Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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6

Am ersten Morgen weckte ihn die Stille. Er war gewöhnt, im Morgengrauen den Schlaf langsam, genießerisch abzuschütteln, den letzten Traum mit den ersten Geräuschen und Gedanken des neuen Tages zu verbinden. Noch hängt ein bunter Traumfaden an den im Erwachen hochgezogenen Augenbrauen, und schon beginnt das Ohr die unruhigen Schritte und Stimmen im Vorzimmer zu deuten. Eine Zahl wird geflüstert, dieses Flüstern im Vorzimmer bedeutet: Cantiere navale. Der Kurs muß noch höhergetrieben werden, noch drei, vier Tage, dann Schluß damit, verkaufen, oder soll man schon morgen verkaufen? Der phlegmatische Baß, der jetzt mit dem Diener unterhandelt, bedeutet: Der Prinz Liechtenstein ist mißtrauisch, der Sekretär des Prinzen hat den Auftrag, sofortige Entscheidung zu erzwingen. Er soll warten. Was für ein närrischer Traum das doch war, dieser Zugzusammenstoß vor dem Erwachen, unübersehbare Aktienpakete rollten die Böschung hinab, auf jedem stand mit Kinderschrift kalligraphiert: Cantiere navale. Cantiere navale wird fallen, selbstverständlich muß Cantiere navale fallen, aber den Zeitpunkt bestimmen wir, wir; hoffentlich. Das kleine Haus, das im Traum lächerlich mit rosa Fensterscheiben geschmückt war, hatte ein gewisse Ähnlichkeit mit dem Haus des Bürgermeisters von Dugosela. Verrückte Idee gewesen, einmal Bürgermeister von Dugosela werden zu wollen. In ganz Dugosela und Umgebung gibt es keinen Menschen, der jemals 71 begriffen hätte, was mit Adam Dupic los ist. Dummes Bauernpack, nicht wert, angespuckt zu werden! Wie, der phlegmatische Baß regt sich auf, will nicht länger warten? Wie spät ist es? Wer stürmt jetzt das Telephon? Man wird aufstehn müssen. Programm machen. Neun bis zehn die Leute, die im Vorzimmer warten, zehn bis elf Konferenz in Sievering wegen des Kaufs der Dampfmühle in Ungarn, nachmittag mit der Elektrischen nach Baden ins kaiserliche Hauptquartier. Frühstück! Hört das Gesindel nicht? Den Kaffee und den Sekretär des Prinzen Liechtenstein, die andern sollen warten!

So und ähnlich war Dupic in Wien Morgen für Morgen erwacht. Heute hatte er, noch im Schlaf, die Stille eines unbewohnten Hauses auf sich lasten gefühlt. Die Stille schleuderte ihn aus dem Schlaf, aus dem Bett. Ein Sprung zum Fenster, ein Blick auf den Marktplatz: Dupic stand mitten in dem neuen Leben, das er noch nicht begonnen hatte. Er dachte: alles, wie ich es haben wollte. Vor einem Bäckerladen die endlose Reihe Wartender. Keine Männer. Hungrige, unterernährte Frauen, Greise, Kinder. Drüben im Schloß die Königliche Hoheit. Was hat sie zu ihrem Mann gesagt? Ich soll ihr meinen Trick erklären? Geduld, Königliche Hoheit, ich werde Ihnen meinen Trick erklären. Was hab' ich geantwortet? Ich mache keine Tricks? Ja, das ist wahr. Ich mache keine Tricks, denn ich bin selbst ein Trick. Auch Gott macht keine Tricks, er ist selbst ein Trick. Das darf man ihr aber nicht sagen, sie würde es nicht verstehn.

Der erste Vormittag verging rasch. Um elf empfing Dupic am Telephon im ehemaligen Kontor des 72 Wirtschaftsdirektors die neuesten Wiener Berichte. Dann schrieb er Telegramme und Briefe.

Um drei Uhr läutete er am Schloßportal. Der alte Kammerdiener war entschlossen gewesen, Dupic zu sagen, der Graf empfange nicht; aber der Fremde fragte nicht nach dem Grafen, sondern verlangte, man solle den Schloßpark öffnen. Richard, seit der gestrigen Invasion der von Dupic kommandierten Horde konsterniert, weckte den Grafen – zum erstenmal seit vielen Jahren – aus dem Mittagsschlaf. Unschlüssig suchte der Graf die Gräfin, sie lag in der Bibliothek. Mit trüben Augen blickte er zu ihr nieder. Sie überlegte minutenlang, dann sagte sie, ohne den Kopf zu heben: »Aufmachen, selbstverständlich.«

Richard sperrte das große Parktor auf. Er befestigte die Tafel, die Dupic in einer Hülle von braunem Packpapier mitgebracht hatte. Auf der Tafel stand weiß auf schwarzem Grund: »Öffentliche Anlagen.« Kein Bewohner der Stadt Boran hatte jemals den Schloßpark betreten. Richard wankte ins Schloß zurück.

