch währen ...?

Um neun Uhr früh würde er Toni anläuten – –

Um elf Uhr morgens schlief er noch.

Aus dem Salon von nebenan dringt der starke Duft von Gabrielens englischen Zigaretten herein. Sein erster Gedanke ist, zu ihr hineinzugehn – sein zweiter, daß sie es nicht liebt, wenn er sich in nachlässigem Morgenanzug vor ihr zeigt. So macht er sich rasch fertig und tritt dann, eine halbe Stunde später, in den Salon.

Sie sitzt im Schaukelstuhl, am noch unabgeräumten Frühstückstisch:

»Ich bin gerade dabei, Programm für den heutigen Tag zu machen«, sagt sie. »Was würdest du zu einem Ausflug nach Potsdam sagen? ... Wir könnten dort essen, dann an die Havelseen. Wir haben nachher anderthalb Stunden, um uns auszuruhn und umzukleiden, und fahren dann in die Staatsoper. Du bestellst einen Tisch bei Feltzer, und nach dem Essen könnten wir ja wieder in irgendein gutes Tanzlokal gehen. Ist es dir recht so?«

Sie hat einen so liebenswürdigen Ton wie selten, läßt ihm auch ihre Hand, die er liebkosend seine Wange entlangführt. Er ist so froh, daß ihre ärgerliche Stimmung von heute nacht verflogen ist, und denkt nicht daran, sie durch einen Widerspruch zu reizen. Im Grunde ist ihr Vorschlag ja sehr vernünftig – diese Fahrt in die frische, sonnige Herbstluft hinein wird ihm wohl tun, nach all den Erschütterungen, die er erlebt hat.

Und es wird wirklich der schönste Tag ihres Zusammenseins. Er muß ihr von seinen weiteren geschäftlichen Plänen sprechen: wenn der Ausbau so weiter fortschreitet, hofft er, mit der Zeit das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umwandeln zu können, mit ihm als Direktor. Er versteigt sich in seinen Zukunftserwartungen sogar zu dem Satz: »Und wenn dann unsere Aktien erst an der Börse eingeführt sind ...«

Sie unterbricht ihn lachend:

»Ha, so schnell geht das nicht!« Denn sie ist die Tochter des Herrn Schorneder und verliert nie den Boden unter den Füßen.

Als sie abends in großer Toilette aus ihrem Schlafzimmer tritt, kann Kurt Kemper einen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken. Und weil er weiß, daß sie es nicht leiden kann, wenn er sagt: »Wie siehst du heute entzückend aus!« meint er:

»Es ist wohl das schönste Kleid, das du je getragen!« Und leiser, indem er einen Arm um sie legt: »... mit Ausnahme des roten Chiffonkleides natürlich – –!«

Sie entwindet sich ihm:

»Du weißt doch, ich mag keine Rückerinnerungen – und keine Vergleiche ...«

Er unterdrückt eine Antwort: nur um ihre gute Stimmung nicht zu trüben ...!

Während des letzten Opernaktes fällt es Kurt Kemper lastend auf die Seele, daß er Toni nicht angeläutet – nun, er wird ihr von Feltzer aus eine Karte schreiben!

Gabrielens Erscheinung macht im Restaurant Aufsehen. Sie fühlt, daß sie ihren guten Tag hat, und es ist mehr als die Freude des Augenblicks, die ihre Augen leuchten läßt. Sie stößt gerade das erstemal leise mit Kurt Kemper an, als ein Herr von einem schräg gegenüberstehenden Tisch sich ein wenig von seinem Sitz erhebt und diskret herübergrüßt. Gabriele muß sich erst einen Augenblick besinnen, wer es ist. Aber dann antwortet sie, etwas weniger von oben herab, als es sonst ihre Art ist.

»Wer ist das?« fragt Kurt Kemper.

»Ein Herr ... Herr ... Er ist Vertreter einer großen Parfümeriefirma und hat mir über einige sehr langweilige Stunden in der Bahn hinweggeholfen.«

Die Gäste am gegenüberliegenden Tisch brechen auf, und als der Herr aus dem Coupé sich verabschiedend vor Gabriele verbeugt, fühlt er sich, wie damals in der Bahn, von ihrem Blick förmlich angesogen. Ihre einladende Bewegung ist überdies nicht mißzuverstehen.

»Lieber Kurt, darf ich dir meinen Reisebegleiter vorstellen? ... Herr ... Herr ...«

»Sarden«, nennt er sich selbst.

»Ja, richtig ... Verzeihung ... Herr Sarden. Mein Schwager: Dr. Kurt Kemper. Wollen Sie nicht ein bißchen bei uns Platz nehmen?«

»Sehr liebenswürdig. Aber gestatten, daß ich mich erst von meiner Gesellschaft verabschiede ...«

»War das nötig?« fragt Kurt Kemper, wieder leicht gereizt.

Gabriele legt ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm:

»Sehr nötig. Man muß immer für frischen Zuzug sorgen.«

»Du langweilst dich also schon mit mir?«

»Unter Umständen könnte es langweilig werden.«

Kurt Kemper empfindet diese selbstherrliche Art Gabrielens höchst unbequem, aber schließlich darf er sich nicht benehmen wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Er ist Schwager. Schwager! Nur Schwager.

Herr Sarden kommt zurück und versteht es in seiner gewandten Art, ein angeregtes Gespräch in Fluß zu bringen.

Wieder kommt es von Gabrielens Lippen:

»Wir haben die Absicht, noch ein bißchen zu bummeln. Vielleicht schließen Sie sich uns an, Herr Sarden? ...«

Herr Sarden findet den »Schwager« eine sehr überflüssige Beigabe. Denn er ist geblendet von Gabrielens Erscheinung. Er hat viele Reisebekanntschaften in seinem Leben gemacht, aber die wenigsten hatten außerhalb des Coupés die Versprechungen gehalten, die ihre Reiseaufmachung vermuten ließ. Dieses Fräulein Schorneder war also wirklich eine große Dame, oder zum mindesten eine Halbweltdame großen Stils.

»Wollen wir noch lange hierbleiben?« fragt Kurt Kemper.

»Lange nicht«, meint Gabriele. »Aber es sitzt sich doch vorläufig noch ganz gemütlich hier, nicht?«

Sie hat die feste Absicht, das gleiche Tanzlokal zu besuchen wie gestern. Aber sie will früher da sein als gestern.

