Ernst Willkomm
Der Halligmann
Ernst Willkomm

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3 Eine Szene aus dem Leben des Halligmannes

»Es ist Ihnen ohne Zweifel bekannt«, hob der Greis seine Erzählung an, »daß die ganze Inselgruppe der Westsee, wie wir Seeleute diesen Teil des Nord- oder Deutschen Meeres nennen, durch häufig sich wiederholende Sturmfluten entstanden ist. Vor tausend und mehr Jahren bildete, allen Chroniken nach, dies heutige Inselmeer noch ein großes zusammenhängendes Land voll wohlhabender Bewohner, nach abermals tausend Jahren aber ist wahrscheinlich von den gegenwärtigen Inseln kein einziges Stück mehr übrig, höchstens werden weitgestreckte Sandbänke oder kleiige Watten den Seefahrern dann sagen, daß dereinst bewohnte Inseln in dieser Meeresgegend belegen waren.

Glücklicherweise gehören hohe und anhaltende Sturmfluten zu den Seltenheiten. Oft vergeht ein halbes Jahrhundert, ehe ein derartiges Ereignis über alle Küstenbewohner der Nordsee hereinbricht, denn nicht nur wir Halligmänner werden davon bedroht, auch die Festlandsfriesen im Schleswigschen, die Dithmarscher, die Anwohner der Elbe, Weser und Ems bis tief nach Holland hinein haben gleiche Leiden mit uns zu tragen. Die Wut des entfesselten Elementes kennt aber dann auch keine Grenzen. Was der andauernde Fleiß einiger Generationen mit unsäglicher Mühe geschaffen hat, das vernichten alsdann wenige Stunden. Das empörte Meer verschlingt Millionen und die Menschenopfer, welche es fordert, übersteigen bei weitem die Zahl der Toten in tagelang fortgesetzten Feldschlachten. Die Geschichte kennt Sturmfluten, in denen siebzigtausend Menschen binnen wenigen Stunden das Leben verloren.

Ein derartiges entsetzliches Naturereignis und zugleich eins der furchtbarsten hinsichtlich der Verwüstung, die es anrichtete, erlebte ich hier auf derselben Stelle, wo wir jetzt friedlich beisammensitzen. Ich war von einer weiten Reise heimgekehrt, hatte gut verdient und freute mich recht, die beiden Enkel wiederzusehen, von denen ich erst einen kannte; denn meine Schwiegertochter hatte während unserer Abwesenheit einem zweiten Knaben das Leben geschenkt. Ich sage »unserer«, weil mein ältester Sohn mich als Steuermann begleitete und, wie Sie wohl denken können, nicht geringe Sehnsucht nach dem geliebten Weibe und dem neugebornen Kleinen hatte. Auf der Rückreise erfuhren wir in Kapstadt, daß die junge Mutter gesund, das Kind stark und kräftig sei; Ende Oktober nahmen wir bei Helgoland einen Lotsen an Bord, mein Sohn aber war nicht mehr zu halten. Er bestieg eine eben nach Husum fertig liegende Sloop, um von dort möglichst schnell die stille Heimat erreichen zu können. Ich selbst führte mein Schiff in den Hafen Hamburgs, berechnete mich mit dem Reeder und langte vierzehn Tage später auf meiner väterlichen Hallig an.

Zufriedener und glücklicher war uns selten ein Winter vergangen. Meine Schwiegertochter blühte wie eine Rose, der älteste Knabe lief bereits, sprach mit talfernder Zunge sein gutes Friesisch und schaute den Vater mit großen, gläubigen Augen an, wenn er von den Wundern Afrikas, Asiens oder Australiens erzählte. »Auch Seemann werden«, sagte dann am Schluß solcher Erzählungen der kleine derbe Bube und patschte vor Freuden in seine Hände. Die Großmutter aber, meine unvergeßliche Elisabeth, saß bei ihrem Spinnrade und dachte, wenn der glänzend feine Flachs sich zwischen ihren Fingern zum festen Faden gestaltete, an eine Braut für den blonden Enkelsohn. Genug, ein glücklicheres, innigeres Familienleben war nicht wohl denkbar.

