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Achtes Kapitel. Vom heiligen Berg

Nicht weit von dem Geburtsort des Konfuzius entfernt ist der heilige Berg Taischan, der chinesische Olymp. Aus den ältesten Zeiten der chinesischen Geschichte ragt er auf, inmitten eines umfangreichen Gebirgsmassivs der höchste Gipfel. Er legt sich in breit majestätischer Ruhe in die Gegend, an seinem Fuß treffen sich die Wasseradern von verschiedenen Richtungen. Um seinen Gipfel brauen die Wolken. Weithin spendet er Regen und Sonnenschein. Denn wenn sein Haupt sich mit Wolken bedeckt, die über ihm brüten, wenn er immer mehr Nebel an sich zieht und die feuchten Winde die Wolken in Spalten und Höhlen treiben, so kommt Regen übers Land. Wenn er die Dünste wieder entläßt, in zarten Flöckchen sie ausatmend, daß sie leise und schwebend sich von den Spitzen lösen und im Blau verschwinden, dann weiß man im Volk: nun sind die trüben Tage vorüber. Die Sonne kommt wieder über die Felder und des Nachts vom schwarzen, tiefen Himmel her die großen, flackernden Sterne.

Seit uralten Zeiten wurde dies geheimnisvolle Brauen beobachtet, und so kam es, daß der Geist dieses Berges heilig gehalten wurde, und Fürsten und Könige von weitem herkamen, um am Fuße des Gebirges ihre Opfer darzubringen. Das Lebenweckende dieser Vorgänge, das geheimnisvoll Offenbare dieser Mächte hat seit uralten Zeiten die Menschen angezogen. So stehen denn an allen Orten in China Tempel, in denen der Geist des mächtigen Gipfels verehrt wird als Hüter des Lebens und des Todes. In jenen Tempeln ist für den Volksglauben der Zugang zur Unterwelt. In Peking z. B. steht vor dem Osttor ein Tempel des Taischan, in dem namentlich zur Neujahrszeit Tag für Tag die Opferflammen brennen und Weihrauchwolken zum Himmel steigen. In großen Höfen sind die verschiedenen Gebiete der Unterwelt mit ihren Herrschern dargestellt, Gebiete der Qualen, Flammen, Messer, Eiszonen. Die Wanderung ins Jenseits tritt in grausigen Bildern vors Auge. Hinüber über den traurigen Fluß der Unterwelt geht der Weg, in dessen trüben Fluten die Unglücklichen bald auf-, bald untertauchen, die durch ihre Taten sich nicht den Weg über die Brücke geöffnet haben. Der Weg führt weiter durch das Dorf der bösen Hunde, für die man den Toten Brot mitgibt, auf den Vorsprung, wo die armen Seelen noch einmal zurückblicken können in die alte Heimat, die sie verlassen mußten.

In jenen Gebieten ist dann auch das große Rad, in das die Seelen, nachdem sie ihre Strafen abgebüßt und das Wasser der Vergessenheit getrunken haben, hineingetrieben werden zu neuem Werden und neuer Geburt auf einem der verschiedenen Pfade vom glücklichen Menschen bis herunter zum Insekt.

So werden denn Geburt und Tod dem Geist des östlichen Gipfels, wie der Taischan auch heißt, feierlich unter Opfern angezeigt. Es sind das Reste der uralten chinesischen Naturreligion, die unter mancherlei Fortbildungen und Abweichungen sich bis heute erhalten haben.

Am Fuß des Berges hegt die Stadt T'aianfu, ein Landstädtchen, das seine ganze Bedeutung der Nachbarschaft des Berges verdankt. Hier steht der große und heilige Tempel Tai Miao, welcher der Gottheit des Berges geweiht ist. Ein mystisches Geheimnis umwittert ihn, große, weite Höfe dehnen sich zwischen mächtigen Hallen, die von einer zinnengekrönten Mauer umgeben sind, deren mehrstöckige Eckpavillons an die verbotene Stadt in Peking erinnern. Viele Denkmale aus uralter Zeit stehen als verwitternde Trümmer umher. Kaiser, die hier geweilt, um dem heiligen Berg ihre Opfer zu bringen, haben mächtige Tafeln errichten lassen, auf denen lange Inschriften eingegraben sind. Auf einem Stein ist das Bild einer uralten Zypresse eingeschnitten, das Kaiser Kienlung persönlich gemalt hat, auf einem anderen seltsam geformte Zauberzeichen, die zur Abwehr dämonischer Einflüsse dienen. In den Tempelhallen sind an den Wänden hinter den Götterbildern uralte Freskogemälde, die freilich immer von Zeit zu Zeit wieder erneuert werden. In verborgenen inneren Höfen, in denen blühende Büsche Farben und Schatten spenden, wohnt der Abt. Er hat Weihgeschenke aus alten Zeiten in seiner Wohnung aufgehäuft; am merkwürdigsten ist eine alte Nephritplatte, die am einen Ende kühl, am anderen Ende warm ist. Der Unterschied läßt sich ganz deutlich fühlen. Auch Amulette und kräftige Zauber hat er in Verwahrung.