»Haben die Herrschaften schon beschlossen, wohin sie gehn wollen?« fragt Sarden.

»Ich schlage die ›Villa Borgia‹ vor, es sitzt sich dort sehr angenehm.«

Sarden erbietet sich, telephonisch einen Tisch reservieren zu lassen.

»Mußte es gerade die ›Villa Borgia‹ sein?« fragt Kurt Kemper.

»Und warum sollte sie es nicht sein ...?« fragt Gabriele zurück. Sie gibt ihrer Stimme einen bewußt gleichgültigen Klang. Sie hat durchaus nicht die Absicht, Kurt Kemper zu quälen. Sie folgt nur dem Imperativ ihrer Natur, von Sadismus ist keine Spur in ihr.

Kurt Kemper fühlt wohl, es wäre geschmacklos, eine Andeutung wegen des Eintänzers zu machen. Er versucht einen Scherz:

»Ich hoffe, du wirst nicht nur mit Herrn Sarden, sondern auch mit mir tanzen ...!«

»Am Tanzen soll's bei mir nicht fehlen ... Man hat Stunden im Leben, da man einen Stuhl nehmen könnte, um zu tanzen.«

»Und weißt du noch, Gabriele, wie du überhaupt nicht tanzen wolltest? ...«

»Auch das hatte seinen Grund ...«

»Der mit mir zusammenhing?« fragt er leiser.

»Zum Teil mit dir ...«

»Und zum anderen Teil? ...«

Sie zuckt die Achseln:

»Eine dumme Geschichte – – Als ich das letztemal mit meinem Vater in London war, verfolgte mich ein spleeniger Lord mit Heiratsanträgen. Und als ich ihm auf einem Ball während eines Blues kategorisch erklärte, daß er sich keinerlei Hoffnungen zu machen hätte, brachte er mich auf meinen Platz zurück, fuhr nach Hause und wollte sich erschießen ... das heißt er schoß sich an. Das hat mir den Tanz ein bißchen verleidet ... Bald darauf starb übrigens mein Vater ... na und dann wurde es mir immer schwerer, mir einen fremden Herrn so nahe kommen zu lassen.«

»War ich dir denn auch so fremd, Gabriele?«

Ungeduldig reißt sie ihre Hand unter seinen Fingern weg:

»So höre doch endlich auf, immer alles auf dich zu beziehn.«

Kurt Kemper fühlt mit tiefer Erbitterung, wie die Umstände ihn Gabriele gegenüber in eine Lage versetzen, die sonst nur Frauen ihm gegenüber zufiel. Und jetzt ist es ihm beinahe lieb, daß er den Rest des Abends nicht allein mit Gabriele zuzubringen braucht.

Sarden, der eben jetzt wieder an den Tisch tritt, ist ihm mehr als willkommen.

Sarden ist übrigens ein famoser Arrangeur. Es ist ihm gelungen, eine kleine Loge reservieren zu lassen, und vor Gabrielens Platz liegt ein großer Strauß roter Nelken. Man sieht ihm die Genugtuung an, die er empfindet, einer so auffällig schönen Erscheinung wie Gabriele den Mantel abnehmen zu dürfen. Dieser Ausdruck der Genugtuung gibt Kurt Kemper all sein Selbstgefühl wieder: was diese »Laffen« sich wohl einbilden! Wenn sie Gabriele kennen würden, wie er sie kennt ...! Dieses alberne Lächeln würde rasch von ihren Lippen verschwinden!

Kurt Kemper wird liebenswürdig, gesprächig, und bemerkt es gar nicht, daß Gabriele unentwegt über die Brüstung in den Saal hineinstarrt. Bemerkt es nicht, daß sie nervös eine Nelke nach der anderen zwischen den Fingern zerreibt. Bis Sarden es ist, dem ihre Nervosität auffällt:

»Es ist wirklich unverzeihlich, Herr Doktor ... nun sprechen wir beinahe schon von unseren Geschäften und vergessen, daß Ihr Fräulein Schwägerin ein heiliges Anrecht auf den Tanz hier hat! ... Sie gestatten doch, Herr Doktor ...?«

»Aber bitte, bitte ...«

Wieder hat Gabriele ein unangenehmes Empfinden, da eines fremden Mannes Arm sich um sie legt. Und ein noch unangenehmeres, als dieser fremde Herr, als wolle er eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen heraufbeschwören, von jener Stunde in der Bahn spricht, dem improvisierten kleinen Frühstück ... Und daß er schließlich hinzufügt:

»Sie haben mich wirklich meine Nachtruhe gekostet, gnädiges Fräulein ...«

Was geht sie die Nachtruhe dieses Herrn Sarden an – –? Und überhaupt, wie hat sie nur einen einzigen Augenblick Gefallen an ihm finden können? ... Ihn in den Bereich von Möglichkeiten einzuschließen vermocht? ... Hatte er nicht sogar das unverschämte Ansinnen an sie gestellt, in Karlsruhe auszusteigen? ... Wie hatte sie sich denn damals benommen – –? Was war denn so Besonderes an ihm gewesen? ... Gewiß, ein eleganter Mensch – wie hundert andere, ohne die geringste persönliche Note ... Verrückt! ...

Nach dem ersten Abbruch des Tanzes stehen sie einen Augenblick einander gegenüber. Gabriele möchte am liebsten bitten, daß er sie an ihren Platz zurückführt. Aber schon diese einfache Bitte an ihn zu richten, ist ihr unangenehm. Sie sieht ein bißchen gelangweilt und verärgert aus.

»Gnädiges Fräulein tanzen wohl nicht sehr gerne?«

»Ich? ...«

Sie will sagen: »Es geht ...«, aber plötzlich stockt sie. Alles überragend, gelassen, mit kurzen Verbeugungen nach rechts und links, schreitet Berlins »berühmtester Eintänzer« Harry Milton durch den Saal, an den wartenden Paaren vorüber.

»Mein Eintänzer von gestern –« sagt sie.

»Der Harry. Haben Sie schon mit dem getanzt? ... Ein patenter Kerl!«

Mit knappem Gruß will Milton an ihnen vorbei.

»Ich will auch heute mit ihm tanzen!« sagt Gabriele in ihrer bestimmten Art.

