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Städte haben ihre Zeiten, Zeiten der Schöpfung, Zeiten des Verfalls. Es gibt keine Stadt – selbst die ewige Stadt ist nicht ausgeschlossen –, die zu allen Zeiten etwas bedeutete. Doch gibt es Unterschiede unter den Städten. Es gibt solche, die sind nur Produkt einer bestimmten Konstellation. Ihr verdanken sie ihre Größe und Blüte. Alle Gebäude, Straßen und Plätze sprechen von der Größe dieser Zeit. Andere Zeiten kommen. Der Weltenstrom gräbt sich ein anderes Bett. Die Stadt verfällt, wird zur Ruine. Es gibt Städte im Wüstensand, an denen die Weltgeschichte endgültig vorübergegangen ist. Wieder andere werden von mehreren Zeitaltern heimgesucht. Troja ist solch ein Ort, an dem aufeinanderfolgende Jahrhunderte ihre Stockwerke auf den Ruinen der Vergangenheit getürmt. Aber es gibt auch Städte, die Jahrhunderte verschlafen haben. Sie zeigen Lücken. Verschiedene Zeiten sind über diese Lücken weg einander nahegerückt, wie oft in den geologischen Schichten eines Platzes einzelne Zeitalter ausgefallen scheinen, und Neues unmittelbar auf Ältestes stößt.
Peking ist eine Stadt von mehreren Zeiten. Aber sie sind einander gefolgt, und das von ihnen Gestaltete ist in einem einheitlichen Ganzen zusammengewachsen, das heute noch lebt, wenn es auch mitten in einer neuen Veränderung begriffen ist. Peking heißt: die nördliche Hauptstadt. Es war immer bezeichnend für die politische Situation einer Zeit in China, an welchem Ort die Hauptstadt lag. Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung gewannen von Westen her die Tschou-Leute das Reich. Ihre Hauptstadt lag im westlichen Teil von China, und ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, die Grenzen der Kultur gegen westliche Barbaren zu sichern. Die Dynastie wurde schwach, die Barbaren drangen vor, die Hauptstadt wurde ins Zentrum des damaligen China verlegt. Das war der Anfang zum Untergang des alten Feudalstaates. Der Weststaat Ts'in, der in das frühere Gebiet der Tschou einrückte, erlangte mit der Zeit die Oberherrschaft. Später wurde der Norden entscheidend. Dorther drängten die Hunnen, Mongolen und Mandschuren. Die Hunnen wurden durch den Bau der großen Mauer abgehalten. Ein Jahrtausend später drangen die Mongolen in China ein. Die Sungdynastie zog sich mit ihrer Hauptstadt immer weiter nach Süden zurück. Endlich wurde sie hinweggefegt. Der Mongolenkhan wurde Herrscher in China. Er gestaltete sein Feldlager, das im Mittelpunkt zwischen der Mongolei und China lag, zur Hauptstadt aus. Marco Polo besuchte den Mongolenkhan in Cambaluc. Das war das erste Peking. Es lag etwas nördlicher als die heutige Stadt. Der Glockenturm und der Trommelturm, die heute an der nördlichen Peripherie liegen, bildeten damals den Mittelpunkt. Sie sind noch immer im Gebrauch. Auf dem einen hängt die große Glocke, deren dumpfer Ton um die Zeit der Nachtwachen über die Stadt hinweht. Nichts ist erhabener, als wenn um Mitternacht der Ton dieser Glocke erwacht. Sie ist umgeben von Sagen. Sie konnte nicht richtig gegossen werden, ehe des Glockengießers Töchterlein durch das Opfer ihres Lebens die tückischen Mächte bannte, die den Guß verhindern wollten. Noch jetzt hört man ihre feine Stimme aus dem Metall klagen, wenn der große Holzbalken auf die Glocke stößt. – Die große Trommel auf dem Trommelturm gibt das Zeichen, wenn die Tore der Stadt geschlossen werden. Sie kündet die Nacht an. Steil geht die Treppe durch einen dunklen Tunnel nach oben. Rings um den Turm führen etwas schräg nach unten abfallende Galerien, von denen häufig die Geländer teilweise in die Tiefe stürzen. Oben im Gebälk girren die Tauben, und weit hinaus schweift der Blick über die Dächer und Bäume von Peking und die Ebene, die im Norden und Westen von den Grenzhügeln abgeschlossen wird. Dort schwingt sich über die Kämme der Berge und durch die Schluchten der Täler die große Mauer ...
Die Mongolen wurden von einem früheren Mönch verjagt, als ihre Zeit vorüber war. Im Herzen von China, am Yangtse, in Nanking, wurde die neue Hauptstadt gegründet. Nicht lange blieb sie dort. Der dritte Herrscher des Minghauses, Yunglo, war ein gewissenloser Mann, der seinem Neffen Thron und Leben raubte. Aber er war von starkem Kaliber. Er sah mit genialem Blick die Lage. Er wußte, daß es um die Macht der Ming gar bald getan sein werde, wenn sie im Süden bleiben würden, weit entfernt von dem Grenzwall, der aufs neue ausgebaut werden mußte gegen die noch immer nachdrängenden nordischen Scharen. So verlegte er die Hauptstadt wieder nach Norden in die Nähe des alten Mongolenlagers. Das war das zweite Peking. Aus jener Zeit stammt die Anlage der meisten Paläste, Tempel und Mauern, der sogenannten inneren, nördlichen Stadt. Damals wurde noch für die Ewigkeit gebaut. Was sind das für Mauern, die im Geviert die Stadt umschließen! Aus riesengroßen Backsteinen sind sie gebaut und so breit, daß bequem drei Wagen oben auf ihnen nebeneinander fahren können. In ihrer ganzen Ausdehnung sind sie sorgfältig gepflastert und mit Zinnen und Schießscharten versehen. Man braucht einen ganzen Tag, wenn man zu Fuß die Mauer umschreitet. Was der Bau dieser Mauer für eine Leistung war, konnte man daraus ermessen, daß, als kürzlich ein kleines Stück einer weit bescheideneren inneren Mauer niedergelegt wurde, monatelang daran gearbeitet werden mußte. Man konnte das Material an Steinen und Ziegeln, das frei wurde, kaum verwerten. Man mußte mit dem Abreißen schließlich aufhören, weil es zu kompliziert und teuer geworden wäre. Was muß da erst das Aufbauen für ein Werk gewesen sein! Man kann ruhig sagen, daß trotz aller modernen Technik sich heutzutage gar nicht mehr die Geldmittel beschaffen ließen, um solch gigantische Bauwerke zu errichten, wie sie in jenen Tagen aus der Erde stiegen.
Aber auch die Mingdynastie ging schließlich wie so viele ihrer Vorgängerinnen unter an der Üppigkeit und Gewissenlosigkeit der Männer auf dem Thron. Innerer Aufruhr erhob sein Haupt. Die Unruhen, die so entstanden, benützte der ostmongolische Volksstamm der Mandschus, um sich in Chinas innere Kämpfe zu mischen. Und nachdem der letzte bedauernswerte Herrscher der Ming auf der Flucht vor dem Eindringen der Rebellen an einem Lebensbaum auf dem sogenannten Kohlenhügel hinter dem Palast sich erhängt hatte, da stürmten die mandschurischen Scharen herbei und rächten das untergehende Haus der Ming an den Empörern. Diese wurden vertrieben und getötet, und die Mandschuhäuptlinge bestiegen den Drachenthron. Die Hauptstadt blieb Peking. Die neue Dynastie, die sich die »Große Reine« (Ta Ts'ing) nannte, gebärdete sich als Rechtsnachfolgerin der »Großen Klaren« (Ta Ming) Dynastie. Darum wurden deren Erdaltäre nicht zerstört. Die Gräber im Norden von Peking ließ man unversehrt, und auch der letzte Herrscher fand mit seinem treuen Eunuchen, der mit ihm gestorben war, ein Grab in der Nähe seiner Ahnen. Der Kaiser Kienlung ließ der verflossenen Dynastie mitten in der Geisterstraße, die zu den Gräbern führt, eine große Steintafel errichten, auf der er ihr Geschick beklagt, während vier Hunde auf Säulen ringsumher trostlos gen Himmel heulen. Die Paläste und ihre Schätze wurden vom Sieger übernommen. Alles wurde ausgebaut und erneuert. Die kaiserliche Stadt der Ming wurde für die Bannerleute, die Krieger der neuen Dynastie, mit Beschlag belegt. Die Chinesen mußten ausziehen und wurden südlich vor der Stadt in der sogenannten äußeren oder Chinesenstadt angesiedelt. Auch diese Stadt wurde mit einer, freilich etwas dürftigeren, Mauer umzogen, die neben den bewohnten Vierteln auch weite Strecken bebauter Felder in ihrem Innern faßt. Das war nun das dritte Peking. Dieses Peking war Weltstadt, nicht bloß chinesische Hauptstadt. Hier war die Stelle, wo die Herrschaft über die Bannerscharen und die Chinesen ausgeübt wurde. Beide blieben getrennt. Denn wenn die Chinesen auch den Zopf der Eroberer und ihre Kleidung übernehmen mußten, so fand doch keine Verheiratung zwischen den Stämmen statt. Die Mandschuren, deren Garnisonen rings im Lande verteilt waren, hielten sich von Landbau und Gewerbe fern. Sie blieben Krieger und lebten von dem Tributanteil, den ihr Herr und Gott, dessen Sklaven sie waren, ihnen zuteilte. Die Chinesen, der produktive Teil der Bevölkerung, wurden durch kaiserliche Beamte regiert, die ebenfalls in Peking ihre höchsten Behörden hatten.
