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Nach wenigen Tagen schon war die Kunde von den aufgefundenen Briefen durch alle Zeitungen gelaufen. Jedermann sprach davon, in allen Gesellschaften unterhielt man sich über das interessante Vorkommniß. Rechtsverständige warfen die Frage auf: ob die Postbehörde verpflichtet sei, die entdeckten Briefe nach so langer Zeit an ihre Adressen zu befördern, oder ob sie das Recht besitze, sie zu vernichten. Die Mehrzahl sprach sich für Versendung der alten Briefe aus, weil jede Postanstalt doch im Grunde nur ein vom Staate gegründetes und verwaltetes Speditionsgeschäft sei, das an die ihr übergebenen Briefe und Packete keinerlei Eigenthumsrecht beanspruchen könne. Nur Einzelne, die den Fall, gerade weil er so ganz vereinzelt dastand, von allen Seiten beleuchtet wissen wollten, harmonirten nicht mit dieser Auffassung. Sie meinten, es träte hier das Recht der Verjährung in Kraft, und ließe sich nachweisen, daß die Briefe über fünfzig Jahre in dem verborgenen Spalt des Briefkastens gelegen hätten, so seien sie dadurch allein schon herrenlos geworden und der Finder könne damit anfangen, was er wolle. Noch Andere waren aus Gründen der Vorsicht und Zweckmäßigkeit für Zurückhaltung und Vernichtung derselben, ohne daß man sich vorher mit dem Inhalt bekannt mache. Die Hindeutung auf Entstehung verwickelter Zwiste, die sich in kostspielige Processe verwandeln könnten, war nicht ganz aus der Luft gegriffen, und wenn sie deshalb bedauerten, daß man in der ersten Ueberraschung überhaupt das Bekanntwerden des Fundes zugegeben habe, so lag darin allerdings ein Körnchen Wahrheit verborgen.
Zu diesen Vorsichtigen gehörte auch Justizrath Strahleck. Ihm schloß sich mit vieler Wärme der Legationsrath Rudolph Mandelsdorf an, der als fein fühlender Diplomat überhaupt der allzugroßen Oeffentlichkeit niemals das Wort redete. Befänden sich – äußerte der junge, vielversprechende Mann wiederholt – keine Depeschen darunter, die von irgend einer Behörde abgeschickt worden seien, so könne man dem lebenden Geschlecht nur einen Gefallen thun, wenn man dies Häufchen altes Papier ungesäumt verbrenne.
Das geschah jedoch nicht. Den verschiedenen Zeitungsnachrichten, die vielfach von einander abwichen, folgte sehr bald die officielle Mittheilung von dem gemachten Funde. Die Zahl der Briefe ward genannt, das Format derselben wie die Farbe des Papiers sehr genau beschrieben und endlich eine Anzahl Adressen bekannt gemacht. Zugleich erging an alle Diejenigen, welche über die auf den Adressen der Briefe genannten Personen oder deren Angehörige etwa Auskunft geben könnten, die Aufforderung, sich innerhalb einer gewissen Frist zu melden, oder die betreffenden Briefe persönlich in Augenschein zu nehmen.
Als dem Justizrath Strahleck diese Aufforderung zu Gesicht kam, ward er sehr ernst. Er bereute seine frühere Aeußerung und gerieth gleichzeitig in eine Unruhe, die man an dem besonnenen, stets sehr gemessen auftretenden Manne auffällig finden mußte. Zum Glück war Niemand zugegen, als er das Blatt mit der officiellen Anzeige der Postbehörde las. Er zog auf der Stelle die Glocke und befahl dem Bedienten, der Wagen solle unverweilt vorfahren. Darauf steckte er das wichtige Blatt zu sich und überlegte still, was er wohl zu thun habe, um schleunigst zum Ziele zu kommen. Es leuchtete ihm ein, daß Unberechenbares an einem leicht wiegenden Blättchen Papiere hänge, daß die Lösung eines unscheinbaren Siegels für ihn selbst, weit mehr noch für eine Anzahl anderer, ihm persönlich gar nicht bekannter Personen ein wichtiges Ereigniß werden könne.