»Hören Sie, Milton ... kommen Sie nachher rechts drüben in die Loge. Gnädige Frau möchte gern mit Ihnen tanzen.«

»Zum nächsten Tanz bin ich leider bestellt, es ist ein Tango. Aber der Slow Fox ist noch frei ... wenn Gnädige befehlen? ...«

Sie möchte ihm die Krawatte aufreißen vor Zorn: was sind das für Ausdrücke, »bestellt«, »befehlen«? Sie sagt betont:

»Ja, ich würde mich freuen, Herr Milton.«

»Also auf nachher, Harry ...!« Und Sarden legt wieder seinen Arm um Gabriele, um den Tanz zu Ende zu führen.

Dabei unterhält er sie. Diesmal nicht von sich:

»Der Harry Milton ist ein wahrer Gastspieleintänzer. Er war auch schon überall. In London, Paris, Madrid. Voriges Jahr hat er eine Tournee durch die Millionärsalons der Fifth Avenue in Neuyork gemacht, wohin ihn ein englisches Tanzgirl, das in die amerikanische Hochfinanz hineingeheiratet hat, zur Einrichtung ihrer großen Bälle engagiert hatte. Der Mann muß ein klotziges Geld verdient haben! Treibt aber eigentlich keinen Aufwand. Ob er nun seine Erfolge dem Sagenkreis verdankt, der sich in jeder Stadt um ihn bildet, oder den tatsächlichen kurzen Liebesverhältnissen mit großen Damen, die er aber niemals geldlich ausbeutet, das weiß man nicht. Sicher ist, daß er sich nicht von den Etablissements bezahlen läßt, sondern die Unternehmer an sich beteiligt! So daß er immer unabhängig ist, kommt und abreist, wann es ihm paßt, und sich auch sonst keiner von den üblichen Eintänzerregeln zu unterwerfen braucht ... Er ist auch schon einmal – und zwar gerade hier in der ›Villa Borgia‹ – als Retter in der Not gekommen: das Lokal stand vor der Pleite. Da kam Milton und machte den Betrieb wieder flott! Und nun geht's wieder.«

Gabriele wird von hinreißender Liebenswürdigkeit.

»Den nächsten Tango tanzen wir zusammen, Kurt!« sagt sie.

Kemper versucht zu spötteln:

»Ach? ... Hast du wirklich die Gnade? ...«

Sarden denkt: Und den Tango hättst du nie gekriegt, mein Junge, wenn der Milton nicht gekommen wäre! ... Er weiß jetzt: mit der ist nichts zu machen!

Genau so unpersönlich, kühl und höflich wie gestern führt der Eintänzer Gabriele Schorneder.

»Sie tanzen wohl die ganze Saison hier?« fragt sie.

»Ich weiß nicht, was Gnädige Saison nennen. Die ersten Wintermonate bin ich allerdings hier. Dann pendle ich zwischen London und Paris und fahre im März an die Riviera ... nach Nizza ... oder Cannes ... Na, und vom Mai ab gebe ich mir Urlaub.«

»Ich verstehe eigentlich nicht, Herr Milton, daß Sie so in fremden Lokalen tanzen ... Würde es Ihnen denn nicht Freude machen, ein eigenes Unternehmen zu gründen?«

»Das Geschäft ist doch zu riskant. Heutzutage muß man schon fast eine halbe Million in so was hineinstecken ... und dann weiß man eh' nicht, ob sich das Geld verzinst ...«

Gabriele sieht ihm plötzlich lachend in die Augen:

»In England hat Ihre Wiege jedenfalls nicht gestanden – das war ja österreichisch!«

Nun fliegt auch über sein Gesicht ein Lächeln:

»Kann schon sein, Gnädige ... österreichisch oder bayrisch – wie Sie wollen ... Wenn man so überall herumkommt, so bleibt von jedem Land ein bissel was an einem hängen ...! Schließlich beherrscht man alle Sprachen wie ein Clown.«

»Dann wäre doch ein eigenes Unternehmen, das Sie seßhaft macht, das Geeignete für Sie«, besteht Gabriele eigensinnig. »Sehen Sie ... ich habe sehr viel Geld ... und suche oft nach Gelegenheit, es gut anzulegen. Da hab' ich mich zum Beispiel ... bei meinem Schwager ... an einer Schokoladenfabrik beteiligt ... Jawohl, der Herr, mit dem ich gestern schon hier war – das ist nämlich mein Schwager ...«

So – nun hat sie's ihm gesagt ...

Vergeblich wartet sie auf ein erfreutes oder zum mindesten erstauntes »So ...? Also nicht der Herr Gemahl?« Nein – – der Mann denkt nicht daran, erstaunt zu sein oder gar erfreut! Sicherlich wäre es ihm ebenso »wurscht«, wenn er erführe, sie sei die Frau vom Negus von Abessinien oder die Frau von Krischna Murti! ... Er ist von einer beinahe rohen Interesselosigkeit –

Aber gerade darin irrt sie sich. Er ist nur von immer mehr zunehmender Vorsicht. Holla, aufgepaßt! sagt ihm sein gesunder Instinkt. Wenn er die Frauen zählen wollte, die ihm alle goldene Berge versprachen für den Fall, daß er ein eigenes Geschäft gründen würde! Vor fünfzehn Jahren ist er einer auf den Leim gegangen – und wäre beinahe in des Teufels Küche gekommen! Nach den ersten Bareinschüssen nur Wechsel, die regelmäßig platzten! Er wußte nicht, was ihm größere Mühe gemacht: das Tanzlokal oder die Frau loszuwerden ... Ach nein, mit Frauen machte er keine Geschäfte ...!

»Legen Sie doch Ihr Geld in Grund und Boden an. Die Natur ist das einzig Verläßliche. Und – gesund, gnädige Frau! Gesund!«

Wie der Mann sprach ...!

»Kommen Sie dann noch ein bißchen an unseren Tisch, Herr Milton?«

»Wenn ich hier zum Vergnügen wäre, gnädige Frau ... Aber das Geschäft geht vor!«

Mit kaum verhaltenem Zorn antwortet sie:

»Haben Sie auch Ihren Preis für Plauderstunden?«

»Nur wenn ich die Kosten der Unterhaltung allein tragen muß, Gnädigste.«

Sie weiß nicht, ist es ein Kompliment oder eine Unverschämtheit.