Heute ist alles in unaufhaltsamem Verfall begriffen. Die Mauern verwittern, die Dächer bröckeln ab, und manche Gebäude und Baumgerippe ragen als Ruinen auf. Die Tore des Tempels sind das Jahr über geschlossen. Nur zur Zeit der großen Wallfahrt im Frühling werden sie aufgetan. Da strömen die Pilger herbei und opfern ihre Gaben. Ein buntes Gewühl drängt sich über die weiten Plätze. Ein Jahrmarkt, auf dem Papierabklatsche der Steinskulpturen und allerlei Erinnerungen an die heilige Stätte neben den sonstigen Jahrmarktsdingen feilgeboten werden, belebt die Szene. Wahrsager haben ihre Tische aufgestellt, an denen sie sitzen wie Spinnen im Netz. Bald sehen sie den Vorübergehenden an, wer Zweifel oder Bedenken hat. Sie winken ihn geheimnisvoll heran: »Der Gott hat einen Rat für dich.« Sie manipulieren ihre Zahlen und Zeichen, und in den meisten Fällen kommt irgend etwas heraus, das in Beziehung zu dem Leben des Fragenden steht, und aus dem er irgend etwas für sich entnehmen kann. Diese Wahrsager finden sich in ganz China. Nicht alle sind gleich mächtig. Aber es gibt einige, die tatsächlich mediale Begabung zu haben scheinen. In Japan gibt es z. B. einen, der im Jahre 1915 einwandfrei, im wesentlichen richtig, den Ausgang des Weltkrieges vorausgesagt hat bis auf die Entthronung des Deutschen Kaisers hinaus, an die damals kein Mensch im Ernst glaubte. Am berühmtesten in China sind die Wahrsager am Heiligtum des taoistischen Magiers Lü Tung Pin in Wutsch'ang in der Nähe des Turms der gelben Kraniche, die zum Teil in wahrhaft erschreckender Weise die Zukunft treffen.

Auf dem Weg zum Berg sind viele Stationen, die manches Wunderbare zeigen. Ein Heiligtum in der Nähe der Stadt enthält in einem geheimen Höfchen einen Schrein, in dem die sterblichen Überreste eines Taoisten sind, der die Unsterblichkeit erlangt hat. So stark war die Kraft seiner inneren Konzentration, daß er auch sein Körperliches vor der Verwesung gerettet hat. Lange saß er da, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Er sprach nicht mehr und kümmerte sich nicht mehr um den Lauf der Welt, nur lauschend auf die Erlebnisse des inneren Lichtes. So blieb er sitzen und sitzt noch immer da, zur Mumie vertrocknet, aber unverwest. Man hat sein Gesicht später vergoldet. Aber trotz der Vergoldung sieht man noch immer den Zug tiefer Versunkenheit. Der Körper ist ganz klein geworden und in sich zusammengesunken. Die Haut hat ein tiefes Dunkelbraun. Sehnen und Knochen schimmern mit anatomischer Genauigkeit durch. Selbstverständlich gibt es auch für diese Erscheinungen, wie für alles, natürliche »Erklärungen«, die ich sehr wohl kenne. Aber was ich hier geben möchte, ist der Erlebniseindruck des Taischan, das, was er dem chinesischen Volk jahrtausendelang gewesen ist.

Der Berg ist bis zum Gipfel mit Wegen und Stufen versehen, die aber zum Teil sehr mühsam und steil sind. Wer die Mühe scheut, kann sich in einem Tragstuhl hinauftragen lassen. Diese Tragstühle sind ganz leicht gefügt und mit dünnen Lederstricken zusammengehalten. Die Träger, die aus bestimmten Familien hervorgehen, sind ungemein stark gebaut. Sie gehen in einem festen Rhythmus, und immer nach einer gewissen Zeit schwingen sie den Tragstuhl von einer Schulter auf die andere, was, solange man es nicht gewöhnt ist, für den Insassen, der durch die Luft fliegt, ein etwas bängliches Gefühl ist. Aber mit großer Sicherheit fangen die Träger das Tragband mit der anderen Schulter auf und gehen mit festen, regelmäßigen Schritten weiter. Das Mieten von Trägern ist immer ein Ereignis. Man muß erst ganz genau den Preis ausmachen und die Zahl der Träger, die man braucht. Obwohl nämlich jeder Stuhl nur von zwei Trägern getragen wird, muß man doch, je nach dem Körpergewicht, drei bis fünf mieten, die sich dann von Station zu Station abwechseln. Durch die Vorebene von der Stadt bis zum Berg geht es mit schnellen Schritten. Wenn die Steigung beginnt, werden die Schritte langsam.