So kam das Weihnachtsfest heran, wo als liebste Christbescherung noch zwei meiner Söhne heimkehrten. Sie fuhren auf dänischen Schiffen, der eine als Untersteuermann, der andere noch als Maat. Beide waren tüchtige Jungen, sag ich Ihnen, flink bei der Arbeit, unverwüstlich bei lustigen Gelagen, dabei redlich, fromm und sparsam. Sie hatten sich in zwei Jahren, wo sie mir nicht mehr zu Gesicht gekommen waren, ein hübsches Stück Geld verdient und wollten mir dies zum Aufbewahren einhändigen, um nicht darum zu kommen, bevor sie neu geheuert würden.

Es fehlte unserm Glück nichts als die Dauer und die noch abwesenden Familienglieder. Heut danke ich Gott, daß er damals mein Gebet nicht erhörte, ich würde sonst vermutlich noch ärmer sein, als ich es ohnehin schon bin. Das geht gewöhnlich so. Fühlt man sich recht zufrieden, recht sicher in seinem Glück, so ist die Wohnung, die es birgt, gewöhnlich auch schon dem Untergange geweiht.«

Der Halligmann faltete die Hände und schien mit nach oben gerichteten Augen ein stilles Gebet zu sprechen. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner breiten Brust, worauf er folgendermaßen fortfuhr:

»Der Winter war ziemlich streng, die See zwischen den einzelnen Halligen fror zu, es fiel starker Schnee, was alles zusammen den Verkehr erleichterte, die Geselligkeit unter den Halligbewohnern mehrte. Je seltener dies vorkommt, desto lebhafter ergriff man die einmal dargebotene Gelegenheit, und so führten wir in unserer nordischen Abgeschlossenheit ein gewissermaßen großstädtisches, jedenfalls aber beneidenswertes Leben.

Ende Januar dagegen schlug die Witterung plötzlich um, die bis dahin herrschend gewesenen Ost- und Nordostwinde verwandelten sich in Süd- und Südwestböen, welche die See in steter Aufregung erhielten. Das Brausen der Wogen schlug Tag und Nacht an unser Ohr, so daß einem nicht daran Gewöhnten wohl bei diesem ewigen Wellengebrüll das Herz hätte erbeben mögen. Wir hörten jedoch nichts davon; vielmehr hofften wir, daß die Frühjahrsstürme sich wahrscheinlich etwas früher einstellen, mithin dem Seefahrer bald wieder die Pfade über den Ozean bahnen würden.

Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Von den meisten, welche damals als Seefahrer den Winter auf den Halligen zubrachten, betraten nur wenige die Planke eines Schiffes wieder. Trüb und düster war der verhängnisvolle Morgen des 22. Februar 1825. Der Wind ging nordwestlich und wehte den ganzen Tag über stark aus dieser Richtung. Um Mitternacht erwarteten wir den Eintritt der Flut, diesmal der Springflut. Meine ganze Familie war bei mir versammelt zur Feier eines Familienfestes. Die beiden kleinen Kinder meines ältesten Sohnes schliefen längst ruhig in ihrer Wiege und wir übrigen hatten uns eben um den Tisch gesetzt, um fröhlichen Herzens ein Glas Punsch zu trinken. Heftiger und immer heftiger tobte bei niedrig ziehenden Wolken der Nordwest, daß die eisernen Krampen an den Fensterladen erzitterten und das Haus bei jedem neuen Stoße in seinen Grundfesten erbebte. Mein ältester Sohn, den schon längst eine dunkle Ahnung beschlichen hatte, stand gegen neun Uhr abends auf, um hinauszusehen und einige Beobachtungen anzustellen. Er trat bald wieder ein, riegelte die Eichentür des Hauses fest zu und sagte sichtlich beunruhigt, denn sein Auge schweifte von einem zum andern:

»Vater, es weht sehr hart; ich fürchte, wir bekommen eine schlimme Nacht. Die ganze Hallig ist weiß von der brechenden See. Der Schaum leckt herauf bis an die vierte Stufe der Warft.«

»Du irrst wohl, mein Sohn«, erwiderte ich, innerlich erschreckt über diese Rede. »Noch ist nicht einmal Tiefebbe, wie wär' es möglich, daß die See schon jetzt so hoch gehen könnte?«

»Weiß nicht, Vater«, versetzte der Steuermann, »aber ich denke, im Atlantischen Ozean mag gegen Mittag ein heftiger Sturm aufgesprungen sein, der den rückrollenden Ebbestrom aufgestaut hat und ihn nun vor der Zeit wieder zurückwirft ins Deutsche Meer.«

»Wächst der Sturm?« fragte ich.

