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Schon steht das neue Maschinenhaus. Die Sonne gleißt und funkelt über den geölten Stahlstangen. Mutzmann schreitet gewichtig durch die neuen Säle, in denen die Arbeiterinnen jetzt Kopf an Kopf am laufenden Band sitzen. Theres' sitzt am Ende und nimmt und zählt die fertig gefüllten Kartons ab. Mit einem Blick übersieht sie den Inhalt. Die Arbeiterinnen fürchten ihre scharfe Kontrolle. Sie bemerkt das Fehlen der kleinsten noisette und stellt die Schachtel beiseite, zum Nachfüllen. Sie hat ein großes Umschlagetuch über ihren Schultern. Ihre Augen blicken starr und böse.

»Sie sollen zum Herrn Doktor 'rauf, Theres' ... mit einem Doppelkarton der neuen Packung.«

»Jetzt gleich?«

»Ja ja, der Herr Doktor wartet.«

Schwerfällig erhebt sich Theres'. Rückt an ihrem Tuch. Glättet mit einem Kämmchen, das sie aus der Tasche zieht, ihr immer etwas widerspenstiges schwarzes Haar. So von der Arbeit zu ihm hinaufgehen – es war ihr immer unangenehm gewesen ... und gar jetzt! Die Hände will sie sich noch wenigstens rasch waschen, mit der kleinen Feile im Lederetui, die er ihr einmal geschenkt, die Nägel säubern. Alles an ihm ist ja so propre, so soigné ... Sie wirft einen Blick in den kleinen Spiegel, der über dem Waschbecken mit fließendem Wasser hängt. Wie sie aussieht ...! Ganz anders als das erstemal! ... Damals war etwas Stolzes in ihr, etwas Triumphierendes! Auch so unförmig war sie nicht. Ihre Blicke gleiten an ihrer Gestalt herab, bleiben an den Schuhen hängen, die verwetzt und breitgetreten sind. Auf hübsches Schuhwerk hatte sie immer gehalten, und wenn sie zu ihm ging, dann umspannte ein seidener Strumpf ihr schlankes, wohlgeformtes Bein. Jetzt ist alles so verschwollen und schmerzhaft.

Warum ließ er sie kommen – gerade sie? ... Und gerade sie mußte ihm die neue Packung bringen! ... Hart und zornig ist die Bewegung, mit der sie die von Mutzmann bezeichnete Schachtel vom Packtisch nimmt: »Gabriele« – der Name hebt sich in dicken silbernen Lettern von den blauen Feldern des Deckels ab. Zehn, zwanzig Zeichnungen sind angefertigt worden, nur von dem Namen »Gabriele«. Der junge Zeichner Schirmer, der seinen Arbeitsraum neben dem Kartonnagensaal hatte, schimpfte und fluchte, weil dem » patron« nichts recht war, und die Mädels lachten schon, wenn er ihnen in seiner Not jeden neuen Entwurf zeigte. Endlich hatte einer Gnade gefunden. Die Mädels bedauerten es fast, weil nun der hübsche Junge nicht mehr zu ihnen hereinkam. Gabriele – der Name war ihnen allen so geläufig, daß sie ihren Jux mit ihm trieben. Dumme Reime auf ihn machten, wie: Gabriele, die gute Seele! oder Gabriele, der rinnt's durch die Kehle! ... Die Packung war besonders reich an Likör-Pralinen: Kirsch, Anisette, Cognac, Iva, Fleur.

Langsam geht Theres' die Wendeltreppe hinauf zum Büro. Der mit orangefarbiger Seidenkordel zusammengebundene Karton, an dessen Ecken silberne Quasten herunterhängen, dünkt sie zentnerschwer. Sie ist fromm und muß an Christus denken, der sein eigenes Kreuz getragen – –

Nun ist sie oben – endlich. Sie klopft.

Der kleine Vorraum, in dem jetzt die Sekretärin sitzt, ist leer. Sie klopft an die zweite Tür. Ganz dumpf schallt das »Herein!« Die Tür ist neuerdings ausgepolstert. Es riecht noch alles so neu: nach Seegras, Leim, nach auflackiertem Boden, nach frischem Teppich und nach Kölnisch Wasser, das er immer benützt und von dem immer eine Flasche auf seinem Schreibtisch steht. Es ist der einzige Duft, der Theres' vertraut ist. Denn selbst die Zigaretten sind jetzt andere – so dick und schwer. Sie hüstelt leicht auf.

Er sitzt seitwärts von ihr, vor dem Fenster, dreht sich mit dem Sessel zu ihr herum:

»Na Theres' ...?«

»Ich sollte die neue Packung bringen.«

Sie müht sich, ihrer Stimme Festigkeit zu geben.

Er steht auf, nimmt ihr die Schachtel aus der Hand und stellt sie auf den kleinen Mitteltisch. Dann legt er seine zwei Zeigefinger an ihre Wangen und dreht ihren Kopf zum Fenster:

»Bist arg mitgenommen diesmal, Theres' ... Na komm, setz' dich daher ...«

Irgend etwas in seiner Stimme erinnert sie an früher. An das Liebe, beinahe Zärtliche, das sie jedesmal um das letzte Restchen Verstand brachte. Wie sollte eine Frau diesem Ton widerstehen? ... Ob er auch schon so mit der Schorneder sprach? ... Gut, daß sie sich setzen darf. Die zitternden Hände verbirgt sie unter ihrem Tuch.

»Bald kommt meine Zeit ...«, murmelt sie.

Er streicht ihr leicht über die Schulter, rückt dann einen Stuhl heran und setzt sich ihr gegenüber.

»Darüber grad' wollte ich mit dir sprechen, Theres'. Du darfst nicht mehr arbeiten! ... Brauchst keine Angst haben«, fügt er rasch hinzu, als er ihre auffahrende Bewegung sieht. »Wirst nichts an Geld verlieren.«

Sie möchte ihm ins Gesicht schreien: Ich pfeif' auf das Geld! Aber sie ist zu häßlich jetzt, um sich herauszunehmen, was sie sonst getan hätte. So sagt sie nur:

»Ich will arbeiten bis zuletzt. Bin ja nicht die erste. Das Mariele, die mit dem Heizer ging, hat ja im vorigen Jahr auch gearbeitet, bis es losging.«

Er drängt:

»Ja, aber du brauchst das doch nicht, Theres' ... Es ist doch was anderes mit dir ... die Leute klatschen!«

Sie sieht ihn plötzlich fest und zornig an:

»Klatschen tun die Leut' immer. Ça leur fait plaisir.«

Sie will hinzusetzen: wenn der patron mit dem Fräulein Schorneder über den Hof geht, klatschen sie auch! Und wenn der Zeichner zwanzigmal den Namen Gabriele malen muß, klatschen sie erst recht! ... » Je m'en foue!« murmelt sie verbissen.

