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Aus trüben Wassern.

Ein Lebensweg.

Adele an Ida.

Schloß Rhönek, 10. April …

Wieder daheim! Oder wieder draußen? Weiß ich denn so recht, wo ich daheim bin? Doch nein, ich will nicht unbillig gegen meine alte, liebe Heimath sein, wie düster auch die grauen Mauern aussehen, wie trüb und verstimmt, ach, zu Zeiten mein Vater ist. Meine Heimath ist's doch! Das Epheu an der alten Thurmmauer und die wilden Rosen an dem verfallnen Gartenzaun und mein Erkerstübchen, das weit hinausschaut in unser herrliches Land; – das alles ist doch noch mehr mein eigen, als das zierliche grüne Kabinetchen bei der Tante, in dem noch die Schachteln mit den Sommerhüten, die Sonnenschirme, die Mückenfenster und allerlei Dinge für die schöne Jahreszeit verwahrt werden, wo es auf der Straße rasselt mit Wagen bis tief in die Nacht, so daß man nicht einmal gemüthlich plaudern und träumen kann; es wäre ja nicht recht, zu klagen, wenn die gute Tante mir mutterlosem Kinde ihr Haus öffnet, aber ich darf meinem guten, lieben alten Raubnest, wie Du's nennst, doch nichts zu leide geschehen lassen.

Weißt Du, wie ich mir vorkam, als ich heut früh aus meinem Erkerstübchen hinausschaute? Denkst Du noch an die schönen Mährchen von Musäus, die Du erbeutet hast von dem alten Doktor, der in Eurer Mansarde wohnte? Es ist schon lange her, und Deine Mutter meinte nachher, es sei unnöthig, daß wir die schon gelesen, – sie waren aber so schön! weißt, von der türkischen Königstochter, und von der Wassernixe, die dem Kind den hölzernen Apfel schenkte, wo seidne Gewänder herausquollen? Was mir aber einfiel, das war die Geschichte von dem alten Grafen, der seine drei schönen Töchter nach einander an einen Bär, einen Adler und einen Wallfisch verkaufte, und die von diesen wilden Gethieren in Rittergestalt heimgeholt werden. Weißt noch? da lebt die Eine im Wald in der Bärenhöhle, die Andre auf dem Felsen im Adlernest und die Dritte tief im See in einem gläsernen Haus. Nach sieben Tagen, sieben Wochen oder sieben Monden erwacht die Dame jedesmal in einem herrlichen Schlosse, wo ihr Gemahl sie als stattlicher Ritter begrüßt, mit dem sie in Glanz und Ehren lebt, bis die Frist verlaufen ist, und sie aufwacht in der Bärenhöhle oder auf dem Adlerhorst.

Nun darf ich zwar nie in einem so grausigen Schlupfwinkel erwachen, aber fast so himmelweit verschieden kommt mir's vor, wenn ich wieder hinunterschaue auf den blauen Fluß und hinaus wandle in unser Wäldchen, statt unserer Spaziergänge im Schloßgarten, den geraden Weg hinauf und zweimal um den See.

Zwar läßt mich Fräulein Dobler auch hier nicht gern allein gehen, doch drückt sie manchmal ein Auge zu, weil sie selbst so ungern an Bergen herum steigt, aber sie ermahnt mich, ich soll Dich hieher einladen, es sei dann anständiger. O bitte, komm bald, liebste, beste Ida, es wird dann erst recht schön! laß Dir's nicht bange sein, als sei es hier zu trübselig, es ist so schön, ach, so schön jetzt draußen, und dann ist ja die Nachbarschaft; die alte Frau von Ellingen hat uns schon eingeladen, und Herr von Marliz, der hat einen eignen Kahn! Ob mein Vater uns viel begleiten wird, weiß ich nicht, er sitzt wieder fast den ganzen Tag im obern Zimmer und macht Berechnungen, welche? weiß ich nicht; es müssen ganz geheimnißvolle Sachen sein, etwa wie bei Wallenstein, er sagt mir's nie. Nur hie und da, wenn Frau Schenk, unsre Haushälterin, so bitterlich klagt, wie es im Schloß überall fehle, wie die Pumpe im Hof nicht mehr gehe, wie alle Tonnen und Körbe schadhaft seien, da spricht er räthselhafte Worte, wie noch Ueberfluß und Glanz bei uns einkehren werde, und wie er das alte Schloß wieder herrlich herrichten lasse. – O, das muß noch wunderschön werden! Bis jetzt will mir's nicht recht gelingen, den Vater aufzuheitern, und in den Büchern, da erheitern doch immer die Töchter ihre Väter! aber wenn er so selten kommt und so finster drein sieht, besonders wenn man ihm Briefe bringt – dann vergeht mir der Muth und ich bin ganz still.

Auch Fräulein Dobler ist meist etwas trübselig, ich möchte wissen, was die auf dem Herzen hat? Bitte, komm nur bald, liebe Ida, miteinander sind wir dann immer lustig; o Du glaubst's nicht, wie schön jetzt die Welt ist! Komm bald zu

Deiner
Adele.

Mein Bruder Udo ist aus der Pension zurück, die sich aufgelöst hat, ein unbändiger Bursch, der sich lieber im Stall bei den Reitknechten verweilt, als bei Fräulein Dobler, die sich alle ersinnliche Mühe mit seinem Unterricht gibt.


Ida an Adele.

16. April …

Ja, ja, ich komme bald, und ich freue mich sehr, besonders auf das Kahnfahren mit dem Herrn v. Marliz, aber ansehen darfst Du mich dann nicht, sonst muß ich lachen, bekanntlich ist seine Nase schief, da sieht er denn von einer Seite ganz sanftmüthig und von der andern schalkhaft aus, Du darfst dann auf die zahme Seite sitzen.

Kommen kann ich noch nicht gleich; Frau v. Feder, die immer zu spät dran ist, gibt jetzt erst ihren Ball, sie würde mir's nimmer verzeihen, wenn ich wegbliebe. Du weißt ja die schauerliche Geschichte von diesem Winter, wo ich mit Lieutenant Soden tanzte und Lieutenant Gröben trat ihn auf den Fuß, und das war gewiß nur in der bösartigen Absicht, ein Duell herbeizuführen; o, wie viel Mühe hat mich's gekostet, das zu hintertreiben, wie viel schlaflose Nächte! wenigstens weiß ich, daß ich den Nachtwächter ein paar Mal zwölf Uhr rufen hörte. Wenn nun Einer gefallen wäre! Ich hätte ja mein Lebenlang keine Ruhe mehr bekommen. Da hoffe ich, auf dem Ball der Frau v. Feder soll's vielleicht zu einer Versöhnung kommen, wenn ich etwa mit Gröben den ersten Walzer tanze und mit Soden aus der Tour, – o Adele, es ist gar zu mühselig und künstlich, sich durch die schwierigen Verhältnisse der Welt durchzuwinden! Man sagt von dem sorglosen Glück der Jugend und wie schwere Sorgen habe ich so jung schon getragen!

Will sehen, wie sich das Geheimniß mit Deinem Vater noch löst; diese Sommerreisen, auf die er Dich nie mitnimmt und von denen er oft so verstimmt zurückkehrt, dieser kleine Unbekannte, der hie und da auf Eurem Schlosse einspricht und mit dem er sich einschließt und von dem die Volkssage allerlei schauerliche Dinge vermuthet, – ich sage Dir, es ist zu interessant und wenn man nächsten Herbst hier ein wenig davon redet, eh die Bälle anfangen, glaub's nur, dann bekommst Du Tänzer genug, auch wenn Du kein so sonnengoldnes Haar und so dunkelblaue Augen hättest, »das Erbe ihrer englischen Mutter«, wie das so interessant lautet! So ein armes Menschenkind, wie ich, dessen Vater aus Karlsruhe und dessen Mutter aus Durlach stammt, kann dagegen gar nicht aufkommen.

Nun, Du Kind der Räthsel, soll auch die Fräulein Dobler noch geheimnißvoll sein? Wie Jemand, der eine unglückliche Liebe gehabt, sieht sie eigentlich gar nicht aus; der Mensch, der sich in sie verliebte, hätte gar nicht auf's Aeußere gesehen, oder müßte sie sich gewaltig verändert haben.

Besieh sie einmal genau, ob Du in ihrem Gesicht noch Spuren ehmaliger Schönheit findest, das gehört sonst dazu; ich gestehe, mich mahnt ihr Aussehen immer an einen alten baumwollenen Regenschirm, – ferner gib acht, wenn sie allein ist, ob sie aus einem Kästchen getrocknete Blumen holt, oder eine Haarlocke in Seidenpapier gewickelt, und lange darüber weint, das sind so Kennzeichen einer ehmaligen unglücklichen Liebe. Wenn ich zu Dir komme, wollen wir's schon herausbringen!

Aber ich hoffe, Ihr unterhaltet noch einigen Verkehr mit den Leuten im Städtchen unten, so ganz von altem Epheu und wilden Rosen können wir doch nicht leben. Und den ungeschlachten Burschen, Deinen Udo, kann Fräulein Dobler allein nicht überwältigen, da muß Dein Vater einen Hofmeister nehmen, das wäre immerhin ein Wechsel; schwärme zwar nicht mehr für die Hofmeister, seit meine Tante v. Ellerhausen einen hatte, der im Winter einen blauen Flaus trug und beim Abendbrod Käse aus seiner Tasche zog, den er sich selbst besorgt, um es zu würzen.

Weißt, in unsrer Puppenstube war erst eine etwas schiefe Puppe, die den Papa der kleinen Familie vorstellte; als Tante Minna einen hübschen neuen Papa wixte mit einem Schnurrbart und Jabot, da wurde der alte Papa zum Hofmeister degradirt, er machte sich auch ganz gut in dieser Eigenschaft, nur hatte er den fatalen Umstand, daß er immer Kleie aus seinen Füßen verlor, weil sein Körper etwas defekt war; seither habe ich eigentlich eine etwas klägliche Vorstellung von allen Hofmeistern.

Denk', ich habe erst entdeckt, daß unsre Putzmacherin, die heute da ist, um der Mama Hauben herzurichten und mir eine reizende Ballcoiffüre verfertigt, daß die eine leibliche Cousine Deiner trübseligen Fräulein Dobler ist; will sehen, ob ich ihre nähere Bekanntschaft machen und bei der Gelegenheit das dunkle Geheimniß entdecken kann, das auf der Vergangenheit der Gouvernante ruht. Denk, ich kann's noch nicht glauben, daß sie sollte eine Liebesgeschichte gehabt haben, höchstens wie unser Stubenmädchen; die schrieb in letzter Zeit so viel Briefe. »Nannette,« sagte meine Mutter, »ich hoffe, daß du keine Liebschaft hast; du weißt, ich leide das nicht in meinem Hause.« »Ach nein, Frau geheime Hofräthin,« sagte das Mädchen feuerroth, »ich, – ich habe freilich eine Liebschaft, aber nur eine, wo der Herr nichts davon weiß.«

Nun, fang nicht auch so eine an, Adelchen; ich komme so bald ich kann, aber Du schreibst mir doch vorher noch einmal? In alter und junger Freundschaft

Deine
Ida.


Adele an Ida.

24. April …

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht was noch werden mag;
Das Blüh'n will gar nicht enden.

Jetzt komm, liebe Ida, o jetzt komm! es ist so schön hier, daß es gar nicht schöner mehr werden kann, und doch wird's alle Tage noch schöner. Du weißt ja mein kleines Gärtchen an der Schloßmauer? in dem blühen schon Primeln und blaue Gartenvergißmeinnicht, und es ist so wunderschön, in der Mauerlücke zu sitzen und hinausschauen in die weite Welt! O Ida, ich möchte doch wissen, wo wir wohl in zehn Jahren sind! Mit Fräulein Dobler ist's dasselbe, sie ist immer trübselig, und ich stelle ihr doch so schöne Sträußlein in ihr Zimmer; ich bin wirklich begierig, was Du von ihrer Jugendgeschichte erfährst, sie muß schon Schweres gelitten haben.

Udo ist gegenwärtig ganz zahm und ordentlich, er hilft mir in meinem Gärtchen und will mit dem Knecht eine Laube machen an mein Lieblingsplätzchen bei der Mauerlücke, da ziehen wir denn das Epheu von der Mauer herüber, – das sieht so ehrwürdig aus! Der neue Hofmeister, der seit einigen Tagen hier ist, hat ganz guten Einfluß auf ihn, er ist selbst noch jung und weiß ihm schöne Seemannsgeschichten zu erzählen, – er stammt aus Schleswig. Nun, schöner ist er gewiß, als unser trauriger Herr Hofmeister Zwieseler aus der Puppenstube, der Dir das Vorurtheil gegen seinen Stand eingeflößt hat! Er hat so sanfte, edle Züge, eine schlanke, männliche Gestalt und etwas sehr Ernstes in seinem Wesen. Fräulein Dobler erfuhr im Pfarrhaus, daß er ein eigenthümliches Unglück hat. Er ist nämlich zum Prediger gebildet, hat schon ein Examen gemacht und Stellen gesucht, so oft er aber versucht zu predigen, so versagt ihm die Stimme und wird so leise, daß ihn niemand versteht. So bekommt er natürlich keine Stelle, jetzt ist er freilich noch jung; aber wie das werden soll, wenn er älter wird und immer älter, und er soll fortwährend Hauslehrer bleiben? – O, ich kann oft nicht sagen, wie er mich dauert!

Bei uns, da spricht er verständlich, laut gerade nicht, seine Stimme ist tief und weich, ganz wunderbar angenehm und klar in jedem Wort. Ich sitze gern mit meiner Arbeit daneben, wenn er Udo Lehrstunden gibt, man lernt da doch immer etwas, er hat jetzt der Fräulein Dobler den Geschichtsunterricht abgenommen, den theile ich nun mit Udo, freilich sollte ich mehr wissen als der Knabe, aber, – ich kann's wohl brauchen, alles noch einmal anzufangen.