Die Mandschus haben es sich stets angelegen sein lassen, den Konfuzianismus zu pflegen. Im Norden der Stadt steht der wundervolle Konfuziustempel mit seinem strengen, bildlosen Ernst. In der Nähe ist das Kuo Tsï Kiän, die Halle der Klassiker, ein quadratischer Raum in rundem Teich (Zirkel und Winkelmaß symbolisierend), in dem die großen Kaiser persönlich die Lehre verkündigt haben.
Aber auch die Mongolen waren da. Man wußte sie zu sichern durch die Aufnahme ihrer Religion. Eine ganze Reihe von Tempeln des Lamaismus, wie der Gelbe Tempel (Huang Sï) und der Tempel der Harmonie und Eintracht (Yung Ho Kung), stehen in Peking und haben die Brücke gebildet nach der Mongolei und nach Tibet hin. Mehr als ein lebender Buddha oder Großlama haben in Peking geweilt, und einer ist sogar hier gestorben, wovon die Skulpturen auf schönen Marmorpagoden in diesen Tempeln noch erzählen. Diese lamaistischen Heiligtümer beunruhigen oft die Besucher Pekings. Der Lamaismus ist eine Form des Buddhismus, die voll von Magie und schrecklichem Zauber ist. Die Kräfte der Natur sind durch Göttergestalten verkörpert, die in ihrer rücksichtslosen Grausamkeit entsetzlich sind. Die langen Posaunen, die durch den ganzen Hof reichen, tönen gräßlich. Pauken und Triangel und Muschelhörner sind aus einem verschlossenen Raum zu einem monotonen Gesang hörbar. Die Phantasie hat Spielraum, sich auszumalen, was da hinten an entsetzlichen Dingen geschieht. In Wirklichkeit wird einfach Messe gelesen. Die Menschenschädel, die im Kult verwendet werden, die tiergestaltigen, blutrünstigen Ikone, die oft ihre weibliche Schakti als Symbol der Schöpfertätigkeit bei sich haben, sehen fürchterlich aus. Der Dämonentanz mit den großen Masken, die erschrecken, der Teufel, der um Neujahr erst geschlagen, dann verbrannt wird: alle diese spukhaften Geheimnisse zeigen eine Form der Wüstenmagie, die nicht vereinbar erscheint mit dem milden, erhaben ruhigen Buddhismus, von dem sie eine Sekte sind. Die Fremden aber, die diesen Dingen verständnislos gegenüberstehen, wundern sich, wenn große, starkgebaute Mongolen in ihren bunten Kutten sich andächtig zu Boden werfen im Weihrauchdampf vor diesen Spukgestalten. Diese Fremden lassen sich mit lüsternem Grauen die Vorhängchen aufheben von den Götterpaaren, deren intime Zeugungsarbeit dem Blick der Unberufenen verhüllt ist, und wenn sie besonders religiös sind, so entsetzen sie sich über den Greuel chinesischen Heidentums und suchen aus wissenschaftlichem Interesse im stillen eine Nachbildung dieser entsetzlich pikanten Dinge sich zu verschaffen. In Wirklichkeit haben wir es hier mit keiner chinesischen Religion zu tun. Der Chinese steht diesen Kulten nicht minder fremd gegenüber als der Europäer. Es war die Staatsklugheit der Herrscher des Mandschuhauses, die selber Anhänger des reineren Mahayana-Buddhismus waren, daß sie die Wüsten- und Gebirgsstämme der Gobi und Tibets dadurch an sich fesselten, daß sie ihrem Glauben diese Tempel bauten. Wie Karl der Große den Papst beschützte, um durch ihn die Priester in der Hand zu haben, so pflegten diese Herrscher den Kult jener Stämme, um die geheimnisvollen Gegenden des mittleren Asiens mit ihrem Reich verbunden zu erhalten. Diese Tempel in Peking waren jahrhundertelang wirksamere Bollwerke gegen die Wüstensöhne, als es die große Mauer gewesen war.
Aber auch die Mohammedaner – sie sind meist Turkvölker aus den westlichen Gebieten und in früheren Zeiten als Krieger im Lande angesiedelt worden – haben hier ihre Tempel und Heiligtümer gehabt. Gegenüber der roten Mauer der verbotenen Stadt der Kaiserpaläste stand früher ein hoher zweistöckiger Torbau. Ursprünglich war er mit Marmorskulpturen verkleidet gewesen, aber lange schon waren sie abgefallen, so daß die morsche Ziegelmauer darunter hervorsah. Hinter diesem Tor war ein geheimnisvolles Durcheinander von Bäumen und Gebüschen, aus denen große, zermürbte Dachbalken eines in Trümmern liegenden Gebäudes hervorragten. Trat man näher, so sah man in den Trümmern eine Marmortafel, von prächtigen Drachenornamenten umrahmt, auf der in türkischer, mongolischer, mandschurischer und chinesischer Schrift die Stiftungsurkunde des Kaisers Kienlung stand, der den hier wohnenden Moslim die Moschee gebaut hatte. Drüben über der Straße ragt ein Hügel über die purpurne Mauer der verbotenen Stadt hervor. Darauf steht ein kleiner Aussichtspavillon, der nach Westen schaut. Hier lebte die Lieblingsgemahlin des Kaisers, die »duftige Gemahlin« (Hsiang Fe) genannt. Sie war als wertvollstes Beutestück aus einem Kriegszug gegen unbotmäßige Mohammedanerstämme mitgebracht worden. Immer hatte sie Heimweh nach ihrem fernen Westen. Aber der Kaiser liebte sie. So baute er ihr den Aussichtspavillon und die Moschee. Ihr Bildnis in romantischer Ritterrüstung wurde von dem kaiserlichen Hofmaler Lang Schï Ning, der in Wirklichkeit Castilhone hieß und ein Italiener war, in Öl gemalt und ist jetzt noch im Pekinger Hofmuseum zu sehen. Sie hat ein tragisches Schicksal gehabt. Alle Liebe des Kaisers konnte sie nicht schützen gegen die Stricke und Netze der Hofintrige, die sich um sie spannen. Als der Kaiser einst zum Opfer auf dem Himmelsaltar in die südliche Vorstadt ausgezogen war und dort fastend und betend mehrere Tage verharrte, machte man ihr den Vorwurf, sie habe den Kaiser getötet. Als der Herr der Welt und Himmelssohn zurückkam, da fand er seine geliebte Gemahlin tot; denn ihre Feindinnen hatten dafür gesorgt, daß die Strafe für den gräßlichen Mord, dessen sie angeklagt war, sofort vollzogen wurde. – Heute ist die kleine Moschee mit ihren Geheimnissen verschwunden. Eine breite Asphaltstraße zieht sich an der Mauer vorbei. Der Eingang zum Präsidentenpalast ist hier, und auf dem alten Hügel weht das fünffarbige Reichsbanner der chinesischen Republik. Dort, wo der Tempel stand, ist jetzt ein Polizeibüro modernen Stils aus grauen Ziegeln erbaut. – Die Mohammedaner sitzen jetzt hauptsächlich in der Ochsenstraße, und ein deutscher Missionar in langem Bart übt liebevollen Herzens eine zwar kümmerliche, aber gutgemeinte Armenpflege. Bekehrt hat er noch keinen von ihnen; denn die Mohammedaner in China missionieren nicht und lassen sich nicht missionieren. Aber er spricht mit ihnen von Gott und allem Guten und hat sie daran gewöhnt, daß sie sich ziemlich regelmäßig zum Empfang der Almosen einfinden, die er gewissenhaft allwöchentlich unter sie verteilt.