Dr. Kemper springt auf, gibt seinem Stuhl mit dem Absatz einen Ruck nach hinten. Er spürt in Theresens Widerstand etwas Unerbittliches. Sie will bleiben! Will alles wissen, was geschieht oder noch ungeschehen in der Luft hängt. Sie erinnert ihn jetzt an Toni, in ihrer passiven Resistenz. Sein Mitleid ist plötzlich verflogen. Seine Ungeduld erträgt keinen Widerstand. Hart und herrisch fährt er sie an:

»Deine Zukunft kann nicht mehr hier sein – das mußt du doch einsehn! ... Hast vielleicht dem einen oder anderen weißmachen können, daß das Robertle vom Dreyer ist ... damals! ... Aber seitdem ...«

Sie lacht kurz und hämisch auf: Ja ja, seitdem war der patron unvorsichtig geworden! Ging ein und aus bei ihr, wenn's ihm gerade paßte. Oder ließ Essen und Wein hier auf diesen Mitteltisch stellen und lud sie ein wie zu einer partie fine! ... Sprach da auch mit ihr über seine Sorgen, denn viele Sorgen hatte er damals, der patron ...! Und von ihr ließ er sich berichten, wie es um die Arbeiter stand, ob sie noch willig waren und sich nicht abschrecken ließen, wenn mal die Löhne zwei Tage später gezahlt wurden ... Ja – so war es damals!

»Soll ich aus der Fabrik gejagt werden wie eine, die auf die Straße gehört? ... Oder soll ich in ein Quartier g'setzt werden wie eine Kokotte? ...«

»Ja, was willst du denn, Theres'?«

»Da bleiben, wo mein' Arbeit ist. Und die Kinder sollen über den Hof gehn dürfen, daß der Vater sie sieht und sie nicht vergißt!«

Finster wendet sich Kurt Kemper ihr zu:

»Ist das eine Drohung?«

»Ah bah ... Drohung ...«

Sie zuckt die Achseln. Will aufstehen. Aber alles an ihr ist so schlapp – sie muß sich am Tisch festhalten, und streift dabei die Pralinenschachtel, die sie hart von sich stößt.

Ganz leise zuckt es um seinen Mund, als müsse er ein Lächeln unterdrücken: es ist doch immer das ewig gleiche Lied bei den Frauen – Eifersucht, Neid. Eigentlich Weihrauch, der dem Sieger gilt! Wenn er Gabriele erst soweit hätte! ... Aber wie ein Marmorblock steht sie neben ihm. Hält mit jedem Blick, mit jedem Wort alles zurück, was ihn hoffen lassen könnte. Macht ihm das Erobern so schwer, daß es ihn fast ermüdet, daß er ihr manchmal roh die Meinung sagen möchte.

Und eben jetzt kocht der Zorn gegen Gabriele in ihm auf, daß er fast die Theres' darüber vergißt.

»Wer sich mit euch Weibern abgibt! ...«

Und setzt sich mit dem Rücken gegen Theres' auf die Kante seines Schreibtisches.

Jenseits des Hofes, im verbindenden Glasgang, stehen die Fenster offen. Er sieht Gabriele, in einem leichten Kimono aus chinesischer Seide, auf- und abgehen. Sie befestigt kleine japanische Laternen an einem gezogenen Draht. Heute soll der große Abendempfang im Kemperschen Hause stattfinden, zu dem die Spitzen der Lörnacher Gesellschaft, einige Basler Geschäftsfreunde mit ihren Damen und die noch hier weilenden auswärtigen Ingenieure und Bauleiter geladen sind.

Im Fabrikhof soll ein Feuerwerk abgebrannt werden und den Arbeitern und Arbeiterinnen aus der Kantine Landwein und Freibier verabreicht werden.

Es ist ein großer Tag für Kurt Kemper, und er hätte gern die Last vom Herzen mit der Theres'. Aber er fühlt: mit Gewalt kommt er keinen Schritt vorwärts. So sagt er versöhnlich:

»Na Theres', mach' dir nicht den Kopf warm jetzt. Wir werden dann schon sehn, wie wir's am besten regeln! – Für dich und die Kinder. Mußt doch selbst einsehn, alles hat seinen Anfang, aber auch sein Ende.«

Ende – so ist es wirklich zu Ende ...? Das Wort trifft sie wie ein Peitschenhieb. Ende – gerade in demselben Augenblick, da ein neues Menschenleben zum Licht drängt! Ende – da sein Kind zu leben anfangen will! ... Ihr ganzer Körper zieht sich schmerzvoll zusammen.

Jetzt sieht auch sie hinüber zum Glasgang. Toni steht neben der Schwester, müht sich vergeblich, eine Laterne an den zu hoch gezogenen Draht zu hängen. Gabriele nimmt ihr die Laterne aus der Hand, lachend und herablassend. Eine kurze Bewegung, und das Laternchen schaukelt hoch oben unterm Glasdach. Toni zuckt die Achseln. Sie stützt sich mit beiden Händen auf den Fensterrahmen und atmet tief die Luft ein. Sie sieht noch blasser und dürftiger aus als sonst.

»Pauvrette ...«, murmelt Theres'.

Kurt Kemper wendet sich ihr schroff zu:

»Was sagst du eben?«

Aber er wartet ihre Antwort nicht ab, und rasch, befehlshaberisch, wie er zu einer beliebigen Arbeiterin sprechen würde:

»Wir haben heute etwa zwanzig Damen zu Gast. Schicke also etwa zwei Dutzend kleinere Schachteln von der neuen Packung zu mir hinüber ins Haus!«

»Zwei Dutzend ... bon

»Und den Mädchen in der Fabrik kannst du jeder eine Musterschachtel geben.«

Sie triumphiert, da er nicht wagt, ihr die neue Packung anzubieten. So fühlt er also doch ... fühlt er!

Der Glasgang ist leer.

