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Niemand beachtete den Amerikaner Pary Gill, der am Morgen des nächsten Tages, mit einigem Handgepäck vom East-Bahnhof kommend, im Hotel Bristol abstieg und sich im Fremdenbuch als Börsenmakler bezeichnete. Er bezog zwei vornehm möblierte Zimmer im ersten Stock, mit Aussicht auf die wenig belebte Straße. Und erst als die Tür hinter dem diensteifrigen Boy ins Schloß gefallen war, ließ der Amerikaner sich lässig in einen Sessel fallen und atmete erleichtert auf.
»So, Fred Ellermann, das Spiel beginnt!« Er lächelte vor sich hin. Die letzten Beziehungen zwischen Fred Ellermann und Pary Gill waren abgebrochen. Fred Ellermann verschwand in Credons Keller. Der Börsenmakler Pary Gill reiste aus Chicago zu.
Eine innere Unruhe durchfieberte Ellermann trotz seiner Sicherheit. Er wußte, daß er sich einige Tage ausruhen und erholen mußte. Seine Gedanken jedoch irrten unstet zwischen allen entworfenen Plänen und beschäftigten sich immer wieder mit jener Straßenecke, an der Henderson ächzend vor ihm zusammenbrach. Dieser Ecke sollte sein nächster Weg gelten und den Bewohnern des Erdgeschosses seine Aufmerksamkeit.
Aber Ruhe! Und Geduld! Ellermann wiederholte es sich eindringlich oft. Nur nichts überstürzen. Lieber zwei, drei Tage verstreichen lassen, bis die erste Erregung sich legte. Er hatte ja Zeit, nichts drängte ihn. Nur die Nerven in der Gewalt behalten, nur jetzt nicht versagen. Sein Vorhaben erforderte Entschlußkraft und beherrschte Ruhe.
Ellermann wendete sich an den Tisch und zog seine Brieftasche hervor. Nachdenklich ließ er die Pfundnoten durch seine Finger gleiten. 1800 Pfund Sterling. Und vor sechs Tagen hatte er nicht einen Cent in der Tasche. Ellermann lächelte, und zugleich wunderte er sich, daß seine Hand so ruhig blieb, seine Finger nicht zitterten.
Vor sechs Tagen! Obdachlosenasyl! Fünf Minuten über zehn! Regen! Dann jene Ecke! Der Schuß!
Ellermann kam von diesen Gedanken nicht los. Nichts vermochte ihn abzulenken. Er schob die Banknoten hastig wieder in die Brieftasche und klingelte dem Boy.
»Zeitungen bitte, von gestern abend und heute früh!«
Dann versenkte er sich in das Studium der ausführlichen Berichte und Erörterungen über den seltsamen Fall Ellermann. Nützliche Einzelheiten gelangten zu seiner Kenntnis. Er lernte die Person des Ermordeten kennen und zugleich auch die beiden in Frage kommenden Parterrebewohner jener Ecke. Mit raschen Gedanken erfaßte er kleine Momente, mit denen die Polizei nichts beginnen konnte.
Bob Henderson, der Ermordete, war ein skrupelloser Finanzier. Man schrieb von dunklen Geschäften, ohne Näheres darüber bringen zu können, vertröstete den Leser aber auf die Sichtung der Korrespondenz in Hendersons Villa. Ein kleiner Anwalt, James Charter, wurde ebenfalls erwähnt, und Ellermann stutzte bei diesem Namen.
Deutlich hörte er in Gedanken wieder die Stimme des Ermordeten.
»Charter wird dich ...!« stieß Henderson hervor, ehe ihn der tödliche Schuß traf.
Ellermann überlegte. Der nächstliegendste Gedanke war die Möglichkeit irgendeiner geschäftlichen Auseinandersetzung. Und hier fand sich ein Faden. Henderson sprach vor seiner Ermordung von Charter, demzufolge mußte auch der Mörder diesen Anwalt kennen und von Charter aus mußte es eine Verbindung zum unbekannten Mörder geben.
Dieser Vermutung galt es zu folgen. Ellermann entschloß sich nun rasch. Erst ein Besuch der Parterrebewohner. Er schied den halb erblindeten Rentier schon jetzt aus und wollte seine Aufmerksamkeit dem anderen, dem Kaufmann Harms widmen. Von dort dann zu jenem Anwalt oder in die Villa des Ermordeten. Irgendwo mußte sich eine Uebereinstimmung, ein Faden, ein Zusammenhang finden.