Der Berg ist ganz eingetaucht in eine Luft von historischen Erinnerungen. Sein von merkwürdigem Geäder durchzogenes Gestein gilt als mit Zauberkräften begabt. In ganz Schantung, aber auch sonst weit umher in China, findet man an Häusergiebeln oder Straßenecken, auf die ein Weg zuführt, dessen Richtung so streicht, daß er für Spukgespenster günstig ist, Taischansteine eingemauert, mit der Inschrift: »Taischan Schï Kan Tang«, d. h. »der Stein von Taischan wagt entgegenzutreten«. Man hat sich viel über diese merkwürdigen Steine – die in Wirklichkeit keineswegs alle vom Taischan stammen, sondern durch die Inschrift allein zu Taischansteinen geworden sind – besonnen, die sicher ein Überbleibsel eines alten Steinkultes sind. Schließlich kann man auch auf die Erklärung, daß es sich bei dieser Inschrift gar nicht um den Stein als solchen handle, sondern daß der heilige Schï Kan Tang vom Taischan als Schutzgeist angerufen werde. Tatsache ist, daß es einen solchen Schi Kan Tang am Taischan gegeben hat, der mit Zauberkräften ausgerüstet gewesen sein soll, und daß gelegentlich auch andere Schutzheilige genannt werden. Aber es ist auf der anderen Seite kein Zweifel, daß im Volksbewußtsein es eben der Taischanstein ist, dem diese Zauber- und Schutzkräfte innewohnen.

Der Berg ist nicht ganz kahl, wie sonst die Berge in Nordchina es meistens sind, seit die Könige und Fürsten des Altertums mit ihren Feuerjagden die Urwälder zerstört, der Bedarf der stets sich mehrenden Bevölkerung die nachwachsenden Bäume ausgerottet, und weidende Ziegen und Schafe dafür sorgen, daß kein neuer Wuchs mehr aufkommt. Am Hang des Taischan aber stehen bis weit hinauf heilige Bäume, Kiefern und Zypressen, die sich in den unteren Gegenden, namentlich in der Nähe der Klöster zu Hainen und Wäldchen zusammenschließen, oben an der Baumgrenze aber als einzelne Helden entweder allein oder zu dreien und fünfen im Kampf mit Wind und Wetter stehen, manche von ihnen mit persönlichen Titeln bezeichnet, die ihnen frühere Fürsten verliehen, denen sie Schatten und Schutz gewährt hatten.

Zur Zeit der Wallfahrten sind alle Straßen mit Pilgern belebt. Diese Pilger kommen oft von weit her, um Gelübde zu bezahlen oder Wünsche den Göttern auszusprechen, und der Taischan ist von vielen Göttern bewohnt. Neben den männlichen Gottheiten sind auch weibliche vertreten. Ziemlich weit unten ist Tou Mu Kung, der Tempel der Mutter des Nordsterns. Dieses Heiligtum wird von buddhistischen Nonnen gehütet. Nicht immer wahrten im Strom der Gäste diese Nonnen den ganzen Ernst ihres Berufs. Ihr Kloster ist zwar von einer festen Mauer umgeben und Stachelzweige auf den Mauern wehren jedem, der leichtsinnig die Mauern übersteigen wollte. Aber wozu das? Hat das Kloster doch Tür und Tor, durch die fromme Pilger auf dem geraden Wege eintreten können. Die alte Mutter des Nordsterns ist eine gütige Göttin, und ihr Heiligtum hat lauschige Plätzchen mit entzückender Aussicht auf den Berg und rauschende Bächlein, und die Nonnen haben ein mitleidiges Herz für müde Pilger. Aber manchmal kam es wohl vor, daß die Grenzen zwischen buddhistischem Mitleid für alle lebenden Wesen und weltlichere Gefühle sich verwischten. Das Nonnenkloster wurde zum Anziehungspunkt für Amateurpilger und zum Skandalon für alle frommen Seelen. Da kam denn einmal ein tüchtiger Beamter, der aufräumte. Die Nonnen wurden in die Ehe geschickt, und im Kloster wurde eine Schule eingerichtet. Aber die Zeiten ändern sich wieder. Heutzutage ist die Schule zwar noch da, aber Nonnen sind auch wieder eingezogen und lassen ihr Heiligtum wieder schön herrichten. –