Kurt Kemper gleitet vom Schreibtisch, zündet sich eine Zigarette an. Blinzelt über die schweren blauen Rauchwolken zu Theres' herüber, die noch immer da steht.

»Sonst noch was? Was willst du?«

Theres' rollt ihre Arme in das Tuch ein:

»Ich wollt' nur was sagen wegen der Elis' und dem Mutzmann.«

»Wieder Fabrikklatsch? ... Bitte, verschone mich.«

Theres' beißt sich auf die Lippe: Ja, jetzt sollte sie ihn »verschonen« mit dem »Klatsch«! Jetzt interessierte ihn die »Stimmung der Leute nicht. Jetzt wurden die Arbeiter auf die Minute bezahlt«! ... Jetzt brauchte sie nicht zu beschwichtigen, zu vermitteln. Geld war ja da, wie Heu! ... Sie krampft die Hände ineinander und hebt noch einmal an:

»Kein Klatsch. Es ist eine Schande, wie sie's treiben, während die Frau am Sterben ist ... Das gibt grabuche, wenn die Mutzmann alles merkt! ... Gestern hat die Elis' einen Mantel von dem Fräulein ausgeklopft. Ist dabei käseweiß geworden und hat sich übergeben! ... Man weiß doch, wie's anfängt ... Aber auch da gibt's ein Ende ...«

Grollend, drohend fast klingt jetzt Theresens Stimme. Kurt Kemper ist unbehaglich zumute. Er kann doch dem Mutzmann nicht Moral predigen ... Dem Mutzmann, der jetzt immer ein so zweideutiges Lächeln um die Lippen hat, wenn er ihm mit Gabriele begegnet ... Wer kann wissen, ob Gabriele nicht Elise zu ihrer Vertrauten hat? ... Vielleicht lacht Gabriele ihn aus ... Vielleicht lachen sie beide über ihn, der so dumm ist und sich einreden läßt, daß Fräulein Schorneder nur für Maschinen Interesse hat und für die Hebung des Arbeiterwohlstandes ...?! Wenn die Frau nicht wäre – warum sollte Mutzmann die Elise nicht heiraten? ... Sehen ja aus, wie geschaffen füreinander.

Dichter und heftiger bläst Kurt Kemper den Rauch vor sich her, wie um den Ausdruck seines Gesichtes zu verhüllen:

»Die Frau müßte in einem Spital untergebracht werden, wo sie gut gepflegt wird. Zweiter Klasse. Wenn ihre Krankheit unheilbar ist ... da – könnte man ihr doch zureden, sich scheiden zu lassen ... Für ihr Leben würde man anständig sorgen – am Gelde soll's nicht liegen.«

Theres' geht einen Schritt vor. All ihre Selbstbeherrschung hat sie verlassen. Ihr Blick flammt. Mit der Faust schlägt sie auf den Mitteltisch:

» Votre sale argent! ... Sale argent! ... Will das Fräulein drüben der Frau auch den Mann abkaufen – für ihre Elis' ...?«

»Du vergißt dich, Theres'!«

» Oh lalà ... Vergessen hab' ich mich nur, wie Sie mich auf die Kakaosäcke geworfen haben ... damals ... abends ... als niemand mehr in der Fabrik war ... und Sie den Schalter ausdrehten! ... Weil's Ihnen zu lang' gedauert hat, bis ich mich vergaß!! ...«

Blitzartig erwacht in ihm die Vorstellung, wie er sie so als süßes, junges, zappelndes Ding in den Armen gehalten, und wie sie ihm, aus stacheliger Abwehr heraus, am Halse hing in plötzlich erwachter Leidenschaft.

Im selben Augenblick aber verschwimmt Theresens Bild, und er sieht Gabriele vor sich. Weib blieb Weib ...

Er hat das Gefühl, als verliere er nur seine Zeit mit Therese. Sie ermüdet ihn. Was gehen ihn auch schließlich all diese Klatschgeschichten an? ... Er hat nicht die Verpflichtung, den Sittenrichter zu spielen. Und wenn ein freundliches, nobles Angebot so aufgefaßt wird – na, dann hole sie alle der Teufel!

»Schon gut, schon gut, Theres' ... Geh' jetzt nur 'runter. Und vergiß nicht, gleich die Kartons herüberzuschicken.«

Ihm ist die Luft zu eng und schwer geworden – ein Armeleutegeruch ist ihm entgegengeströmt, als Theres' so heftig auf den Tisch aufschlug und ihr Tuch dabei auseinander klaffte. Er möchte ihr jetzt nicht nahekommen, und er wiederholt daher nur, etwas milder und begütigender:

»Geh' nur, Theres' ... geh' nur. Und sag' der Mutzmann, ich werde ihr dieser Tage einen Professor aus Basel schicken – vielleicht bringt der sie auf die Beine.«

Stumm wendet sich die Theres' zum Gehen. Früher wäre sie auf Kurt Kemper zugestürzt und hätte ihm die Hand geküßt: Vous êtes bon ... vous êtes bon, und hätte geglaubt, ihr Leben lassen zu können für die Güte dieses angebeteten Mannes ... Jetzt gehen ihre Gedanken einen anderen, krausen Weg – – – Und es ist gut, daß Kurt Kemper den Ausdruck ihres Gesichtes nicht sieht.

*

Das große Feuerwerk im Kemperschen Fabrikhof hat ganz Lörnach auf die Beine gebracht. Das Wetter ist günstig. Die zwei Feuerwerker aus Karlsruhe stellen mit Genugtuung fest, daß nichts versagt. Die Raketen steigen steil mit kaum wahrnehmbaren Zickzacklinien in den Nachthimmel, um dann in leuchtenden bunten Garben oder in breitem Kugelregen auseinanderzufallen. Flirrende Sonnenräder in verschiedenen Höhen übergolden das ganze Gelände, glitzernde Pfeile jagen und kreisen in der Luft, gleißende Feuerschlangen winden sich dazwischen hindurch.

Alle Fenster von Gabrielens Wohnung und die des Glasganges stehen weit offen, die japanischen kleinen Lämpchen geben nur ein mildes Licht, das die Kopf an Kopf gedrängten Zuschauer kaum erkennen läßt.