Noch andere Stämme sind gelegentlich in Peking aufgetaucht. Es sind Steininschriften in der Nahe gefunden worden, die heute niemand mehr lesen kann. Und die Europäer, die gegenwärtig in dem südöstlichen Winkel der Mandschustadt vom Hatamen (dem östlichen Tor der Südmauer) bis zum Ts'iänmen (dem »vorderen« d. h. zentralen Südtor) im Gesandtschaftsviertel wohnen, sorgen dafür, daß auch in dem vierten Peking, dem republikanischen, die Völkermischung nicht fehlt. Wenn in den heißen Sommernächten die Fremden auf dem luftigen Dach des Hotels de Pékin unter den Klängen einer Jazzband ihre Negertänze ausüben, so ist das für chinesisches Empfinden nicht so sehr verschieden von den kultischen Tänzen im Tempel Yung Ho Kung im Norden der Stadt. Dort tanzen die Mongolen im Winter, und ihre Lamas sind verhüllt und maskiert, daß fast nichts mehr von ihrer ursprünglichen Gestalt zu sehen ist, und die Muschelhörner und Schädeltrommeln machen den Takt dazu. Hier tanzen im Sommer die Europäer, und ihre Damen sind enthüllt und dekolletiert, so daß fast nichts mehr von ihrer ursprünglichen Gestalt nicht zu sehen ist, und die Negersaxophone und Holzklappern machen den Takt dazu. Freilich ihre Götter sind verschieden. Dort sind es geheimnisvoll zauberhafte Wesen jenseits von Zeit und Raum, hier ist es der platte, nüchterne Gott Mammon mit dem Dollar in der Hand. – Es ist aber noch ein Unterschied vorhanden. Das alte China hat die Tänze der Lamas niemals mitgetanzt. Doch Jung-China fängt teilweise schon an, Geschmack zu gewinnen an Foxtrott und Onestep, und die schlanken chinesischen Herren mit den feinen Händen und die zierlichen, wenn auch zunächst noch meist etwas dezent gekleideten chinesischen Damen im Bubikopf können sich recht gut neben ihren europäischen und amerikanischen Freunden sehen lassen.
Aber das alles ist nur Oberfläche. Andere Dinge sind es, die für das vierte Peking von entscheidender Bedeutung sind. China hat seit alter Zeit nach dem Meer und nach dem Süden Beziehungen gehabt. Dort lag Kolonialland. Auch heute noch findet im Osten und Süden kolonialer Austausch statt. Vom Meer her wurden die fremden Kolonien an Chinas Küste angelegt, die heute der Schmerz und die Scham jedes vaterländischen Chinesen sind, weil sie mit politischer Unterdrückung und persönlicher Arroganz der Kolonisten Hand in Hand gehen. Der Typ dieser Kolonisation sind England und Japan, die Länder des Imperialismus. Übers Meer hin geht aber auch von China aus eine Kolonisation. Still und friedlich infiltriert sie die englischen, holländischen und amerikanischen Besitzungen im Südosten von Asien. Schon heute ist der chinesische Kaufmann und Arbeiter dort unentbehrlich. Diese Probleme werden der Menschheit mit der Zeit noch ganz neue Aufgaben stellen; denn auch hier hat das alte China ganz wie von selbst den neuen Weg gefunden. – Peking, die Nordhauptstadt, liegt diesen Vorgängen ferner. Hier ist der Ort der Auseinandersetzung mit dem Festland, dem Norden und Westen. Solange diese Auseinandersetzung nötig und möglich ist, solange wird Peking bestehen. Zu Beginn der Revolution, als alles sich nach Amerika hin zu orientieren schien, da sah es einen Moment so aus, als ob Peking zurücksinken würde in eine Periode des Schlafs und des Verfalls. Heute ist dieser Moment schon vorüber. Freilich nicht mehr die Mongolen und Mandschuren sind es, die in Betracht kommen: heute ist Rußland an die Stelle dieser Mächte getreten. Rußland stützt und fördert China in seinem Kampf um die Unabhängigkeit. Darum wird Peking eine neue Bedeutung gewinnen als eines der Zentren, wo Weltpolitik getrieben wird. Es ist leicht, sich über den Bolschewismus aufzuregen, wie England das tut, und – oberflächlich. Hier hegen Weltprobleme vor: Neuerstarken und Vordringen der kontinentalen Masse gegen die ozeanische Aggression. Wer hier zu schauen versteht, kann Bücke in die Zukunft der Menschheit tun.
Doch ehe wir das moderne Peking, in dem Vergangenheit und Zukunft ineinanderspielen, näher ins Auge fassen, wollen wir noch einmal zurückkehren in das Peking der Vergangenheit, dessen Trümmer heute eher zugänglich sind, als es seine frühere Abgeschlossenheit war. Freilich ist mit dieser Zugänglichkeit auch immer verbunden, daß, wie das Morgengrauen in den Zauber der Mondnacht, die neue Zeit in die Reste des Alten hineinfällt.
Wieviel ist schon geschrieben worden über den Himmelsaltar im äußersten Winkel der Südstadt! Er hegt den Besuchern jetzt offen; anders als zur kaiserlichen Zeit, da nur in der Tiefe der Neujahrsnacht das große Geheimnis des Himmelsopfers hier am Mittelpunkt der Welt vollzogen wurde, inmitten der uralten heiligen Bäume des Hains, auf dem marmornen Rund der dreistufigen Terrasse, während an den drei hohen Masten die großen roten Lampen glühten und prasselnd die Lohe aus dem Brandopferofen in dem äußeren Mauergebiet gen Himmel schlug. Der Altar war überdeckt von Teppichen und Laternen. Die Tafeln, auf denen die Namen des Himmels und der kaiserlichen Ahnen, die als heilige Familie um den höchsten Gott im Kreis sich scharten, geschrieben standen, die Tafeln mit den Namen der himmlischen und irdischen Kräfte, die auf den unteren Umgängen von Prinzen und Ministern verehrt wurden, waren hervorgeholt worden aus der blaudachigen Rotunde im Norden. In dieser Nacht nach dem heiligen Fasten warf sich der Kaiser verehrend zu Boden: er, der Himmelssohn, der sonst stets mit dem Gesicht nach Süden thronte, dieses einzige Mal nach Norden gewandt – dem hehren Ahn und Vater von Himmel, Erde und Menschen zu Ehren, von dem er Stellung und Amt überkommen hatte.
An diesem Altar ist alles ganz abstrakt geistig: die Kreisform, die das Bild des Himmels ist, die drei Umgänge, zu denen dreimal neun Stufen emporführen, der runde Stein in der Mitte, den neun Steinplatten im Kreise umgeben, während neun mal neun Platten die ganze Fläche decken. Die Tore, die nach den vier Himmelsrichtungen zu vom Altarbezirk nach außen führen, sind mit steinernen Wolkengebilden geschmückt. Die rote Mauer, die den innersten Kreis umgibt, ist rund, mit blauen Ziegeln gedeckt, darum geht eine andere, quadratische Mauer ebenfalls mit blauer Ziegelbedeckung. Nur eine gerade Linie ist in diesem Gewirr von Mauern und Toren, Marmorstufen und Platten: es ist die feine gerade Linie, die zwischen den Mauersteinen der Platten und Stufen vom Mittelpunkt aus nach Norden weist: eine Mauerspalte nur, eine Richtung, eine Tendenz. In dieser Richtung, die dem Kaiser seine Stellung andeutet, liegt das ganze Geheimnis der Verehrung der himmlischen, unfaßbaren Macht, die alles Irdische beherrscht.
Auf dieser Linie liegt im Norden die dreistufige Rotunde mit dem blauen glasierten Ziegeldach, die als Himmelstempel bekannt ist und das Wahrzeichen von Peking geworden ist. Es ist der Tempel, in dem der Herrscher um Erntesegen flehte. Hier ist in der reichen Symbolik des Baus schon das Ineinander von Himmel und Erde angedeutet, das alles Wachsen und Werden ermöglicht. Ein ähnliches Stufenrund wie beim Altar liegt in der quadratischen Ummauerung, die durch ihre Form das Irdische bedeutet; denn die Erde ist quadratisch, wie der Himmel rund. Die Geländer sind unten mit Wolken, darüber mit Phönixen (Erde), darüber mit Drachen (Himmel) verziert. Das Balkenwerk des Tempels ist ebenfalls mit Drachen und Phönixen geschmückt. Die Farbe des Himmels ist blau, die Farbe des irdischen Wachstums ist grün. Die innige Vereinigung von Himmel und Erde ist dadurch angedeutet, daß die Drachen in grünen und die Phönixe in blauen Feldern schweben, und die Drachen unten, die Phönixe oben sind. Der Himmel hat sich unter die Erde gestellt. Da die Bewegung des Himmlischen, Schöpferischen aufwärts und die des Irdischen, Empfangenden abwärts gerichtet ist, so kommen diese Kräfte in Verbindung und Vereinigung. Auch im Innern der runden Halle ist dieses Widerspiel. Das runde Dach ist getragen von einem quadratisch angelegten Balkenwerk, das auf vier große Säulen gestützt ist und in seinen Richtungen die vier Jahreszeiten bedeutet, außen herum führen die zwölf Säulen der zwölf Monate. Im Kreis umher stehen die Throne, auf denen beim Opfer die Tafeln der Göttlichen aufgestellt waren. Wenn man diese Symbole, die auf die älteste Vergangenheit zurückgehen, alle durchmeditiert, so sieht man die wirkende Natur vor Augen Hegen, und man versteht, daß Konfuzius einst gesagt hat: »Wer den Sinn der Großen Opfer verstünde, für den wäre die Regierung der Welt so leicht, als läge sie auf seiner flachen Hand.«
Heute ist das alles Vergangenheit. Yüan Schï K'ai hat noch einmal den schwachen Versuch gemacht, die alten Bräuche künstlich zu beleben. Es ist ihm schlecht bekommen. Seither brütet der blaue Himmel über dem ungeheuren Feld, die Wolken ziehen, und der Regen fällt, Schnee wirbelt, und die Winde wehen. Leise, leise geht die Zeit und bröckelt leise, leise an den Resten der Vergangenheit, bis sie einst stürzen werden, wenn ihre Zeit vorüber ist. Jetzt ist der Tempel ein Nationalmonument. Die Anlagen werden instand gehalten von den Eintrittsgeldern, die die fremden Besucher zahlen; auf dem weiten Raum vor dem Tempel werden am Baumfest im Frühling von der Jugend Zypressen gepflanzt, die langsam heranwachsen und die Ebene füllen. Im Süden ragen die Masten der Radiostation, und aus der Ferne tönt der Pfiff der Eisenbahn herüber. Eifrige Beamte sammeln Geld, um auf dem Gelände um den Himmelsaltar demnächst eine Weltausstellung zu eröffnen.