Nun, ich will sehen, ob aus Deinem Kommen noch Wahrheit wird! Aber, liebe Ida, das mußt Du mir versprechen, daß Du mir den Hofmeister, – Jessen heißt er, – daß Du ihn nicht auslachst und nicht über ihn spottest; ich meine zwar, man könne das gar nicht, aber Dir ist alles möglich; hast Du ja doch dem Herrn Institutsdirektor einen Ballorden mit einem Amor drauf hinten an den Rockkragen geheftet; ist heute noch ein Glück, daß es nicht entdeckt worden ist! Sieh, Du darfst es wirklich nicht, darfst ihn auch nicht necken mit dem leise Reden, das ist ja gerade so traurig, – und er hat auch gar keine Eltern mehr.

Der Vater spricht selten mit ihm, weißt Du, und ich bin auch immer in Sorge, er könnte irgendwie verletzt werden; Du kennst ja die Art und Weise meines Vaters, ich glaube, er sieht stolzer aus als er ist, und doch ist es vielleicht nur jenes Geheimniß, das auf seiner Seele lastet, was ihn oft düster und abstoßend macht, aber, wer ihn nicht kennt, könnte doch alles für Stolz halten.

Der kleine Mann ist auch wieder da gewesen; niemand weiß, woher er kommt, und was er bei'm Vater will, mir aber ist er ganz unheimlich.

Nun aber, auf Wiedersehn! nicht wahr, liebe Ida? Immer und immer

Deine
Adele.

N.S. Bring' auch hübsche Bücher mit, wenn Du hast oder entlehnen kannst, besonders Gedichte; Herr Jessen liest so wunderschön vor, freue Dich nur, bis Du es hören kannst!


Ida an Adele.

2. Mai …

Nun wird's ganz gewiß wahr, daß ich komme, ich sende als Pfand schon meinen Koffer voran, darfst ihn aber nicht öffnen; ja so, Du hast ja den Schlüssel nicht!

Der Ball hatte sich nämlich noch etwas verspätet und – denke nur, Soden konnte erst nicht kommen! ich weiß nicht gewiß, hat ihn wirklich sein Pferd geschlagen oder war's nur eine fürchterliche boshafte Intrigue von Gröben. Da konnte ich so recht empfinden, was das Leid der Liebe ist, mußte immer an den Vers von Göthe denken:

Schön in Kleidern muß ich kommen;
Aus dem Schrank sind sie genommen,
Weil es heute Festtag ist.
Niemand ahnet, daß von Schmerzen
Herz im Herzen
Grimmig mir zerrissen ist.

Ich hatte nur halb Freude beim Tanzen, denn natürlich, tanzen mußte ich doch! mein Cotillontänzer berief mich ein paarmal über meine Zerstreutheit.

Heute aber höre ich, daß Soden nicht gefährlich verletzt ist und bald wieder ausgehen kann.

Ueber das Schicksal der Fräulein Dobler hat mir die Putzmacherin gebeichtet. Die weiß alles aufs Genaueste und erzählt sehr in's Detail; ich habe die tragische Geschichte zu Deiner Erbauung niedergeschrieben, da wir auf Schloß Rhönek wohl kaum so viel ungestört beisammen sind, daß ich Dir's in Ruhe erzählen könnte, und die Geschichte ist zu köstlich; weißt, wir haben als Kinder oft beschlossen, daß wir später Romane schreiben wollen, das soll nun mein erster Versuch sein; um eine passende Ueberschrift fehlt mir's, ich nenne sie eben einfach:

Die Liebesgeschichte eines armen Tropfen.

Fräulein Dobler ist eigentlich ihr Lebenlang ein armer Tropf gewesen. Früh verwaist, wurde sie durch die Fürsorge eines Onkels um halbes Kostgeld in einer Töchterpension untergebracht, ein klösterliches Leben ohne Freude, ohne Wechsel, keine fröhlichen Ferien; sie wurde von früh auf da reichlich benützt und beschäftigt und hat wahrscheinlich nie gewußt, daß sie jung gewesen ist. Erst beim Tod der Vorsteherin ist ihr eingefallen, daß sie auch einen Ausflug in die Welt wagen könne; das Alter hatte sie dazu, ich glaube, sie war nahe an dreißig. Zum Verblühen hatte sie wohl keine Gelegenheit gehabt, denn sie hatte nie geblüht.

Sie fand eine Stelle in der Familie eines wohlhabenden Arztes auf dem Land. Schlecht behandelt ist sie, glaub' ich, dort nicht worden, aber auch nicht gut; sie hat sich wohl bald mit leidlicher Zufriedenheit in die unbeachtete Rolle gefunden, die ihr zugetheilt war und verschwand als fünftes Rad am Wagen, sobald man ihrer Dienste nicht bedurfte. Der ganze Ton im Hause muß ein höchst unerquicklicher gewesen sein.

Da war's denn einige Erfrischung, als der älteste Sohn des Hauses von der Universität und einer Reise nach Wien zurückkam, um sich daheim auf's Examen zu präpariren, ein etwas massiv gestalteter, sehr blühender junger Mann. Glaube nicht, daß er gerade in die Tiefe der Wissenschaft eingedrungen war, aber er war meist guter Laune und zum Plaudern aufgelegt, erzählte Studentengeschichten, neckte sein klägliches Schwesterlein und brachte durch schlechte Witze die Tischgesellschaft zum Lachen. Es war wohl dazumal schon verwunderlich für Fräulein Dobler, sich selbst lachen zu hören.

Vieler Artigkeit hatte sie sich gerade auch nicht zu rühmen von dem jungen Mann; »ja so, Sie sind auch da,« sagte er, wenn er bei Tisch sich vor ihr bedient hatte, und wenn er sie aus Versehen auf den Fuß getreten, so rief er »oha!« statt weiterer Entschuldigung, – aber Fräulein Dobler war nicht verwöhnt und konnte trotz des Mangels an Galanterie dem Jüngling nicht feind sein.

So war sie eines Abends allein zu Hause, als Wilhelm besonders freudig aufgeregt heim kam und ihr im Triumph, sein eben erhaltenes Doktordiplom zeigte; seine Augen leuchteten wie nie. »Da sehn Sie,« rief er, indem er das riesige Blatt entfaltete, »was das für ein elephantenmäßig großes Tischtuch ist! und,« fuhr er zutraulich fort, indem er sich neben sie setzte, »es freut mich erst noch ungeheuer, daß ich Sie allein treffe; hören Sie, ich glaubt daß Sie's sehr gut mit mir meinen, ich halte Sie für ungeheuer gutmüthig und Sie glauben gar nicht, wie wohl mir das thut, wenn ich spüre, daß man's so gut mit mir meint.« Immer heller leuchteten seine Blicke, immer näher rückte er der verlegenen Fräulein Döbler, der so etwas in ihrem Leben noch nicht vorgekommen war, immer eifriger versicherte er sie seines Wohlgefallens. »Und hören Sie,« begann er auf's Neue, »ich sag' Ihnen, auf Jugend sehe ich nicht, auf Schönheit auch nicht; meine Frau Mama, die jetzige meine ich, ist einmal jung und schön gewesen, und jetzt hunzt sie meinen Vater; ich sage Ihnen, eine gutmüthige Person, die den Leuten ordentlich Bescheid gibt und die freundlich ist, auch wenn ich ein Bischen spät heimkomme, die wäre mir ganz recht und auch schön genug.«

Fräulein Döbler in immer steigender Verlegenheit meinte, Spätheimkommen sei einem Arzte ja gar nicht übel zu nehmen …

»Nun sehen Sie, das freut mich ungeheuer,« fuhr der zuthuliche Jüngling fort, »ich habe noch gar nicht so gewußt, wie Sie so liebenswürdig sind, und Christiane heißen Sie? der Name hat mir immer ungeheuer gefallen, lassen Sie sich nur nicht Nane nennen. Wenn ich mich, was bald geschieht, als Praktikus setze, – Sie hätten ganz gewiß auch nichts dagegen, Frau Doktorin zu werden?«

»Gegen den Wunsch Ihrer Eltern? …« erwiederte stockend und ganz rathlos Fräulein Döbler.

»Oh, den Wunsch meiner Eltern!« rief Wilhelm wieder, »sehen Sie, um die brauch ich mich nur auch gar nichts zu bekümmern; ich bin mündig in einem Jahr und habe ganz eigen großmütterlich Vermögen, da kann ich heirathen von Stund an; und, hören Sie, gegen einen Hund im Hause würden Sie gewiß nichts haben? das gehört eigentlich in ein Doktorshaus; vom Chaischen, da könnten Sie ja auch profitiren …«

Fräulein Dobler wußte in Wahrheit nicht mehr, was sie sagen sollte, und als die Eltern mit dem Elischen heimkamen, eilte sie auf ihr Zimmer, um nachzudenken über das Erlebte, als sie die Kleine endlich zur Ruhe gebracht.

Es muß ihr wohl wunderbar schnell gekommen sein, daß sie dem Jüngling so rasch eine solche Neigung eingeflößt. War auch ihr selbst noch nicht eingefallen, bisher eine zu ihm zu fassen, aber – das erste Wort der Liebe wiegt schwer (wirst's auch noch erfahren, Adelchen!), selbst wenn's etwas spät kommt.

Auch konnte sie sich selbst nicht verhehlen, daß der Jüngling jünger sei als sie, – aber es fielen ihr allerhand Exempel ein von derartigen Verbindungen, die doch glücklich ausgefallen waren. War ja die berühmte Rahel sechzehn Jahre älter gewesen als ihr Gemahl, und sie zählte höchstens fünf Jahre mehr als der junge Doktor. Gegen den Willen der Eltern wollte sie's freilich nicht erzwingen, aber was sollten sie am Ende dagegen haben?

Etwas roh und formlos hatte er seine Zuneigung ausgesprochen, aber als eifriger Mediciner hatte er bis jetzt wohl noch nicht viel Gelegenheit gehabt zu feinerer Ausbildung; sie wollte ihm an den Abenden vorlesen, – in lauter Bildungsplanen schlief Fräulein Dobler ein und schaltete im Traum als Frau Doktorin im eignen Haus und fuhr im leichten Chaischen hinaus in's Land, so daß sie zum erstenmal erst erwachte, als die kreischende Elise ein andres Röckchen begehrte.

Sie hatte nach langer Wahl das blaue Thibetkleid angelegt, das sie sonst nur Sonntags trug, und ihre Scheitel tiefer gekämmt, und ging zum Frühstück hinüber in stiller Verlegenheit, – denn wie sollte sie dem jungen Mann begegnen, wie seinen Eltern, nach der bewegten Scene von gestern? Die Verlegenheit war ihr erspart, der Doktor war schon ausgegangen, der Jüngling war noch gar nicht da, was sie wunderte, doch dachte sie, auch er wird sich fassen müssen. Sie zögerte etwas lange beim Frühstück; als endlich die Stunde der ersten Lektion schlug und sie sich langsam erhob, da trat die Magd ein: »der junge Herr läßt bitten, daß die Frau Doktorin hinüber kommt; ich glaube, er hat etwas auf dem Herzen,« setzte sie mit pfiffigem Lächeln hinzu. Die Doktorin ging, Fräulein Dobler vergaß die Lektion, ihr Herz klopfte laut: ja wohl wird er etwas auf dem Herzen haben!

Nach einer langen Viertelstunde, während welcher Fräulein Dobler die Geraniumstöcke am Fenster sorgsam von allen welken Blättern reinigte und die kleine Elise alle Frühstückbrödchen aufaß, kehrte die Frau Doktorin zurück. »Elise, Kind, geh auf die Lehrstube,« befahl sie, »bitte, Fräulein Dobler, bleiben Sie noch einen Augenblick,« bat sie diese, die mit hochklopfendem Herzen und niedergeschlagenen Augen sich niedersetzte; wie tief sie erröthete, konnte man nicht wohl sehen, weil ihr Gesicht allezeit etwas bräunlich war.

»Der dumme Bursch, der Wilhelm drüben,« begann die Mama, »ist in einer rechten Verlegenheit. Er hat gestern Nachmittag mit seinen Freunden so eine Art Doktorschmaus im Adlergarten gehalten, und Sie wissen ja, wie's da zugeht …« Ach, woher sollte Fräulein Dobler wissen, wie's bei Doktorschmäusen zuging! »Und der Mensch kann eben den Wein nicht vertragen,« jammerte die Frau Doktorin, »er macht da die allerdummsten Sachen, ein gewöhnlicher Rausch, wo sie johlen und schreien und nachher schläfrig werden, wäre mir fast lieber; aber unser Wilhelm, der sonst so ungeschlacht ist, wie Sie wissen, der bekommt auf einmal ein liebreiches Gemüth, wenn er zu viel hat, und macht sich an die Frauenzimmer. So hat er einmal seiner Hauswirthin zu Heidelberg, einer Schusterswittib mit drei Buben, einen förmlichen Heirathsantrag gemacht; wir haben nachher unsre liebe Noth gehabt, bis wir die Frau zufrieden gestellt.« Fräulein Dobler blickte noch nicht auf, aber heiß war ihr nicht mehr, es überlief sie eiskalt.