Das Parktor stand weit offen.

Dupic besichtigte den Park. Nach einer halben Stunde kannte er alle Sehenswürdigkeiten, den großen und den kleinen Teich, die Pfaueninsel, die Fasanerie. Die gräfliche Familie blieb unsichtbar. Kein Diener ließ sich blicken. In der Stadt schien noch niemand zu wissen, daß der Park geöffnet worden war. Dupic kehrte zum großen Tor zurück und setzte sich auf die erste Bank.

Einige tschechische Kinder hatten sich vor dem Parktor angesammelt. Ein kleines Mädchen rief: »Kommt, man darf!« Aber sie wagten es nicht, auch nicht, als 73 deutsche Kinder sich ihnen beigesellt hatten, die aufgeregt buchstabierten: »Öffentliche Anlagen.« Sie sahen Dupic auf der ersten Bank sitzen, er merkte, daß er sie abschreckte. Er stand auf, entfernte sich, suchte eine Seitenallee auf. Die Kinder wagten sich sehr schüchtern vor, blieben in der Nähe des Eingangs stehen, einige setzten sich auf die erste Bank. Gleich darauf wurden sie von Passanten angerufen, die den Kindern begreiflich machen wollten, man dürfe nicht in den Park. »Aber da ist ja eine Tafel ›Öffentliche Anlagen‹, und das Tor ist offen!« rief ein Knabe. »Einerlei«, schrie eine alte Frau, »das weiß man nicht, warum das ist, aber in den Park darf niemand! Wenn euch die Königliche Hoheit sieht!«

Die Kinder verließen den Park.

Idiotische Bevölkerung, stellte Dupic fest und setzte sich wieder auf die Bank nächst dem Eingang. Die Erwachsenen hatten sich entfernt, die Kinder blieben vor dem Tor. Plötzlich umringten sie einen etwa fünfundfünfzigjährigen Mann, der sich mit einem hübschen schwarzhaarigen Mädchen dem Tor näherte. »Dürfen wir hinein, Herr Lehrer?« fragten die Kinder. Der Mann las offensichtlich verlegen die Tafel und blickte erstaunt fragend das junge Mädchen an. »Natürlich dürft ihr«, rief temperamentvoll das Mädchen. Die Kinder strömten jubelnd in den Park, liefen an Dupic vorbei zum großen Teich, der Mann vor dem Tor blickte ihnen bestürzt nach, er schien dem jungen Mädchen gegenüber Zweifel zu äußern. »Aber was fällt dir ein, Vater, komm nur«, sagte sie laut und zog den zögernden Mann in den Park. Sie näherten sich der Bank; Dupic sah nun, daß es Juden waren. Der Mann hielt vor 74 Dupics Bank den Schritt an, überlegte, zog den Hut, behielt ihn aber in der Hand, so daß es ungewiß war, ob er gegrüßt hatte. Dupic stand auf, verneigte sich und sagte: »Meine junge Dame, Sie haben recht gehandelt, der Park ist seit heute öffentlich.«

Das Mädchen lächelte: »Ja, wir haben von Veränderungen gehört; da sind Sie wohl der Herr, der seit gestern die Wohnung des Wirtschaftsdirektors Kupka hat?«

»Zu dienen, Dupic heiße ich.«

Der schüchterne Mann nahm ehrerbietig die dargereichte Hand: »Sehr erfreut. Lehrer Buxbaum. Meine Tochter Elsa.«

Das Mädchen nickte Dupic zu und ging weiter. Dupic nötigte den Lehrer, sich zu setzen, blickte dem Mädchen nach, den schlanken Mädchenbeinen in hellen Strümpfen, sagte: »Hübsches Mädchen. Wie alt?«

»Vierundzwanzig.«

»Sehr hübsch, aber blaß. Schicken Sie sie von nun an jeden Tag in den Park, hier ist gute Luft. Der Park gehört von heute an euch. Ihr braucht so etwas. Ihr habt hier keine Industrie, trotzdem keine besondere Luft. Ein komischer Ort seid ihr. Irgendwo hinter dem Bahnhof muß eine Kunstdüngerfabrik sein, nicht wahr?«