Während der Himmelsaltar mit seiner Anlage noch immer die Seele jedes empfänglichen Menschen mit Verehrung erfüllt, ist der Ackerbautempel über die Straße drüben vollkommen der Zerstörung preisgegeben. Hier lag das Feld, wo der Kaiser unter den Klängen der heiligen Flötenmusik mit eigener Hand den Pflug durch die Furchen führte und seine Minister ihm nachfolgten in der ursprünglichsten und heiligsten Handlung. Hier war unter schwarzglasiertem Ziegeldach der Tempel des großen Jahres, des Jupitersterns und aller himmlischen Bilder, durch die die Zeit dem Menschen erschien, die Zeit, die für den Ackerbau so wichtig ist. Jetzt ist eine Kaserne in den Tempelräumen. Die heiligen Haine, in denen früher unberührt die Gräser und Kräuter unter hohen Lebensbäumen wuchsen, wie es der Mutter Erde gefiel, sind zum öffentlichen Belustigungspark gemacht. Die Kräuter und Gräser sind ausgerissen. Auf den viereckigen Terrassen, auf denen den Wolken und Bergen, dem Regen und Wind geopfert wurde, die in geheimnisvoller Stille unter seltsam geformten Kiefern träumten, sind jetzt Mattenverschläge errichtet, und an Sommernachmittagen kommen die Familien und trinken auf diesen Altären einen schlechten Kaffee und Sodawasser. Volksfestgedränge hat die heilige Stille totgeschlagen.
In den Außenbezirken der vier Himmelsgegenden lagen die Altäre, auf denen die großen kosmischen Kräfte verehrt wurden: im Süden der Himmel auf rundem Altar, im Norden die Erde auf quadratischem Altar, im Osten der Sonnengott und im Westen die Mondgöttin. Das ist urältestes Erbteil und stammt aus einer Zeit, die noch der Tschouzeit vorangeht – denn unter den Tschou war die Sonne weiblich und stand im Süden und der Mond männlich und stand im Norden, im Osten aber stand der Donner (männlich) und im Westen der See (weiblich) –. Heute sind alle diese Altäre verfallen. Der Sonnenaltar, von dichten Bäumen umschattet, liegt in einer stillen Gegend träumerisch da, und wenn man auf der Stadtmauer dem Sonnenaufgangstor zuwandert, so sieht man ihn in der Ebene still und abseits, als läge er auf einem ausgestorbenen Planeten. Die Gebäude der anderen beiden Heiligtümer (Erd- und Mondaltar) sind zu Kasernen umgewandelt.
Zu den tellurischen Gottheiten gehörten die Geister der Ackerkrume und der Hirse. Ihr Altar stand nahe beim Palast; denn Ackerkrume und Hirse (Schê Tsi) waren die Gottheiten des Landes und der Gesellschaft. Wer sie besaß, besaß das Reich. Fünffarbene Erde war zu einer Terrasse gehäuft: Im Zentrum gelb, im Osten blau, im Süden rot, im Westen weiß, im Norden schwarz. Ein Stück dieser heiligen Erde bekamen früher die Lehnsfürsten für ihren Altar. Fiel ein Herrscherhaus, so wurde vom Sieger sein Altar vermauert und vom Himmelslicht abgeschlossen. Blumen blühen um den Altar der Ackerkrume und der Hirse. Uralte Lebensbäume wachsen vor der Mauer, in denen alte Vögel krächzen, ein Teich trennt diese heilige Stätte vom Kaiserpalast mit seinen roten Mauern und Zinnen und goldgelben, glänzenden Dächern, die sich in seinen stillen Wassern spiegeln. In den Gängen zwischen den Zypressen drängt sich die Jugend Pekings, die Studenten und Studentinnen, Familien mit Söhnen und Töchtern, und auch die kleinen Sängerinnen fehlen nicht. Hügel sind angelegt und Teiche, und kleine Hallen an den Teichen, in denen man Gelage feiern kann. Vögel schwimmen auf den Teichen, Kraniche stelzen am Ufer, und rotbemalte Gänse schnattern. Goldfischanlagen stehen in einer Laube: Viele verschiedene Gefäße sind aneinandergereiht, in denen die seltsam phantastischen Tiere schwimmen mit den Kugelaugen und langen Schleierschwänzen. Photographen sind zur Hand. Kegelbahnen und Restaurants laden ein. Man kommt und geht, man ruht und plaudert und verträumt den Nachmittag, man trifft sich hier mit seinen Freunden, oft sind Ausstellungen hier, oft Massenversammlungen, oft wissenschaftliche Klubs und oft Partien mit Schauspielerinnen. Am Eingang steht der frühere Kettelerbogen, mit seinen durch die Zeit schon etwas überholten Inschriften Vgl. Kap. 11.. Für Lenin wollen die Studenten ein Monument errichten. So herrscht ein buntes Leben am Altar der Ackerkrume und der Hirse. Die alte Zeit ist hier schon ganz vergessen. Er ist zum Zentralpark umgewandelt worden.
Doch nun ist es Zeit, dem Kaiserpalast und seiner Anlage sich zuzuwenden. In Europa gibt es auch prächtige Schlösser, die etwa einen weiten Platz beherrschen, dessen Gestaltung so abgestimmt ist, daß sie zum Ganzen paßt. Aber in Peking beherrscht der Palast nicht einen Platz. Er ist eine Stadt für sich, und die ganze Millionenstadt Peking ist in den Plan dieser Palaststadt hineinkomponiert. Drei Ringe sind dem Palast vorgelegt: die Chinesenstadt im Süden, durch einen breiten Mauerwall davon getrennt die Mandschustadt, durch eine weitere Mauer umschlossen die Kaiserstadt, in der die Banneroffiziere und Hofbeamten wohnten, und endlich durch Wall und Graben von jedem unbefugten Betreten geschützt die heilige purpurne verbotene Stadt der eigentlichen Paläste. Wenn man diese großartigste Komposition in Beziehung auf Raumgestaltung einer ganzen Stadt verstehen will, so muß man im Geist nach Süden wandern bis zum südlichen Tor der Chinesenstadt. Von da aus zieht sich eine meilenlange gerade Achse direkt nach Norden. Im Dunst der Ferne taucht am Ende der Straße das Südtor der Mandschustadt in seinen Umrissen nur eben auf. Der Weg führt am Himmelsaltar zur Rechten und am Ackerbautempel zur Linken vorüber. Die leeren Räume, die sich an die Straße anschließen, sind besetzt mit Mattenzelten, in denen Tee verkauft wird, Theatertribünen, Marktbuden. Tagaus tagein ist hier ein geschäftiges Treiben. Dann schließen sich die festen Gebäude allmählich dichter zusammen. Wenn man die Himmelsbrücke überschritten hat, wo vor Tagesanbruch Markt gehalten wird, auf dem gar manche Beutestücke nächtlichen Diebstahls zum Verkauf kommen, dann verwandelt sich die Bretterstadt immer mehr in die Stadt der Kaufleute. Goldverzierte Firmenschilder hängen senkrecht an den einstöckigen Läden, die mit bunter Pracht und abends mit tausend elektrischen Lampen ausgestattet sind. Das Gedränge wächst, je näher man der Mandschustadt kommt. Autos, Rikschas, Pferdewagen chinesischer Art und die etwas altertümlichen Glaskutschen der Beamten drängen sich. Dazwischen stehen die Straßensprenger, die aus großen Kübeln Wasser auf die Straßen gießen, damit der Staub, der dauernd in der Luft wirbelt, ein bißchen wenigstens niedergeschlagen wird. Die Fußgänger bewegen sich in dichten Schlangen an den Seiten der Straße. Auf den Fußsteigen sind alle paar Tage die fliegenden Verkaufsstände aller Arten von Kleinhändlern aufgestellt. Aber das ganze Getriebe, das oft so eng sich drängt, daß die Wagenketten viertelstundenlang stehen bleiben müssen, ehe sie sich weiterschieben können, geht in Ruhe und ohne Streit voran. Soldaten und Polizisten stehen alle paar Schritte in der Mitte der Straße, um den Verkehr zu regeln. Nun kommen die Querstraßen der feinen Geschäfte. Zur linken Seite die Taschalan, wo die hohen, goldenen Seidengeschäfte stehen, dann die Gasse der Juwelenhändler, die außer Nephriten, Perlen und Edelsteinen auch allerlei echte und falsche Kunstgegenstände feilbieten, ferner die Laternengasse, wo es die hübschen chinesischen Papierlaternen und Fächer gibt. Nach Westen geht der Weg dann ab zur Liulitsch'ang (Glasmacherwerkstatt), in der sich jetzt die Kunsthandlungen drängen.