»Nun fürchtet der dumme Gesell,« fuhr die Doktorin fort, »er habe gestern Abend auch an Sie allerlei Unsinn hin geredet, von dem er natürlich heut nicht mehr recht weiß; er sieht erbärmlich aus und schämt sich jämmerlich und will sich gar nicht sehen lassen vor Ihnen. Ich habe ihn getröstet und ihm gesagt, daß Sie eine vernünftige Person seien, der's im Traum nicht einfalle, ein Geschwätz von so einem unvergohrenen Buben für Ernst zu nehmen, aber er hat Recht, daß er sich schämt, er soll heut hinüber laufen nach Gabelstein zu seinem Onkel, da kann er seinen wüsten Kopf verlüften; mein Mann kann so etwas nicht leiden, auch wenn er diesmal ein Auge zudrückt, weil's mit dem Doktorwerden gelungen ist.«

Ja, das war ein kurzer Traum gewesen, vielleicht kindisch, aber nicht göttlich schön. – Eine Weile hatte sich Fräulein Dobler noch mit dem Gedanken getragen, es sei vielleicht alles eine Intrigue der Mutter, der die Heirath nicht angenehm sei, aber der junge Herr hielt sich beharrlich von ihr fern, und später sah sie ihn wieder in völlig unbefangener Lustigkeit, nur ihr selbst gegenüber stumm und verlegen, und sie mußte diese letzte Illusion aufgeben. Der Austritt aus dem Hause des Doktors ist ihr nicht erschwert worden.


Nun, ist das nicht eine tragische Geschichte, dieses Liebesleid der Fräulein Christiane Dobler?

Aber liebstes Kind, mit Eurem Hofmeister, da kommt mir's eine gefährliche Sache vor! muß nur selbst kommen und in eigner Person nachsehen, daß Du mir nicht dumme Sachen machst! Wenn ich mir Deinen Vater vorstelle, der mir, sei nicht böse, Herzchen über dem Vergleich, immer erscheint wie so ein alter düsterer Raubgraf aus einem Ritterroman, und einen armen Kandidaten, der das Auge erhebt zu seiner schönen Tochter! Ich glaube, er wäre im Stande und ließe ihn an den Schweif eines wilden Rosses binden, oder was solch alte furchtbare Potentaten alles für grausige Dinge ausgesonnen haben.

Schreiben kannst Du mir schon noch einmal, denn acht Tage steht's immer noch an. Dann aber umarmt Dich

Deine
Ida.


Adele an Ida.

6. Mai …

Nun, liebste Ida, das ist nun der aller-allerletzte Brief vor Deiner Ankunft, und ich würde den vielleicht nicht schreiben, wenn ich Dich nicht bitten wollte, daß Du doch ja, wenn Du da bist, in Gegenwart der Fräulein Dobler keine Anspielungen machst auf ihr trauriges Geschick.

Du hast es ja ganz anschaulich und komisch erzählt; ich zweifle, ob die Putzmacherin noch alle Gespräche so wörtlich berichtet hat, – aber siehst Du, gerade das kommt mir so unsäglich betrübt vor dabei, daß es so lächerlich ist, daß niemand davon singen und sagen kann.

Es wundert mich nicht mehr, daß sie so trübe und verdrossen war alle Zeit und ich meine, ich müsse erst recht gut und freundlich gegen sie sein, um ihr's zu vergüten. Daß sie mich nicht so an einem fort erzogen hat, wie andre Gouvernanten thun, das danke ich ihr gerade; hart oder eigentlich unfreundlich ist sie nie gegen mich gewesen, und ich habe dann um so mehr in Gedanken an meine liebe, schöne Mutter gelebt, die ich so kurz gekannt.

Ich meine oft, liebe Ida, die Liebe, wie sie so in Gedichten und Geschichten lebt, die gebe es auf der Welt gar nicht mehr, oder hat es sie nie gegeben. Ich weiß, daß mein Vater der Tante Hofräthin ihre bürgerliche Heirath nie vergeben hat; darum dachte ich, das werde doch eine Liebeswahl gewesen sein, und ich wagte einmal sie darum zu fragen. »Na, das nicht gerade mein Kind,« erzählte sie mir, »siehst Du, wenn ich auf unsrer alten Stammburg sitzen geblieben wäre und hätte auf einen Baronen gewartet, da hätte ich eingeräuchert werden können wie ein's der alten Kamine dort droben und zuletzt einfallen. Mein Vater war gestorben, der Deine, der als Halbbruder auch gerade kein Recht hatte über mich zu verfügen, war auf Reisen, da meldete sich mein Mann, der mir die Geldgeschäfte hatte besorgen helfen, als Freier. »Ein Spatz in der Hand ist besser als ein Pfau auf dem Dache« dacht' ich, und sagte ja; muß auch gestehen, daß sich mir nicht einmal auf dem Dache ein Pfau präsentirt hatte. Ob mir's Dein Vater verziehen, das weiß ich nicht; trutzig ist er fast immer gewesen.«

Siehst Du, das ist die Herzensgeschichte meiner Tante; sie kommt mir fast noch trauriger vor, als die der Fräulein Dobler.

Bei meiner Mutter, da ist's wohl Liebe gewesen, daß sie mit dem düstern Fremden, – ich kann mir meinen Vater nie jung und heiter denken, – über's Meer gezogen ist; – ich weiß so wenig von ihr. Schön ist sie gewesen, das sagt mir ihr Bild und meine Erinnerung, und zart und lieblich; die Tante sagt mir auch nicht viel von ihr, und alles in ihrer trocknen, nüchternen Weise: »ja, sie war eine zarte, schöne Dame, vornehm gewöhnt; ich glaube, mein Bruder hat im Wunsche, sie nichts vermissen zu lassen, gar zu viel gebraucht. Verwandte hatte sie, so viel ich weiß, gar keine, wenigstens hat man keine gesehen, sie werden in der Schweiz von Gletschern heruntergefallen sein, wie das Engländern öfters passirt.« Das ist alles, was ich von meiner Mutter erfahren, denn Vater spricht nie von ihr; und ich habe oft eine solche Sehnsucht nach ihr!

Wegen Herrn Jessen darfst Du nicht Sorge haben, und ich bitte Dich, mach', wenn Du da bist, keinen Scherz, keine Anspielung, die mich oder ihn in Verlegenheit bringen könnte! Er lebt so still für sich, dem fällt es gewiß nicht ein, an ein Mädchen zu denken, am wenigsten an

Deine
kindische Adele.


Candidat Jessen an Gustav Leising.

Schloß Rhönek, im Mai …

Da also sitzt Dein »Pechvogel«, der diesmal wirklich aus der Rolle gefallen zu sein scheint; auf einem Schloß am Neckar, so romantisch, als wir nur geträumt in den halbwüchsigen Knabenjahren, wenn wir in der Dämmerstunde Fouqué's Zauberring gelesen. Ein wunderschöner Sitz in Wahrheit, mit allen Eigenschaften einer mittelalterlichen Burg ausgestattet, – graue Thürme und Zinnen, ein wunderliebliches Burgfräulein und ein finsterer Schloßherr, der in den alten Prunkgemächern des Schlosses haust, – der junge Erbe, der meiner Obhut anvertraut ist, der hat gerade nichts Mitttelalterliches an sich, das ist ein Bursch, wie sie wohl zu allen Zeiten gewesen, – gutmüthig, etwas roh und wild daneben, aber er ist mir von Herzen anhänglich, und ich habe ihn lieb gewonnen.

»Und bist Du nun zufrieden?« wirst Du fragen. Die Frage ist zu allen Zeiten, von allen Menschen schwer zu beantworten. Ich lebe in der Gegenwart, ich freue mich des herrlichen Landes, in dem ein freundliches Geschick mir wenigstens einen temporären Beruf angewiesen und – lache, wenn Du willst, ich darf es wenigstens nicht hören, – ich sonne mich im Lichte der schönsten blauen Augen, die ich je gesehen. – Sei still und predige mir nicht, rede mir nicht von meiner aussichtslosen Lage, von dem unseligen Bann, der auf mir liegt und der mir den Eintritt in den Beruf wehrt, der mein Leben und meine Seele ausfüllen würde, – ich weiß alles, mehr als Du mir sagen kannst, und habe mir zum Lieblingsmotto die Worte erkoren:

Die Sterne, die erreicht man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,

und ich bin glücklich in dieser stillen Freude.

»Und wie heißt der Stern?« fragst Du wieder; nun, außer dem Grafen und seinem Sohn weilt hier das einzige Töchterlein des Hauses, – Adele, beschreiben kann ich sie nicht, es ist die verkörperte Anmuth und Lieblichkeit, so recht wie eine süße, tiefe Melodie, – ich kann nicht viel Worte über sie machen, »die Sterne, die erreicht man nicht,« man schildert sie auch nicht, man läßt ihr mildes Licht nur tief, tief in's Herz hinein scheinen.

Das anmuthige Kind ist nicht ganz und immer in diese alte Veste gebannt, sie bringt den Winter bei einer Tante in der Stadt zu; sie ist vielleicht in ihrem Sein und Thun wie ein anderes heiteres, junges Mädchen, aber es liegt ein süßes ungelöstes Räthsel in diesen blauen Augen, um diesen weichen Mund. Warum sollt' ich ihrer begehren? kann ich nicht meine stille Freude an ihr haben, wie an allem Reinen und Schönen? Udo, mein Zögling, ist kaum dreizehn, drei Jahre vielleicht wird er meiner Leitung noch bedürftig sein, ehe er in ein Gymnasium tritt, – drei schöne, selige Jahre, – soll ich nicht glücklich sein und die Augen schließen vor der Zukunft? Oder vielmehr, – soll ich nicht diese Zukunft in die Eine starke Hand legen, die mich bisher so wohl geführt und die nun diesen klaren Sonnenschein in mein Herz leuchten läßt?

So denke denn auch einmal nicht mit Bedauern an mich; glücklich wage ich mich nicht zu nennen, aber zu klagen habe ich nichts mehr.

Dein
Theodor.


Fräulein Dobler an ihre Schwester.

Im Juni …

Du weißt schon lange nichts von mir, liebe Mine, ich wollte auch warten, bis ich die Söckchen für Deinen Karl fertig gestrickt; sollte der einstweilen zu groß geworden sein dazu, so nimm sie für das Rickchen, wird nicht zu lang anstehen, so kann sie der kleine Fritz brauchen, und der andre kleine Nachfolger wird auch nicht zu lange auf sich warten lassen.

Sonst weiß ich Dir nicht viel mitzutheilen von meinem Leben. Du, in Deiner engen Mansardenwohnung, wo an jeder Wand eine Kinderbettlade steht, mit dem schmalen Eßtisch, wo die Leute so nah beisammen sitzen, daß immer eins warten muß, bis das andre den Löffel in den Mund geschoben, – Du denkst Dir's freilich wunderbar schön, auf einem Schloß am Neckar zu wohnen; die Herrlichkeit ist aber so groß nicht. Die Zimmer sind nicht sehr bequem im Schlosse, die Bedienung ist auch mangelhaft, und daß der alte Graf ein hochmüthiger, finsterer Mensch ist, der außer der kurzen Begrüßung bei der Ankunft im Frühling kein Wort für mich hat, – das weißt Du. Adele, mein Zögling, die ist freilich ein liebes Kind und hat mir eigentlich noch keinen Verdruß gemacht, wenn sie gleich an geordnetem Lernen nicht viel Freude hat, und wenn auch ihre leichtsinnige Freundin, die Ida, sie hie und da zu kleinen Unarten angestiftet hat. Udo, der wilde Junge, ist jetzt etwas zahmer, seit er einen Hofmeister hat, und ich bin froh, daß ich den Bengel nicht mehr unterrichten und hüten darf. Hätte nicht geglaubt, daß Herr Jessen, der neue Hofmeister, dem Burschen gewachsen wäre; er sieht so timid aus, aber er hat doch große Gewalt über ihn, er weiß ihn gut zu unterhalten, steigt in den Freistunden mit ihm an den Bergen herum und legt Sammlungen von Steinen, von Moosen und Gräsern mit ihm an; das unterhält den Jungen und macht ihn auch gefügig zum Lernen. Herr Jessen ist sehr artig in seinem Benehmen, er liest auch schön vor; seltsam, daß er nicht predigen kann, da versagt ihm jedesmal die Stimme, und beim Vorlesen ist sie doch ganz wohltönend.

Die Tante in Karlsruhe meinte, es sei gefährlich, einen jungen Hofmeister so auf ein Schloß zu senden, wo er fast allein sei mit einem jungen schönen Mädchen. Ich kann nicht glauben, daß da etwas zu fürchten ist. Wie stolz der Graf ist, das hat er auf den ersten Blick sehen können, und sie weiß auch, wie so gänzlich aussichtslos der junge Mensch ist, der ja nicht einmal auf eine gewöhnliche Pfarre hoffen darf; dem Kind steht ja die Welt und das Leben noch weit offen, zumal wenn der Graf so reich ist, wie man nach seinen kurzen Andeutungen oft glauben sollte, obwohl man im Haus nichts davon sieht, und auch mein Gehalt, wie Du weißt, nicht besonders groß ist.

Viel beisammen sind die jungen Leute eben auch nicht, nur Eine Lektion theilt sie mit dem Bruder bei dem Kandidaten, und da bin ich immer zugegen, ebenso Abends, wo der Graf den Udo mit sich nimmt zum Ausreiten, und wo Herr Jessen uns vorliest; an warmen Abenden im Gärtchen. Ich meine überhaupt, es sei eine Einbildung der Romanschreiber, daß Schloßfräuleins und Hofmeister sich ineinander verlieben, oder gar heirathen, es ist mir kein solcher Fall bekannt. Das kam schon vor und ist höchst natürlich, daß die Erzieherin und der Hofmeister nach näherer Bekanntschaft sich haben verstehen lernen und sich verbunden haben; das ist ja auch viel schicklicher und zweckmäßiger. Du meinst natürlich nicht, Mine, daß ich da an mich selbst denke, ich weiß schon lang, was von den Männern zu halten ist; es war nur eine Bemerkung.

Doch, ich vergesse, daß Du nicht Zeit und Lust hast, so lange Briefe zu lesen, aber wenn man so allein steht auf der weiten Welt, so hat man doch hie und da das Bedürfniß sich auszusprechen.