Auf dem leicht abgeschrägten Dach des niederen Verwalterhauses haben sich die Arbeiterinnen niedergelassen wie auf einer Altane und knabbern das süße Zeug aus den verteilten Pralinenschachteln. Die Männer stehen im Hof oder haben sich's auf dem Fabrikdach bequem gemacht. Der Verwalter hat sich Gäste eingeladen, die sich weit aus den geöffneten Fenstern seiner Wohnung herausbeugen. Auch Frau Mutzmann hat Besuch bekommen. Man hat ihr Bett an das offene Fenster geschoben, aber sie hält die Augen meist geschlossen, schlägt sie nur auf, wenn ein lautes »Ahhh!!« der Bewunderung und des Staunens die Luft erfüllt. Und sie hält sich die Ohren zu, wenn das Geknatter der platzenden Raketen zu anhaltend ist. Mit den Augen sucht sie, ihren Mann irgendwo zu entdecken. Er überragt ja fast die meisten, so groß und stattlich ist er. Nur gut, daß diese Person, die Elis', durch den Dienst im Hause zurückgehalten ist –! Das gibt ihr doch ein wenig Ruhe, und sie bietet ihren Verwandten von dem Wein und der Limonade an, die ihr die Frau Doktor geschickt.

Theres' ist ganz allein in ihrem Zimmer, sitzt so, daß sie von keinem gesehen werden kann. Nur das Robertle in einem weißen Kittel juchzt und strampelt vor Vergnügen auf der Fensterbank. Manchmal breitet es die Arme aus und spreizt die Finger, wie um die bunten Kugeln aufzufangen. Sein helles Jauchzen schneidet manchmal ein in die erwartungsvolle Stille, und einige der Gäste blicken belustigt auf das Kind herunter, das bisweilen in bengalischer Beleuchtung sichtbar wird.

»Ein niedliches Bengelchen«, sagt eine Dame zu Toni.

Toni nickt, ohne zu antworten. Wenn es nach ihr ginge, möchte sie am liebsten hinüberlaufen und das Kind in ihre Arme reißen und es hinauftragen. Hierher – wo es hingehört. Ein wehes Lächeln spielt um ihren Mund. Die Dame sagt:

»Sie entbehren es wohl sehr, daß Sie keine Kinder haben?«

Auch jetzt nickt Toni nur stumm.

Eine andere Dame mischt sich taktlos ein:

»An solchen Tagen wie heute entbehrt wohl auch der Mann es sehr, daß er keine Kinder hat ... Wenn man denkt: all die Arbeit, und der Erfolg, und die Ehren – für wen das alles? ... Sie glauben gar nicht, Frau Doktor, wie sehr wir Sie oft bedauern, mein Mann und ich. Und wenn ich mit meinen vier Bälgern noch soviel Schererei habe, so ist es doch noch ...«

Ein wundervoller, aufprasselnder goldener Rosenstrauß schneidet ihr die letzten Worte ab. Toni löst sich unbemerkt aus der Gruppe.

Muß denn ihr alles wehe tun an diesem Abend ...? Schon der erste Blick ihres Mannes, als sie in ihrem neuen Kleid heraustrat. Sie hatte sie so hübsch gefunden, diese ins Bläuliche schimmernde Changeant-Seide! Aber Kurt sagte: »Changeant macht alt. Kannst du dir nicht ein paar Blumen anstecken, die das Kleid aufhellen? ... Nein, nein, nicht rote Nelken. Gabriele ist in Rot ...«

Sie wollte antworten: Was tut denn das? ..., aber schon hatte er sich umgedreht, und sie gab die Nelken zurück in die Vase.

Gabrielens rotes Chiffonkleid mit der langen, brillantendurchsetzten, schweren Goldkette, leuchtet durch alle Räume. Hals und Arme sind frei. Sie haben das satte und doch zarte Inkarnat der Rubensschen Frauen. Alles an ihr strotzt von Gesundheit, Kraft und Jugendfrische.

Toni kann es nicht begreifen, wie dieses junge, blühende Geschöpf Abend für Abend, langsam und bedächtig wie ein alter Trinker, die schwere Burgunderflasche leert, von der Kurt vielleicht nur ein Glas trinkt. Sie hat es nie gewagt, der Schwester eine Bemerkung darüber zu machen. Nur einmal der Elis' gegenüber die Worte fallen lassen: »Glauben Sie nicht, daß der viele Wein meiner Schwester schadet?« Und hatte dabei erfahren, daß Herr Schorneder jeden Abend mit der Tochter zwei Flaschen schweren Weines zu trinken pflegte. Meist in bequemen Sesseln, in einem großen Raum, einen riesigen chinesischen Kupferkessel vor sich auf dem Boden als Aschenschale. Das war die Stunde, in der Herr Schorneder Gabriele in seinen Werdegang und seine Verhältnisse einweihte. Die Stunde, in der er, der so gern einen Sohn gehabt hätte, ihr Interesse weckte für die großen wirtschaftlichen Fragen und seine geschäftlichen Unternehmungen. Im Grunde wäre ihm wohl die Abneigung seiner Tochter gegen eine Heirat nicht so unlieb gewesen, meinte Elise.

Gabriele steht mit Kurt Kemper am Mittelfenster des Glasganges. Zum erstenmal scheint sie es nicht zu bemerken, daß er sich immer näher an sie herandrängt. Sein heißer Atem streicht über ihren bloßen Arm.

»Weißt du eigentlich, wie schön du heute bist, Gabriele?«

Lachend gibt sie zurück:

»Weißt du, wie schön der heutige Abend ist?« Und sie fügt hinzu, mit einer Erkenntnis, die weit über ihre Jahre hinausgeht: »Schade, daß man alles Schöne erst dann so recht genießt, wenn es vorüber ist ...!«

»Gegenwart ist alles«, murmelt er.

Ohrenbetäubendes Geknatter, Zischen und Brausen. In einem sinnverwirrenden Kranz von ausspritzenden Feuerbüscheln, umtanzt von bunten kleinen Sonnen, erstrahlt riesengroß, in hellem Silber, der Name »Gabriele«, in gleicher Zeichnung, wie sie die neue Packung trägt. Begeistert klatschen die Gäste in die Hände, ein lautes »Bravo!« pflanzt sich durch die ganze Kempersche Wohnung fort. Dr. Kempers feines Ohr fängt einen leisen, scharfen Pfiff auf, der von unten kommt. Er kennt diesen Pfiff, der ihn früher, nach Fabrikschluß, oft an sein Bürofenster lockte. Wie ein Warnungssignal war es, wenn Unlust unter den Arbeitern zu gären anfing – ein aufrüttelndes »Sieh dich vor!«, das ihn dann tagelang von einem Geschäftsfreund zum anderen hetzte, in Lörnach, in Basel und anderswo. Bis er wieder neue Betriebsmittel aufbrachte, die, wenn sie auch nicht lange reichten, immer wieder die Unruhe in der Arbeiterschaft erstickten. Und so sehr er ihn auch fürchtete, so war er doch stets dankbar für diesen Pfiff von Theresens Lippen, der ihn aufrüttelte aus seinem bis zum Leichtsinn gehenden Optimismus.