»Er wächst und allen Anzeichen nach wird er noch lange wachsen.«

Jetzt hielt es auch mich nicht länger hinter dem Tische. Ich griff nach meinem Südwester und trat selbst hinaus in die stürmische Februarnacht. Es war ein seltsamer Anblick, den da mein Auge sah. Dicke, schwarze Wolken, die wie Riesenbärte niederhingen und in wildem Flattern Luft, Meer und die Dächer der Häuser fegten, rollten in grauenvoller Eile an mir vorüber und ließen mich nichts erkennen, als eine strudelnde grauweiße Wasserwüste. Der Wogenkampf des zurückstürzenden Ebbestroms war so heftig, daß schon jetzt ganze Flocken salzigen Schaumes bis herauf auf den Gipfel der Warft flogen und mir das Atmen erschwerten.

Um mich genau von der Lage der Dinge zu unterrichten, stieg ich die Warft hinab. Mein Sohn hatte recht; das Wasser spülte über die dritte Stufe herauf! Entschlossen kehrte ich um, denn es war hohe Zeit zu handeln, wenn wir mit Gottes Hilfe einem furchtbaren Schicksal entgehen wollten.

»Wie steht's?« raunte mein Sohn mir bebend zu, als er mich wiederkommen sah.

»Nicht gut«, versetzte ich, die Besorgnis, die ich hegte, vorsichtig unterdrückend, »indes ist unsere Lage keineswegs hoffnungslos. Der Sturm weht nicht regelmäßig, sondern in Böen, ein Zeichen, daß er schwerlich lange anhält oder doch bald umspringt. Hole jetzt unsere Mutterschafe und zeige dich als Mann. Ich will versuchen, die Weiber zu beruhigen. Drei Stunden sind eine lange Zeit für bedachtsam arbeitende und schaffende Männer. Legt sich also der Sturm nicht vor Eintritt der Flut, so können wir doch um Mitternacht auf alles Kommende, auch auf das Entsetzlichste vorbereitet sein.«

Vertraut mit den mancherlei Gefahren unseres insularischen Lebens, fanden sich die Frauen mit großem Gleichmute in das Unabänderliche. Meine Schwiegerin Hanna sorgte, wie das Mutterherz ihr gebot, zuerst für ihre Kinder. Vorsichtig trug sie die schlummernden Kleinen auf den Bodenraum, wo sie die scheinbar sicherste Lagerstätte für dieselben aufsuchte. Daneben wurden von mir die Truhen mit unsern Wertsachen gestellt, auch die inzwischen herbeigeholten Schafe an den Hauptpfosten des Hauses festgebunden.

Damit zustande gekommen dachten wir, soweit möglich, an Verpalisadierung des Unterhauses, indem wir innerhalb der fest verriegelten Türe die schwersten Kisten und Kasten aufstellten und ein Gleiches auch bei den nach Nordwest gekehrten Fenstern versuchten.

Gegen elf Uhr waren unsere Sicherheitsmaßregeln beendigt. Die Frauen befanden sich bereits auf dem Boden, nur wir Männer blieben noch im untern Raume, um die Wirkungen der kommenden Flut eine Zeitlang beobachten und danach die etwaigen Folgen ermessen zu können. Der Sturm heulte grauenhaft; seine Gewalt mehrte sich mit jeder Viertelstunde. Auch trat die Flut volle zwei Stunden früher ein, als sie der Berechnung nach unsere Küsten erreichen konnte, Beweis genug von der Gewalt der aufgewühlten Wasserwogen im großen Ozean. Schon um zehn Uhr stand die halbe Warft im Meeresschwall. Kein Nachbar konnte dem andern mehr beispringen, keiner in dem Heulen, Rasen und Brüllen zweier empörter Elemente dem andern zurufen. Nach elf Uhr schlug die Brandung mit solcher Gewalt gegen Türe und Fenster, daß überall die Salzflut durchsickerte und das Zimmer binnen wenigen Minuten sich mit trübem Meerwasser füllte. Eine halbe Stunde später stand das Meer in gleicher Höhe mit dem Plateau der Warft, die sich bäumenden, übereinanderstürzenden Wogen zerbrachen die Wände, spülten den Ofen fort, zerschlugen die eichenen Pfosten und bahnten sich einen freien Weg mitten durch mein Besitztum. Noch gewannen wir Zeit uns selbst zu den Unsrigen auf den Boden zu retten. Die Leitertreppe ward nachzogen und sogleich mit Brettern benagelt, um sie im Falle der höchsten Not als tragbares Floß benutzen zu können.