Der Eintänzer führt sie zu ihrer Loge und übersieht den Hunderter, der unter dem für ihn gefüllten Sektglas liegt.

»Sehr interessant, was mir Herr Salden über den Gigolo da erzählt.«

Sie wendet sich zu Sarden:

»Bitte um meinen Mantel.« Und während Sarden sich abwendet, sagt sie zu Kurt Kemper leise und schneidend: »Welche Geschmacklosigkeit, ihm gleich nach dem ersten Tanz das Honorar hinzulegen! Oder soll das eine Verabschiedung sein? ...«

»Vielleicht.«

Sarden schlägt noch den Besuch verschiedener Lokale vor. Aber Gabriele schützt Müdigkeit vor. Kopfschmerzen. Sie besteht darauf, daß die Herren sie zu einem Wagen bringen und dann allein noch weiterbummeln.

Kurt Kemper will es erst nicht zugeben, aber ihre Art ist so entschieden, daß er bei ihrer Unberechenbarkeit einen Auftritt fürchtet.

Allein im Wagen, verläßt Gabriele jede Selbstbeherrschung. Und wieder kommt ihr der gleiche Satz in den Sinn: Gabriele Schorneder ist tot! Denn das ist nicht Gabriele Schorneder, dieses in der Wagenecke zusammengekrümmte, schluchzende Weib, das wie eine hysterische Komödiantin mit den Zähnen ihr Taschentuch zerreißt!

»Was hat dieser Mensch aus mir gemacht ... was hat er aus mir gemacht ...«, murmelt sie vor sich hin.

Und sie weiß nicht, meint sie jetzt Kurt Kemper – oder den Eintänzer Harry Milton ...

Um vier Uhr früh kommt Kurt Kemper von dem Bummel mit Sarden ins Hotel zurück. Noch hat er soviel Besinnung, daß er die kleine, hübsche Verkäuferin aus einem Parfümladen des Kurfürstendamms, die ihm Sarden vorgeführt hat und die sich an ihn hing, nicht mit hinaufzunehmen versucht.

Unter der Brause wird sein Kopf klarer, und zentnerschwer fällt es ihm auf die Seele, daß er auch heute Toni ohne Nachricht gelassen hat.

*

Neben Tonis Schlafzimmer befindet sich ein schmaler, einfenstriger Raum, in dem Garderoben- und Wäscheschränke aufgestellt sind. Sie hat die Schränke herausschaffen lassen und in einer großen, fensterlosen, bisher unbenützten Kammer untergebracht. Das frühere Schrankzimmer läßt sie in lustigen Farben tünchen, und Schirmer bekommt von ihr den Auftrag, bekannte Märchenfiguren auf den hellblauen Grund zu malen. Das Robertle erkennt mühelos das Rotkäppchen, Zwerg Nase, Däumelinchen und den Riesen mit einem kleinen Menschen auf der Hand. Aber er verlangt nachdrücklich auf der Wand ein Auto und ein Flugzeug.

Toni sagt: »Aber Robertle, als Rotkäppchen lebte, gab es doch gar kein Auto!«

» Oh lalà«, ruft Robertle und schüttelt seinen rostbraunen Lockenkopf.

Oh lalà – das war wohl Theresens häufigster Ausruf, denkt Toni. Aber auch sonst hat sich manch französisches Wort in das Kinderkauderwelsch eingeschlichen. Sie denkt nicht daran, es ihm abzugewöhnen.

Nur die ersten zwei Tage war es schlimm, als er wieder und immer wieder nach seinem Mutti fragte und schließlich nicht mehr »Mutti« schrie, sondern »Maman! Maman!« Toni hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Hinweise auf den lieben Gott, die Engelchen und das schöne Gartenparadies mit den roten Geranientöpfchen um den goldenen großen Thronsessel blieben ganz ohne Wirkung. Endlich sagte sie: »Maman ist verreist ... verstehst du, Robertle? ... Mit der Eisenbahn –« Robertle schüttelt den Kopf: »Nein. Mit Auto!«

»Jawohl, Robertle. Erst mit Eisenbahn, und dann mit Auto.«

Aber er gibt sich nicht zufrieden:

»Und dann mit Zeppelin Basel!«

Aber das genügt Robertle noch immer nicht:

»Und dann mit goldener Rakete und vielen, vielen Kugeln, rote, blaue, grüne – puff! ... Muß Onkel Schirmer alles auf Wand malen!«

Und dabei lacht er und klatscht in die Hände.

Schirmer entwirft eine flotte Zeichnung, und der Zimmermaler pinselt die Kugeln mit leuchtenden Farben an. Das Robertle hockt den ganzen Tag in seinem künftigen Zimmer und folgt mit größter Spannung der fortschreitenden Arbeit. Ganz selbstherrlich bestellt er sich an diese Stelle einen Baum, dort einen großen Vogel, hinter das Auto einen bellenden Hund und an die gegenüberliegende Wand eine große Maschine neben einen Schokoladenbach. Seine Phantasie arbeitet wild, und er besteht darauf, daß auf dem Schokoladenbach zwei große weiße Gänse schwimmen.

»Aber da werden sie doch schmutzig!« sagt Toni.

»Dann muß man sie eben baden –«, und mit leiser Geringschätzung kommt es von seinen Lippen: » Oh lalà! ...« Denn Mutti wußte gleich, was zu tun war, wenn er sich mit Schokolade beschmierte.

Es wird das verrückteste und lustigste Kinderzimmer, das man sich vorstellen kann. Toni und Robertle vergessen darüber beide ihren Kummer.

Immer seltener ruft das Kind nach seiner Mutter, immer seltener späht Toni, ob Post auf ihrem zierlichen Schreibtisch für sie liegt. Wie lange ist es her, daß Therese gestorben? ... Kaum eine Woche. Und kaum eine Woche ist ihr Mann fort ... Ihr scheint es eine Ewigkeit! Aber diese Tage, in denen sie zum erstenmal völlig selbständig Entschließungen gefaßt und Anordnungen getroffen, die über den Bereich der ihr bisher eng gezogenen Grenzen hinausgehen, haben ihr eine ungewohnte Ruhe und Sicherheit gegeben. Sie fragt sich kaum noch, was ihr Mann zu dieser eigenwilligen Handlung sagen könnte – so weit ist er ihr entrückt.