Der Berg hat auch andere Seiten. In Sommernächten, wenn die Gewitter tosen und die Wasser von den Bergwänden rauschen, dann wird er fürchterlich. Nächtelang folgt Blitz auf Blitz, und die gähnend schwarze Nacht wird noch unheimlich schwärzer durch den Wechsel der violetten Schlangen, die den Himmel durchzucken oder krachend in die Felsen fahren. Gar mancher Sommergast hat den Zorn der Götter zu fühlen gehabt, wenn das Gebälk des Hauses, in dem er zur Nacht Schutz gesucht, wankend zu weichen begann und er im donnernden Sturz von ungeheuren Balken, Schutt und Ziegeln mit seinem Bett zerschmettert wurde, während draußen vor der Tür sein Hündlein winselte und zu seinem Herrn wollte, weil es Angst hatte im Toben der Elemente, dessen schreiendes Echo von allen Felsen hereingeworfen wurde in die Hütte, die Menschen sich einrichteten auf dem Spielplatz der Drachen und Wolkengeister.

Oft steigen die Wolken nieder von den Gipfeln und brauen in Schluchten und Tälern. Sprühregen fällt, und der Wind pfeift durch die Felslöcher und macht die alten Kiefern ächzen, wenn er durch ihre haarigen Zweige fährt und sie rüttelt. Das wirkt wie ein Gespenstertanz. Bald breitet sich ein nasser, weißer Schleier vor die Landschaft und dringt durch Mäntel und Decken, bald löst er sich in Fetzen auf, die dort an Felsenzacken sich anhängen, während dazwischen plötzlich tiefe Täler sich öffnen. Dann gehen die Täler plötzlich wieder zu, und ein schmaler Sonnenstreif läßt irgendwo in der Luft ganz unwahrscheinlich ferne grüne Ebenen und silberne Flußwindungen sehen. So wallen die Wolken auf und ab. Sie kochen und brauen das Wetter zurecht. Ein Adler zieht durch einen Spalt, oder ein krächzender Rabe schwimmt trägen Fluges in die Nebelwand hinein.

Manchmal wird auch der Nebel aufgesogen, und hoch und steil treten die Felsen an den Weg heran. Glitzernd von Feuchtigkeit und tropfend von rieselnden Wassern steigt der Weg bergan. Bald kommt man an ein Tor, das Tor, wo man »die Pferde zurücklassen muß«. Man sieht noch einmal hinunter ins weite Land. Es ist ein kleiner, ebener Platz, von Ruhehütten umgeben. Hier, heißt es, habe Konfuzius haltgemacht, als er mit seinen Jüngern den Berg erstiegen. Von dieser Höhe aus sei die Welt ihm klein erschienen.

Nun wendet sich der Weg. Ernst und streng führen die Stufen weiter empor ins Gebirge hinein. An einer Ecke steht ein Pavillon bei einer Brücke. Man kann hier ruhen und Ausschau halten. Ein Wassersturz rinnt über Felsen unter der Brücke durch. Inschriften und Gedichte, die in den Stein gemeißelt worden, singen das Lob der Landschaft. Aus allen Zeiten haben berühmte Männer hier ihre Spur in Schrift und Wort zurückgelassen und bilden eine Versammlung von Dichtern und Weisen über Zeit und Raum hinweg.

Bezeichnend für die neue, pietätlose Zeit ist es, daß ein Apotheker aus Peking auch Einlaß suchte in diese vornehme Welt. In schönen Zeichen ließ er eine lange Inschrift eingraben in einen Felsen, die eine Empfehlung war für sein Arzneigeschäft. Zum Glück blieb sie nicht lange stehen. Sie wurde bald entdeckt von dem Beamten, dem die Aufsicht zusteht über dieses heilige Naturschutzgebiet, und auf eigene Kosten mußte der pietätlose Geschäftsmann sie wieder auslöschen lassen aus dem Felsengrund. Diese Strenge wirkt wohltuend. Hier endlich ist einmal ein Platz, wo man Natur und Geschichte ungestört gegenübersteht, wo die häßlichen Reklameschilder amerikanischer Zigarettenfabriken oder japanischer Lebenselixierschwindler nicht die Gegend ruinieren, die sonst ganz China überzogen haben mit einer eklen Pilzschicht gemeiner Reklame.