Das wilde Ding, die Ida, ist jetzt hier, da ist in nichts keine Ruhe und Ordnung.

Nun, ich hoffe, daß Ihr Alle gesund seid, grüße die Kinder und Deinen Mann; Deine

treue Schwester
Christiane.

Ich lege meine alte Brille bei; sei so gut, und laß mir durch Deinen Mann eine besorgen, zwei Nummern schärfer als die alte. So muß ich jetzt steigen und das Alter kommt allmälich, wäre mir gleichgiltig, auch sterben wollte ich meinetwegen heute noch, wenn ich auf der Welt nur Einmal glücklich gewesen wäre, – nur ein einzigmal.


Ida an Adele.

Juli …

So schnell ist sie vorübergegangen, die schöne romantische idyllische Zeit, die ich wieder auf Eurer reizenden Höhe habe verleben dürfen! Ich versichre Dich, es ist mir wie ein Traum, wenn ich jetzt das Fenster öffne und unsre weiten, sonnenheißen Straßen vor mir sehe und denke mir dagegen Dein stilles, schattiges Gärtchen und die tiefe, weiche Stimme, die uns Schillers bezaubernde Dramen vorträgt. Daß wir diesmal weniger Verkehr mit dem umliegenden Adel und mit dem Städtchen gehabt, habe ich gar nicht vermißt, und das war sehr edelmüthig von mir, denn Du mußt gestehen, daß der Kandidat für andre Menschenkinder nur ein halbes Auge hat, für Dich womöglich viere.

O liebe Adele, wenn ich nicht diesmal Mama ins Bad begleiten dürfte, und nicht noch so gar viel Zurüstungen zu machen hätte, – nicht ein einziges meiner vorjährigen Kleider kann ich tragen, ohne die Ermel zu verändern, und Du weißt, in der Stadt hält man nicht viel auf Negligés und in dem Bad, so früh Morgens am Brunnen ist das eine Hauptsache, – ja, was wollt ich denn sagen? ja so, wenn all diese Geschäfte nicht wären, und Du verargst mir das nicht, wenn nicht das Erkranken Deines Udo mich etwas ängstlich gemacht hätte, – ich bin nun einmal so zartnervig, – ich würde mich wohl den ganzen Sommer nicht haben losreißen können.

Ist Dein Vater schon abgereist auf seine geheimnißvolle Tour? Hör', ich glaube, das Geheimniß ist so groß nicht, er wird einfach in ein Bad reisen und sich's wohl sein lassen, ich meine auch, es habe ihn einmal einer unsrer Bekannten in Homburg gesehen. Was sollte er sonst thun? Zu geheimen diplomatischen Sendungen braucht man ihn schwerlich, nimm mir's nicht übel, geheim genug wäre Dein Papa schon zu einem Diplomaten, aber nicht höflich genug, er nimmt ja auf keinen Menschen in der Welt Rücksicht.

Wenn Du ihn nur diesmal begleiten könntest! ich fürchte immer, bei Deinem Bruder brechen die Pocken noch aus oder Scharlach, da wärst Du doch lieber vorher fort; Fräulein Dobler wird ihn schon versorgen, und die braucht nicht mehr zu fürchten für ihren schönen Teint.

Und eine andre Gefahr, mein Herzchen, noch größer als Blattern und Scharlach bedroht Dich! Du weißt wohl, was ich meine, wenn Du mich auch noch so unschuldig anguckst! Meinst Du, ganz ohne Gefahr werden zwei so junge Menschenkinder von so schwärmerischer Natur, wie Du und Herr Jessen, inmitten des schönsten Frühlingswetters auf einem alten Eulennest zusammensitzen? Meinst Du, ich habe nicht verstanden, warum der timide Kandidat, der nicht einmal laut predigen kann, mit solchem Feuer und Pathos las von

Der Liebe heil'gem Götterstrahl,
Der in die Herzen schlägt und trifft und zündet.

Und warum ein gewisses Fräulein mit so hellem Erröthen und mit so lichten Blicken empor schaute, als er Thekla's Worte deklamirte:

Du standest an dem Eingang in die Welt,
Die ich betrat mit klösterlichem Zagen …

weiß gerade nicht weiter auswendig und habe keinen Schiller da, – Du wirst's sicher wissen.

Ein Unsinn freilich ist's, denn es würde sich ja da nicht von einer simpeln Mesalliance handeln, die man in unsern Tagen nicht mehr so hoch anschlägt, – es handelt sich von einer puren Unmöglichkeit, und ich hätte in meinem Leben nie geglaubt, daß ich Dir noch Vernunft predigen müßte, die Du sonst allezeit die Brave warst.

Aber das muß ich gestehen, hübscher, viel hübscher ist der Kandidat als ich mir gedacht, insoweit ist es verzeihlich, aber auch nöthig, daß Du fliehst.

Höre, ermuthige ihn nur einmal zu predigen, Eurem Pfarrer drunten wird's nicht unlieb sein, gib Acht, wenn er Dich zur Zuhörerin hat, dann geht's sicher; wie konnte er so feurig lesen in Deiner Gegenwart!

Deine Frau Tante hat mich auch ausgefragt über den neuen Hofmeister, »ein ganz blöder, stiller junger Mensch« sagt ich ihr; die braucht nicht alles zu wissen; bedank Dich bei mir, Adelchen!

Und nun adieu, ich habe schauderhaft lang geschrieben und so wenig Zeit; so ist's mit der Freundschaft, da ist kein Opfer zu groß. Lebe wohl, Adelchen!

Deine
Ida.

Und ich habe nicht einmal von mir selbst gesprochen, nicht, daß ich fürchte, mich in Soden getäuscht zu haben! Es ist zu tragisch, um davon zu reden; sieh, so selbstlos macht die Freundschaft!


Adele an Ida.

Juli …

Nein, liebe Ida, es ist doch nicht gegangen mit dem Predigen, und ich kann nicht sagen, wie unbeschreiblich leid es mir thut um Jessen, der so tiefe Liebe, so heilige Begeisterung hat für seinen schönen Beruf.

Unser Pfarrer selbst hat ihn gebeten, eine Predigt zu übernehmen; er that es zögernd, ich glaube nur auf meine Bitte, und sah nicht ohne Bangen dem Tage entgegen. Ich that das Mögliche, ihm Muth zu machen, als wir Abends vorher noch beisammen saßen.

Ich ging am Sonntagmorgen in unser altes kleines Kirchlein hinunter, fast mit so viel Herzklopfen, als ob ich selbst predigen sollte. Die Leute sahen beifällig auf den »jungen, schönen Herrn« – ich hoffte, es müsse gut gehen. Der erste Auftritt war mit fester, klarer Stimme gesprochen, auch das Gebet, dann aber, als die Predigt beginnen sollte, ward seine Stimme fast plötzlich schwach, kaum vernehmlich, das verwunderte Aufblicken der Zuhörer schien noch mehr lähmend auf ihn zu wirken, – nie habe ich in solcher Seelenpein eine Predigt zu Ende gehört oder vielmehr nicht gehört, wie diese, – ich eilte am Schluß fortzukommen, nur damit ich keine Bemerkungen der Leute hören durfte.

Er war so tief niedergeschlagen, als wir uns Abends sahen! Wie gerne hätte ich ihm ein freundliches, ermuthigendes Wort gesagt; ich fand es nicht gleich.

Die gute Fräulein Dobler, die sich nicht gerade besonders aufs Aufheitern versteht, versuchte ihn zu trösten, indem sie sagte, es gebe eben oft solche Naturfehler, die sich durchaus nicht überwinden ließen; so habe ein Vetter von ihr, auch ein Theologe, die unglückliche Eigenschaft gehabt, daß er sich unter dem Predigen fortwährend habe schneuzen müssen, und das habe jedesmal getönt wie eine Trompete, so daß es die Gemeinde aus der Andacht gebracht, »und er hat's nicht leis lernen können,« setzte sie seufzend hinzu, »wie viel er sich auch Mühe gegeben, er hat trompetet bis an sein Ende.«

Diesmal erreichte sie den Zweck; wir mußten Beide herzlich lachen, – o, es thut mir so wohl, wenn ich Jessen lachen höre, und es steht ihm so gut! – »Was hat denn der Arme angefangen?« fragte er noch lachend, »eine Pfarrstelle wird er nicht bekommen haben?«

»O, warum nicht?« sagte Fräulein Dobler, »das Consistorium hat ihn angestellt und seine Gemeinde hat sich an ihn gewöhnt; ein altes Weib hat selbst einmal zu mir gesagt: der Posaunenton sei ihr ganz erbaulich. Aber bei uns stellt das Consistorium an, da fragt man die Leute nicht vorher, was sie für einen Pfarrer wollen.«

»Nun, so könnte auch ich vielleicht noch eine Stelle bekommen, auf einer Hallig etwa,« sagte Jessen trübe.

»Was ist denn eine Hallig?« fragte ich, ich hatte die Benennung nie gehört.

»Halligen sind kleine, ganz niedere Inseln, in der Nordsee, nur wenig über das Wasser erhöht, die in frühern Zeiten durch die Fluth vom Lande oder von größern Inseln losgerissen worden sind,« sagte mir Jessen.

Nun weißt Du, daß ich schon in der Geographiestunde für ein Leben auf einer reizenden Südseeinsel geschwärmt habe und einst mit Freude die Strophen von Byron übersetzt habe:

Ein liebliches Eiland sollt' eigen uns sein
In tiefblauer Südsee, so fern und allein.

Und so dachte ich mir auch hier eine grüne Insel vom blauen Meer umwogt, von Klippen geschützt gegen die Brandung, einen heimlichen, stillen Aufenthalt, aber Jessen hat mich anders belehrt. »Eine Hallig, Comtesse, ist ein ganz flaches Stück Land inmitten der graugelben, schlammigen Flüssigkeit, die man Watten nennt; da grünt kein Baum, singt kein Vogel und blüht keine Blume. Wohl hört man zu Zeiten das Meer rauschen, dann aber ist es die Sturmfluth, die das ganze Land überschwemmt und oft Häuser und Bewohner mit hinab reißt in die Tiefe.«

Mir schauderte bei dieser Beschreibung und bei dem Gedanken, daß dort Menschen wohnen müssen, die erst noch, wie mich Jessen versichert, ihre traurige Heimath lieb haben sollen. Ich bat ihn, uns etwas vorzulesen, damit man sich vergesse.

Es waren neue Gedichte, von Schwab, glaube ich, die Jessen ein Freund gesandt hatte, er hatte uns schon früher daraus gelesen, viel anmuthige Sagen und Lieder aus unsrem sonnigen Schwabenland. Was er aber heute las, das stimmte uns nur wehmüthig, es war, als ob es anknüpfe an unser Gespräch. Es war die traurige Mähr von »Des Fremden Königreich«, weiß nicht, ob Du es kennst: Ein fremder Jüngling führt die schöne Königstochter, die er sich im Kampfe errungen, meerüber in seine Heimath. Sie kommen an eine düstre Insel und die Jungfrau bittet:

O, schiffe vorüber am Eiland grau,
Vorüber am alten, verfallenen Bau! …

der Jüngling aber spricht traurig:

O Lieb, was wirst Du bleich,
O Lieb, das ist mein Königreich,
Hier mußt Du Königin werden,
Kein andres hab' ich auf Erden,

und wie sie näher und näher kommen und der Jüngling erkennt mit Grauen:

O Maid, es kann Dir gefallen nicht,
Nicht kann Dich mein Eiland ergötzen,
Du schaust es an mit Entsetzen.
Und eh Du verfluchest Das Leben Dein,
Eh wollen wir Beide begraben sein,

da schifft er mit ihr hinunter in die Tiefe und das Meer deckt die Beiden.

Es war ja wohl kindisch, daß mich das fremde Lied so gar tief traurig machte, aber ich fühlte, daß es Jessen eben so ging. Ich konnte nicht zu ihm aufsehen und deckte meine Augen mit den Händen, ich wußte ja wohl, daß es einfältig sei zu weinen.

Es ist selbst der Fräulein Dobler zu viel geworden, deren Element doch sonst der Trübsinn ist. »Ich muß sagen,« hob sie an, »Sie hätten nichts Geschickteres zur Erheiterung finden können, als eine so dumme Geschichte, die erst noch sehr unwahrscheinlich ist. Wo wird denn ein König einem fremden Menschen seine Tochter mitgeben, allein in's Meer hinaus? Der Fremde hätte ja mit in seines Schwiegervaters Schloß leben können.«

»Oder auch in die österreichische Armee eintreten,« sagte Jessen mit Lachen.

Mir wollte das Lachen nicht mehr gelingen und ich mußte immer an die traurige Geschichte denken. Meinst Du nicht, die Jungfrau hätte ihm doch folgen sollen in sein altes Schloß? Gute Nacht, meine Ida.

Wegen Udo hättest Du nicht fliehen dürfen, der Fieberanfall ging diesmal schnell vorüber, der Knabe hat aber solche Anfälle öfter, ich mache mir Vorwürfe, daß ich in letzter Zeit mich nicht mehr um ihn gekümmert, und ich sollte ihm doch statt der Mutter sein!


Ida an Adele.

Baden …

Nun ja Kind, Du hast's gut mit mir vor, wenn Du mich auch noch zur Schiedsrichterin über Balladen und Romanzen ernennst, meinst Du, hier habe man sonst nichts zu thun? Das sieht Dir eben gleich, daß Du über solche Dinge Dein Herzlein brichst, und konntest doch sonst so fröhlich sein! Habe übrigens doch das Gedicht gelesen, es wohnt hier im Hause ein sehr gebildeter, etwas ältlicher Herr, der alle möglichen neuen Bücher hat. Diesmal gebe ich der Fräulein Dobler recht und halte das Ganze für einigen Unsinn, gib nur Acht, daß Dich nicht auch so ein fremder Jüngling in so ein altes Eulennest führt.