Nur wenn der Junge in einer Bewegung, einem Lächeln, einem Blinzeln der lichtbraunen Augen das Bild seines Vaters hervorzaubert, dann ist es ihr, als hätte sie sich mit diesem Kinde das Beste ihres Mannes gerettet, und sie schließt den Jungen in ihre Arme, mit einer überquellenden heißen Zärtlichkeit, die sich der Kleine erst gefallen läßt, später aber ebenso, wenn auch hastig, erwidert.

Herbststürme setzen ein. Es scheint Toni, als hätten sie noch nie so roh an den Sträuchern im Garten gerissen, nie so schnell und gründlich die letzten Blätter von den Bäumen gefetzt. Fröstelnd treten die Fabrikarbeiterinnen am frühen Morgen in ihren abgeschabten Mänteln an. Theresens Tod wird noch immer heimlich besprochen und lastet wie ein Druck auf allen. Die neue Aufseherin, die ihren Platz einnimmt, kommt ihnen wie ein Eindringling vor – wenigstens den alten Arbeiterinnen, während sich die neuen um ihre Gunst bewerben und kleine Vorteile herauszuschinden verstehen. So spaltet sich ganz unmerklich, auch bei den Männern, die Arbeiterschaft in zwei Parteien, und Mutzmann muß manchmal mit einem energischen Donnerwetter dreinfahren, wenn Unstimmigkeiten entstehn. Es ist überhaupt nicht gut Kirschen essen mit ihm in letzter Zeit.

Er weiß, daß über ihn und Elise die tollsten Gerüchte umherlaufen, und weiß, daß es seine Frau ist, die diesen Gerüchten immer wieder neue Nahrung gibt. Denn obwohl er ihr verboten hat, um die Mittagszeit den Kopf zum Fenster herauszustecken und Arbeiterinnen anzusprechen, so findet sie doch immer neue Vorwände, um dieses Verbot zu umgehen. Die eine mußte ihr noch Reis mitbringen, die andere einen Laib Brot oder Butter besorgen, denn sie selbst – mein Gott, das sah er ja – sie selbst konnte nicht mehr einholen gehn, und Therese war nicht mehr. Therese, die einzige, die noch Mitleid mit ihr gehabt! Die einzige, der sie ihr Herz ausschütten konnte, die einzige, die offene Augen hatte und genau wußte, was im Kemperschen Hause vorging! Gerad' wie die Schorneder war die Elise ... Schamlose Weiber, alle beide! ... Die sich nichts daraus machten, der Frau den Mann zu stehlen!

»Jetzt hör' auf mit deinen Redensarten!« donnerte dann Mutzmann. Aber die hörte nicht auf.

Er ißt schon seit Tagen in der Kantine, um das Zusammensein mit seiner Frau abzukürzen, und manchmal gelingt es ihm sogar, sich unbemerkt an den Fenstern seiner Wohnung vorüberzuschleichen, um rasch zu Elise hinaufzugehen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Es werden der Worte immer weniger, und ihre Blicke, die sich früher immer mit so strahlender Freude auf ihn gerichtet, werden immer kälter.

Seine gutmütigen Hundeaugen starren sie manchmal ganz entsetzt an, wenn sie ihn bei seinem Erscheinen anfährt:

»Was kommst du immer zu mir? Was willst du noch von mir?«

»Ein gutes Wort will ich mir von dir holen, Elise. Glaubst du, ich hab's leicht daheim? ...«

Elise höhnt:

»Hab' ich's vielleicht leichter? Was soll ich dem Fräulein sagen, wenn sie jetzt zurückkommt??«

Brutal antwortet er:

»Wirst ihr sagen: Ich mach's grad' so wie Sie!«

»So redet man wohl unter Fabrikleuten? ... Bei unsereinem nicht – bei Herrschaften!«

Er lacht schneidend auf:

»Bei Herrschaften ... ja was?! Den' bringt die Kinder wohl der Storch, hm? ... Gehörst du am End' auch zu den Herrschaften? ... Dann hättste es mir vorher sagen sollen und mich nicht bemühen dürfen! ...«

»Bemühen ... ich dich bemühen – –?«

Elise findet keine Worte mehr. Sie möchte am liebsten das Fenster aufreißen und ihre Empörung hinausschreien – wild hinausschreien in den Fabrikhof. Daß ihre Stimme bis zum Verwalterhaus dringt! Bis zu den Fenstern der kranken Frau, der Frau dieses Mannes, der sie beschimpft! Aber da sieht sie, wie der große, schwere Körper des Mannes mit dem Gesicht gegen die Wand fällt, sieht, wie seine Finger sich in sein Haar hineinkrallen und seine Schultern zucken.

»Na – laß gut sein, Andreas«, lenkt sie ein. »Müssen eben beide fertig werden mit unserer Not.«

Sie will ihm ein Glas Wein einschenken, aber er wehrt ab, fährt sich mit dem Handrücken über die Augen:

»Laß nur, Elise ... Es wird ja auch Zeit ... ich muß an die Arbeit. Nee, nee ... brauchst nicht mit runter ... ich find' meinen Weg schon allein.«

Sie steht am Glasgang, drückt ihre heiße Stirn an die Fensterscheibe und sieht ihm nach, wie er mit rundem Rücken und schleppenden Ganges über den Hof schreitet.

Mutzmann aber ist es, als schabe einer mit einer Feile auf einer wunden Stelle seines Körpers herum, wenn er in der Fabrik das unterdrückte Lachen oder kicherndes Geschwätz der jungen Arbeiterinnen hört. Und er donnert mit vor Wut zitternder Stimme: »Ruhe!!! Himmelkreuzdonnerwetternochmal Ruhe!!!«

*

Seit der Abreise ihres Mannes und ihrer Schwester ist Toni nicht mehr in Gabrielens Wohnung gewesen. Sie hat auch den Glasgang nicht mehr betreten, mit seinem Ausblick auf das Verwalterhaus. Und so hat auch das Robertle den Fabrikhof nicht mehr zu Gesicht bekommen und auch die Fenster nicht mehr gesehen, zu denen er einst mit seiner Mutter hinausgeschaut. So kann er sich in der Kemperschen Wohnung weit weg glauben von der Stätte, die ihm einst so vertraut gewesen. Die Ausmalung des Kinderzimmers nimmt auch seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Aber in der Zugluft, die der Maler herstellen muß, damit die Farben austrocknen, hat sich das Robertle eine starke Erkältung zugezogen.