Aber lassen wir das alles für jetzt beiseite hegen, und fahren wir unter dem buntbemalten hölzernen Durchgang hindurch, von wo die Straße sich in zwei Bogen teilt, die rechts und links um die Bastion des Ts'iän Men oder Tschon Yang Men (Vorderes Tor oder Hauptsüdtor) herumfuhren. Diese Bastion ist früher mit dem Haupttor durch Mauervorsprünge verbunden gewesen, die aber wegen des stark vermehrten Verkehrs an dieser Stelle niedergelegt werden mußten. Das Haupttor mit seinem farbigen Aufbau schaut als Wahrzeichen weit hinaus ins Land und grüßt durch die duftige Ferne die anderen Torbauten, die die Hochstraße der Mauer unterbrechen. Rechts und links vom Tor sind die beiden kleinen Tempelchen der Kuanyin und des Kuanti, die die Stadt beschirmen, während weiterhin Wachtgebäude sich an die Stadtmauer anlehnen. Das Mitteltor ist stets geschlossen. Es war dem Kaiser vorbehalten. Der Verkehr geht durch zwei Doppeltore rechts und links, die durch die Mauer gebrochen sind.
Das Südtor kann als Eingang zur Palaststadt betrachtet werden, denn von hier aus führt in der Verlängerung der bisherigen Nordsüdachse die mit Marmor gepflasterte Straße weiter nach Norden. Nach einer kurzen Anlage folgt ein roter Durchgang mit buntem Balkenwerk und gelbglasiertem Dach in den ummauerten Bezirk. Dann kommt man an die große Marmorbrücke, vor der zwei Drachen auf hohen Marmorflächen Wache halten, von da geht es durch einen mächtigen zinnengekrönten Bau, dessen Ecken durch massive viereckige Türme befestigt sind, immer weiter nach Norden von Hof zu Hof, von Halle zu Halle. Die Höhe und Mächtigkeit der Bauten des Palastes kommt weniger zum Bewußtsein. Sie sind in die ungeheuren leeren Räume hineingesetzt und wirken ohne zu überraschen. Immer tiefer, heiliger, zurückgezogener wird die Gegend. So geht es fort, bis endlich im Norden wieder ein Graben den Abschluß bildet hinter dem verborgenen labyrinthischen Gewirre der Höfe und Plätze des kaiserlichen Wohnreviers. Überragt wird das Ganze von dem dreigipfligen Kohlenhügel, dessen zerspellte Baumleichen und verfallene Pavillons der Zeit des Untergangs geweiht erscheinen.
Die Zeit, derer man bedarf, um alle diese Höfe von Marmor und die farbenleuchtenden Hallen zu durchschreiten, wirkt so, daß dadurch ein ganz neues Raumgefühl der Horizontalen erzeugt wird, dessen stärkster Gegensatz vielleicht der eng in die Höhe schießende, auf einen Blick überwältigende gotische Dom ist. Im gotischen Dom: Streben, Bewegung, Übermaß, Höhe, Enge, Raumlosigkeit, Unruhe, hinauf in immer steilere schwindelndere Lüfte, von der Erde hinweg ins leere Blau des Abstrakten, des Jenseits, – hier im chinesischen Palast: Erdbewußtsein, Ruhe, unendliche Räume in der Breite und Tiefe gegliedert, die Zeit als Raum, das große, vornehme Wartenkönnen, behagliche Wirklichkeit ausgebreitet auf der sicheren Erde, gelb und stark in Farben leuchtend, darüber als Ahnung sich wölbend und Bedeutung verleihend der große, erhabene, blaue Himmel: Einheit von Himmel und Erde, die Ewigkeit konkret in der Zeit erscheinend, das Erhabene im Diesseits.
Gewiß, dieses Weltgefühl – letzten Endes das Weltgefühl der Ebene – ist heute vergangen. Wir wollen nicht mehr den Reichtum des Raums in der Weite des Weges und der Länge der Zeit sich entfalten sehen. Wir wollen Zeit sparen, Räume überwinden, alles ist uns zur Stufe geworden und Mittel zum Zweck und jeder Zweck selber wieder Mittel für etwas anderes. Darum wirkt diese lebhaft tüchtige Wirklichkeit auf viele Menschen so aufregend. Sie haben nicht mehr die Zeit dazu. So hat man ja auch den größten Irrtum begangen und Pekings Straßen mit Straßenbahnen durchzogen. In Peking muß man Zeit haben und darf nicht nach Sensationen jagen. Wer keine Zeit hat, mag nach Schanghai gehen und dort sich von Mephisto unterweisen lassen, was zu einer Großstadt gehört von Rollekutschen, lärmigem Hin- und Widerrutschen, ewigem Hin- und Widerlaufen zerstreuter Ameis-Wimmelhaufen. In Peking gibt es andere Dämonen. Mephisto fühlte sich hier gelangweilt und so wenig zu Hause wie auf der klassischen Walpurgisnacht.
Wie groß diese Palaststadt eigentlich ist, das erkennt man erst, wenn man bedenkt, was seit der Revolution aus ihren Teilen alles geworden ist: zwei große öffentliche Museen, in denen die Schätze an Kunst und Kunstgewerbe, die Jahrhunderte zusammengebracht haben, ausgestellt sind, der Zentralpark, der Präsidentenpalast am »Mittleren Meer«, die Räume für die Arbeiten des Ministerkabinetts am »Südlichen Meer«, der große Park mit seinen Ausflugshallen und Bibliotheken, der runden Stadt, der großen Marmorpagode und all den Tempeln am »Nördlichen Meer«, die Unzahl von Büros und Unterkunftsräumen für alle möglichen Behörden, die Hallen und Höfe, die für die Zwecke des Parlaments beansprucht wurden, die Räume für den Empfang der fremden Gäste und neben dem allem noch der ungeheure Komplex, in dem die Tausende von Hofbeamten, Eunuchen, Palastdamen, Dienerinnen, Kaiserinnen mit ihrem ganzen Dienstpersonal untergebracht waren, die Hallen, die den Feuersbrünsten der letzten Jahre zum Opfer gefallen sind, und die vielen, vielen Räume, die noch immer zur Verfügung stehen: das zeigt die Weiträumigkeit dieser Anlage, die auf der ganzen Erde in ihrer Art nicht ihresgleichen hat.
Der Palast bildet das Herz der Stadt. Das Straßennetz führt außen um ihn herum, und erst seit der Revolution ist der Verkehr von der Oststadt zur Weststadt an einigen Stellen dadurch erleichtert worden, daß Straßen quer durch das Palastgelände gehen. Durch die lange Abgeschlossenheit ist es dazu gekommen, daß die beiden Stadtteile im Osten und Westen einen ganz verschiedenen Charakter bekommen haben. Die Oststadt wird von Süden nach Norden durchschnitten von der großen Hatamen Straße. An der Straße selbst sind meist Läden und Geschäfte. Aber rechts und links gehen die Querstraßen ab, die ein seltsames Gewimmel von Menschen und Tieren enthalten. Kleine, in sich abgeschlossene Gehöfte werden gelegentlich von Europäern gemietet, die sich darin mehr oder weniger chinesisch und meist recht gemütlich eingerichtet haben. Wenn man in einer Frühsommernacht mit einigen guten Freunden im blumenduftenden Höfchen eines solchen chinesischen Anwesens sitzt mit Blumenkränzen im Haar bei einer Flasche guten Weins, dann läßt sich wundervoll über das Leben reden. Der Mond scheint dazu über die Dächer her. Draußen tönen die verschiedenartigen Rufe der Verkäufer, das Lachen der Kinder und der dumpfe Lärm der Ferne. Schließlich schweigt die Nacht, nur einsam bellt noch ein Hund nach dem Mond oder nach einem verfrühten Dieb.