Wenn sie aber jetzt pfiff, so war es eine Unverschämtheit. Wovor will sie ihn denn warnen? ... Oder raubt ihr die Eifersucht den Verstand? Denkt sie vielleicht an Vitriol, das sie der vermeintlichen Nebenbuhlerin ins Gesicht schütten will? ... Ihr Platz ist nicht mehr hier ... darf nicht mehr hier sein!

Gewaltmittel widerstreben ihm eigentlich. Aber was bleibt ihm anderes übrig, wenn sie nicht Vernunft annehmen will? ... Er wird sie sicherstellen, sie und die Kinder. Vielleicht würde sie sich fügen – um der Kinder willen. Aber er kennt ihre oft hemmungslose Wildheit. Sieht es noch, wie sie vor kaum einem Jahr, als er fürchtete die Fabrik schließen zu müssen, behende wie eine Katze auf eine Bank gesprungen und in eine Gruppe murrender Arbeiter hineingefaucht hatte: »Ja ja, legt nur die Arbeit nieder! Da habt ihr was davon! Rechnet nur mit eurer Streikkasse ... oh lalà ... die hat auch ein Ende! Und dann steht ihr da und eure Frauen können euch eure Stiefelsohlen weich kochen! Tas d'idiots!!« Und weil sie die Worte mit einer so urwüchsig drolligen Geste begleitete, fingen sie an zu lachen.

»Na, eh bien –« Und sie lachte nun selbst mit und hatte ein bis zwei Tage gerettet. Auch wenn der Mutzmann nicht gerade in diesem Augenblick vom Büro heruntergekommen wäre, um zu verkünden, daß die Löhne bestimmt übermorgen im Laufe des Vormittags gezahlt würden.

Aber so, wie die Theres' damals die Arbeiter zu beschwichtigen verstanden, so konnte sie sie heute vielleicht aufhetzen! Und wie sie sie zur Vernunft und Einsicht gebracht, so konnte sie sie jetzt zu Unvernunft und sinnlosen Forderungen aufstacheln!

Nein – ihr Platz ist nicht mehr hier! ...

Das Feuerwerk ist erloschen, ein dumpfer letzter Kanonenschlag erschüttert die Luft. Im sparsamen, gelblichweißen Licht erglühen die elektrischen Lampen, die von hohen Masten herab den Hof beleuchten. Im Erdgeschoß des Verwalterhauses werden die Fenster zugeschlagen. Die Gäste in der Kemperschen Wohnung treten in die Tiefe der Zimmer zurück.

In Gabrielens Wohnzimmer sind ein paar Spieltische aufgestellt. Das Speisezimmer und der danebenliegende Salon sind jetzt ausgeräumt. Im Halbkreis einer Blattpflanzengruppe hat eine kleine Jazzkapelle Platz genommen. Der Tanz soll beginnen. Alle erwarten, daß der Fabrikherr Dr. Kurt Kemper den Ball mit Fräulein Schorneder eröffnet.

»Nun hilft nichts – nun mußt du mit mir tanzen, Gabriele.«

Er will den Arm um sie legen und spürt plötzlich, daß sie wieder wie ein Steinblock dasteht, in ungefügiger Abwehr.

»Du weißt doch, ich tanze nie«, sagt sie rauh.

Und da gerade Toni vorüberhuscht, weil ihr Elise von der Schwelle des Nebenraumes aus ein Zeichen macht, so legt Gabriele die Schwester mit sicherem kurzen Griff in Kempers Arm.

Er ist wütend. Aber da er fühlt, wie alle Blicke auf ihn gerichtet sind, lächelt er. Er ist ein vorzüglicher Tänzer und glänzender Führer. So merken es nur wenige, wie ungewohnt es Toni ist, mit ihrem Mann zu tanzen. Sie schließt die Augen. Wie unendlich lange hat sie ihn sich nicht so nahe gefühlt! ... Aber sie will nicht denken ... sie ist so glücklich in diesem Augenblick!

Statt ihrer ist Gabriele auf Elise zugegangen:

»Was gibt's?«

»Der Verwalter laßt durch Mutzmann fragen, ob er jetzt die Kantine nicht abschließen soll ... die Leute hätten genug, meint er ... denn sie redeten darüber, daß der Herr Doktor und Fräulein Schorneder nicht mal zu ihnen heruntergekommen wären, mit ihnen ein Glas zu leeren ...«

»So ...? Na, wenn's nur das ist – dem ist ja leicht abzuhelfen – –«

»Aber die Kette müßte Fräulein Schorneder ablegen, mein' ich.«

»Die Kette ablegen? ... Warum denn?«

»Auch die Weiber haben einen sitzen! ... Und wenn ihnen die Kette in die Augen sticht – man kann ja nie wissen ...«

»Unsinn! ...«

»Ich werde Fräulein Schorneder jedenfalls den großen Schal geben.«

Dann geht Gabriele mit ihren festen, ruhigen Schritten zurück in den Tanzsaal.

Über die tanzenden Paare hinweg sucht sie Kurt Kempers Blick, und als sie den seinigen trifft, läßt er Toni fast mitten im Saale stehen und kommt auf sie zu:

»Ja – was gibt's?«

Denn wie einen Ruf hat er ihren Blick empfunden.

Toni ist ganz betäubt ... wie kann ihr Mann sie so stehen lassen – vor allen? ... Nicht einmal zu einem Stuhl hat er sie geführt ... Hat Gabriele ihn etwa gerufen – wie sie damals den Hund, den Flums, von ihr gerufen, an dem ihr Herz hing? ... Wie sie später den jungen Musiker von ihrer Seite zu sich herübergerissen? ... Wie sie jetzt die Abende mit Kurt für sich nahm? ... Das Saxophon schrillt ihr in die Ohren, daß sie aufschreien könnte ... Wo sind die beiden jetzt? Worüber sprechen sie? ... Es geht doch nicht, daß sie immer als Dritte danebensteht und nur durch Zufall oder Laune erfährt, um was es sich handelt! ...