Springfluten erreichen gewöhnlich eine Höhe von 20 bis 25 Fuß über den Ebbestand des Meeres, setzen also nicht nur die Halligen gänzlich unter Wasser, sondern überschwemmen die häusertragenden Warfthügel fast zur Hälfte ihrer Höhe. Dies hat jedoch keine Gefahr, da sich die Dauer einer regelrecht verlaufenden Springflut fast bis auf die Minute berechnen läßt. Anders die Sturmspringfluten. Sie sind Meteoren zu vergleichen, die plötzlich erscheinen, aller Berechnung wie aller seemännischen Erfahrung spotten und nur Befriedigung finden in ihrem dämonischen Rasen. Ihre Verwüstungen sind daher wahre Erdrevolutionen, und nur dem Gegeneinanderrennen aus ihren Bahnen geschleuderter Weltkörper zu vergleichen. Ein sturmgepeitschtes Meer ist zugleich ein furchtbarer, staunenerregender und majestätischer Anblick, die Verheerungen einer Sturmspringflut aber sind nur entsetzenerregend. Man glaubt den Untergang der Welt, die Wiedergeburt des Chaos vor sich zu sehen!

Nie im Leben werde ich es vergessen«, fuhr der greise Halligmann nach kurzem Schweigen fort, »was ich in jener Schreckensnacht gelitten habe. Jede neue Sturmwoge schlug ein Stück mehr von dem so fest gezimmerten Hause weg, so daß schon nach ein Uhr morgens nur noch die unser schwankendes Dach tragenden Pfähle von dem eigentlichen Baue übriggeblieben waren. Dabei stieg die Flut noch immer und mußte meiner Berechnung nach mindestens noch gegen zwei volle Stunden steigen. Das Heulen des Sturmes, das Brüllen der See war so sinnbetäubend, daß wir uns nur noch durch Zeichen verständigen konnten. Um nicht fortgeweht zu werden, banden wir uns gegenseitig fest an die Leiter, befestigten die Wiege der Kinder daran und erwarteten so unser Schicksal.

Die Verwüstungen auf den weiter seewärts gelegenen kleineren Halligen mußten schrecklich sein; denn wenn von Zeit zu Zeit ein heller Mondstrahl die stürmische Flut matt überglänzte, sah man weithin das Wogenfeld mit Häusertrümmern, mit treibendem Vieh, mit Hausrat bedeckt, und oft konnte man Menschengestalten mit flatternden Haaren auf solchem treibenden Gute schaudernd entdecken.

Lange widerstand das sehr fest geflochtene Strohdach meines Hauses dem Rütteln und Zausen der Windsbraut, endlich aber bohrte sie sich doch ein, und nun flogen die festen Schauben wie Schneeflocken um uns, daß wir Mühe hatten uns vor Beschädigung zu hüten. Bald stand nur das Sparrwerk noch, und wovor wir bis dahin verschont geblieben waren, der stete Anblick des stürmenden Meeres, der in solcher Lage entmutigend wirken, unsere Kräfte erschlaffen, uns versteinern mußte, lag jetzt unverhüllt vor aller Augen!

Mein Weib, gottergeben und frommgläubig, betete. Hanna suchte die Kinder gegen die salzigen Schauer zu schützen, die in kurzen Zwischenräumen unsere zitternde Arche überschütteten. Ich und meine Söhne gaben acht auf die Schwankungen des Pfahlwerks in der Warft und auf die Bewegung der Wogen. Hielt das Erdwerk der Warft bis die Flut wieder sank, so konnten wir uns für gerettet halten; wo nicht, dann teilten wir das Los von Tausenden in dieser todesreichen Erdennacht.

Wie ein todeswürdiger Verbrecher dem entscheidenden Spruche seiner Richter entgegenharren mag, so warteten wir auf den Moment der größten Springfluthöhe. Schon konnten wir Männer mit ausgestrecktem Arm die rollenden Wogen erreichen und noch immer war die Flut im Steigen begriffen. Schwoll sie noch einen Fuß höher an, so überströmte sie unser Asyl und spülte uns erbarmungslos in die wirbelnde Tiefe hinab.