Die Nächte von Peking haben Vergangenheit. Es blickt etwas von Wüste und Unendlichkeit herein, wenn die Lichter des Himmels so mächtig schimmern. Gespenster schleichen durch die schwarzen Schatten, die auf dem Steinboden des Höfchens herumkriechen, wenn die Papierlaternen verflackert sind und der Mond allein mit seinem Licht Häuser und Schatten langsam verdreht. Aber die Gespenster sind nicht sehr böse: vielleicht ein Fuchs, der sich ein wenig wärmen möchte an der Seele eines Menschen und sich deshalb in ein hübsches Mädchen wandelt, oder eine Leiche, die noch nicht lange genug tot ist und noch phosphorn leuchtende Widerscheine im Dunkel aufblitzen läßt. Vielleicht sind es aber auch nur die Leuchtkäfer, die um den Dachfirst irren, und der merkwürdige Seufzer in jener schattendurchwirkten Ecke unterm Baum ist nur ein verirrter Windstoß, der vom Herbst oder Spätwinter träumt, da er hervor darf und im Staub der Straße wühlen. Die Gespenster sind nicht sehr böse, wenn man sie nicht stört.
Peking ist eine gute Stadt, wenn auch ebensoviel Böses dort geschieht in Heimlichkeit und Offenheit wie in den anderen Städten. Aber der Ort ist gut. Wenn man einen Zweig in die Erde steckt, so treibt er Blätter und Blüten, so fruchtbar ist der Boden. Es gibt viel Schmutz da. Die Hygiene der Neuzeit ist noch nicht in jedem Winkel auf Bazillenjagd. Die Furcht vor den Bazillen ist ja die moderne Form des Geisterglaubens. In Peking laufen noch wirkliche Geister herum, da jagt man den Bazillen noch nicht nach. Es ist geradezu unglaublich, welche Möglichkeiten sie haben, sich zu entwickeln. Jahrhundertelang war auf den Straßen beinahe alles erlaubt – nicht nur den Menschen, auch dem Vieh. Man konnte Spülwasser ausgießen, Reste wegwerfen; ein Hund, eine Katze durften, wenn sie nicht anders konnten, sterben, – kurz, die Straße nahm alles milde auf und deckte mit ihrem Staub alles Ekle wieder zu. (Nur die Gerüche lassen sich oft schwer verdecken.) Wenn man nun den Mutwillen des Windes bedenkt, der das von Zeit zu Zeit immer durcheinanderwirbelt und den dunklen Staub dem Wanderer in Augen, Ohren und Nase bläst, da könnte theoretisch kein Mensch am Leben bleiben bei all den Billionen von Bazillen. Aber Peking ist eine gute Stadt. Die Sonne scheint jahraus jahrein, und mit ihren Strahlen bezwingt sie auch die bösen Geister der Bazillen.
Natürlich gibt es kranke Leute in Peking, und viele sterben. Aber das kommt auch anderswo vor, und die Sterblichkeitskurve ist nicht schlecht. Am meisten hat der Mann auf der Straße Angst vor dem Rockefeller Medical Institute. Das ist ein wundervoller alter Prinzenbau mit giftiggrünen Ziegeln. Die Räume sind alle rein und aseptisch, und kein ungebetener Bazillus darf sich hinter den Fliegengazen der Fenster herumtreiben. – Nur die regelmäßig gefütterten Bazillen in den Tiergärten der Gelatineröhrchen haben es gut. Sie dürfen sich ordentlich mästen, unter Aufsicht natürlich und höchst manierlich. – Auch das Operationsmesser arbeitet rein, glatt und sicher und mit allen Komfort der Neuzeit. Und doch, der Bettler auf der Straße und der Kaufmann hinter dem Ladentisch sind noch immer arme, abergläubische Heiden und wollen lieber in Frieden auf ihrem Holzbett sterben oder auf einem ruhigen Misthaufen, wenn es nicht anders sein kann, als im »Schlachthaus«, wie sie den Prachtbau nennen. Das sind natürlich Vorurteile; denn in den feinen Hospitälern sterben auch nicht mehr Leute als ohnehin gestorben wären. Ja, manche werden sogar unter den geschickten Händen der bewanderten Pflegerinnen und tüchtigen Ärzte vom Tode gerettet, und alle, welche kommen, werden mindestens gewaschen und desinfiziert. Aber die Leute haben nun die Antipathie. Schließlich gibt es vielleicht keine größere Weisheit, als jeden auf seine Fasson selig werden zu lassen, wie das in China bisher üblich war.
Es liegen hier recht schwere Fragen. Ich habe mich einmal einem armen chinesischen Rikschakuli gegenüber vergeblich bemüht, ihm Europas und Amerikas Fortschritt auf dem Gebiet der Heilkunde klarzumachen. Er sagte: »Bei uns läßt man die Leute sterben, wenn sie nicht mehr leben können. Man macht ihnen den Tod leicht, man trauert um sie und begräbt sie. Die so sterben sind die Alten, die Siechen, die Krüppel, die Schwachen, die doch keine rechte Freude am Leben haben. Die Starken und Zähen reißen sich durch, und wir leiden ja nicht an Mangel von Lebenden, sondern eher an Überfluß. Ihr schützt und pflegt die Untergehenden und erhaltet Menschen, die sich und anderen zur Qual sind, nur damit eure Ärzte sich ihrer Geschicklichkeit rühmen können. Gleichzeitig macht ihr Kanonen und Giftgase und teuflische Maschinen, und damit tötet ihr in ein paar Jahren mehr Menschen, als ihr vorher jahrzehntelang wider die Natur am Leben gehalten. Aber die ihr tötet, das sind die Starken und Gesunden, die der Menschheit noch viel hätten nützen können, und die ihr pflegt und rettet, sind die Krüppel und Elenden. Ist das nicht töricht?« Ich ließ den Mann mit seinem Wagen weiterfahren, da ich in der Eile der Geschäfte keine recht passende Antwort zur Verteidigung der europäischen Kultur bei der Hand hatte.
Aber da wir gerade dabei sind, wollen wir uns auch von den Schattenseiten des Lebens nicht ohne Worte abwenden. Bei den vier Durchgangstoren des Ostens (Tung Sï P'ai Lou), die an einer Straßenkreuzung stehen, ist das Kloster des Segens und des Glücks (Lung Fu Sï). Dort ist alle zehn Tage großer Markt. Peking hat eine ganze Anzahl solcher Märkte, und es ist ganz belehrend und vergnüglich, sich im Gewühl herumzutreiben. Der Markt von Lung Fu Sï ist von den Europäern »entdeckt« worden, und die chinesischen Händler ihrerseits haben bald diesen Umstand auch entdeckt. So ist der eine Hof des Tempels denn auch jederzeit erfüllt von Altertümern: Tassen, Vasen, Nippsachen, Kästchen, Platten, Kohlenbecken, Schnupftabakfläschchen, Heiligenstatuetten, Nephritgegenständen und tausend anderen wertvollen oder wertlosen Dingen. Die Preise sind zum Teil reine Phantasiepreise, vage Wünsche des Händlers, wieviel er vielleicht am liebsten für die Sache hätte. Aber die Leute lassen alle mit sich reden. Es entspinnt sich ein Kampf um den Preis, der Kennern auf beiden Seiten Freude macht. Es ist ein Kampf wie ein Trinkspiel. Man nennt nicht den Preis, den einem die Ware wert ist und über den man nicht hinauszugehen gedenkt, sondern einen weit niedrigeren. Zweck des Handels ist, sich irgendwo in der Mitte zu treffen. Das ist Sache der Nerven, der inneren Kraft der imponierenden Persönlichkeit. Der Händler läßt alle Künste einer primitiven Magie spielen, um den Gegenstand liebreizend und wertvoll erscheinen zu lassen. Er hat manchmal wunderbaren Erfolg. Oft werden Fälschungen, offenbare Fehler, Bruch und Verletzungen übersehen, von denen der Käufer sich nachträglich gar nicht mehr erklären kann, wie das nur möglich war. Im allgemeinen muß man möglichst die Ruhe wahren, nichts unter allen Umständen haben wollen – erst wenn man innerlich frei ist, kann man richtig feilschen –, und vor allem, man darf die Händler nie betrügen wollen. Wenn ein Europäer nach Hause kommt in dem Hochgefühl, einen Händler gründlich übers Ohr gehauen zu haben, wird er in der Regel mit der Zeit Gelegenheit haben, seinen Irrtum zu bedauern. Natürlich gibt es auch hier keine Regel ohne Ausnahme. Ich habe schon Käufer gekannt, die mit den von ihnen gekauften Waren einfach abgereist sind, ohne zu bezahlen – diese Fremden waren keineswegs das, was man unter Dieben zu verstehen pflegt –, aber auf der anderen Seite kann man auch nicht behaupten, daß jedes redlich erworbene Altertum nun wirklich echt sei.