Vielleicht ist es der Wein, dem Toni mehr zugesprochen als sonst, vielleicht ist es der Tanz, der ihr das Blut durcheinander gewirbelt – plötzlich ist sie erwacht aus ihrer stummen und sanften Lethargie.

»Wo ist mein Mann?« fragt sie den Diener, der ihr mit einem Tablett eisgekühlter Früchte in Schalen entgegenkommt.

»Ich glaube, unten in der Kantine, gnädige Frau.«

Bleich und mit welken Bewegungen richtet Elise die Gläser mit den Erfrischungsgetränken auf der Kredenz.

»Wo ist meine Schwester?«

»Ich glaube, unten in der Kantine, gnädige Frau.«

– – In der Kantine ... ja so ... es war wohl so üblich an solchen Tagen, daß die Fabrikinhaber den Arbeitern zutranken ... Als sie nach der Hochzeit mit ihrem Mann hier eintraf, da hatte er dem kleinen Häuflein der Fabrikleute ebenfalls Freibier in der Wirtschaftsbude gestiftet und war mit ihr hinübergegangen, wie um seine junge Frau vorzustellen. Ganz glührot war sie damals vor Aufregung gewesen, als sie mit den Leuten anstieß, und hatte dabei doch so ein bißchen Herrschergefühl gehabt – zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben. Er ahnte es wohl nicht, wie lange sie ihm dankbar gewesen für dieses Gefühl, das sie wie ein köstliches Geschenk aus seiner Hand empfangen.

Sie geht weiter. Sie weiß noch nicht, wohin. Sie begreift plötzlich nicht, wieso in Gabrielens Wohnzimmer fremde Herren sitzen: an einem Spieltisch wird Skat geklopft, am anderen die Punkte des Schweizer Kreizjaß aufgeschrieben.

»Ja, was denn, Frau Doktor, tanzen Sie denn nicht?«

Die Herren trinken ihr zu: »Zum Wohle, Frau Doktor!«

Sie lächelt mühsam:

»Ja, danke ... sehr freundlich ...«

Sie weiß nicht, was sie mit den Herren reden soll, fürchtet, daß man ihr die Fassungslosigkeit ansieht.

»Ich will nicht stören ...« murmelt sie. »Haben die Herren alles? ... Zigarren? ... Wein? ...«

Sie kommt schließlich zur Besinnung ihrer Hausfrauenpflichten: darf ja auch die Gäste im Tanzsaal sich nicht selbst überlassen. Sie muß zurück ... muß! ... Aber im Glasgang, wo nur noch die beschirmte Ampel brennt, um die ein paar Nachtfalter fliegen, bricht sie fast zusammen. Vergebens starrt sie hinaus über den Hof – ob sie nicht das leuchtende Rot von Gabrielens Kleid erblickt. Aber nein, die Kantine liegt ja hinter dem Maschinenhaus ...

Da flammt im Büro ihres Mannes das Licht auf. Was tut er jetzt im Büro ...? Und wo ist Gabriele? Er kann sie doch nicht allein in der Kantine gelassen haben! ... Sie sieht dabei, wie eine kleine, in ein Tuch gehüllte Gestalt sich im Schatten des Zaunes langsam auf den Eingang des Fabrikgebäudes zu bewegt. Was hat sie dort nachts zu suchen? ...

Toni weiß, nur eine hat den Schlüssel zum Eingang: die Theres'. Lauert die etwa ihrem Manne auf? ... Oder den beiden, die sie jetzt da oben im Büro vermutet? ... Immer hat sie gehört, die Theres' ist eine rabiate Person, und mehr als einmal hat sie Blicke aufgefangen, böse, haßerfüllte Blicke, die Gabriele galten, wenn sie während der Bauzeit im Hofe an Kurts Seite schritt.

Namenlose Angst packt Toni. – – Soll sie die Theres' anrufen? ... Sie vergißt, daß sie Gäste hat, vergißt, daß die Theres' ihr selbst das bitterste Leid angetan. Sie hat nur das Gefühl: sie muß ein Unglück verhüten! Aber – wie soll sie sich bemerkbar machen, ohne Aufsehn zu erregen? ... Wenn sie die Treppe hinabrast, die aus Gabrielens Wohnung direkt in den Hof führt, so ist es doch möglich, daß die Theres' bereits im Fabrikgebäude verschwunden ist ... Eine Eingebung kommt ihr: und sie zündet ein Streichholz an, hält die Flamme unter eine der kleinen japanischen Laternen ... Dann unter die zweite ... die dritte ... Ein heller Feuerschein kippt über den Hof. Sie schreit auf, gellender, als wenn der Schrei ungewollt wäre. Und richtig – Therese wendet sich um.

Schon sind die kartenspielenden Herren Toni zu Hilfe gekommen. Dabei ist eines der Laternchen noch brennend in den Hof gefallen, gerade ganz nahe unter Theresens Fenster. Therese denkt nur an ihr Kind, an das Robertle, dessen Bettchen sie heute der Hitze wegen ans Fenster gerückt hat. Wenn noch ein Laternchen fiele und den Buben erschreckte ... Sie eilt, so rasch sie kann, in ihre Wohnung zurück ... hat die zwei dort oben im Büro vergessen. Toni ist durch die Herren vom Fenster weggedrängt worden, das Feuer gelöscht.

»Möcht' nur wissen, wie da Feuer entstehen konnte ... das Zeug hat ja gar nicht mehr gebrannt«, sagt einer. Es ist der Herr Untersuchungsrichter aus Lörnach, der aus Passion und Karrieregründen überall etwas wittert.

»Nun aber einen tüchtigen Schluck Wein auf den Schreck, Frau Doktor!« meint der Amtsgerichtsrat und hält ihr ein gefülltes Glas vor die Lippen.

Toni nimmt einen Schluck, lacht, wie um Entschuldigung bittend: »Jetzt sind die Herren aber in ihrer Partie gestört worden ... durch die Rettungsarbeit ... »

»Aber nein ...«

»Wieso denn –«

»Die verlorene Zeit holen wir schon nach ...«

Toni steht wieder auf der Schwelle des Tanzsaales.