Und ohne noch zu überlegen, ohne an die eigentlich notwendige Ruhe zu denken, machte Ellermann sich kurzentschlossen auf den Weg. Noch wußte er nicht, wie er bei jenem Kaufmann mit den Nachforschungen beginnen sollte. Mit fieberhaft arbeitenden Gedanken durchschlenderte er die Straßen der City, ohne auf seine Umgebung zu achten. Und ehe er noch sein Ziel, die Ecke Groom- und Hart-Street, erreicht hatte, glaubte er schon eine Möglichkeit gefunden zu haben.
Mit sicherem Auftreten dreist bluffen! Mehrmals während der letzten Tage hatte er den Beweis erhalten, wie leicht man damit oft zum Ziel kam.
Jetzt erreichte er jene Ecke. Unwillkürlich war er denselben Weg gegangen, wie damals in der Mordnacht. Er stockte, als er gegenüber zwei Zivilisten bemerkte. Sekundenlang nur! Dann hatte er auch diese letzte Hemmung überwunden und schritt ruhig an den beiden Kriminalbeamten vorüber. Morton spekuliert, dachte er dabei. Morton wartet auf die alte Regel, daß es den Mörder stets wieder an den Schauplatz seiner Tat zieht. Morton aber sollte sich verrechnen.
Die Beamten streiften ihn mit gleichgültigen Blicken, während er vorüberging. Hinter der nächsten Ecke, den Blicken der Beamten nun entzogen, blieb er stehen. Die beiden mußten fort, ehe er den verdächtigen Harms besuchte. Ellermann überlegte kurz und wurde plötzlich vergnügt. Rasch suchte er die nächste Telephonzelle auf, ließ sich mit Scotland-Yard verbinden und versuchte, den Kommissar Morton zu sprechen.
»Hallo, Kommissar Morton selbst? Ja? Hier ein Bewohner des Hauses Groom-Street 11 – Ellermann muß sich in diesem Haus befinden. Nein, der Steckbrief stimmt nicht ganz – er trägt andere Kleidung – Wie? Ja, Groom-Street 11 – ich warte vor der Tür!«
Ellermann hängte an und kehrte zu jener Ecke zurück. Erst mußte er sich überzeugen, ob seine Berechnung stimmte. Er hatte ein Haus genannt, das sich in unmittelbarer Nähe des Tatortes befand. Er rechnete damit, daß jene beiden Beamten, die ihm so hinderlich waren, durch Morton telephonisch benachrichtigt würden, da sie sich in unmittelbarer Nähe befanden und früher dort erscheinen, vielleicht sogar eingreifen konnten, als die aus Scotland-Yard herbeieilenden Beamten.
Vorsichtig blickte Ellermann um die Ecke. Nur ein Beamter stand jetzt dort und wartete anscheinend auf seinen Kollegen. Kaum eine Minute verging, dann kam der andere in sichtlicher Hast aus einem Lokal hervor und rief seinem Kollegen etwas zu. Beide verschwanden raschen Schrittes um die Ecke.
Der Weg war frei. In fünfzehn Minuten konnte Morton erscheinen. Fünf Minuten würde er gebrauchen, ehe er den Streich durchschaute. Dann blieben Ellermann genau zwanzig Minuten, um mit jenem Kaufmann Harms zu sprechen.
Rasch betrat Ellermann das Haus und klingelte heftig an der rechten Tür des Parterres unter einem kleinen, weißen Schild: »O. Harms, Kaufmann.«
Ellermann wartete ungeduldig. Bald näherten sich innen Schritte, es wurde geschlossen, die Tür nur einen schmalen Spalt geöffnet. Ellermann sah ein bleiches Gesicht, aus dem zwei unruhige Augen fragend zu ihm aufblickten. Sofort nahm er eine gebeugte Haltung ein, den Eindruck fiebernd besorgter Hast zu erwecken.
»Um Gottes willen – rasch – Henderson – man weiß alles!« stieß Ellermann hervor. »Ich komme – Charter läßt bestellen –!« Er brach ab und warf einen anscheinend besorgten Blick zur Haustür. »Kommissar Morton ist bereits unterwegs!«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er etwas wie Erschrecken im bleichen Gesicht des jungen Mannes hinter der Tür. Sofort aber hatte Harms sich wieder in der Gewalt und schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nicht ganz – sicherlich haben Sie sich im Namen geirrt!« Er wollte die Tür wieder schließen.