In der Nähe dieses Marktes ist an manchen Tagen Schweinemarkt. Das ist nun freilich eine Hölle. Manche Menschen von Gefühl machen an diesen Tagen lieber weite Umwege, als daß sie die Qualen der wehrlos gefesselten umherliegenden Tiere mit ansehen, oder ihr Schreien hören, wenn sie gestoßen, geschlagen, getrieben, getötet werden. Hier ist die Tierhölle, die von den Höllen draußen vor dem Osttor im Tempel des Totengottes nicht wesentlich verschieden ist. Auch die Hunde auf der Straße haben es nicht gut. Sie werden selten persönlich gepflegt, sondern treiben sich, oft krank und räudig, überall umher, wo sie einen Bissen erschnappen können, bis sie in einem Winkel zugrunde gehen.
Dort begegnet man einem Zug von Kamelen. Im Winter tragen sie einen dichten Wollpelz, der im Laufe des Frühlings in Fetzen sich löst, bis sie im Spätsommer völlig nackt sind, worauf ihnen neuer Flaum wächst. Diese Mauserung macht aus den Tieren oft die groteskesten Karikaturen. Sie haben alle einen mißvergnügten, hochmütig höhnischen Zug um den Mund. Manche beißen auch, und allen sieht man es an, daß sie keine liebevollen Wesen sind. Sie haben viel zu dulden und dulden meistens stumm. Nur wenn man sie beladen hat und sie aufstehen sollen, widerstreben sie. Sie werden am Nasenring gezogen, und dann schreien sie entsetzlich. Auch wenn ihnen die Ledersohlen an die Füße genäht werden, wenn sie beim Wüstenzug sich wundzulaufen beginnen, äußern sie sich klagend. Sonst gehen sie still und heimtückisch ihren dürftigen Leidensweg.
Man hat schon häufig gefragt, ob das chinesische Volk grausam sei. Eine solche Frage enthält eigentlich einen Fehler. Es gibt kein Volk, das als Ganzes grausam wäre, ebenso wie es kein liebevolles Volk gibt. Höchstens, daß Sitten und Gewohnheiten bestimmte Gleise haben. Hier ist nun allerdings die Grenzlinie zwischen Liebe und Rücksichtslosigkeit anders gezogen als in Europa. Der Chinese findet das europäische Familienleben herzlos und liebeleer. Söhne von Brüdern schon stehen einander fremd gegenüber, und selbst Kinder gibt es, die ihre Eltern nicht versorgen. Das ist in China ganz anders. Hier ist das Gefühl gegen Eltern und Geschwister so warm und aufrichtig, daß es auch in der Lyrik als Gehalt verwendet wird. Aber die öffentliche Hilfsbereitschaft, die einem Menschen auf der Straße beispringt, den man gar nicht kennt, ist in China nicht so entwickelt wie in Europa – eben wegen der hohen Entwicklung des Familiengefühls.
Wo ferner grausame Strafen herrschen, da werden die Sitten roh, das sieht man ja am besten im Krieg – auch unter ganz zivilisierten Völkern. So bewirkten die früheren grausamen Strafen in China eine Abstumpfung der Gefühle gegen das Leiden anderer. Aber ebenso ist in den letzten Jahren, seit diese Strafen abgeschafft sind, eine entschiedene Besserung eingetreten. Gerade die Behandlung, die die internierten Deutschen während des Krieges erfahren haben, zeigte viel mehr Rücksicht und Mitleid bei den Chinesen als bei den Europäern in Ostasien.
Den Tieren gegenüber ist der Mann aus dem Volk nicht grausam, aber oft gedankenlos. Selbstverständlich liebt und pflegt er die Tiere, mit denen er zusammen ist und die ihm als Haustiere von Nutzen sind. Die Haustiere werden im allgemeinen recht gut behandelt. Allerdings ohne Sentimentalität. Die zarte Rücksichtnahme, die in Europa ältere Damen auf ihre Hunde nehmen – in Tsingtau war z. B. eine deutsche Lehrerin, die verwöhnte ihre beiden Hunde sogar auf Kosten von Menschen –, ist in China im allgemeinen nicht vorhanden. Tiere sind für die Chinesen unvollkommenere, niedrigere Wesen als die Menschen, auf die man darum weniger Rücksicht nimmt. Hier wirkt der Buddhismus etwas erweichend durch sein Mitleid mit allem, was lebt. Freilich nicht der Salonbuddhismus, der an Feiertagen Vögel auf dem Markt kauft, um ihnen die Freiheit zu schenken, während die Händler sie auf dem nächsten Dach wieder einfangen, um sie aufs neue zu verkaufen. Aber der Buddhismus hat auch stärkere, tiefere Anregungen, und eine Neubelebung des gemütstiefen Buddhismus wird sicher gute Wirkungen auf die Sitten des Volks haben. Daß die Chinesen Gemüt haben, also nicht grausam sind, sieht man am besten an der Art, wie sie mit Kindern umgehen. Fast allgemein kann man finden, daß Kinder freundlich und milde behandelt werden. Ein Volk, das Kinder liebt und mit Kindern lachen und spielen kann, ist in seiner Seele gut. Die Kinder sind daher auch ihrerseits harmlos, gutartig, oft begehrlich, aber nicht frech. Wenn die Begehrlichkeit zu weit geht, dann werden sie beruhigt, indem man ihnen tausend schöne Dinge verspricht. Namentlich die Kinderfrauen haben das in Übung. Das Kind nimmt die Dinge wohl selbst nicht ernst. Aber es freut sich, zuzuhören, und darüber wird es ruhig.
Tagtäglich führte mein Weg an der Mauer der Kaiserstadt entlang nach Norden. Innerhalb der Mauern fließt ein Graben langsam und träge nach Süden. Dichte Weiden stehen an seinem Ufer. Man kommt an alten Tempeln vorbei, deren Götter gestorben sind und die nun zu weltlichen Zwecken dienen. Ein steinerner Torlöwe mit abgeschlagenem Kopf steht irgendwo an einer Ecke. Ein Arzt mit vielen Ehrentafeln, die ihm geheilte Parienten geschenkt haben, hat sich an dem Kanal niedergelassen. Ein emsiges Leben geht an dem grünen, trüben Wasser hin und her. In der Nähe des Kohlenhügels liegt in der Oststadt die Reichsuniversität, an der ich Vorlesungen zu halten hatte. Ich denke mit großer Freude zurück an meine chinesischen Kollegen, mit denen sich manches interessante Gespräch während der Pausen entwickelte, und an die Studenten, die zum größten Teil mit Eifer und Verständnis dem Gebotenen folgten. Ein unscheinbares Gebäude ist diese Universität, ein kahler, düsterer, roter Backsteinbau (andere Teile der Universität hegen südlich und westlich und sind erfreulicher im Äußern). Aber in den 25 Jahren ihres Bestehens war sie eine geistige Macht im öffentlichen Leben Chinas, wie wohl selten eine Universität in ähnlichem Maße von sich sagen kann. Diese Macht wirkte im Sinne der freien Gestaltung des Lebens, sozialer und politischer Reform und des Neubaues des gesamten chinesischen Geistes. Die pekuniären Verhältnisse der Dozenten sind dürftig. Die meisten müssen durch schriftstellerische Arbeit ihr Brot verdienen, da die Geldzahlungen wegen des großen Elends der Staatsfinanzen sehr unregelmäßig sind. Aber durch einen hohen Idealismus bewogen, bleiben die Dozenten ihrem Beruf treu, und jeder empfindet es als Ehre, dem Lehrkörper dieser Anstalt anzugehören.
Hier beim Kohlenhügel geht ein Weg von der Oststadt in die Weststadt hinüber. Man kommt durch ein Tor der alten Palaststadt. Dann führt der Weg über eine geschwungene Marmorbrücke, die der Länge nach durch eine hohe Mauer geteilt ist. Die südliche Hälfte gehört zu den Anlagen des Präsidentenpalastes. Der nördliche Trakt ist dem Verkehr übergeben. Man hat von hier einen Überblick über das lotosbewachsene »Nördliche Meer« (Pe Hai) mit seinen Gebäuden und Uferhügeln, die hinten von dem großen Pagodenhügel abgeschlossen werden, von dem die marmorne tibetanische Pagode herübergrüßt, die das Wahrzeichen des Nordens von Peking ist.