Freilich auch die alten Zeiten hatten ihre Lasten. Besonders zur Pilgerzeit, da wimmelte der Berg von Bettlern aller Art, die hier ihren Anteil begehrten am Mahl des Lebens. Scheußliche Gestalten mit ekelhaften Krankheiten drängen sich herzu, blasse Kinder und widrige Krüppel kriechen umher. Manche werfen sich zu Boden, so daß man über sie hinweg muß. Manche haben sich an Felsenecken mit aufgeschichteten Steinen Winkel zurechtgebaut, in denen sie ihre Wohnung aufschlagen. Manche wimmern mit gebrochener Stimme. Andere schlagen grimmig rücksichtslos mit dem Kopf auf den Stein, bis man ihnen etwas gibt. Verstümmelte Glieder werden emporgereckt. Ein Blinder tastet sich heran. Lahme Kinder weinen. Uralte, versteinerte Alte raunen dumpf. Und alle, alle wollen Geld, wollen Mitleid, und wo das Mitleid nicht mehr wirkt, da nehmen sie den Abscheu ihres Anblicks zu Hilfe, von dem man sich durch eine Gabe loskaufen muß.

Es ist ein entsetzliches Erlebnis, diese Schar von Elend, die den Pilgerweg säumt. Wüßte man nicht, daß auch dies Elend ein Gewerbe ist, wohl organisiert und geordnet, daß Krüppel vermietet werden und günstige Ecken verpachtet, so wäre es noch unerträglicher. So mäßigt der Eindruck des Grotesken dieser seltsamsten aller Gewerbearten die innere Empörung über die Möglichkeit so vielen Menschenleids. Denn es zeigt sich, daß das Leben überall, auch in der gräßlichsten Hölle, sich noch Anpassungen schafft, die es erträglich machen. Man muß sich genügend mit kleinem Geld versehen, daß man jedem Bettelnden ein Geldstück reichen kann. Denn wehe, wenn einem unterwegs das Geld ausgeht! Man kann als tüchtiger Europäer durch die Reihe der Bettler hindurchdringen, fremd, ohne etwas zu geben. Nach ein paar Versuchen gewöhnen sie sich daran und nehmen einen solchen Europäer hin, wie ein Naturereignis, das man an sich vorübergehen läßt. Wenn ein Tiger des Wegs käme, würde er ja auch keine Almosen spenden. Aber wenn man erst einmal den Weg des Mitleids beschritten und angefangen hat, Almosen zu spenden, und wollte dann aufhören in der Mitte, so kommt nicht nur die Begehrlichkeit, sondern auch das empörte Gerechtigkeitsgefühl, das keine ungleiche Behandlung duldet, in Betracht, und man wird verfolgt von stöhnenden, heulenden, brüllenden Gestalten, die einen die Verzweiflung verstehen lassen, die den antiken Menschen packte, wenn die Erinnyen sich an seinen Fuß geheftet hatten. »Das Tor der Güte ist leicht zu öffnen, aber schwer zu schließen«, ist ein chinesisches Sprichwort, das in ganz China wohl erwogen werden muß, wenn man mit seiner Wohltätigkeit nicht in die Brüche gehen will.

Allmählich kommt man auf steilen Wegen in immer größere Höhen, wo auch die Bäume zurückbleiben. Ein kleines Teehaus ist bei den »fünf Würdenträgern«, einigen Kiefern, unter denen ein Kaiser im Regen Schutz gefunden. Es sind keine fünf mehr. Der Blitz hat kürzlich eine von ihnen zerspellt. Dann geht die steile Treppe hinauf zum südlichen Himmelstor. Die Stufen sind schmal und beinahe kniehoch. Rechts und links drohen überhängende Felsen, und unten öffnet sich die Tiefe. Manche der Stufen geben nach, wenn man darauf tritt, andere sind weggebrochen oder schräg. Man darf nicht unter Schwindel leiden, wenn der Aufstieg ein Vergnügen sein soll, namentlich nicht bei feuchtem Wetter, wenn die moosigen Steine schlüpfrig werden und Nebelschwaden hin und wieder flattern, wodurch die gähnende Tiefe sich bewegt, bald sich schließt, dann wieder plötzlich dunkle Abgründe auftut, so daß alles schwindelnd und unsicher wird. Für schwindlige Pilger sind zu beiden Seiten der Treppe Ketten angebracht. Die helfen aber auch nicht viel, da sie auf weite Strecken zusammengebrochen sind und keineswegs das Gefühl der Sicherheit geben. Das beste ist, ruhig und stetig voranzuschreiten, wie es im Märchen heißt: »Schau dich nicht um, nicht rechts, nicht links: gerade zu, so hast du Ruh.« So kommt man auch vors Himmelstor und kommt hinein. Ich traf einmal an jener Stelle ein altes chinesisches Mütterlein, das mit seinem Pilgerstab und seinen kleinen gebundenen Füßen gar wacker emporkletterte. Ich fragte sie nach ihrer Herkunft. Sie war viele Meilen weit gelaufen, und doch war sie heiter, ja, von einer fast ausgelassenen Munterkeit. Ich fragte, warum sie denn die schwere Pilgerfahrt begonnen. Da sagte sie: »Sie ist nicht schwer, die Pilgerfahrt. Ich bin nun 70 Jahre alt, und mein Leben liegt hinter mir. Ich habe nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten. Aber daß ich so weit bin, daß der alte Himmelsvater mir all die vielen Jahre durchgeholfen, als ich Söhne und Enkel großzog, und unter all der Not und Last des Lebens, das macht mich dankbar. Das will ich doch zum Schluß auch ihm noch zeigen. Darum komme ich, ihn zu besuchen. Ich begehre nichts, ich meide nichts. Ich bin ganz ruhig. Und so ward mir der Weg nicht schwer.« Ich mußte noch oft an die fröhliche Alte denken und an ihren Besuch beim Himmelsvater auf dem Taischan. –