Ellermann setzte rasch den Fuß in den Spalt. Fünf Minuten verloren, jagte es ihm durch den Kopf. Mechanisch hastig zog er den Browning, richtete die Mündung gegen Harms.
»Aufmachen – sofort!« Ellermann hatte genug gesehen. Dieses flüchtige Erschrecken war für ihn der erste Anhaltspunkt. Harms mußte einen Grund haben zu erschrecken, und diesen wollte er kennenlernen.
»Gehen Sie – ich rufe die Polizei!« drohte Harms hinter der Tür.
»Sie werden sich hüten!« Ellermann lachte spöttisch. »Oeffnen Sie – in Ihrem eigenen Interesse!«
Und irgendetwas mußte Harms zum Oeffnen der Tür bewegen. Zweifelhaft, ob die drohende Mündung des Brownings oder die Einsicht, daß es vielleicht doch besser war, rechtzeitig einzulenken. Er ließ Ellermann hinein und schloß die Tür. Sekundenlang standen die beiden Männer sich schweigend gegenüber. Beide lauernd.
»Bitte!« Harms öffnete eine Zimmertür und ließ Ellermann an sich vorüber.
Und Ellermanns erster Blick galt dem Fenster. Einige Schritte, und er blickte forschend durch die Scheiben hinaus. Jetzt wurde es ihm zur Gewißheit, daß es dieses Fenster gewesen sein mußte. Deutlich sah er die Ereignisse jener Nacht. Dort lag Henderson. Etwas weiter nach rechts befand sich ein Feuermelder. Und links der Hauseingang, vor dem auch die Taxe hielt.
Diese Gewißheit machte Ellermann sicher und überlegen. Er blieb am Fenster stehen und wendete sich zu Harms, der sichtlich beunruhigt am Tisch wartete.
»Von diesem Fenster aus wurde Henderson in jener Nacht erschossen!« Ellermanns Stimme klang bestimmt. Er dachte daran, daß Harms nun sah, in welcher Maske er sich bewegte. Denn Harms mußte erraten, wer vor ihm stand. Zugleich aber fühlte er sich beruhigt, vollkommen sicher, daß Harms schweigen mußte.
Harms zuckte jetzt bedauernd die Achseln.
»Ich sagte schon – Sie irren sich!«
»Warum erschraken Sie dann, als ich an der Tür erschien?« fiel Ellermann heftig ein. »Warum öffneten Sie und machten mir Platz?« Er lachte spöttisch. »Warum schrieen Sie nicht, konnten Sie mich doch ebenso gut für einen Irrsinnigen halten?«
Harms zögerte sekundenlang. Sein Blick fiel auf den Browning in Ellermanns Hand.
»Sie zwangen mich mit der Waffe!«
»Ausrede!« Hastig trat Ellermann einige Schritte vor an den Tisch. Dicht stand er jetzt vor Harms. Unwillkürlich umspannten seine Finger den Browning fester. Seine Stimme war von mühsam beherrschter Erregung durchbebt. »Von diesem Fenster aus, Mister Harms – daran können keine Zweifel mehr bestehen. Und Sie haben Henderson –«
»Nein!« Harms wuchs jäh auf in empörter Abwehr. Sogleich aber sank er wieder zusammen und schien nach einem Ausweg zu suchen. Er stellte eine unvermittelte Frage, als wollte er den Besucher ablenken. Eine Frage, die vollkommen überflüssig erschien. »Wer sind Sie überhaupt? Sie dringen hier einfach ein!«
Ellermann unterbrach ihn mit einer ungehaltenen Geste. Sekundenlang horchte er zum Fenster. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Bald mußten die Beamten kommen. Aber Harms vor ihm schien hartnäckig. Ellermann mußte seine Methode ändern. Er legte seine Stimme um, zu einem bitter klagenden Vorwurf.
»Sie wissen, daß Ellermann unschuldig ist, Harms – und es wäre Ihre Menschenpflicht, einen Unschuldigen vor der sicheren Verurteilung zu retten!« Ellermanns Blick ruhte forschend im Gesicht seines Gegenübers. Er hatte das Empfinden, als würde der Gegner nun unsicher. »Was hatten Sie mit Henderson, Mister Harms?«
»Nichts!« stieß Harms hervor. »Sie stellen Behauptungen auf, die –«
»– die innerhalb kurzer Zeit durch mich bewiesen werden. Sie hatten mit Henderson irgendwelche Differenzen. Er kam in jener Nacht zu Ihnen, und da die Haustür schon verschlossen war, klopfte er gegen die Fensterscheibe. Er drohte – und Sie – sicherlich fanden Sie keinen anderen Ausweg, als –!«
»Und darauf sollte die Polizei nicht gekommen sein?« spottete Harms plötzlich.