Die Weststadt hat einen anderen Charakter als der Osten. Merkwürdigerweise gehört auch Peking zu den Hauptstädten, in denen der Westen die vornehmere Gegend ist. Selbst draußen vor dem Schun Tschï Men, dem südwestlichen Tor der Nordstadt, ist vornehmes Viertel. Hier liegen viele beliebte Restaurants. Die Kunsthändlerstraße Liu Li Tsch'ang erstreckt sich bis hierher, und die pädagogische und medizinische Universität liegen ebenfalls in dieser Gegend. In der Straße des steinernen Prinzgemahls liegt die pädagogische Mädchenuniversität. An allen drei Anstalten hielt ich Vorlesungen und habe überall die besten Erfahrungen gemacht. Insbesondere fand ich auch die Studentinnen der Mädchenuniversität intelligent und interessiert und vollkommen auf der Höhe wissenschaftlichen Betriebs. Manche von ihnen sind ?. ebenso wie die Studenten politisch etwas radikal, aber das ist ein Vorrecht der Jugend in vorwärtsschreitenden Nationen. Eigenartig ist übrigens, daß wohl die weiblichen Studenten das Recht haben, sämtliche Männeruniversitäten zu besuchen, dagegen an der pädagogischen Mädchenuniversität männliche Studenten nicht zugelassen sind. Infolgedessen ist zum mindesten in diesem Stück die Gleichberechtigung der Geschlechter in Peking eher zugunsten der Frauen verschoben. Die Frauenfrage wurde in China sehr leicht gelöst. Aus den strengsten Abhängigkeitsverhältnissen der patriarchalischen Ehe und Familie haben die jungen Mädchen den Weg zu Freiheit und geistiger Betätigung gefunden, viel leichter, als dies in unseren modernen Staaten vielfach der Fall war. Auch hier hat sich das Sprichwort bewährt: »Die Letzten werden die Ersten sein.«
In der Weststadt sind in der Verborgenheit abgelegener Straßen uralte Gärten hinter Mauern versteckt. Die Bäume dieser Gärten überdachen mit ihren Zweigen die Höfe und Häuser, so daß mitten in der grellsten Sommerhitze hier schattige Kühle herrscht. Über moosige Stufen kommt man in stille Räume voll grüner Schattendämmerung. Nicht viele Menschen versammeln sich hier. Ein paar Freunde nur führen ein ruhiges Gespräch. Man betrachtet Bilder, spricht über ein paar Gedichte, bleibt vor einer Bronze stehen, gibt ein schönes altes Stück von Hand zu Hand und trinkt eine Schale Tee dazu. Solche Konversationen waren der Anfang zur japanischen Teezeremonie. Aber in Japan ist alles streng stilisiert, zu fester Form erstarrt. In China leben solche Unterhaltungen noch. Sie nehmen Gestalt an je nach den Menschen, die da sind, je nach den Tagen, die vorangegangen, je nach dem Wetter, nach der Stimmung. China hat es fertig gebracht, seine Sitten lebendig zu machen, sie sind ihm Kleider, die es trägt. In Japan sind die Sitten strenger, unfreier, die Höflichkeit hat nicht die Grenze der inneren Freiheit, und darum wirkt japanische Höflichkeit oft marionettenhaft, und man hält die Japaner für falsch. Man tut ihnen damit großes Unrecht. Ihre Strenge, ihre Selbstbeherrschung befiehlt ihnen zu grinsen, wenn das Herz blutet; denn ihr Zentrum hegt außer der Persönlichkeit: es ist der Staat, der Himmelsherrscher. Der Chinese aber, wenn er ein Edler ist, hat seinen Schwerpunkt in sich selbst. Die Sitte muß ihm dienen zum harmonischen Ausdruck seines Wesens. Nicht aber muß er der Sitte dienen zur Darstellung der ehernen Gesetze ihrer Form. Vielleicht ist diese feinste, höchste Freiheit, die Höflichkeit des Herzens, der Grund, warum man die Chinesen so lieben muß, wenn man sie kennt. Ein Chinese ist so liebenswürdig wie ein Franzose, aber er ist frei von dessen letzten Schranken absoluter Verankerung im Eigenen. Darum kennt er keinen Fanatismus. Der Chinese ist kindlicher als der Franzose, der vielleicht zu alt ist. Es gibt auch ein junges Frankreich, von dem hier nicht geredet wird, das voll ist von Zukunft und Hoffnung.
Zur Weststadt hinaus geht der Weg aufs Land. Die eine Straße führt zum Tempel der weißen Wolke. Das ist ein taoistisches Heiligtum. Hier fühlt man, daß der Taoismus doch noch etwas Lebendiges ist. Hier ist nicht Laotse der magische Gott, sondern Männer aus späteren Zeiten haben hier gelebt, die es erreicht haben, durch mystische Schau das innere Leben zu erlangen. Ein geheimnisvolles Bild wird hier aufbewahrt; das zeigt die Kraftzentren des Menschen in symbolischer Darstellung, die mit verschiedenen Körperzentren koordiniert sind. Es zeigt, wie diese Kraftzentren sich äußern, um den Kreislauf der Wasser des Lebens in Gang zu setzen, die wie Ströme von Lebensatem den Körper durchfluten und ihn der höheren Gesetze teilhaftig machen. Das Kloster hat Meditationshallen und einen Garten in stiller Abgeschiedenheit, auf dessen künstlichen Hügeln man sitzen und hinaussehen kann auf die weite Ebene, in der dunkle Gräberhaine, Obstgärten und Pagoden zerstreut sind, wie man hinaussieht aus dem stillen Hafen in das weite Meer, auf dem die kleinen Segelboote schwimmen. Bei so viel geheimen Kräften, die im Kloster leben, ist es da wunderbar, daß Tempelräume da sind, in denen Lü Tung Pin die Zukunft kündet, und andere, in denen Frauen sich schüchtern ein Kinderbild aus Ton vom Altar nehmen, das ihren Wünschen heimliche Erfüllung bringt?
Am Horizont dehnen sich in ferner Schönheit die Westberge. Sie sind belebt von Tempeln und Schlössern. Ihre Vorhügel waren in früherer Zeit ausgestaltet von den Sommerpalästen der Kaiser. Ein Kanal führt von dem Kaiserpalast in der Hauptstadt bis hinaus zur Marmorquellenpagode auf dem Hügel an der gründurchsichtigen Sprudelquelle, die alle die vielen Teiche am Fuße der Hügel füllt. Es muß eine ungeheure Pracht gewesen sein an Gärten, Türmen, Tempeln, Palästen. Auch ein Palast in französischem Barock gehörte dazu. Märchengärten und Feenschlösser lagen hinter festen Mauern an den Hängen hingebreitet. Heute sind nur noch Reste da. Engländer und Franzosen haben der Pracht ein Ende gemacht bei ihrem »Strafzug« in den sechziger Jahren. Die Tempel zerfallen, Ruinen decken die Hügel, in den Gärten sproßt wildes Buschwerk zwischen den bunten Porzellan türmen und an den Marmorteichen mit ihren kühn geschwungenen Brücken.
Da und dort ist ein Stückchen später wieder ausgebaut worden. Dazu gehört z. B. der Sommerpalast der verstorbenen Kaiserin-Witwe, in dem sie ihre Ferien verbracht hat und ihren Lebensabend schließen wollte. Seltsamer europäischer Ungeschmack und Verfallserscheinungen mischen sich darin mit echter, alter Schönheit. Einen anderen Palast hat die Ts'inghua-Universität inne, wo eine ausgewählte Schar von Studenten für einen künftigen Aufenthalt in Amerika vorbereitet wird. Auch andere fremde Schulen bauen sich auf den Trümmerstätten versunkener Pracht an. Ein General hat in der Nähe einen Lustgarten angelegt. Moderne chinesische Saalbauten und zierliche Gärtchen mit Strohhütten und künstlichen Quellen wechseln mit Turnplätzen und Kegelbahnen ab. Ich vergesse nie die Grazie, mit der die Frau des Generals in ihrem eleganten blauen Atlaskleid den Bauchaufzug und den Kniehang an einem eisernen Reck machte (die chinesischen Damen tragen geschlossene Beinkleider und kurze Jacken). Die fremden Gäste standen voll Bewunderung dabei, und keine der europäischen Damen vermochte dieses Kunststück der jugendlichen Generalin nachzumachen.
Auch andere verborgene Haine mit stillen Gelehrtenhütten, zum Studium und zur Meditation geeignet, sind in der baumbedeckten Ebene da und dort zu finden. Aber überall ragt eine größere Vergangenheit in eine kleinere Gegenwart herüber.
Die neue Zeit bringt auch manches hervor in Peking und seiner Umgebung, das hinausweist über die Gegenwart. Freilich hegt es zunächst meist auf geistigem Gebiet und hat sich noch nicht in äußerer Raumgestaltung ausgewirkt.
Peking ist eine Stadt geheimnisvoller Freiheit. Die Menschen kommen und gehen, und jeder findet einen Kreis von Freunden, die ihm bieten, was er wünscht. Jeder Mensch, der hier lebt, findet eine Gestaltung für das, was er als Arbeit sich vorgenommen. Die Luft, die über Peking weht, ist gut und frei. Es kann einer Sonderling sein oder Gesellschaftsmensch, er mag beim dampfenden Wein des Lebens Sorgen von sich werfen oder in ernster Kasteiung die Unsterblichkeit erstreben. Jeder kann tun, was er will. Kein Druck der Sitte ist stark genug, die Persönlichkeit zu beengen. Diese göttliche Freiheit ist das Tiefste an Peking und erfüllt das Herz mit Dankbarkeit.