Tritt man zum südlichen Himmelstor ein, so kommt man plötzlich in einen ganz besonderen Bezirk. Eine Tempelstadt erhebt sich dort. Erst kommen die Hütten, in denen Träger und Pilger übernachten, dann kommen eine ganze Anzahl von Tempeln und heiligen Stätten. Der Tempel der alten Mutter vom Taischan ist der größte. Hier waltet ganz besondere Kraft. Der Berggeist ist, wie wir gesehen, der Herr über Leben und Tod. Wie man in seinem Tempel die Todesfälle meldet, damit die Toten im Jenseits ihr Geleit finden, so hat die alte Mutter vom Taischan auch die Macht, Leben zu spenden. Frauen, die gerne Nachkommenschaft, besonders Söhne wünschen, kommen her zum Opfern. Die Opfer sind gar mannigfaltig. Um den Altar ist ein vergitterter Verschlag, in den die Gaben geworfen werden. Da kann man viele Geldstücke finden. Auch ungemünztes Silber und Schmuck wird gespendet. Die Armen, die nichts anderes haben, opfern wohl ein Stückchen Brot. Über Nacht verschwinden dann die Nahrungsmittel. Es gibt unendlich viele Tempelratten, die sich hier gütlich tun. Es ist aber immer ein gutes Zeichen, wenn so ein Opfer von der Gottheit angenommen wird. Auch die Gaben an Silber und Gold werden von Zeit zu Zeit entnommen. Sie sollen zur Instandhaltung des Tempels dienen. Reiche Spenden an Opfergefäßen, ganze Kapellen aus Bronze, vergoldete Bronzesiegel sind Zeugen von der lebenspendenden Macht der großen Göttin. Nicht nur in China glaubt man an ihre Macht. Auch manche Fremde mußten schon daran glauben. Von Tsingtau z. B. pilgerten einige deutsche Familien einmal nach dem Taischan: nur zum Vergnügen als Frühlingsreise. Als sie zum Tempel kamen, wurden sie übermütig, und die Frauen warfen auch ihre Opfergaben durch das Gitter. Aber die alte Mutter vom Taischan läßt nicht mit sich spaßen. Sie kehrten heim mit ihren Männern, und richtig, noch ehe ein Jahr um war, wurden sie durch gesunde, kräftige Jungen erfreut. Die Chinesen, welche davon hörten, begrüßten diese freudigen Ereignisse mit besonderer Genugtuung.

Nicht weit von diesem Wunderort steht ein Tempel des Konfuzius. Er steht ein wenig verlassen da. Es ist, als fühlte sich der Weise nicht ganz wohl in dieser Gesellschaft. Es gab eine Zeit – es ist schon lange her –, da machte das Landvolk Anstalten, auch ihn einzubeziehen in den Kreis der glückspendenden Götter. Man brannte Weihrauch und brachte ihm Opfer dar, und die Frauen kamen zu ihm mit ihren häuslichen Anliegen. Aber diese Sitte dauerte nicht sehr lange. Sie widersprach ja auch zu sehr dem Sinn des Heiligen. Durch kaiserlichen Befehl wurde diese Art der Opfer wieder verboten, und Konfuzius wurde weiterhin verehrt als leuchtendes Vorbild der Weisheit und Tugend und erhabener Lehrer der zehntausend Generationen.