Toni läßt den Arzt kommen. Und weil er nun schon da ist, soll er das Kind gleich gründlich untersuchen.

»Nett, Frau Doktor, daß Sie sich des Jungen so annehmen. Ist ja wirklich ein allerliebstes Kerlchen. Und ... von Grund auf gesund. Wird mal ein kleiner Bär. Das bissle Erkältung, das kriegen wir bald weg. Heiße Milch, Sirup, zwei Tage Bett ...«

»Ja, nicht wahr, Herr Doktor ... und dann springt er wieder herum!«

Der alte Arzt kennt diesen Ausdruck mütterlicher Angst und Seligkeit – – da hat nun mal der Tod dieses armen Frauenzimmers einen Menschen glücklich gemacht ...! Vielleicht auch – mehr als einen.

»Na ja, Frau Doktor ... wenn's Fieber gibt, dann telephonieren Sie mich halt an.«

Toni führt ihn in das noch nach Farbe riechende Kinderzimmer, in dem auch schon die neu gekauften Kindermöbel in der Mitte des Raumes stehn. Sie zeigt auf die Wände:

»Das hat der Kleine selbst so haben wollen!«

Es liegt mütterlicher Stolz in ihrem Ton.

»Ja, so kraus sieht das heute in einem Kinderkopf aus – Däumelinchen und daneben Maschinen. Zeppelin und ein Schokoladenbach ... bis da mal Ordnung reinkommt ...«

Er lacht leise vor sich hin und deutet auf die riesigen Bäume, die in unregelmäßigen Abständen hingemalt sind:

»Sehen Sie, Frau Doktor, das ist so recht bezeichnend: bei den Kindern wachsen die Bäume immer in den Himmel.«

»Man sollte ihnen diesen Glauben nicht zu früh nehmen«, meint Toni.

»Na, Sie werden's schon recht machen, kleine Frau. Als ich herkam, vor etwa dreißig Jahren, da war Ihr Gatte auch so ein kleines fixes Kerlchen, phantasiebegabt, ein kleiner Draufgänger, der vor nichts zurückschreckte. Aber die alten Herrschaften schnitzelten immer an ihm herum, wollten durchaus einen Musterknaben aus ihm machen. So wurde er ein liebenswürdiger Allerweltsmensch, und vielleicht weiß nur ich, was sich unter der glatten Oberfläche an Wünschen, Enttäuschungen, Begierden und heimlichem Aufbäumen verbirgt. In jeder jungen Menschenseele gibt es Stürme. Und Stürme, die man austoben läßt, richten weniger Schaden an als solche, die man immer unterdrückt. Also wenn's mal stürmt – austoben lassen!«

Toni weiß nicht, spricht er von Robertle oder von ihrem Mann. Vielleicht – von beiden. Von Zukunft und Gegenwart. Wie ein Bekenntnis kommt es von ihren Lippen:

»Solange ich das Kind bei mir habe, werde ich wohl nie ganz unglücklich sein.«

»Na sehn Sie, kleine Frau ... für jeden wächst mal ein Baum in den Himmel!« Und er tätschelt ihre Wange, als wäre sie ein kleines Mädchen.

Im Vorgarten vor der Haustür steht Elise. Sie hat nur ein großes warmes Tuch umgeworfen, und der Herbstwind läßt ihr dunkelblondes Haar wild um das eingefallene, gelbliche Gesicht flattern.

»Herr Doktor ...«

Der Arzt erkennt sie nicht im ersten Augenblick. Aber dann prägt sich leichtes Staunen in seinem Gesicht aus:

»Ja was denn, Fräulein Elis' ...? Haben Sie etwa auf mich gewartet, fehlt's wo?«

Seine klugen, ruhigen Augen hinter den Brillengläsern umfangen ihr verändertes Äußere. Stammtischklatsch aus dem »Blauen Stern« kommt ihm ins Erinnern ... Hatte sie nicht ein Verhältnis mit dem Werkführer ...? Mit dem Mutzmann? ...

Eine halbe Stunde schon steht Elise in dem kalten Herbststurm, und all ihr Mut ist wie eingefroren:

»Herr Doktor ...«, hebt sie an.

»Na ja also, was gibt's? ... Wollen Sie zu mir in die Sprechstunde kommen? ...«

Sie schüttelt den Kopf. Sie fühlt, daß, was sie auch sagen könnte, nur auf Mißbilligung und Ablehnung stoßen würde. Und weil sie doch nicht so dastehen kann mit dem angefangenen Satz, fragt sie:

»Wie lange, Herr Doktor ... wie lange wird sich Frau Mutzmann noch quälen müssen? ... Oder ist sie wirklich unheilbar? ...«

Der alte Arzt sieht sie lange fest an. Er weiß genau, daß es eine Verlegenheitsfrage ist und sie ihm anderes anvertrauen wollte. Er legt ihr die Hand auf die Schulter:

»Aufgepaßt, Fräulein Elis'. In Augenblicken der Verzweiflung gehen die Gedanken absonderliche Wege ...«

Sie erschrickt. Glaubt der Doktor vielleicht, daß sie der Frau Mutzmann was antun will – –? In ihrer Bedrängnis verliert sie den Kopf. Sie murmelt:

»Ich will ... ich darf kein Kind haben ...«

»Ich will nichts gehört haben, Fräulein Elis'!«

Er legt die Finger an die Hutkrempe, wendet sich ab und läßt sie stehn.

Und sie steht, bis er um die Ecke verschwunden ist. Steht wie eine Bildsäule. Und fühlt es nicht, daß die ersten nassen Schneeflocken auf ihr im Winde flatterndes Haar niederfallen.

*

Elise ist kaum oben, als ein Botenjunge aus dem Büro herübergelaufen kommt: »Das Fräulein Elis' möcht' schnell herumkommen. Fräulein Schorneder ist am Telephon und möcht' sie sprechen.«

Elise versagen fast die Knie – Fräulein Schorneder am Telephon ... und sie soll sprechen, jetzt, jetzt, gerade in diesem Augenblick! ... Sie greift wieder nach ihrem Tuch und beachtet es nicht, daß sie es mit der durchnäßten Außenseite um die Schultern wirft.