Schirmer, der junge Zeichner, sieht famos aus in seinem nagelneuen, eigens für diesen Abend gebauten Smoking. In Abwesenheit des Hausherrn hat er die Leitung des Balles übernommen. Er tanzt unermüdlich und wacht darüber, daß die Stimmung auf dem Höhepunkt bleibt.

Sowie er Toni erblickt, bittet er sie um einen Tango, der gerade anhebt. Sie entschuldigt sich mit Hausfrauenpflichten, weiß aber in ihrer Benommenheit nicht, wohin sie sich wenden soll. Es werden Sandwichs gereicht und Limonaden. Im Rauchzimmer haben einige Herren eine Bierecke gebildet. Wenn ihr doch wenigstens Elise in den Weg käme ... wenn sie unter irgendeinem Vorwand Elise hinüberschicken könnte ins Büro – über die Haupttreppe natürlich, hinter dem Maschinenhaus ... Doch gleich verwirft sie den Gedanken wieder ... Das Jaulende, Zerhackende des Jazzrhythmus' dringt schmerzhaft auf sie ein. Wenn sie jetzt nur niemand fragte, wo ihr Mann ist ... wo das Fräulein Schorneder ...! Sie wüßte ja nicht einmal, was sie antworten sollte! ... Kein Mensch würde es auch glauben, daß er sich jetzt solange bei den Arbeitern aufhält ... Und gar mit einer Dame ...! Toni weiß, daß sie nicht geistesgegenwärtig ist. Sie kennt aber auch die Klatschsucht der kleinen Stadt. Sie fürchtet nichts so sehr wie Skandal, das Bürgerlich-Honorige ist ihr Lebensbedürfnis. Sie weiß, daß sie zu schwach ist, um einem entehrenden Gerücht dreist entgegenzutreten, zu ungeschickt, um kleinen Sticheleien die Spitze abzubrechen.

Sie tastet sich durch den halbdunklen breiten Hintergang der Wohnung, auf den die Schlaf- und Toilettenzimmer münden. Einen Augenblick nur will sie sich sammeln, einen Augenblick nur die völlig erschöpften Glieder ausruhen.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer ist nur angelehnt. Es fällt ihr nicht auf, weil ihr in diesem Augenblick nichts auffallen würde. Sie läßt sich in dem großen Ohrensessel nieder, eines der Hochzeitsgeschenke des Herrn Schorneder, der so eingenommen war für alles Bequeme und den » english style«. Manche kummervolle Stunde hat sie in diesem Sessel zugebracht. Er hatte ein kleineres Format als Gabrielens Sessel, und Toni war oft, wenn sie in ihm saß, als schlössen sich liebevoll warme Arme um sie. Die Tür zum angrenzenden großen Ankleideraum, der ihr und ihres Mannes Schlafzimmer trennt, steht halb offen. Der Spiegel des Waschtisches, über dem eine Lampe brennt, wirft ihr das Bild ihres Mannes zurück. Sie will aufspringen, ihn beim Namen anrufen – aber plötzlich ist ihr der Hals wie zugeschnürt. Kurt Kemper hat das Oberhemd abgeworfen ... Jetzt läßt er den feinen Regen der Waschtischdusche über sich rieseln. Toni hält den Atem an und beugt sich vor. Das Wasser, das von ihm abläuft, ist rötlich gefärbt. Vom Ohr bis zum Halsansatz läuft eine breite, aufgeschlagene Strieme. Er nimmt seinen Rasierstein von der Glasplatte und reibt, die Lippen leicht verzerrt, wiederholt über die wunde Stelle. Dann fährt er sich mit einem Pudertupfer über Gesicht und Hals. Die Strieme muß schmerzhaft sein, denn während er ein frisches Oberhemd überzieht, faßt er sich ein paarmal an die wunde Stelle. Sein Mund aber verzieht sich jetzt zu einem halb belustigten, halb triumphierenden Lächeln, und er murmelt, so laut, daß Toni es deutlich hört: »Na warte, du Bestie ...« Dann zündet er sich eine Zigarette an und vervollständigt seine Abendtoilette. Ein Spritzer Kölnischwasser aus dem Zerstäuber, ein letzter Aufschlag der Bürste, ein Ruck an der weißen Krawatte. Dann löscht er das Licht und geht durch Tonis Schlafzimmer zur Tür hinaus.

Nichts hat ihm gesagt, daß sechs Schritte von ihm entfernt seine Frau zusammengekauert in dem Sessel hockt und die ganze Zeit über kein Auge von ihm gewendet. Nichts hat er gefühlt von der Tonis Seele erfüllenden ungeheuren Spannung, die sich vom Staunen zum Schreck, von steigender Angst zu namenloser, erneuter Qual verdichtet hat.

Seine Schritte verhallen bereits im Korridor, als Toni aufspringt. Sie reißt die Tür auf.

»Kurt!« ruft sie. »Kurt!«

Aber er hört sie nicht mehr. So weit sind seine Gedanken von der kleinen Frau in changeantfarbener Seide, daß er nicht einmal ihr Fehlen im Tanzsaal bemerkt.

Bei seinem Erscheinen wird er mit Händeklatschen von den Damen empfangen:

»Na, da sind Sie ja endlich!«

Die kokette junge Frau eines Rechtsanwalts sagt:

»Wären Sie jetzt nicht gekommen, so hätte ich mich statt in Sie in Herrn Schirmer verliebt ...«

Er antwortete lachend:

»Er ist zu anspruchslos für Sie«, und legte seinen Arm um ihre fast noch kindliche Gestalt. »Jetzt heißt es die versäumte Zeit nachholen, kleine Frau Doktor ...« – und während der Dauer eines Fox glaubt sie allein für ihn auf der Welt zu sein.

Es ist das Geheimnis seiner Wirkung auf die Frauen: eine jede meint, die einzige zu sein, die Auserwählte unter vielen – ist überzeugt, daß nur sie allein die Macht hat, ihn zur größten Verwegenheit aufzustacheln oder seine »flammende« Leidenschaft im Zaum zu halten.

Sicherlich ist er anders mit jeder Frau und stets Herr seiner selbst.