Zeit zum Lesen habe ich kaum, noch weniger zum Schreiben, Du glaubst nicht, wie viel man hier zu thun hat mit den verschiedenen Toiletten und Promenaden und Abenden im Conversationssaal, dann sieht man so viele Bekannte; denke, ich habe gestern geglaubt, Deinen Vater zu sehen, Abends, in der Nähe des Conversationssaals, – und wir glaubten ihn fern weg auf irgend einer geheimen Mission! Hätt' er Dich nur mitgenommen!

Denke, es wird mir immer klarer, daß ich in Soden mich furchtbar getäuscht! Sie schreiben mir, daß er sich um die Tochter einer Metzgerswittwe bewirbt, die 40,000 Gulden Aussteuer bekommt. Ist das nicht entsetzlich? Ein Glück, daß ich hier nicht Zeit habe, meinem Leid nachzuhängen, es könnte mir das Herz brechen. Adieu, heute ist Concert. Lies mir keine so traurigen Lieder mehr und sei gegrüßt von

Deiner Ida.

Der gebildete Herr heißt Decker, ein Privatdocent oder so etwas, er ist sehr artig; aber Lieutenant Ehrenfeld ist auch hier und braucht eine Kur. Erinnerst Du Dich seiner nicht mehr; höre, das scheint mir ein Phönix von einem Offizier! und eine Uniform ist doch wieder ganz was anderes als ein Civilist!


Adele an Ida.

August …

Ich habe lang nicht geschrieben, liebe Ida, ich meine es wenigstens, und ich weiß kaum, ob ich Dir schreiben kann, oder was ich schreiben soll?

Und doch, es wäre ja Unrecht; wir sind Freundinnen gewesen von den frühsten Kinderjahren, da muß ich Dir doch alles sagen, nicht wahr?

Der Vater ist lange schon fort, er ging früher als sonst; er sagte aber, er komme bald zurück. Ach Ida, es ist wohl Sünde, daß es mir ist, als ob ein Druck von meiner Seele genommen wäre, wenn der Vater fort ist. So soll's nicht sein.

Udo ist wieder krank geworden, derselbe Anfall von Hitze und Betäubung im Kopf; es that mir so leid um den Knaben und wie ich selbst in letzter Zeit so viel Heimweh nach meiner Mutter hatte, so kam er mir jetzt besonders verlassen vor. Fräulein Dobler hatte auch nach ihm gesehen, meinte aber, wir könnten beruhigt schlafen gehen, da er ganz ruhig liege. Mir aber ließ es keine rechte Ruhe, es war schön mondhell, so stand ich denn auf und ging noch einmal hinauf. Ich war so froh, der Kammerdiener, der sonst im Vorzimmer von Papa's und Udo's Schlafzimmer schläft, war am Abend noch in's Städtchen gegangen, um den Arzt zu fragen; er war nicht zurückgekommen wie er versprochen. Udo lag in großer Hitze und wälzte sich unruhig hin und her, ich brachte ihm Zuckerwasser und setzte mich zu ihm; er wurde erst ruhig, als ich seine heiße Hand in meiner kühlen hielt und ihm halblaut ein Schlummerliedchen sang; ich weiß es noch von der Zeit, wo Mutter es ihm gesungen.

Es war mir traurig und doch wohl an meines Bruders Bett, liebe Ida, ich fühlte jetzt erst, daß ich bisher viel zu viel für mich selbst gelebt, zu wenig für Andere gethan habe; es liegt doch ein Segen in der Mühe der Liebe. Wie ich so sang aus der Mutter Schlummerlied:

Und schläfst Du einmal einsam ein
Und tief im Grab Dein Mütterlein,
Dann grüße Dich in Deinem Traum
Dein Mütterlein vom Sternenraum,
Dann höre leis noch den Gesang,
Der von der Mutter Lippe klang.

Da hörte ich einen leisen Tritt und Jessen stand am Fußende des Bettes; er schläft auf dem obern Boden, aber er hatte auch keine Ruhe um den Knaben gehabt. Da ich bang war, weil der Kammerdiener noch nicht zurückkam, so war mir's lieb, daß er noch blieb und so setzte er sich auf die andere Seite des Bettes. Es war so wunderbar, der Mond schien durch das hohe Fenster und leise, leise säuselten die Bäume draußen im Nachtwind.

Ich weiß nicht, wie's gekommen; aber, liebe Ida, Du darfst mich nicht verachten, – auf einmal sind unsre Hände ineinandergelegen, und er flüsterte mir leise Worte zu, Worte, wie ich sie nie gehört: daß er mich unaussprechlich lieb habe, er wisse ja wohl, daß er mich nie begehren dürfe als sein Eigenthum, nur an mich denken wolle er, als an das Reinste und Liebste auf Erden.

O Ida, bin ich's denn werth, daß mich ein Mensch so lieb hat! Was wir noch gesprochen, ich weiß es nicht; ich habe ja auch nicht läugnen können, daß ich an ihn gedacht, mehr als ich selbst gewußt, – wir wußten's alle Beide, daß wir uns nie eigen sein dürften, es war so traurig, und doch so schön; immer und immer hätte ich so sitzen mögen, meine Hand in der seinen, so hören auf seine lieben, treuen Worte, im klaren, hellen Mondenlicht.

Da ging aber geräuschlos die Thür, der Kammerdiener kam und brachte Tropfen von dem Arzt. Ach, ich hatte den kranken Bruder eine Weile ganz vergessen, obgleich meine Hand auf seiner Decke lag. Jessen wollte mit dem Kammerdiener bei dem Knaben bleiben; ich ging hinunter wie im Traum, ob ich die Nacht gewacht oder geschlafen, das weiß ich nicht. Udo ist jetzt wieder besser.

Du kannst nicht wissen und glauben, Ida, wie wunderschön die Welt ist seit jener Stunde. Wir sind schüchtern uns nur anzusehen, und doch trägt Jedes einen goldnen Schatz von Glück im Herzen, neben all der stillen Sorge, daß es nicht wird dauern dürfen.

Am Morgen nach jener Nacht war Fräulein Dobler bei Udo oben, der wieder besser war, und las ihm vor aus Kampe's Entdeckung von Amerika. Ich saß in meinem Gärtchen in der Mauernische, wo man den herrlichen Blick hinaus hat. Wie sich Jessen gerade dahin gefunden, – das weiß ich nicht. Er bat mich leise um Vergebung, daß er ausgesprochen, was er doch hatte verschweigen wollen, er wolle, wenn ich es gebiete, scheiden ohne ein Wort; aber wenn ich ihm gestatte zu bleiben, so dürfe ich sicher sein, daß er nie ein Wort wage, das ich nicht gut heiße.

Ich weiß nicht, Ida, woher mir, die ich doch sonst so ängstlich bin, diesmal der Muth gekommen. Es war so ein schöner, klarer, blauer Himmel über uns, da fühlte ich mich so recht vor Gottes Angesicht, und ich konnte mein innerstes Herz aussprechen ohne Zagen. So sagte ich Jessen, daß ich ihn auch lieb habe, und daß ich nicht glaube, daß das Sünde sei, wenn wir uns daran freuen in der Stille. O, Du glaubst nicht, wie selig er aussah; ach, wie ist es doch schön, wenn man einen Menschen so glücklich machen kann, und ist's auch nur für einen Augenblick! Und weil ich so allein stehe auf der Welt und keine Mutter habe, so sagte ich ihm, wir wollen unsre Liebe dem lieben Gott befehlen, so wird sie uns nie gereuen, auch wenn wir uns später trennen müßten für's ganze Leben.

O wenn Du nur wüßtest, wie schön es jetzt ist, obgleich wir uns fast nie allein sehen! Ich denke, das könnte nicht recht sein, und ich will gewiß nichts thun, was Unrecht ist, sonst könnten wir ja nicht mehr so glücklich sein.

Der guten Fräulein Dobler kann ich nichts sagen. Weißt, es brächte sie nur in Verlegenheit, weil sie als Gouvernante es ja doch nicht leiden dürfte. Und sie verstehts auch nicht, wie das ist, wenn man sich so lieb hat. Von der einen, traurigen Geschichte her, die Du mir erzählt hast, kann sie das nicht wissen; da ist ihr's gegangen wie jener Dritten von den drei unglücklichen Schwestern:

Und still noch saß die dritte Maid,
So sage, Jungfrau, was war Dein Leid?

Und ruhig sie zur Antwort giebt:
»Ich ward auf Erden nie geliebt.«

Ich glaube, Du weißt's auch nicht so recht, liebe Ida, obgleich Dir schon allerlei Lieutenants gefallen haben?

O sieh, ich freue mich auf jeden Morgen, und in der Nacht muß ich, eh ich einschlafe, stundenlang an alles denken, was wir am Tage gesprochen haben. Gelt, es ist nicht falsch, daß ich zu Fräulein Dobler sagte, ich möchte gern an allen Stunden Udo's Theil nehmen, ich habe so eine Freude am Latein. Ihr ist das lieb, weil sie gegenwärtig so viel Zahnweh hat, und viel kann ich ja doch nicht mehr bei ihr lernen. Es ist so nett, als ein Schulkind Jessen gegenüber sitzen! Er tadelt mich oft recht im Ernst, und ich bin so demüthig! Aber dann begegnen sich unsre Blicke und wir fühlen wieder das heimliche Kleinod im Herzen.

Und die Wanderungen mache ich auch mit, wenn er mit Udo Pflanzen und Steine sammelt, ich werde eine ganz gelehrte Botanikerin, glaub's nur! Es ist so nett, wenn wir an einem moosigen Rain sitzen und lesen die Schätze aus, die Udo uns zuträgt. Und die Vorlesungen am Abend, die sind viel schöner noch als vorher, so vieles verstehe ich jetzt erst recht; und ansehen darf man sich ja immer wieder dazwischen. Es ist, als ob auf allem in der Welt ein ganz eigner Sonnenschein läge.

Aber was soll daraus werden? fragst Du. O, liebe Ida, ich weiß ja wohl, daß es nicht bleiben kann. Aber ein wenig, ein klein wenig glücklich sein darf man doch!

Manchmal träume ich freilich auch, es könnte alles noch schön werden und gut, und ich könne einmal mit ihm ziehen als sein treues Weib. Eine Pfarrfrau! o, wie ich mir das reizend denke! ein Pfarrhaus, beschattet von grünen Bäumen in einer anmuthigen Gegend, mit einem lieblichen Gärtchen dahinter, – ich helfe jetzt heimlich oft in der Haushaltung, ich kann schon einiges kochen, und in meinem Gärtchen pflanze ich alles selbst; ich glaube, ich würde gar keine ungeschickte Pfarrfrau sein, mein Idchen!

Dann aber kommt wieder ein schwarzer Strich dazwischen, noch trauriger als die Kluft unsres Ranges, die mir gerade nicht so schlimm vorkommt, die unselige Stimme! Theodor hat mir vertraut, daß das noch von seiner Kinderzeit herstammt, von einem tyrannischen Lehrer, dem er untergeben war. Es hätte ihm fast auch unmöglich gemacht, ein Examen zu bestehen, aber ich glaube, daß da all seine schriftlichen Arbeiten so ausgezeichnet waren, daß die Professoren gerne gehorcht haben, auch auf leise Antworten.

Nun, ich will nicht fragen und nicht klagen, ich will glücklich sein, so lang ich kann; o Ida, ich habe nicht gewußt, daß es so schön ist auf der Welt!

Du mußt's für ein großes Freundschaftzeichen erkennen, daß ich Dir so viel geschrieben, ich habe darum eine Lektion unten versäumt. Lebe wohl, liebe Ida!


Jessen an seinen Freund.

Oktober …

Es ist vorüber. Einen Sommer lang sollte ich glücklich sein, einen ganzen Sommer lang! Es gab Zeiten, wo ich das nicht gehofft; ich habe kein Recht zu klagen.

Du weißt aus meinem letzten Brief, wie kurz auch meine Andeutungen waren, daß ich so glücklich war, die Liebe des reinsten, schönsten Herzens zu gewinnen. Es war mein Vorsatz gewesen, meine Liebe zu ihr zu verschweigen; daß ich ihn gebrochen, kann ich nicht bereuen, denn wir haben eine unaussprechlich schöne Zeit gehabt. Wir haben uns selten allein gesehen, ich habe nie ihr Wort vergessen: »wir wollen unsre Liebe in Gottes Hand legen,« und habe sie hoch und heilig gehalten; aber auch so, in Entbehren und Entsagen, war es eine selige Zeit.

Was soll ich Dir viel erzählen? Es ist die alte Geschichte, Du kannst sie in den Romanen wieder finden, die uns als Gymnasiasten gefesselt und bewegt. Der alte Graf kehrt unversehens zurück, der Kammerdiener muß geplaudert haben, und was so still und heilig begonnen, das wird zertrümmert mit roher Faust.

Du meintest in Deinem Brief, die mittelalterlichen Zeiten seien vorüber, wo die Liebe zu einer Grafentochter ein so furchtbares Attentat von einem bürgerlichen Kandidaten gewesen sei, – Gustav, vielleicht wären Dir die Wuthausbrüche des Alten, seine Drohung, mich niederschießen zu lassen, wenn ich mich im Bereich des Schlosses noch einmal blicken lasse, mehr lächerlich als furchtbar erschienen; – ich konnte alles schweigend mit anhören, weil es Adelens Vater war, – vergessen kann ich es nicht mehr.

Adele wurde zu ihrer Tante geschickt, mein Zögling Udo auf ein Gymnasium, die Gouvernante, die so sehr unschuldig an allem war, in Ungnade entlassen, ich habe das Schloß verlassen, ein einsamer gebrochner Mann.