»Ja? Fräulein Schorneder? ...« Sie haucht es so leise ins Telephon, daß Gabriele sich vergewissert: »Sind Sie's, Elise?«

»Jawohl ...«

»Also hören Sie: ich bleibe vielleicht noch acht bis vierzehn Tage in Berlin, muß meine Wintergarderobe vervollständigen. Und auch einen Arzt konsultieren ... Herz und Nieren machen mir ein bißchen zu schaffen ... nein, nein, Elise ... ist nicht schlimm, aber wozu abwarten, bis es schlimm wird. Kann sein, ich bin schon in acht Tagen zurück ... Herr Doktor? ... Nein, der fährt dieser Tage heim. Und wie steht's bei Ihnen? Alles in Ordnung, wie? ... Na ja, kein Wunder bei dem Wetter. Also halten Sie sich, Elise. Oder, wenn's schlimmer wird, legen Sie sich hin und lassen Sie den Doktor holen ... Wird nicht schlimm? ... Na um so besser. Hervorragend ist ja das Klima in Lörnach nicht. Ein paar Monate Schweizer Höhenluft wird uns beiden gut tun, was, Elise? ... Na also. Und sonst nichts Neues? ...«

Elise ist noch so verwirrt, so aufgewühlt von dem kurzen Gespräch mit dem Arzt, daß sie nur mechanisch wiederholt:

»Nein, nichts Neues« ..., und nicht einmal das Robertle erwähnt, das von Frau Doktor zu sich genommen ist.

Nichts Neues – –!

Wie gerädert steht sie auf. »Schweizer Höhenluft« ...! Wieder in die große freie Welt hinaus!! Wieder mit beflissenen Kellnern und zierlichen Hotelmädchen zu tun haben ... wieder die Segnungen des Reichtums ihrer Herrin spüren! ... Aber – wie wäre das nun möglich? ... Sie weiß auch nicht, wie sich Fräulein Schorneder zu dem Furchtbaren stellen wird, das sie ihr anvertrauen muß, wenn sie es nicht selbst merkt! ... Über so etwas ist nie gesprochen worden! Jeden Liebesklatsch hat ihre Herrin immer von sich gewiesen ... mit nicht mißzuverstehendem Widerwillen ... und hat von den Männern, die sie mit Liebeserklärungen und Anträgen verfolgten, immer nur mit Geringschätzung gesprochen! ... Gerade wie der Herr Schorneder selig geringschätzig von den Frauen sprach! Und jedem Mädchen, das sich ihm willfährig gezeigt hatte, unweigerlich die Tür wies.

Erst in ihrem Zimmer merkt Elise, wie durchfeuchtet sie von dem nassen Tuch ist. Kälteschauer durchrütteln sie: es ist vielleicht das beste, sie legt sich hin. Vorher bittet sie das Hausmädchen, ihr eine heiße Limonade zu bringen.

Elise liegt im Bett. Greift mit der Hand in ihre Nachttischschublade nach einem Taschentuch. Dabei gerät ihr ein Stofffetzen zwischen die Finger. Der rote Chiffonfetzen von Gabrielens Kleid. Der Fetzen, den sie unter der Matratze hervorgezogen. Oder war es ein ... nein, nein ... Immer wilder verwirren sich ihre Gedanken. Da klopft es leise an ihre Tür, und Toni selbst bringt ihr die Limonade.

»Nanu, Elise ... was ist denn? Und eben noch war der Doktor hier! ... Soll ich ihn antelephonieren, daß er kommt?«

Elise sieht sie mit starrem Entsetzen an:

»Nein. Nicht den Doktor ... ist ja nur eine kleine Erkältung. Ich habe das immer im Herbst ... Ein Plätzchen Aspirin, und ich schlafe mich gesund ...«

»Wo ist das Aspirin?«

»In unserer Reiseapotheke ... Aber Frau Doktor soll sich nicht bemühn ... ich werde schon selbst ...«

»Unsinn, Elise. Bleiben Sie ruhig unter der Decke.«

Toni hat das Köfferchen mit der Apotheke aus Gabrielens Schlafzimmer geholt.

»Es ist aber verschlossen, Elis'.«

»Das Schlüsselbund ist hier in meinem Nachttischschub ... es ist der kleine Schlüssel ...«

Toni öffnet. Das erste, was sie sieht, ist der rote Chiffonfetzen: blitzähnlich ersteht vor ihren Augen das Bild jenes Festes, an dem Gabrielens Name in großen leuchtenden Buchstaben über den Fabrikhof flimmerte, und Gabriele selbst in dem rot leuchtenden Kleid am offenen Fenster des Glasganges stand, Schulter an Schulter mit Kurt.

Dabei fällt ihr ein, daß noch immer ein Ende der zerrissenen goldenen Kette auf Kurts Schreibtisch liegt.

»Sie haben wohl gesehen, Elis', daß die Goldkette meiner Schwester gerissen ist. Man hat das fehlende Stück wiedergefunden.«

Elise lallt undeutlich:

»Ja. Unter der Matratze.«

Toni legt ihre kühle Hand auf die glühende Stirn des Mädchens.

»Nun wird aber Aspirin geschluckt! Und wenn's gegen Abend nicht besser ist, kommt unweigerlich der Arzt!«

Das Hausmädchen tritt ein:

»Das Robertle ruft nach der gnädigen Frau.«

»Ach um Gottes willen, mein Kleiner ruft! Bringen Sie Elis' Wasser und einen Löffel«, sagt sie dem Hausmädchen im Vorübereilen. »Ich komm' nachher noch nachsehn«, ruft sie zurück.

Das Mädchen geht hinaus Wasser holen. Elise schließt das Köfferchen auf. Die Apotheke ist so reichhaltig und vollständig, als wäre sie für weite Überseereisen ausgerüstet. Herr Schorneder hat sie von einem großen Pharmazeuten einrichten lassen, und Gabriele hat es nie versäumt, den Bestand alle Halbjahr nachprüfen und erneuern zu lassen. Mit sicherem Griff nimmt Elise die Aspirintube heraus und verbirgt dann noch zwei andere Tuben unter ihrem Kopfkissen. Dann schließt sie das Köfferchen ab und läßt es auf ihre Kommode stellen.