Noch eine bange halbe Stunde und der entscheidende Augenblick kam. Schwarzen Gebirgen ähnlich, deren oberster Kamm mit Schnee bedeckt ist, rollten die ungeheuren, unübersehbaren Flutwogen heran. Wir sahen sie, da die Wolken seit Mitternacht höher zogen, deutlich aus ziemlicher Ferne nahen. Auf das frühere oder spätere Zerbersten des Wogengebirges kam jetzt alles an. Brachen diese fürchterlichen Gebirge, bevor eins derselben uns erreichte, so konnten wir uns halten. Bisher waren nur die Trümmer solcher Wogen an uns herangetrieben und hatten ihre Schaumschauer über uns ausgegossen, jetzt aber rollten sie immer näher, wurden immer höher, weil die nachdrängende Gewalt der Hochflut ihre Kraft verdoppelte. Endlich erkannte ich, daß die Wasser nicht mehr schwollen, sondern standen; allein der Sturm wütete fort und die Gefahr blieb dieselbe.

Plötzlich trat eine Pause im Sturme ein, d. h. rund um uns auf einem kleinen Raume tobte er nicht, wohl aber hörten wir sein Rasen und Pfeifen vor und hinter uns. Im Westen glänzte Mondschein auf dem Meere, der helle Schimmer verschwand, und die Nacht, eine Nacht finsterer denn je, stieg aus dem Meere am Horizonte wieder auf. Sie kam näher, immer näher – ein Brausen und Sausen, wie wir's noch nie gehört in den durchlebten Stunden der Angst, erfüllte die Luft, als ob aus dem Schoße der Tiefe ein zweiter Orkan aufsteigen wolle. Abermals brach der Mond durch das Gewölk, und nun sahen wir stieren Auges, während unser Haar vor Entsetzen sich bäumte, soweit die Blicke reichten, eine stahlgraue Wogenwand von der See heranrollen, als hätte das Weltmeer sich bis zum Zenit emporgerichtet, und wolle Inseln und Festland auf ewig bedecken!

»Klammert euch fest an die Leitertreppe!« schrie ich mit aller Kraft der Stimme den Meinigen zu, indem ich selbst ein Gleiches tat. Das fürchterliche Gebirge näherte sich auf den Flügeln des Sturmes. Es mochte noch hundert Fuß von uns entfernt sein, als der glänzende Silberkamm turmhoch in weißen Säulen gen Himmel spritzte, die unermeßliche Woge zerbarst und als brodelnder, alles in seine Wirbel begrabender Schaum gegen uns heranschwalgte. Der rasende Strudel erfaßte, begrub uns, ehe wir uns besinnen konnten. Herabstürzend in das Wogengrab hörte ich noch das Krachen des Gebälkes, das der wütende Schwall zerschlug. Dann verließen mich die Sinne, wie lange, wer mag es wissen!...«

Der Greis verhüllte sein Gesicht und dicke Tränen rollten über seine Finger herab auf das weiße Gewebe, das den Tisch bedeckte. Sein Sohn sah schweigend und ernst vor sich hin; ich lauschte mit angehaltenem Atem.

Als der alte Seemann seiner Bewegung Meister geworden, fuhr er mit gedämpfter Stimme also fort:

»Mein Erwachen, werter Herr, war traurig und wahrlich, Gott wolle mir vergeben, wenn ich sündige, in jenem Augenblicke, als damals der Herr mir die Augen wieder öffnete, hätte ich wohl gewünscht, ein paar Faden tief auf den Algen des Meeres zu ruhen bei den zahlreichen Opfern, welche der Sturmflut erlegen waren.

Eine fahlgraue, gräßlich wogende See tobte rund um mich. Die Treppenleiter war zerschlagen und durch Zufall an einem Pfahle, der über die Flut emporragte, hangengeblieben. Die Schwere unserer Körper hatte sie gehalten, denn sie ruhte auf einem halb fortgespülten Heuhaufen, wie wir sie auf den Warften für die Winterzeit aufzuschichten pflegen. Hannas Bande waren nicht zerrissen, wie die der andern. Ihren Körper hoben und senkten die Wogen, nur Kopf und Brust waren frei, und obwohl sie nicht atmete, glaubte ich doch Leben in ihr zu entdecken. Meine drei Söhne, mein braves Weib, die beiden kleinen Kinder, das gerettete Vieh: Alles, alles hatte die erbarmungslose Flut fortgespült, begraben!