Ich schreibe Dir von H. aus, wo Professor B., mein Landsmann und alter Freund und Gönner, mir ein Asyl in seinem Hause geboten. Eine Hofmeisterstelle, fern von hier, wie ich's wünsche, kann er bei seinen vielen Verbindungen mit Norddeutschland mir leicht verschaffen; das will ich denn annehmen, will suchen, mein Leben zu ertragen und mit meiner gebrochnen Kraft noch zu nützen, so viel ich kann.

Wohl giebt es Tage, in denen ich mich abquäle mit Planen, wie ich doch noch die edle Perle mir erringen könnte, die mein gehört vor Gottes Augen, der die reine Liebe unsrer Herzen gesehen. »Wenn Sie noch eine Professorenstelle erwerben könnten,« hatte Fräulein Dobler, die in ihrer Weise gewiß auch herzlich Mitleid mit uns hatte, beim Abschied gesagt; »ich sag Ihnen, ein Universitätsprofessor kommt sich so vornehm vor, wie ein Graf, für den ist keine Parthie zu hoch, und die Frau Tante, die ja auch einen bürgerlichen Hofrath hat, würde da am Ende ein Fürwort einlegen.«

Da dachte ich wohl daran, mit höchster Anstrengung all meiner Kräfte diesem Ziele zuzustreben. Aber, – die Grenzen meiner Begabung sind mir bald klar geworden. Mein Beruf liegt im Amte eines Predigers, ich möchte mit einfachen Worten verkünden, was mir selbst klar geworden als ewige Wahrheit, möchte mir selbst mehr und mehr zum Lichte helfen, indem ich Andre dem Lichte zuführe, möchte einkehren als Freund und Tröster in der Hütte der Armen, unter der Jugend mir ein Geschlecht heranbilden, das zu mir aufblickte mit Vertrauen, – das denke ich mir ein schönes Loos.

Aber neue Bahnen zu brechen auf dem Gebiet des Wissens, neue Waffen zu schmieden für den Kampf der Geister, – dazu kann selbst die Liebe mir nicht Kraft und Gaben verleihen. Und ich, der ich nicht mehr wage, mich um die bescheidenste Pfarrstelle zu bewerben, weil jener Bann aus den Tagen meiner verkümmerten Kindheit her auf mir liegt, – wie könnte ich daran denken, nach einem höheren Ziele zu streben?

Von Adele bin ich geschieden ganz und für immer. Ich will keinen Zwiespalt in ihre junge Seele werfen und sie hat ihrem Vater versprechen müssen, mir nicht zu schreiben. All die tiefe Bitterkeit, die das Verfahren des Grafen in mir geweckt, ist zurückgetreten vor der süßen, wehmüthigen Erinnerung an unsern Abschied.

Ich wollte das Schloß verlassen, düster, gebrochnen Muthes, da rief mir Udo an der Thüre von Adelen's Mauergärtchen: »bitte, Herr Jessen, Sie werden uns doch adieu sagen;« der sonst so unbekümmerliche Knabe weinte bitterlich. »Ich weiß nicht, Comtesse, ob wir uns noch sprechen dürfen,« sagte ich.

»Wir dürfen uns Lebewohl sagen und wenn mein Vater daneben stünde,« sagte Adele mit dem Muthe, der dem zarten Kind nie fehlt zur rechten Stunde. Und sie sagte mir ihren Scheidegruß so innig, so herzlich, so still ergeben in das schwere Leid und so voll reicher tiefer Liebe, – diesmal, Gustav, war sie stärker als ich, und sie hat mir Muth gegeben, daß ich vermochte, von ihr zu scheiden, reich in der Liebe, die hier nicht mein sein sollte, selig in der Hoffnung auf Wiedersehn.

Sollte es sich nicht schicken mit der Hofmeisterstelle, die Professor L. jetzt für mich in Vorschlag hat, so komme ich zuvor zu Dir, sonst erhältst Du wohl einmal Nachricht von dort aus.

Leb wohl, der Himmel führe Dich freundlichere Wege als

Deinen
Theodor.


Adele an Fräulein Dobler.

K., November …

Liebe Fräulein Dobler!

Es verlangt mich recht zu wissen, wie es Ihnen geht, und thut mir oft so gar leid, daß es doch durch meine Schuld war, daß wir so rasch und auf so unfreundliche Weise getrennt worden sind.

Nicht wahr, Sie sind mir nicht mehr böse darum, daß wir Ihnen nichts gesagt haben? Ach, wir haben ja nicht anders können, und Sie hätten es wohl gar nicht zugeben dürfen, daß wir uns lieb haben? nicht wahr? Sie gönnen es uns gewiß, daß wir doch ein wenig, ein klein wenig glücklich gewesen sind? Ich muß ja daran zehren mein ganzes Leben lang.

Tante hier ist gut gegen mich; sie hat mir auch zu Anfang nie harte Vorwürfe gemacht, sie sagte nur: »Kind, für so gar dumm hätte ich Dich nicht gehalten.«

Wie Theodor ist, Herr Jessen will ich sagen, – wie edel und rein und gut, daß selbst eine Königin sich selig preisen dürfte, wenn solch ein Herz ihr eigen wäre: das kann die Tante freilich nicht wissen; ich glaube, Sie selbst wissen's kaum, liebe Fräulein Döbler.

Ich bin sehr, sehr traurig gewesen all die erste Zeit; es that mir weh, wenn ich unter die Menschen sollte; tanzen kann ich um keinen Preis, ich wäre am liebsten daheim in meinem Stübchen geblieben, wenn man bei der Tante ein Stübchen hätte. Aber sie hat so viel andere schöne Zimmer. »Eine Gaststube ist nicht mehr Mode, Kind,« sagt sie, doch, Sie wissend ja selbst, daß ich auf einem Ruhebett im Empfangzimmer schlafe, da hab' ich denn keine so rechte Heimath und sehne mich oft nach meinem Erkerstübchen daheim; aber ich darf ja nicht allein heim, und ich weiß nicht, ob der Vater noch abwesend ist.

Udo schreibt mir manchmal von seiner Schule aus; der Junge scheint nicht recht gesund und vergnügt.

So traurig wie in der ersten Zeit bin ich jetzt nicht mehr; ich denke oft, es sei Unrecht, daß ich wieder heiterer sein kann, aber sie sind Alle gut und freundlich gegen mich, – mein tiefes Heimweh, das wacht auf in der Nacht, wenn alles still ist; zuletzt schlafe ich ein, und träume dann viel von Theodor, von Herrn Jessen, wollt' ich sagen. Wissen Sie gar nicht, wo er ist und wie es ihm geht?

Nun bitte ich, liebe Fräulein Döbler, verzeihen Sie, daß Sie durch mich so viel Verdruß gehabt. Ich kann nichts dafür, aber ich möchte Ihnen gern etwas zu Liebe thun. Wenn Sie etwas von ihm erfahren sollten, so schreiben Sie mir, nicht wahr? nur ein ganz klein wenig!

Meine Freundin Ida sehe ich oft, aber, – so ganz recht verstehen wir uns nicht; sie ist jetzt beinahe Braut mit einem Lieutenant, nur haben sie noch nicht so viel Geld, als ein Offizier braucht, um zu heirathen. Wenn ich nur gewiß wüßte, ob mein Vater wirklich so reich ist, wie viele Leute meinen, ich möchte ihn gern bitten, Ida zu geben, was sie braucht; mich freut ja doch nichts mehr.

Nun leben Sie wohl, liebe Fräulein Döbler, lassen Sie mich wissen, ob es Ihnen nicht schlecht geht. Ich weiß, daß Ihre Schwester so viele Kinder hat, da werden Sie meine alten Puppen und Bilderbücher wohl brauchen können, die ich Ihnen schicke; ich bin so kindisch gewesen, daß ich all diese Sachen aufgehoben und heimlich oft noch eine Freude daran gehabt habe; jetzt ist das lange vorbei. Denken Sie manchmal an

Ihre
Adele.


Jessen an seinen Freund.
(Zwei Jahre später.)

Gut Reezow in Holstein, im Sommer …

Und auch Du kümmerst Dich noch um den Einsiedler, der hier haust, so abgetrennt von der Vergangenheit, daß mir oft ist, als sei es nicht dasselbe Leben mehr, – wenn ich nicht zu tief fühlte, daß ich ein Leben gelebt, das man nicht zweimal leben, – das man auch nicht vergessen kann.

Dich habe ich auch nicht vergessen, mein alter Gustav, nicht der schönen Stunden auf den Höhen von Alt-Heidelberg mit dem Blick auf den rauschenden Neckar, nicht all der Pläne und Ideen, in denen wir gelebt. Die liebste Stelle unsres Lieblingsdichters bleibt mir die:

Sagt ihm,
Daß er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.

Ich thue es, Gustav, wenn sie auch alle zu nichte geworden sind.

Wie ich lebe, willst Du wissen? Nun ich lebe hier auf dem Gut des Herrn von Reezow und unterrichte seine Söhne; eine Tochter ist nicht hier, Gustav, – es hätte auch keine Gefahr. Die Knaben haben mich lieb, ich glaube, daß ich Gutes bei ihnen wirken kann, – die Herrschaft begegnet mir gütig, – es geht so ein Tag hin wie der andre, oft dünkt mir alle die Zeit seit ich hier bin wie Ein Tag, oft wie unermeßlich lange Jahre. Die Sonntage widme ich meinen theologischen Studien.

Ich habe mit andern Augen forschen und suchen gelernt als vordem, – die Reichen und Satten, die Klugen und Großen der Welt sind es nie gewesen, denen das göttliche Geheimniß sich erschlossen, es sind die Armen, die Dürstenden, denen sich der ewige Quell des Segens öffnet, der unter dem Gotteswort verborgen ist.

Die späten Abende, die gehören der Vergangenheit, oder vielmehr dem, was immer gegenwärtig in meinem Herzen lebt. All mein schlichtes Leben und mein Lieben, mein Fühlen und Denken gieße ich da aus in Briefen an Adele. Sie wird sie nie sehen diese Briefe, ich will ihren Frieden nicht stören, ich habe kein Recht, einzugreifen in ihre Zukunft, – aber es ist mir zur lieben Gewohnheit worden, so mit ihr fortzuleben. Ich sage das Dir, es kann ja sein, daß Du eines Tages berufen wirst, den Nachlaß Deines Freundes in Empfang zu nehmen. Die Mühe wird klein sein, mein lieber Gustav. Meine Briefe an Adele findest Du leicht in dem verschloßnen Fach meines Schreibtisches. Ist sie vermählt bis dorthin, dann, Gustav, verbrenne sie ungelesen, das versprichst Du mir. Ist sie aber allein geblieben, dann sende sie ihr mit meinem letzten Gruß.

Darfst nicht bange sein zunächst; ich glaube, ich muß mit dem Einsiedler auf Salas y Gomez sagen: »Ich bin noch ohne Hoffnung bald zu sterben.« Man stirbt so leicht nicht am Herzweh.

Du fragst, ob ich nicht wieder Versuche mit Predigen gemacht? Ich habe es nicht wieder gethan, ich kann das Eine Mal nicht vergessen, wo selbst der Gedanke an Ihre Gegenwart den unseligen Bann nicht hat brechen können.

»Aber was soll es weiter werden mit Dir?« fragst Du. Ich weiß es nicht, Gustav, ich kann mich jetzt nicht zu Planen und Unternehmungen aufschwingen, aber ich bin nicht müßig und ich hoffe, zur rechten Zeit und Stunde wird mir der rechte Weg gezeigt werden. Freilich hat mich's eigen berührt, als ich gestern zufällig ein Gespräch meiner Knaben im Garten belauschte.

»Höret, ich mag den Herrn Jessen gern, bleibt er immer bei uns?« fragte Hugo, der Jüngste. »Wir bleiben nicht immer bei ihm,« sagte weise Richard, der zweitälteste, »wenn wir gelernt haben, was er uns lehren kann, so kommen wir in eine große Stadt und er geht fort.« Wohin? wußte freilich der Knabe nicht zu sagen. »Er braucht auch nicht zu gehen,« sagte gnädig der Aelteste, der sich schon als künftiger Gutsherr fühlt. Er könnte mir allerlei helfen, sagen und schreiben, wenn ich hier auf dem Gut bin, und wenn ich dann auch Söhne bekomme, so kann er die wieder unterrichten.«

»Bis dorthin ist Herr Jessen aber ganz alt,« sagte lachend Richard, das humoristische Element in dem Kleeblatt, »mit einem langen, weißen Bart, dann kann er deinen Jungen nicht nachspringen, wenn sie ihm davon laufen.« Und die Kinder malten sich in großer Harmlosigkeit das Bild eines alten, ganz uralten Herrn Jessen aus, wie er fort und fort auf Schloß Reezow sitze und immer neue Generationen von Knaben unterrichte, – mir ging das seltsam durch die Seele. Ich hatte einmal auf einem Gut in Holstein so ein altes Inventarstück von einem Hauslehrer gesehen, in einem schmierigen Flaus mit einer endlos rauchenden Pfeife im Mund, – sollte das das Ende sein? Und ich bin doch in's Leben getreten mit Planen und Hoffnungen auf ein lebendiges, ehrenvolles Wirken, mit der tiefen Herzenssehnsucht, mein eigen Theil an Erdenglück zu finden, ein eignes Herz und ein eignes Haus mir zu gewinnen! – das wäre das Ziel?

Bleibe Du froh und gesund in Aussicht auf festen Beruf und auf eignen Herd, – auch mir wird mein Weg noch klar werden.

Dein
Theodor

Er ist mir klar geworden. Ich öffne den Brief noch einmal, um Dir zu sagen, daß sich mein Geschick entschieden.

Es kam gestern eine Anfrage unsrer obersten Kirchenbehörde, ob ich nicht geneigt sei, die Pfarrstelle auf einer Hallig zu übernehmen, um die sich scheint's kein Bewerber gefunden.