Als Toni gegen Abend wieder zu Elise hereinkommt, findet sie sie umgebettet und in frischer Wäsche, fieberfrei in ihren Kissen.

»Na also ... das war ja wirklich nicht schlimm. Dem Robertle geht's auch besser. Er hat tüchtig geschwitzt.«

So vergnügt ist ihr Ton, so heiter und Elisen so neu, daß sie die sonst so stille Frau Doktor mit dem resignierten Lächeln kaum wiedererkennt.

Nach Feierabend schleicht sich Mutzmann über den Hof. Er hat heute Elise den ganzen Tag nicht gesehn. Und wenn er nur einige wenige Worte mit ihr wechseln kann – es ist ihm doch wie eine Erlösung aus der Höllenqual, die ihm seine Frau bereitet. Keinen Augenblick ist er sicher vor einer hämischen Bemerkung, vor einer Flut von Beschimpfungen. Sie hämmert mit Fragen auf ihn ein, über deren Beantwortung sie in böses Lachen ausbricht:

»Ist ja nicht wahr! Lügst mich ja immer nur an! ... Meine Kusine hat euch doch beide zusammen gesehn! Ganz nahe nebeneinander habt ihr gestanden! Und geküßt habt ihr euch! ... Geküßt auf offener Landstraße! Und wo jeder dich kennt ...! Und wo jeder weiß, daß die Tage deiner Frau gezählt sind! ... Erinnerst dich denn gar nicht mehr, wie's einmal war zwischen uns? ... Siehst dir niemals das Bild über der Kommode an! ...«

Er will sie begütigen:

»Doch, doch – ich seh's mir an. Können ja beide nichts dafür, daß es so gekommen ist ...«

Sie schluchzt in ihre Kissen hinein:

»Ich nicht. Aber du! Du kannst dafür. Hast mich vergiftet mit meinem Kummer ... ich hätte vielleicht noch gesund werden können, wenn du nicht mit der da angefangen hättst! Aber wenn ihr Männer uns satt habt, dann denkt ihr nur eins: wenn doch der Tod euch von uns befreien täte! ... Oder meinst du, die Theres' wär' gestorben, wenn der Kummer nicht alle ihre Kräfte aufgezehrt hätte! Der Kummer über die Schorneder ... Mir frißt er das Herze ab ... Willste fühlen, wie es schlägt? ... Dreimal und dann nichts ... viermal und dann nichts! ... Und dann gluckert es wieder, daß ich glaube, 's Blut springt mir in den Hals 'nauf!«

Er vergräbt den Kopf in den Arm – kann ihre Stimme nicht mehr hören. Reißt die Mütze vom Nagel, läuft hinaus, unbekümmert darum, ob auf dem Hof Menschen stehn oder nicht. Wenn er nur zu Elise könnte ... Aber Elise will sich nicht mehr dazu verstehn, mit ihm auszugehn! Elise fertigt ihn oft auf der Treppe ab wie einen lästigen Bittsteller! Elise stößt ihn zurück, wenn er sie an sich ziehen will! Und heute – heute trifft er den Diener, den Joseph: »Nichts zu machen, oben, Mutzmann ... Ihre Freundin liegt krank zu Bett.«

Krank zu Bett ... Die Elis' ... das kraftstrotzende Mädel krank ... was war da geschehn?! Namenlose Angst erfaßt ihn. Sie hat doch nicht – – sie wird doch nicht – –? Und wenn ja – wie durfte sie, ohne es ihm zu sagen –? ... Wenn die Elis' zur Verbrecherin geworden war durch ihn – –! Er schiebt den Joseph beiseite, nimmt immer zwei Stufen der Treppe auf einmal. Klopft an die Wohnungstür. Läutet dann. Zwei-, dreimal.

Das Hausmädchen öffnet: »Na na, Herr Mutzmann, was ist denn los?«

Sie erschrickt ein wenig vor dem Blick seiner Augen:

»Ist etwa Ihre Frau ...« Sie verschluckt im letzten Augenblick das Wort »gestorben?«.

»Meine Frau«, stammelt er. »Ja ... wieso meine Frau? ... Ich hab' gehört, der Elis' ist ...«

Jetzt ist ihm alles egal; ob er durch seine Angst sich mit Elise bloßstellt, ob er der Klatschsucht neuen Stoff gibt ...

»Herrjeh! ...« ruft das Hausmädchen, »was sich ein Mann so anstellen kann, wenn seine Liebste mal 'n bißchen Schnupfen hat!«

Tonlos wiederholt er: »Schnupfen ... Also nichts Gefährliches?«

»Ja woher ...! Steht morgen schon wieder auf. Nur die Frau Doktor hat's anbefohlen, daß sie sich niederlegt. 's ist ja nicht zu spaßen mit einer Erkältung in dieser Jahreszeit. Eh' man sich's versieht, hat man die Grippe weg. Und die Frau Doktor ist ängstlich wegen dem Robertle, der hat auch zwei Tage gelegen und soll morgen aufstehn.«

»So ... ja ... das Robertle auch ...« Er wringt seine Mütze zwischen den Händen, als wäre sie voll Wasser: »Na, denn nichts für ungut, Fräulein ... und wenn Sie so gut sein woll'n, dann bestell'n Sie einen schönen Gruß an die Elis'. Und ich laß ihr sagen ...«

Er stockt. Was soll er ihr sagen lassen ...?

»Ja also ... Sie möchte recht vorsichtig sein und keine Dummheiten machen. Danke auch vielmal, Fräulein.«

Er muß sich aber doch am Geländer halten, als er herabgeht. Draußen ist es kalt, und der Wind peitscht ihm den nassen Schnee ins Gesicht. Er wird jetzt in den »Löwen« gehn ... ein Glas Wein trinken ... in der warmen, tabakverqualmten Stube sitzen und mit Männern über gleichgültige Dinge reden ... Er müßte wohl erst seinen Mantel holen – – aber jetzt zurück in die Stube, zu der Frau ...? Das bringt er nicht fertig! Er knöpft den Kragen seiner Joppe hoch, drückt die Mütze tiefer in die Stirn und eilt mit Schritten, die einem Laufen fast gleichkommen, dem Gastzimmer des »Löwen« zu.

* * *


 << zurück weiter >>