Seeleute müssen sich schnell fassen, sonst sind sie ewig verloren. Was ich verloren hatte, wußte ich, das möglicherweise zu Erhaltende lag aber nahe vor mir und darauf richtete ich zuerst mein Augenmerk. Die Flut sank, der Sturm hatte seine wildeste Kraft verloren. Ich rief Hanna bei Namen, ich rieb ihre Schläfen und Brust, ich blies ihren kalten bleichen Lippen Odem ein. Mein Bemühen blieb nicht fruchtlos. Die Scheintote regte sich, atmete schwer auf, erwachte endlich. Aber, Gott im Himmel, welch ein Erwachen, welch eine Rückkehr zu vollem Bewußtsein war dies! – Lassen Sie mich schweigen von den Jammerszenen, die nun folgten, von dem Weheruf der Mutter, die ihre Kinder suchte und nie wiederfand; die nach ihrem Gatten bittend die Hände ausstreckte und doch sein Angesicht niemals wiedersehen sollte; die Trost suchen wollte bei der frommen Schwiegermutter und das treue, milde Auge der Geliebten nirgend auf Erden wiederfand!

Wir waren gerettet, die einzigen aus unserm Hause, von unserer Familie, die in jener Nacht auf den Halligen weilten; denn leider fanden auch sämtliche Verwandte und Geschwister Hannas damals in den Fluten ihren Tod!

Achtzehn volle Stunden mußten wir armen Schiffbrüchigen ausharren, bis uns Rettung kam. Daß wir diese Zeit überlebten, ist mir noch heut ein Wunder, denn die Nacht war kalt, der darauf folgende Tag rauh. Dennoch blieben wir beide gesund und am Leben. Die Körper unserer Lieben haben wir mit keinem Auge je wiedergesehen. Das empörte Meer hat sie in unsichtbare Atome zerschlagen oder weit hinaus in den Ozean fortgeschwemmt.

Die Festlandsfriesen ließen uns die freundlichste Pflege angedeihen, und obwohl auch dort das Meer entsetzliche Verwüstungen angerichtet, Häuser und Felder zerstört und zahllose Menschenleben gefordert hatte, nahmen sich die gleich uns betrübten Brüder unserer doch mit wahrhaft christlicher Liebe an.

Man glaubte damals allgemein, die Halligen würden ganz untergegangen oder doch so zerstört sein, daß sie nie wieder von Menschen bewohnt werden könnten. Auch ich teilte anfangs diese Meinung. Als sich aber die Flut verlaufen hatte, der klare, blaue Himmel wieder gnädig über die Erde sich wölbte und über den grauen Wattenfeldern die bekannten Erdflächen wieder sichtbar wurden; da erfaßte uns ein wunderbares Heimweh. Kein Gott hätte mich auf dem Kontinent gehalten. Ich mußte wissen, wie es dort aussah, wo ich geboren worden war; ob es wohl möglich sein würde, auf dem überflutet gewesenen Heimatboden noch einmal eine feste Hütte zu erbauen. Denn das Menschenherz, lieber Herr, ist ein gar wundersames Ding. Es zieht ihn, und mag er ein halbes Jahrhundert in paradiesischen Gefilden verlebt haben, zuletzt doch wieder dahin zurück, wo er das Licht der Sonne erblickt, den ersten Gotteshauch auf dieser Welt mit durstiger Lippe eingezogen hat.

So hielt es denn auch mich nicht lange auf dem Festlande. In einfachem Nachen ruderte ich mich hinüber nach der vaterländischen Hallig. Ich fand die Warft bis auf ein paar unscheinbare Brocken fortgeschwemmt, die Stützbalken meines Hauses zertrümmert. Aber der Erdfleck, wo es gestanden, wo ich so viele glückliche Stunden verlebt hatte, der war noch vorhanden, den hatte der gnädige Gott mir erhalten, und da sank ich denn dankend in meine Knie und gelobte dem Ewigen, fleißig, fromm und ehrlich das zerstörte Leben wieder von neuem zu beginnen, wenn er mich dazu ausrüsten wolle mit seiner Kraft.

Und hatte ich denn nicht Ursache zu danken aus vollem überströmendem Herzen? Freilich war ich ärmer geworden um vieles; ich hatte mein Weib, drei Söhne und zwei liebe Enkel verloren, allein sie waren doch alle den Tod der Gerechten gestorben. Drei Söhne aber, eine Tochter und eine tugendhafte Schwiegerin lebten mir noch, ich fühlte mich gesund, und so war es ja meine Pflicht zu schaffen und zu wirken, dieweil ich noch Kraft dazu besaß.