»Sie werden nicht Lust haben in solche Einöde,« sagte lachend Hr. v. R. »Nach allem, was ich von diesen Inseln weiß, ist das der trübseligste Aufenthalt; sagen Sie ab, ohne Weiteres; sie werden drüben schon einen Strafpfarrer finden für die Stelle, für Sie wird sich immer noch etwas Besseres finden.« Mich hat dies Anerbieten seltsam getroffen. Freilich ist mir alles, was ich von diesen Inseln weiß, seither wie ein trauriges Mährchen erschienen, – ich habe einmal von Föhr aus hinübergesehen über die trübe bewegungslose See, wo die Inseln liegen, ich habe bei meiner Tante vor Jahren ein bleiches, stilles Mädchen gesehen, von der man mir als Merkwürdigkeit erzählte, daß sie von einer Hallig stamme, und hier inmitten des blühenden, fruchtbaren Landes krank sei vor Heimweh nach jener Einöde, – und dort soll meine Heimath sein? – In Gottes Namen. Dort vielleicht, wo nur eine kleine Schaar von Zuhörern ist, dort werden sie mein Wort vernehmen können, dort wird die rechte Stätte sein für Einen, der verzichtet hat auf Glück und Lebensfreude.

Ich habe zugesagt.

Dort also, Gustav, hast Du mich in Zukunft zu suchen.

Gott gebe mir Kraft, den neuen Beruf hinzunehmen, nicht als eine Last, die ich tragen muß, sondern als ein Pfund, von dem ich Rechenschaft zu geben habe.

Eile hat es mit dem Eintritt nicht, ich habe Zeit bis zum Spätjahr, mich vorzubereiten und Hr. v. Reezow hat freundlich versprochen, mir die Einöde drüben menschlich herstellen zu helfen.

Meine Knaben ergehen sich bereits in Muthmaßungen, was wohl für ein neuer Hofmeister kommen werde. Sie wollen mich auch einmal besuchen, auf Schlittschuhen, wenn die See zugefroren ist.

Und nun lebe wohl; wenn ich dort drüben bin, so wirst Du mein wohl denken als eines Gestorbenen.


Graf von Rhönek an Theodor Jessen.

September …

Herr Kandidat!

Sie werden eines Briefs von mir keineswegs gewärtig sein, ich glaube auch, daß sie Grund zu haben meinen, an mich, als Ihren Beleidiger, mit Groll zu denken; übrigens habe ich damals nach festen Grundsätzen gehandelt, nicht aus persönlichem Uebelwollen. Jetzt schreibe ich Ihnen als ein Sterbender. Mein einziger Sohn, Ihr früherer Zögling ist schon vor einem halben Jahre an Gehirnentzündung gestorben. Meine Tochter hat bis jetzt jede angemessene Verbindung, die sich ihr bot, beharrlich zurückgewiesen. So sehr sie mich dadurch gekränkt, so glaube ich doch in väterlicher Nachsicht so weit gehen zu dürfen, Ihnen die Zusicherung zu geben, daß von meiner Seite Ihrer Verbindung mit meiner Tochter kein Hemmniß im Wege steht, im Fall Sie in der Lage sind, ihr eine Versorgung zu bieten.

Achtungsvoll
Udo, Graf von Rhönek.


Adele an Fräulein Dobler.

30. September …

Liebe Fräulein Dobler!

Wenn Sie Ihre jetzige Stelle auf einige Zeit verlassen können, bitte, so kommen Sie zu mir, ich habe einer Freundin so nöthig, ich bin so allein und habe Schweres erlebt. Gestern hat man meinen Vater begraben. Ach, ich weiß, mein armer Vater ist auch gegen Sie nicht freundlich gewesen, aber Sie werden keinen Groll mehr auf ihn haben; glücklich war er ja gewiß nicht und der Tod meines lieben Udo hat ihm einen Herzstoß gegeben, von dem er sich nicht mehr erholt hat, wenn ich auch äußerlich nichts an ihm wahrnahm, als daß er stiller und düsterer geworden.

Der Anfall ist sehr schnell gekommen, ich weiß nicht einmal den Namen der Krankheit; sie dauerte kurz, aber mein armer Vater hat viel Schmerzen gelitten, ich that was ich konnte zur Linderung und er faßte immer nach meiner Hand, auch wenn er nicht mehr sprechen konnte. O, liebe Fräulein Dobler, er hat mich doch lieb gehabt! Aber Sterben ist furchtbar.

Sie haben Alle viel Mitleid mit mir, der Arzt und die Herrn vom Amt, die bald nach dem Tod heraufkamen. Auch Tante von Karlsruhe war hier und wollte mich gleich mitnehmen, da sie nicht lang bleiben konnte; von den Herrn aus der Nachbarschaft, die zu Vaters Leichenbegängniß kamen, haben einige mich freundlich eingeladen, aber ich kann noch nicht unter Fremde, und Tante gab zu, daß ich hier bleibe, als ich ihr versprach, daß ich Sie zu mir bitten wolle.

Ganz verlassen dürfen Sie natürlich Ihre Stelle meinetwegen nicht, ich werde selbst heimathlos sein und kann niemand eine Heimath bieten. Es ist hier alles verschlossen und versiegelt worden, nur mein Erkerstübchen und einige andre sind frei. Sie sagen, das Schloß und Gut sei Mannslehen, es werde ein ferner Verwandter kommen, der es übernehme. Ich weiß nur, daß ich ganz, ganz allein auf der Welt bin; o, ich wollte, ich dürfte mich niederlegen bei meiner Mutter!

Ich werde später wohl zur Tante gehen müssen. Sie war mir lang böse, weil ich die Heirath abgelehnt, die sie für ein so großes Glück für mich gehalten, aber sie trägt mir's nicht mehr nach. Ich möchte nur Ruhe, nur Stille. Da Sie ja in einer Stadt sind, so finden Sie gewiß eine Stellvertreterin für ihre Lektionen am Institut, und kommen so bald Sie können zu

Ihrer
betrübten Adele.


Theodor Jessen an seinen Freund.

Schloß Rhönek, 4. Oktober …

Aus beigelegtem kurzem Brief des nun verstorbenen Grafen Rhönek kannst Du sehen, lieber Gustav, was mich bewogen, Schloß Reezow so schnell zu verlassen und hieher zu eilen, an die alte Stätte, die mein kurzes Glück und mein tiefes Leid gesehen.

Erklären konnte ich mir den Brief des Grafen nicht, als aus einer Gewissensregung, die ihm gekommen, als er sich krank und sterbend gefühlt. Warum nicht Ein Wort von Adele, wenn ihr Vater nun ja doch selbst die Schranke gehoben, die er zwischen uns gestellt? Ich wußte es nicht; ich reiste so eilig ich konnte, direkt nach Schloß Rhönek.

Daß der Graf gestorben, schnell gestorben, am Tag, wo er den Brief an mich abgesandt, erfuhr ich unterwegs, ich hörte noch viel, was Adele nie erfahren soll. Das arme Kind war noch allein auf dem alten Schloß, nur ihre ehmalige Gouvernante, die der Graf damals so plötzlich entlassen, war hier; eine traurige Trösterin für die Waise.

In dem Mauergärtchen, wo wir vor zwei Jahren geschieden, habe ich Adele zuerst wiedergesehen. Wie sie über all diese Zeit in meinem Herzen gelebt, so fand ich sie wieder, nur lieblicher als zuvor; und so fand ich die junge Liebe in ihrem Herzen, unberührt, unverletzt durch Zeit und Leid, dasselbe tiefe, kindliche Vertrauen, das mir zum erstenmal Vertrauen zu mir selbst gegeben.

Ich glaubte, Jahre der Einsamkeit und Entbehrung haben mich kühl gemacht und besonnen, – in diesem Augenblick war ich es nicht. Ich wußte nur, daß Adele viel gelitten, wußte, daß sie traurig war und allein, und – ich erbat mir das süße Recht, sie trösten zu dürfen, ganz und voll, wie nur Liebe trösten kann; ich fühlte, Gott selbst habe mir das Recht dazu gegeben; – wie ich geworben, was sie erwiedert? ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur, daß wir in der alten Mauerlücke saßen und hinaus schauten auf das reich belebte Land, – ein seliges Paar.

Nach und nach erst, mit Mühe, habe ich die nähern Umstände von Leben und Tod des alten Grafen erfahren. Es scheint, daß die Verhältnisse schon nicht ganz geordnet waren zur Zeit, als er gegen den Willen ihrer Verwandten Adelens Mutter von England gebracht, in der er, mit dem Gegenstand seiner leidenschaftlichen Liebe, eine reiche Erbin zu gewinnen glaubte.

Sie war zart, liebevoll, aber vornehm und luxuriös gewöhnt und – mittellos; sie hatte geglaubt, dem deutschen Grafen zu folgen in ein Land, wo Milch und Honig fließt, in ein Leben sorglosen Behagens. Der Graf konnte es nicht über sich gewinnen, auch als ihm ihre Verhältnisse klar geworden, sie über die seinigen zu enttäuschen. So wurde scheint's damals schon durch unverhältnißmäßigen Aufwand allmälig sein Vermögen erschöpft, sein Gut verschuldet. Er war mit der zarten, leidenden Dame in Baden, der Arzt hielt Italien für die einzige Rettung für sie. In stiller Verzweiflung, wie er die Mittel zur Reise beschaffen solle, wagte der Graf zum ersten Mal in seinem Leben den Rest seiner Reisekasse am Spieltisch. Er gewann unmäßig und – es ist die alte Geschichte, das war das Handgeld des Dämons. Der Aufenthalt in Italien konnte die leidenschaftlich geliebte Frau nicht auf lange retten, sie starb bald nach Udo's Geburt.

Es scheint, daß kurz nach ihrem Tode der Graf wieder den Versuch begonnen, seine zerrütteten Verhältnisse auf diesem verzweifelten Wege zu heben. Seine geheimnißvollen Sommerreisen gingen nur in Bäder, wo Spielbanken waren, in Städte, wo er Spielhöllen fand, immer unter fremdem Namen; in der Zwischenzeit hat er sich allem nach meist mit Berechnungen und Versuchen beschäftigt, durch die er glaubte den launigen Dämon des Spiels fest in seinen Dienst bannen zu können, – sie haben sich vergeblich erwiesen, wie bei Tausenden vor ihm.

Der geheimnißvolle Seni, den das Volk für den Bösen hielt, dem er sich verschrieben, war ein Jude, der ihm immer wieder Mittel beschaffte, – das Gut ist aufgezehrt und Adelen wird nichts bleiben, als ein kleiner Rest ihres Muttergutes. Es ist kaum ein Zweifel, daß der Graf durch Gift von eigner Hand gestorben ist, – ich habe ihm alles verziehen, um der Einen That willen, daß er mir sterbend sein Kind vertraut. Gott gebe, daß Adele nie die schaurige Wahrheit erfahre.

Es war wohl natürlich, daß ich im tiefen Eindruck von Adelens trübem Geschick, im ersten Augenblick des Wiedersehens an nichts dachte, als daß sie nun mein eigen werden dürfe, daß ich sie trösten und tragen und lieben wolle ein ganzes Leben lang.

Aber, war es wirklich Vergessen, oder war es eine mir selbst unbewußte Feigheit, – welche Zukunft ich ihr bieten kann, das habe ich ihr noch nicht gesagt, – und ich habe seither den Muth dazu noch nicht gefunden. Verachte mich darob, wenn Du willst, Du mit Deiner frischen, freien Natur, mit dem glücklichen Gefühl, daß Du eben recht bist, wo Dich das Schicksal hinstellt – Du verstehst mich nicht.

Nun aber soll's geschehen, ich will Adelen nicht täuschen; zu dieser Stunde noch soll sie alles erfahren, und – wenn sie nicht den Muth findet – so soll sie frei sein, zu bleiben in ihrem schönen Heimathland, ich will sie segnen für die kurzen Stunden unaussprechlichen Glückes, die ich ihr danke, und leben von der Erinnerung, in meiner tiefen Einsamkeit. Ich schließe den Brief nicht, bis ich Dir Adelens Entschluß geschrieben.


Sollte man denken, daß es so schwer sei, dem Liebsten, das man auf Erden hat, die einfache Wahrheit zu sagen! Ich traf Adele im Erkerzimmer, ans Fenster gelehnt, wie sie so recht die Schönheit der herbstlichen Landschaft in sich sog. »Nicht wahr, es ist doch wunderschön hier?« sagte sie lächelnd. »Du glaubst nicht, wie mir in den schwersten und trübsten Zeiten dieser reiche, schöne Anblick wohl gethan hat! Es ist ein so stiller, friedlicher Trost, der die Natur bietet; all die Lieblichkeit von draußen hat zu mir hereingeschaut, wenn ich zu müd und traurig war, um hinauszublicken.«

»Aber kannst Du diesen Reichthum und diese Schönheit vertauschen gegen den flachen und trüberen Norden?«

»Wo Du hingehst, da will ich auch hingehen, Dein Volk soll mein Volk sein,« sagte Adele mit zuversichtlichem Lächeln, »es ist gewiß auch schön im Norden.«

»Ja Kind,« sagte ich, und ich konnte das innere Beben kaum überwinden; »der Norden hat seine tiefen, wunderbaren Schönheiten, aber, – wenn nun mich mein Geschick auf eine Hallig führte?«

»Eine Hallig? was ist das? es ist mir, als habest Du schon einmal davon erzählt!«

»Ja, Adele, an jenem Abend, wo wir die Mähr gelesen von des Fremden Königreich, – damals habe ich Dir gesagt, was eine Hallig ist. Erinnerst Du Dich noch?«

»Ich weiß,« sagte sie nun, und es schien mir, als ob ihr süßes Angesicht erbleiche, als das Bild wieder vor ihr aufstieg; »aber sage, mußt Du gerade dorthin? Wir können ja warten.«

»Ich habe keine andre Heimath, dahin ich Dich führen könnte,« sagte ich, ich hatte nun wieder Festigkeit gefunden. »Man hat mich dorthin berufen, und auch dort sind Seelen, denen das Gotteswort verkündet werden muß; ich habe mich bereit erklärt, dem Rufe zu folgen, zur Zeit, als ich nicht mehr hoffen durfte, Dich mein zu nennen. Adele, liebe Adele, Du bist frei in Deiner schönen Heimath zu bleiben, ich darf Dich nicht bitten, mir dort hinüber zu folgen; es war ein Unrecht, daß ich es Dir nicht gleich mitgetheilt.«

Gustav, ich war darein ergeben, sie wieder hinzugeben und ich wollte es tragen ohne Klage. Das heldenmüthige Kind aber sah auf mit klaren Augen und sagte: »In Gottesnamen, lieber Theodor, dort gerade thut Dir ja ein Herz Noth, das Dich lieb hat, recht lieb; wir wollen's miteinander versuchen.«

O Gustav, wie hätte ich je träumen können, noch solch selige Stunde zu erleben?