Der Besuch des Aufgeregten galt dem englischen Consul, den der Justizrath glücklicherweise zu Hause traf.
»Was sagen Sie jetzt zu dem Vorfalle, der sich vor Kurzem in R. zugetragen hat?« redete Strahleck nach gegenseitig gewechselter Begrüßung den ihm befreundeten Consul an. »Diese Briefgeschichte kann, dünkt mich, verwickelter werden, als ich anfangs vermuthete. Seit ich die officielle Anzeige gelesen habe –«
»Es ist also eine solche veröffentlicht worden?« warf der Consul ein.
»Vor wenigen Tagen. Die heutige Nummer unserer vaterländischen Post bringt sie ausführlich.«
»Ist mir ganz entgangen,« sagte kühl der Consul, nach dem Tische gehend, wo das genannte Blatt neben mehreren anderen größeren Zeitungen lag.
Der Justizrath holte sein eigenes Exemplar hervor und nannte dem Consul die Spalte, auf welcher die wichtige Bekanntmachung stand.
Als dieser das Verzeichniß der Briefe mit kalter Ruhe durchgesehen hatte, bekamen auch seine Züge etwas mehr Leben und Beweglichkeit.
»Ach! – So! – Hm! Hm! Nun begreife ich vollkommen! – – Sehr interessant, ich gestehe! – Was gedenken Sie zu thun, Herr Justizrath?«
»Ich wünschte Ihre Meinung zu hören, ehe ich einen Entschluß fasse. Es kommt, wie ich letzthin behauptete! Sie wollten mir nicht Recht geben und bestritten meine Aufstellung, indem Sie die freien Institutionen Ihres Vaterlandes gebührend hervorhoben. An diesem einen Falle sehen wir aber, daß eine zu weit getriebene Oeffentlichkeit doch auch ihre sehr dunklen Schattenseiten haben kann.«
Der Consul ließ sich auf keine Discussion über diesen Gegenstand ein. Er warf nochmals einen Blick in das Briefverzeichniß und sagte dann:
»Meiner Ansicht nach wird man Ihnen wahrscheinlich zuvorkommen. Ein so genau adressirter Brief muß, da ihn die Post empfangen hat, befördert werden und da Sie die Ehrlich'sche Sache führen, so kann ihn ja Niemand anders erhalten, als Sie ganz allein.«
»Entschuldigen Sie, Herr Consul,« versetzte der Justizrath, »nicht der an die Geschwister Ehrlich gerichtete Brief macht mir Kopfzerbrechen, mein Bedenken gilt den beiden Schreiben, welche die Adresse »Honest« tragen, und von denen das Eine, wie die Liste ausweist, ebenfalls hieher dirigirt ist, das andere aber nach Frankreich gehen soll. Im Hinblick auf unser neuliches Gespräch und auf die mir aus Nordamerika zugegangenen Nachrichten befinde ich mich wirklich in einer ganz eigenthümlichen Verlegenheit. Die Ehrlich und Honest sollen oder können Verwandte Josua Ehrlichs sein. Mir liegt die Verpflichtung ob, diese Verwandten aufzuspüren, damit ihnen endlich ihr Recht werde. Wie nun? Darf ich unter diesen Umständen darauf dringen, daß mir die mit Honest bezeichneten Briefe ausgeliefert werden?«
»Die Sache bedarf reiflicher Ueberlegung,« sagte der Consul. »Indeß giebt uns die Aufforderung selbst einen kleinen Anhaltungspunkt. Die Briefe sind erwiesenermaßen sehr alt. Diejenigen, an welche sie ursprünglich gerichtet waren, leben jedenfalls nicht mehr, wenigstens läßt es sich kaum annehmen. Dies gestattet Jedem, der Grund zu haben glaubt, zur Empfangnahme eines jener Briefe berechtigt zu sein, sich zu melden. Die Behörde wird durch verschiedene einlaufende Meldungen gezwungen, mit dem Abliefern der Briefe an sich zu halten. Die Ansprüche der sich Meldenden werden erst geprüft werden müssen, – wo ein bestimmter Anspruch nicht überzeugend nachgewiesen werden kann, wird die Oeffnung eines von mehreren Personen begehrten Briefes vor einer Prüfungs-Commission oder vor Geschworenen stattzufinden haben. Der Inhalt des so geöffneten Schreibens wird dann in den meisten Fällen darthun, welcher der Begehrenden wirklich zur Empfangnahme berechtigt war.«
»Eine höchst ärgerliche Geschichte!« sprach der Justizrath unmuthig. »Kaum zeigt sich mir nach jahrelangen Mühen ein Ausweg, ein Ziel, dem ich zustreben darf, so verrückt es auch schon wieder ein unheilvoller Zufall! Hätte man doch den ganzen Wust verbrannt und keinen Menschen etwas davon wissen lassen!«
Der Consul lächelte.