Ganz nahe beim Gipfel öffnet sich ein tiefer Abgrund. Hier herrschte jahrhundertelang ein merkwürdiger Brauch. Pietätvolle Töchter, deren Eltern krank waren oder sonst an einem Leid zu tragen hatten, kamen hier herauf. Sie beteten für die Eltern um Hilfe in ihrer Not, und dann boten sie sich selbst zum Opfer an und taten den Todessprung in die bodenlose Tiefe. Dieser schwindelnde Abgrund hatte etwas geheimnisvoll Lockendes, und manches junge Menschenleben hat hier ein jähes Ende gefunden. Die Felsplatte aber hieß im Volksmund »die Platte des Lebensopfers«. Eine neue, menschlichere Zeit hat mit diesen dunklen Bräuchen aufgeräumt. Es wurde verboten, hier den Todessprung zu tun, und eine Mauer wurde errichtet, die den Abgrund unzugänglich machte. Die Stelle aber hieß von nun an: »Die Platte der Lebenswahrung«.

Der höchste Punkt des Berges ist von einem Tempel umbaut. Um den Gipfel herum im Tempelhof geht ein steinernes Geländer. Der Hof ist rings umschlossen von Gebäuden. Im Norden ist der eigentliche Tempel. Er ist dem Nephritherrscher, dem Herrn des Himmels, geweiht. Im Westen ist die Wohnung des Priesters, im Osten sind Räume zur Beherbergung von Gästen. Nach hinten zu geht noch ein größerer Saal, der aber nur im Hochsommer bewohnbar ist. Denn trotzdem der Taischan nur 1450 Meter hoch ist, ist es auf seinem Gipfel recht erheblich kühl, auch wenn im Tal schon große Hitze herrscht. Gar mancher, der nur die Hitze im Tal bedachte, hat hier oben eine recht frostige Nacht verbracht.

Als ich das erstemal oben war, war der Taischan noch nicht sehr bekannt unter den Fremden: Richthofen war auf seinen Reisen zwar unmittelbar am Fuß des Taischan vorbeigekommen, aber er hatte durch seine Umgebung nicht erfahren, an welch historisch bedeutsamer Stelle er sich befand. Ihm waren andere gefolgt. Es gab schon damals Missionare, die am Taischan ihre regelmäßige Sommerfrische verlebten. Dennoch kamen ab und zu noch Weltreisende, die in ihren Reisewerken sich rühmten, als erste Europäer den Taischan bestiegen zu haben. Das ist psychologisch durchaus verständlich, denn jeder Weltreisende hat doch gern ein wenig die Gefühle des Entdeckungsreisenden.

Damals, als ich zum erstenmal hinaufkam, deckten Wolken und Nebel den Berg während des Aufstiegs. Aber um die Abendzeit fiel ein milder Frühlingsregen, und wie Dämpfe verflüchtigten sich die Wolken in der blauen Luft. Groß und leuchtend blickten bei Nacht die Sterne vom Himmel, gerade als ob man ihnen hier oben näher wäre. Der Priester aber war ein alter Taoist, der geheimnisvolle Sagen und Märchen erzählte, während am flackernden Feuer das Wasser kochte und wir dampfenden Tee zusammen tranken.

Kurz vor meiner Abreise aus China machte ich mit lieben Freunden zusammen noch eine Tour auf den heiligen Berg. Es war vieles anders geworden inzwischen. Die Eisenbahn führt jetzt vorüber. Ein modernes Hotel beim Bahnhof bildet bequeme Absteigegelegenheit. Tempel und Mauern und alles, was ans Altertum erinnert, sind mehr zerfallen. Das Heiligtum der mächtigen Erhörung – Ling Ying Si – war niedergebrannt, und die Bronzestatuen der Gottheiten standen im Freien bei den großen alten Bäumen des Hofes. Der Aufstieg war wieder naß und regnerisch. Der Abend auf dem Gipfel war kalt und stürmisch. Der Wind heulte in allen Tonarten und rüttelte an den Türen, und während wir beim Grog zusammensaßen, blies er oft ganze Schwaden von feuchtem Gewölk herein. Der Priester hatte inzwischen gewechselt. Ich wollte mit ihm wieder reden über den Berg und seine Geheimnisse. Aber er hatte keinen Sinn dafür. Er gehörte zur modernen Schule, und als er hörte, daß ich aus Peking komme, da interessierte ihn vor allem, von den Führern der modernen literarischen Bewegung und ihrem Tun und Treiben zu hören.

Die Nacht war unruhig, und es regnete in Strömen. Aber der Morgen belohnte für alles ... Wir traten hinaus ins Freie, und plötzlich ging der Nebel wie ein Vorhang auseinander. Weit öffnete sich der Blick bis hin zum Horizont, wo hinter glutroten Wolkenstreifen die Sonne sich nahte, während in den Falten des Gebirges tief drunten die weißen Wolkenflocken hingen und der Fluß durch die Ebene hin aufblitzte. Es war aber nur ein Augenblick. Der Vorhang schloß sich wieder. Aufs neue brauten die Wolken, und der feuchte Wind blies sie durcheinander.