Seine Laune am heutigen Abend ist übersprudelnd. Er ist unermüdlich als Tänzer, unnachahmlich als Gastgeber. Keiner der Damen kommt der Gedanke an seine Frau. Und nur eine fragt plötzlich:

»Warum sieht man denn Fräulein Schorneder nicht?«

*

Gabriele Schorneder sitzt in ihrem Schlafzimmer – sitzt, wie sie nie gesessen hat. Auf der Kante einer Truhe. Außer Elise hat niemand sie kommen sehen. Sie hatte ihren langen seidenen Schal über den Kopf gezogen, und als Elise ihn ihr abnehmen wollte, sagte sie kurz und hart: »Lassen Sie.«

Und nun sitzt sie da – eine Stunde oder zwei ... Sie weiß es nicht. Sie hat sich eingeschlossen. Kein Laut aus den Gesellschaftszimmern dringt zu ihr herüber. Der Schal ist ihr vom Kopf geglitten. Die natürlichen Locken ihres blonden Haares liegen feucht und wild um ihr Gesicht, aus dem jede Farbe gewichen ist. Sie sitzt da, reglos, wie versteinert. Merkt es nicht, daß das Tuch auch von ihrem Nacken und ihren Armen heruntergleitet. Ihre eine Schulter leuchtet weiß aus dem durch das zerrissene Achselband vergrößerten Ausschnitt. Ihre Hand, zur Faust geballt, umschließt krampfhaft die zwei Enden der gerissenen schweren Goldkette. Sie starrt vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Kein Gedanke ist in ihrem Hirn, kein klares bildhaftes Erinnern. Nur das Bewußtsein eines Geschehens, das über sie hereingebrochen und sie unter sich begraben mit der Naturgewalt einer Lawine.

Zweimal wird von außen an ihre Tür geklopft. Es ist nicht feiges Sich-verbergen-wollen, wenn sie nicht antwortet. Sie würde sich nicht rühren, auch wenn man die Tür mit Kolben einschlüge. Als wäre alles Leben aus ihr entflohen. Wie könnte sie eine Bewegung machen, da sie doch tot ist? ... Tot – die Gabriele Schorneder. Gemordet von der Lust eines Augenblicks, die sich einer zunutze gemacht, dem sie als Kind ihre Lippen geboten! ... Um derentwillen sie »schamlos« genannt und jetzt – schamlos geworden.

Fester noch krampft sich ihre Hand um die Kette – die Kette, mit der sie sich gewehrt und mit der sie ihn gezüchtigt.

Noch einmal ihn züchtigen dürfen – kalten Blutes! Bis daß Schnitte sein Gesicht entstellen und Narben ihn zeichnen, auf immer!

– – – Erstes Morgenlicht rötet den Himmel. Die Autos fahren aus der Garage und mischen ihre Hupensignale zu einem mißtönigen Konzert.

Dabei wird in Gabriele das Erinnern wach an einzelne Worte: »... brauchst ja nicht mehr hereinkommen ... – ... wir sagen, du hast dir den Fuß verstaucht ... – ... bleibst einen Tag oder zwei in deinem Zimmer ... ist ja alles ganz einfach ...«

Ganz einfach, ja ...

Ihm war das Lügen wohl gewohnt – darum war es einfach. Sie hat nie gelogen bisher. Die Lüge mag wohl ein zweites Leben aufbauen, neben dem, das man wirklich lebt. Ein Leben, in das man sich verkriecht – in dem man sich versteckt, sich klein macht und duckt – –

Gabriele Schorneder sich verkriechen – sich ducken ...? Nein – Gabriele Schorneder ist tot.

Plötzlich hört sie ihren Namen, und sie erkennt Elisens Stimme.

Da findet sie die erste Lüge.

»Warum wecken Sie mich? ... Ich war froh, daß ich endlich einschlafen konnte. Besorgen Sie mir Arnika für morgen.«

»Jawohl. Herr Doktor ließ gerade fragen, wie es Fräulein Schorneder mit dem Fuß ginge.«

Gabriele findet allmählich den alten, festen Ton wieder:

»Man soll doch kein Aufhebens machen von so einem bißchen verknaxten Fuß.«

Sie lauscht. Es kommt keine Antwort. Sie hört nur Elisens ungewohnt schweren, schleppenden Schritt sich entfernen. Sie ist müde, denkt Gabriele und stutzt doch gleich darauf selbst über das Wort: müde ... die Elise? ... Die Elise, die drei Tage packen, achtundvierzig Stunden reisen und wieder drei Tage auspacken konnte, ohne je eine Spur von Ermüdung zu zeigen – die Elise müde, wegen einer kleinen Gesellschaft ...? Gabriele vermag noch nicht, folgerichtig weiterzudenken. Ein Gefühl ihr sonst fremder Erschöpfung überkommt sie ... Liegen – im Dunkel liegen, die Decke über dem Kopf, nichts von sich selbst sehen, nicht die kleinste Fingerspitze ...

Auf dem Frisiertisch liegt eine große Schere. Gabriele ergreift sie und schneidet ihr rotes Chiffonkleid von oben nach unten mitten durch. Dabei gleitet die durchgerissene Kette von ihren Schultern. Sie hebt die Kette auf und ballt das Kleid zu einem Knäuel zusammen. Aber nun – wohin damit? ... In den Papierkorb? ... In die Truhe mit der schmutzigen Wäsche? ... Wer immer es findet, würde sich wundern – fragen – nicht glauben ... ihr, Gabriele Schorneder, nicht glauben! ... Wenn ein Ofen da wäre, ein Kamin ... sie würde es verbrennen. Lichterloh würde es aufprasseln, das dünne Gewebe ... Wenn ein Brunnen wäre im Hofe, sie würde es hineinversenken, mit einem Stein beschweren ... Wie gepeitscht von Angst läuft sie aus ihrem Schlafzimmer zum anliegenden Ankleideraum, späht in alle Winkel, durchsucht sinnlos alle Schübe ... nirgends findet sie eine Ecke, die vor Elisens Blicken sicher wäre. Denn – und sie selbst hatte es ja immer verlangt – peinlichste Ordnung muß herrschen und jedes Ding an seinem Platz sein. Warum hatte sie nur das Kleid zerschnitten ...? Hundert Erklärungen konnte es geben, wenn es verdrückt oder aufgerissen war – – aber zerschnitten?! ...

Müde vom Denken, unfähig, sich noch weiter auf den Füßen zu halten, stopft sie das Kleid unter die zweite Matratze ihres Bettes. Dann reißt sie sich vom Leibe, was sie noch an sich hat, und schlüpft in ihren blauseidenen Nachtkittel. Die goldene Kette glitzert, unbeachtet von ihr, auf dem Tisch.

* * *


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