»Wer weiß, ob Sie nicht eines Tages noch die Stunde segnen, in der man die Briefe entdeckte,« sagte er. »Die Oeffentlichkeit löst allerdings das Siegel der Verschwiegenheit, sie bringt Gutes und Böses an den Tag, aber sie trägt auch zur Verbreitung der Wahrheit bei und erleichtert eine unparteiische Gerechtigkeitspflege. Ich bin jetzt entschlossen, mich ebenfalls, zu melden.«
»Aber Herr Consul!« rief Strahleck halb erstarrt vor Verwunderung aus. »Welches Interesse können Sie an diesen Briefen haben?«
»Ein sehr großes,« erwiderte dieser. »Ich kenne ja einige Familien, welche den Namen Honest führen, selbst ein entfernter Verwandtschaftsgrad mit einer derselben würde sich vielleicht nachweisen lassen, wenn ich Werth darauf legte. Darauf jedoch verzichte ich. Nur versäumen mag ich nichts, was mir den leisesten Anhalt geben kann, ein Recht in Anspruch zu nehmen.«
»So muß ich einen Rivalen in Ihnen erblicken?« sagte der Justizrath etwas verstimmt.
»Im Gegentheil, ich denke, wir wollen recht einig Hand in Hand gehen,« erwiderte der Consul. »Dadurch hoffe ich Ihnen eher zu nützen als zu schaden. Vielleicht gesellt sich uns auch noch ein Dritter in gleicher Absicht bei, was ich fast wünschen möchte. Gelingt es uns, die mit Honest bezeichneten Briefe entweder an uns zu bringen oder doch Einsicht in dieselben zu erlangen, so beherrschen wir einen Theil des Terrains, das Sie bei Ihren ferneren Nachforschungen in der Ehrlich'schen Angelegenheit mit in den Gesichtskreis Ihrer Beobachtung dürften ziehen müssen.«
Diese Zusicherung ließ den Justizrath wieder Hoffnung schöpfen, obwohl er sich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen konnte, daß, wenn die Umstände sich ungünstig gestalten sollten, eine Menge Thatsachen, Mittheilungen, Vermuthungen, ja blos private, vielleicht für eine einzige Person bestimmte Aeußerungen zur Kenntniß Vieler, wahrscheinlich auch Unberufener kommen dürften. Dieser Gedanke störte ihn dergestalt, daß er schon auf der Heimfahrt einen andern Weg einzuschlagen für gerathener hielt. Vorschriften wegen seines Handelns hatte ihm ja Niemand zumachen. Er that also gewiß recht, wenn er seiner Ueberzeugung mehr Gewicht beilegte als den Winken des englischen Consuls, der über viele Dinge ganz anders dachte. Strahlecks Augenmerk war immer darauf gerichtet, die Oeffentlichkeit möglichst auszuschließen, und gelang es ihm, den Gedanken, der ihm so eben durch den Kopf fuhr, zur That werden zu lassen, so hoffte er seine Bemühungen gekrönt zu sehen. Er ließ halten und befahl, bei Legationsrath Mandelsdorf vorzufahren.