Beim Abstieg hatten wir noch ein Erlebnis. Schon tags zuvor hatte sich der eine Lederriemen an meinem Tragstuhl gelöst. Ich hatte den Trägern gesagt, sie sollen ihn über Nacht in Ordnung bringen. Das hatten sie aber nicht getan. Sie dachten, er werde schon noch halten. –

Manchmal hat es in China auch seine Vorzüge, wenn man nicht Chinesisch kann. Man verliert entschieden an Selbstachtung, wenn man die Gespräche, die die Träger über einen führen, mit anzuhören verurteilt ist. Man hat oft Mitleid mit diesen Leuten, daß sie als Tragtiere ein unwürdiges Dasein führen. Es kommt das aber nur auf die Auffassung an. Sie sprechen miteinander über die »Lasten«, die sie tragen, in vollkommen harmloser Weise. Sie werden nur nach Größe und Gewicht beurteilt. Das Gefühl, daß es unwürdig für sie sei, daß sie als Menschen andere Menschen tragen, kennen sie gar nicht. Das Getragene kommt für sie in keiner Weise als Mensch in Betracht, so wenig wie der Kohlensack auf der Schulter eines Kohlentrimmers.

Ich hörte nun, als wir im Geschwindschritt auf den steilen Stufen von der südlichen Himmelstür in die Tiefe getragen wurden (denn so langsam der Aufstieg ging, so rasch geht es hinunter), folgendes Gespräch mit an:

Mein einer Träger begann leise zu jammern: »Heute sind die Stufen so glatt, man rutscht bei jedem Schritt aus. Meine Schuhe sitzen auch nicht, und dann ist mein Kerl auch zu schwer. Ich habe immer das Gefühl, als würde ich heute noch fallen.«

Ein besonders wilder Mensch unter den Trägern, der gerade außer Dienst war und nebenher ging, redete ihm zu: »Wirf ihn doch weg, und laß ihn verunglücken. Viel Trinkgeld ist von dem doch nicht zu erwarten.«

In diesem Moment grüßte die Tiefe zwischen den Wolken herauf. Ein Schwung – und der Stuhl sitzt auf der anderen Schulter der Träger. »Du hast gut reden,« fing der Träger wieder an, »aber wenn ich den fallen lasse, so stürze ich selber mit, und außerdem, man hat doch seine Verantwortung.«

»Ach was, Verantwortung,« blieb der andere bei seiner Meinung. »Du darfst ja nur den Lederriemen, der, wie ich sehe, doch schon durchgerieben ist, aus Versehen ein wenig locker werden lassen, dann geht es ganz von selbst, und kein Mensch kann etwas wollen.«

»Bleib mir vom Leib,« sagte nun mein Träger, dem der andere in den Weg getreten war, so daß er beinahe gestolpert wäre, »du redest ja bloß. Aber im Ernst, ich wollte, wir wären schon unten, der Lederriemen wird immer dünner, und lange hält er nicht mehr.«

»Ja, er kracht schon,« warf ein Dritter ein und faßte den Stuhl von der Seite an, um im Notfall eine kleine Hilfe zu geben.

Zum Glück hörten die Damen hinter mir nichts von diesen Unterhaltungen. So blieb ihre Ruhe ungestört, und ohne Unfall kamen wir unten an den Stufen an. Kaum aber waren wir auf ebenem Weg, da krachte es wirklich, und mein Tragstuhl brach zusammen. Der Lederriemen mußte nun doch erneuert werden. Aber so geht es immer. Wer den Aufstieg schon mehrmals gemacht, wird ziemlich abgehärtet. Es kommt zwar häufig vor, daß ein Tragstuhl versagt, wenn man unten angekommen ist, aber gerade an den schlimmsten Stellen, wo es so steil hinuntergeht, daß der Kopf des vorderen Trägers in der Höhe der Knie des hinteren ist, wo jedes Versagen mit Lebensgefahr verknüpft wäre, da kommt nichts vor. Ich habe nicht gehört, daß je ein Unglück geschehen wäre. –

Es ist immer ein Erlebnis, wenn man auf diesem Berg war. Noch lange sieht man seinen Wolkengipfel aus der Schar der übrigen Berge immer wieder auftauchen, und es ist, als habe er ein Geheimnis enthüllt. Das Geheimnis, wie Leben und Tod zusammenhängt in jener großen Stille, als deren Symbol im Buch der Wandlungen schon das Zeichen »Berg« gewählt ist. Und man denkt an jenes andere Wort:

»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt.« In diesem Wort ist ja auch ein offenbares Geheimnis ausgesprochen.


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