So begann ich denn mit Gottes Hilfe abermals eine Warft zu erbauen, fester und höher, als die zerstörte war. Auf ihr errichtete ich dies Haus, und Gott gab seinen Segen zu meinem Tun. Zwar raubte mir später die tückische Woge in fernen Zonen noch zwei Söhne, einen aber ließ sie mir, und – Dank und Preis sei Gott dafür – dieser eine und letzte, es ist ein braver Junge! Meine Schwiegerin blieb mir treue Haushälterin, meine Tochter fand ebenfalls ihr Unterkommen, der da verheiratete sich gut, machte sein Glück auf der See, wie auch ich stets bereichert heimkehrte von späteren Reisen, und so rufen wir denn, wenn wir einmal jener schweren Prüfungstage gedenken, aus vollem, von Dank überfließendem Herzen aus: Der Herr hat alles wohl gemacht!«

Es war spät geworden während dieser Erzählung. Hanna, deren blasses, leidendes Gesicht einige Male durch die Türspalte geblickt hatte, trat wieder ein und begab sich an ihren gewöhnlichen Platz am Ofen, wo sie eine weibliche Arbeit zur Hand nahm. Das Gespräch wandte sich jetzt heiteren Gegenständen zu, wodurch die Eindrücke der so tragischen Katastrophe zum Glück wieder etwas verwischt wurden. Erst gegen Mitternacht geleitete mich der vielgeprüfte Halligmann nach meinem Schlafgemach.

Am nächsten Morgen ward ich schon früh geweckt. »Entschuldigen Sie, werter Herr«, redete mich der Seemann an, »Sie kennen jedenfalls das Sprichwort: Wind und Flut warten auf niemand. Da nun die Flut bereits eingetreten ist und der Wind, jetzt allerdings noch flau, sich später wohl auch noch bemerkbar machen wird, möchte ich, als alter Kapitän, Ihrem Dithmarscher doch keine Blöße geben. Sie äußerten gestern, daß Sie heut nach den Inseln wollten. Auf diese Äußerung fußend, werfe ich Sie mit Ihrer Erlaubnis auf gut nordfriesisch sozusagen zur Tür hinaus, doch nicht als Feind, sondern als Freund. Bevor Sie jedoch an Bord gehen, frühstücken Sie in der Eile noch mit mir. Ich begleite Sie dann an den Strand. Mein Sohn ist schon vorausgeeilt, um Ihr Kommen dem Dithmarscher anzumelden. Er wird sich, sollte es auch zehn Minuten länger dauern, als verabredet worden ist, bei dem gereisten Steuermanne nicht langweilen.«

Eine so freundliche Einladung abzuschlagen, wäre mehr als unhöflich gewesen. Ich folgte meinem Wirte, der indes als echter Seemann doch keine Ruhe am Frühstückstische hatte. Er stand schon fix und fertig angekleidet vor mir, während ich noch freundlich dankende Worte an die edle Dulderin, Hanna, richtete. Rasch empfahl ich mich, um an Bord zu eilen.

»Ist heut guter Segelwind?« fragte ich meinen Jollenführer.

»Ja, Herr, wenn er nicht kentert«, versetzte dieser echt dithmarsisch trocken.

Ich stieg an Bord. Der Sohn des Halligmanns schüttelte mir die Hand zum Abschiede. Als der Wind die Segel blähte und wir vom Lande abdrehten, zog der Greis seine Mütze und rief mir nach: »Glückliche Reise, Herr, und wenn Sie dereinst wieder in die Halligen kommen sollten, vergessen Sie nicht an die Tür meines Hauses zu klopfen. Öffne ich dann auch nicht selbst, so tut's doch wohl der da (auf seinen Sohn zeigend), Hanna oder einer von meinen Enkeln. Gott sei mit Ihnen!«

Der Wind trieb unser Fahrzeug rasch in die See hinaus, den Alten aber sah ich neben seinem Sohn noch lange am Strande stehen und den Lauf unseres Schiffes verfolgend. Als er endlich langsam seiner Warft zuschritt, schnalzte der Dithmarscher mit der Zunge und sagte: »Das ist ein Mann, ein ganzer Kerl. Es brauchte sich kein Kaiser zu schämen, den Hut vor ihm abzuziehen!«


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