»Henderson machte dunkle Geschäfte. Wenn Sie an diesen teilnahmen, waren seine Beziehungen zu Ihnen naturgemäß verborgene!« Ellermann warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Minuten noch. Er erhob seine Stimme wieder zum Vorwurf. »Sie wollen also dulden, daß ein Unschuldiger mit diesem entsetzlichen Verdacht belastet wird?«
Ellermann hatte sein Gesicht dem des Gegenübers genähert. Die Blicke der beiden Männer ruhten ineinander. Plötzlich aber senkte Harms den Kopf und wich Ellermanns Blick aus. In seinem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck quälender Zweifel.
»Wollen Sie es wirklich zulassen, Harms?« drängte Ellermann. »Wissen Sie, was aus diesem Menschen werden kann? Zu welchen Taten er unter Umständen ge-
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Blick und sah an Ellermann vorbei ins Leere. Er wich der Frage aus, mied eine direkte Antwort. Hilflos zuckte er die Achseln und stieß die Worte gepreßt hervor. »Aber es steht doch nicht in meiner Macht – glauben Sie mir doch – Ich bin nicht in der Lage, den Verdacht gegen Ellermann zu entkräften. Ich kann es nicht!«
Ellermann schwieg. Zwei Minuten waren verstrichen. Er fühlte deutlich, wie Harms schwankend und unsicher wurde, wie er irgendetwas krampfhaft in sich verschloß. In zwei, drei Minuten vielleicht konnte er Harms zum Sprechen bringen. Vielleicht!
Die Versuchung war stark. Aber dieses »Vielleicht« wog für Ellermann zu schwer. Zwei Minuten – in diesen konnte sich alles zu seinem Gunsten aber auch zu seinem Ungunsten entscheiden. Vielleicht gestand Harms. Vielleicht aber erschien Morton noch vordem.
Ellermann wollte seine Freiheit nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Umsichtig und beherrscht mußte er vorgehen. Einmal noch forschte er mit prüfendem Blick im Gesicht des Verdächtigen.
Harms bemerkte es und zuckte wie vordem hilflos die Achseln.
»Sprechen Sie!« drängte Ellermann.
»Ich weiß nichts, glauben Sie mir –!«
Ellermann wartete nicht länger. Die letzten zwei Minuten waren vergangen. Rasch wendete er sich zur Tür. Sein Blick fiel zufällig auf einen kleinen Tisch neben der Tür, und als er auf diesem einen Zettel und einen Bleistift liegen sah, regte sich sein Interesse.
Mit einer raschen Handbewegung hatte er den Zettel in seinen Besitz gebracht. Der Inhalt der darauf geschriebenen Zeilen war belanglos. Am abgebrochenen Satz und danebenliegendem Bleistift aber ließ sich erkennen, daß Harms diese Zeilen geschrieben haben mußte. Und ihm kam es darauf an, eine Schriftprobe des Verdächtigen in Händen zu haben.
Ohne sich um die leise protestierenden Worte des verdächtigen Harms zu bekümmern, schritt er rasch ohne Gruß hinaus und verließ die Wohnung.
Harms hörte seine Schritte draußen im Korridor. Jetzt klappte die Haustür. Ellermanns Kopf glitt draußen am Fenster vorüber. Harms machte eine Bewegung zum Fenster, hob hastig die Hand. Mutlos jedoch ließ er den Arm wieder sinken und setzte sich auf einen Stuhl. Einige Minuten starrte er regungslos vor sich nieder.
Als heftig geklingelt wurde, öffnete er und stand dem Kommissar Morton gegenüber.
»Ist jemand bei Ihnen gewesen, Mister Harms?«
Harms zögerte nicht eine Sekunde. Er schüttelte fast heftig den Kopf.
»Nein, bei mir ist niemand gewesen.« Und als Morton wütend die Faust ballte, fügte er hinzu: »Ist etwas geschehen, Herr Kommissar?«
»Geschehen?« Morton schüttelte den Kopf und machte eine mißmutige Handbewegung. »Nein, es ist eben nichts geschehen – das wundert mich. Ich glaubte, Ellermann wäre bei Ihnen gewesen!«
Er entschuldigte sich flüchtig und verließ rasch das Haus.
* * *