»Sie arbeitet nicht.«

»Man riecht sie trotzdem bis zum Marktplatz. Vor kurzem muß sie noch gearbeitet haben. Also, Herr Lehrer, machen Sie's publik, der Park ist von heute an öffentlich, die Kinder dürfen hier spielen, auch den Rasen zertreten und Blumen abreißen, das alles ist erlaubt. Einen anderen Zweck hat der Park nicht. Es ist eine Sünde, daß er immer geschlossen war. Ein so 75 riesiger Park für eine einzige Familie – das gibt's nicht! Alle sollen genießen, alle sollen sich freuen, die Blumen wachsen für alle Menschen, nicht bloß für die Grafen.«

»Das ist schön«, sagte der Lehrer schüchtern und blickte auf seine Hände nieder, »das ist eine Wohltat.« Leise fügte er hinzu: »Demnach sind Sie nun der Besitzer von Boran.«

»Nein«, wehrte Dupic mit erhobenen Händen ab, »keineswegs, werter Herr, da müßte ich ja ein schwerreicher Mann sein! Ich bin nur Mittelsperson, Agent sozusagen, Beauftragter einer großen Gesellschaft. Wohlgemerkt.«

»Ach so! Und was bezweckt diese Gesellschaft, wenn man fragen darf?«

»Das weiß niemand. Auch ich nicht, obwohl ich manches vermute. Jedenfalls wird die Stadt sich nicht zu beklagen haben. Die Gesellschaft scheint Wert darauf zu legen, daß sich die Verhältnisse in der Stadt bessern. Ich habe zum Beispiel den Auftrag, allen Bedürftigen mit Geld auszuhelfen. Jedem Würdigen Darlehen zu geben. Und zwar ohne Zinsen. Die Gesellschaft will nichts dabei verdienen. Wer bedürftig ist, soll zu mir kommen. Ich werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir eventuell Vorschläge machen, Herr Lehrer. Aber wollen Sie nicht den Park besichtigen?«

Der Lehrer stand fassungslos auf, grüßte und ging seiner Tochter nach, deren helles Kleid am Ende der Allee schimmerte.

Dupic lächelte zufrieden. Er hatte nicht zu viel und nicht zu wenig gesagt. Er freute sich insbesondere über seinen Einfall, eine Gesellschaft vorzuschieben. Dieser 76 Einfall war ihm während des Gesprächs gekommen; ein wichtiger Einfall, ein unbezahlbarer Einfall! Diese geheimnisvolle Gesellschaft wird in dieser Stunde die Stadt Boran zu beunruhigen beginnen. In diesem Augenblick spricht der Lehrer mit seiner Tochter. Beide werden noch heute in der ganzen Stadt die Kunde von der »Gesellschaft« weiterverbreiten. Ganz Boran wird in dieser Nacht von der »Gesellschaft« und ihrem Bevollmächtigten träumen. Von nun an wird die »Gesellschaft« Gottes Stelle in Boran einnehmen. Gott wird keinen Frommen in der Kirche trösten, die »Gesellschaft« wird mächtiger sein als Gott. Sie wird Segen und Schrecken verbreiten. Mit göttlicher Launenhaftigkeit wird sie Gutes und Böses tun. Als vernichtender Blitz wird sie in die Häuser fahren. Sie wird die erhabene Anonymität Gottes haben. Sie wird als feurige Wolke über den Häuptern schweben, als süßer Mairegen ein Feld, einen Garten beglücken, als Schwefelregen manches Haus vernichten. Sie wird unsichtbare Zeichen auf die Haustore malen, auf manche das Pestkreuz, auf manche die Verkündigung des Engels.

Der Lehrer und seine Tochter näherten sich. »Wie gefällt der jungen Dame das alles?« rief Dupic. – »Einstweilen finde ich alles, was mein Vater erzählt, reichlich unglaubwürdig«, sagte Elsa Buxbaum. Der Lehrer gestand kleinlaut: »Ich habe meiner Tochter von der Gesellschaft erzählt, hoffentlich ist das kein Geheimnis.« – »Gewiß nicht, bitte sehr, ich habe keine Geheimnisse«, grinste Dupic.

Eine Stunde später füllte sich der Park mit Kindern, Frauen und Greisen. Dupic machte sich unauffällig 77 davon und begab sich ins städtische Meldeamt. Als er die Rubrik »Beruf oder Profession« auszufüllen hatte, dachte er einen Augenblick nach, dann schrieb er mit großen spitzigen Buchstaben: »Buchhalter a. D.«

 


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