Nun will ich einmal eine Weile an gar nichts denken als an mein unaussprechliches Glück, daß solch ein Herz mir zu eigen geworden. Behüt Dich Gott, Gustav!


Adele an Frau Hofrath Lange.

Liebe Tante, ich komme nun in den nächsten Tagen und werde unser liebes, schönes, trauriges, altes Schloß verlassen auf immer. Es sind schon Werkleute da, um zu ändern und zu bauen; gestern kam der neue Besitzer selbst, er war sehr artig und rücksichtsvoll und sagte, wir dürfen uns ja nicht beeilen, aber mich zieht's selbst fort; ich fühle ja wohl, daß ich kein Heimathrecht mehr hier habe.

Ich bin so froh, daß Fräulein Dobler, die mir zu lieb ihre Stelle aufgegeben, nun wieder ein gutes Plätzchen bei der alten, blinden Frau von Mauer hat; die sieht dann ihr trübseliges Gesicht nicht, und ist selbst so beredt, daß sie nur geduldige Zuhörer braucht, dazu paßt Fräulein Dobler vortrefflich.

Liebe Tante, ich werde vielleicht diesen Winter noch bei Dir bleiben, im Frühling aber, – nun sei mir nur nicht böse, da werde ich Frau Pastorin; Du weißt ja, das ist mir immer schön vorgekommen. Ja Tante, ich habe mich verlobt mit Theodor Jessen, und mein armer Vater selbst hat es noch gewünscht und im Frühling will er mich heimführen; bald, wohl schon im März. Der liebe Onkel, der ja mein Vormund ist, wird sicherlich nichts dagegen haben.

Alles Nähere mündlich, ich komme vielleicht schon morgen und Theodor kommt bald nach. Also auf Wiedersehen!

Deine
Adele.


Theodor an seinen Freund.

So wäre der letzte Sturm nun bestanden. Es ist mir nichts mehr schwer erschienen, seit ich der starken Liebe Adelens gewiß bin.

Der Onkel, Adelens Vormund, der scheint's immer sehr abgezogen von der Menschheit unter Akten und Staatspapieren haust, gab mir auf meine förmliche Werbung kurzen Bescheid: »Ich halte das Heirathen im Allgemeinen für Unsinn, bei jetzt zunehmendem Steigen der Lebensmittelpreise. Wenn Sie aber genügenden Nahrungsstand nachweisen und, wie Adele sagt, mein verstorbener Schwager selbst noch die Sache gut geheißen hat, so habe ich nichts dagegen.«

Die Frau Tante, die sich zuerst freundlich und geneigt bewiesen, fand es die reine Unmöglichkeit, als sie durch beharrliches Fragen genau erfahren hatte, wohin mein Beruf mich führe. »Nein, höret,« meinte sie, »das muß ja eine schauderhafte Geschichte sein, noch ärger als ein Missionär auf einer Heideninsel in der Südsee, wo sie doch wenigstens Kokosnüsse zu essen haben, wenn sie nicht selbst von den Wilden gefressen werden.«

»Nun, gefressen werden wir dort nicht, Frau Hofräthin,« sagte ich, um sie zu beruhigen, »es wohnen lauter Christenmenschen dort.«

»Und wenn auch, so ist es eine gräuliche Einsamkeit, eine Wildniß und Wüstenei und kein gebildeter Umgang; das können Sie einem zarten Wesen wie Adele ist, nicht zumuthen. Und Adele, daß ich's nur gleich ehrlich sage: Herr von Rhönek, der neue Besitzer von eurem alten Schloß, hat sich gegen meinen Mann ganz unzweideutig geäußert, daß er Dich gern zur Schloßfrau dort machen würde; da bliebest Du ja an Deinem lieben Neckar und könntest im Winter in die Stadt ziehen. Sie, lieber Herr Pastor, werden gewiß für solche Verhältnisse, wie sie dort sind, ein taugliches, robustes Frauenzimmer finden …«

Ein robustes Frauenzimmer war es nun freilich nicht, die leise an meine Seite trat und zum erstenmal vor Dritten mir ihre Hand bot und sie fest in die meinige legte. »Ich habe alles überlegt, Tante,« sagte sie mit fröhlicher Zuversicht, »laß mich nur gehen, es reut mich gewiß nicht.«

»O Kind, das bildest Du Dir jetzt so ein,« meinte die Tante; »aber, nimm mir's nicht übel, Du bist doch noch dumm, wenn Du auch schon zwanzig Jahre alt bist. Gelt, Du stellst Dir vor, ihr werdet da drinnen an einer Rasenbank lehnen und Lämmer weiden lassen an rosenfarbnen Bändern? O, gieb acht, das Gelüsten vergeht Dir, wenn Du so allein draußen bist und das Meer um Dich herum und kein ordentlicher Mensch, den Du besuchen kannst; o überleg' Dir's doch. Und für den Herrn Pastor bist Du zuletzt nur eine Last, zart erzogen, wie Du bist.«

»Mit Gottes Hilfe und Segen will ich keine Last für ihn sein,« sagte meine Adele mit ihrer süßen Innigkeit und alle Einwürfe und Bedenken sind gescheitert an ihrem festen freudigen Willen.

Mir selbst will freilich noch oft das Herz schwer werden beim Bedenken, ob ich nicht Unrecht thue, die zarte Blume in so ödes, rauhes Landes zu versetzen, aber »in Deiner Brust ruhn Deines Schicksals Sterne;« sollte die Liebe nicht reich genug sein, auch die Armuth jener Insel zu schmücken?

Ich will allein Bahn brechen und im Frühling erst meine Adele heimführen. Das Herz wird mir schwer, wenn ich an die Trennung denke; es liegt ein langer, einsamer Winter dazwischen; wird Adele, nun in die Mitte heitern Lebens gestellt, noch den Muth finden, das alles, alles aufzugeben für mich? Eine eifrige Gegnerin hat unsre Liebe an ihrer Freundin Ida, die, so recht ein fröhliches Kind des leichten Pfälzer Stammes, keinen Begriff hat, wie Adele alles, was Welt und Weltfreude heißt, hingeben kann um der Liebe willen.

Mir selbst kommt noch oft genug die Furcht, ob ich nicht zu viel von ihr verlange. Und dieser Baron, der neue Besitzer von Schloß Rhönek, – ich kann nicht sagen, wie viel Zweifel und Bangen durch meine Seele zieht, – Adele aber blickt mich zuversichtlich an mit ihren treuen, blauen Augen, wenn ich all meine Befürchtungen vor ihr ausgieße. »Ich kann Dir nicht mehr versprechen und nicht mehr sagen, als daß ich Dich lieb habe,« sagte sie, »und wenn menschliche Liebe und Treue nicht sicher genug ist, daß wir darauf bauen, sieh, wir haben ja lange schon unsre Liebe in Gottes Huth gegeben, darauf mußt Du trauen.«

Und so sei's denn in Gottes Hand gelegt. Wenn ich kann, so spreche ich noch bei Dir ein, Gustav, auf dem Weg nach meiner Insel; wird sie mir noch eine Heimath des Glücks, oder ein Grab für jede Lebenshoffnung? Auf Wiedersehn.

Dein
Theodor.


Adele an Theodor.

April …

Lieber Theodor!

Es muß ja wohl trübselig da drüben sein bei Dir, daß Du jetzt, wo der Frühling naht und das Wiedersehen, daß Du jetzt erst wieder niedergeschlagen bist, daß Du irre wirst im Glauben an meine Liebe und daß Du mit schönen, tragischen Worten mir freistellst, Herrin von Rhönek zu werden, wenn ich mich fürchte vor unsrem Eiland.

Lieber Theodor, es wird sich wohl nicht schicken, daß die Braut den Bräutigam kommen heißt, aber das werde ich Dir doch sagen dürfen, daß ich mit Dir gehe, wenn Du kommst, trotz aller Warnungen meiner Tante und aller Befürchtungen meiner Ida.

Es wird mir ja schwer werden, unser schönes Land zu verlassen, ich werde gar vieles drüben lernen müssen, und Du mußt viel, viel Geduld mit mir haben; aber – ich gehe doch gern und nicht nur deshalb gern, weil ich mit Dir gehe, – Du darfst mir das nicht übel nehmen, lieber Theodor.

Siehst Du, seit dem Tod meines armen Vaters sind so viel ernste Mahnungen an mein Herz gegangen, eine so tiefe Sehnsucht nach Frieden und Freude, die da gegründet sind, wo allein rechtes Leben quillt, und ich möchte nur so recht reich an diesem Frieden sein, daß ich ihn auch Dir bringen könnte, als die beste Mitgabe in unsre Einsamkeit. Aber, dieser Frieden ist hier schwer zu bewahren; zwischen der stillen Stunde am Morgen und am Abend liegt ein zerstreuter Tag, mit tausend kleinlichen Interessen und flüchtigem Geschwätz und frage ich mich am Abend:

Was hast Du in dem Spiel gewonnen?
Was blieb der müden Brust?

o sieh, da weiß ich nichts zu erwiedern, und es ist mir nicht, als dürfe ich als Kind zur Ruhe gehen in meines Vaters Haus, ich muß als irre Pilgerin jeden Abend wieder neu um Einlaß bitten. Nun weiß ich wohl, wir sollen unser rechtes Ziel finden, eben auf dem Wege, den der Herr uns führt, und Viele schon haben gelernt, zwischen allen Erdenlichtern durch, den ewigen Stern nicht aus dem Auge zu verlieren; – wenn nun aber eben mir schwachem Kinde der Herr einen Pfad anweist, der sicherer zum Ziele führt, wenn er auch nicht so lustig aussieht, und wenn er mich dazu in eine liebe, treue Hand gibt, der ich folge mit Liebe und Freude, glaubst Du dann, daß ich sie nicht gerne fassen werde?

Drum, lieber Theodor, komm, wenn Du willst und kannst, auch die Tante sieht jetzt, daß mir's Ernst geblieben und sie wird mich ziehen lassen. Komm und glaube an

Deine
Adele.


Adele an Ida.

Hallig L., Juni …

So ist's nun wahr geworden, was Du noch im Augenblick unsres Scheidens nicht recht glauben wolltest; hier bin ich in meiner neuen Heimath, und ich kann Dir und der guten Tante doch die Versicherung geben, daß ich nicht, wie Ihr gefürchtet, gleich beim ersten Anblick vor Schreck gestorben bin.

Ihr habt die Stätte ja nie gesehen, die nun mein Vaterland ist, aber, – um die Wahrheit zu sagen, man hat mir nicht zu viel, oder vielmehr nicht zu wenig davon gesagt. Ja, liebe Ida, es ist öde hier und traurig für ein Auge, das unser schönes Vaterland gewöhnt ist, den heitern Wechsel von Wald und Wiese, Garten und Fluß, – es ist traurig, aber nicht zu traurig für zwei Herzen, die sich zu eigen gehören.

Als wir unsre letzte Fahrt beendet hatten, als das flache, farblose Land sich dehnte vor unsrem Blick, da sah ich Theodors Auge mit banger Sorge auf mir ruhen, ich wußte, daß jetzt wieder die Worte jenes traurigen Liedes in ihm auftauchten, leise sprach er sie vor sich hin:

O Maid, es kann Dir gefallen nicht,
Nicht kann Dich mein Eiland ergötzen,
Du schaust es an mit Entsetzen.

Mich aber überkam ein tiefes Mitleid, daß er allein hier gewesen war, den ganzen trüben Winter lang und ich fühlte eine rechte, helle Freudigkeit im Gedanken, daß wir hier glücklich sein wollen, ob's nun trübe aussieht oder hell, auch mir kam ein alter Reim zu Sinne, den ich ihm fröhlich zuflüsterte:

In Ritzen, in Falten
Wo der Feur'wurm nicht liegt,
In Höhlen, in Spalten,
Wo die Fliege nicht kriecht,
Ueber Fluthen, über Seen
Und der Abgründe Steg
Ueber Felsen, über Höhen
Find't Liebe den Weg.

Da schaute er mich freudig an, und wir haben getrosten Muthes zusammen das stille Land betreten.

Das habe ich noch gar nicht gewußt, liebe Ida, daß man einen Menschen schon so glücklich machen kann, nur damit, daß man zufrieden ist und heiter. Aber ich hatte auch noch gar nicht mit dem Heimweh zu kämpfen; es ist alles so neu und eigenthümlich, oft wie im Traum. Daß der Traum Wahrheit ist, daß es so bleiben wird um mich, wie es jetzt ist, immer, alle Tage, das kann ich mir freilich noch nicht recht denken.

Ein lachender Anblick ist es nicht, selbst die Liebe kann es nicht dazu machen, aber ein eigenthümlicher. Seltsam, wie Burgen, stehen die Häuser, zum Theil fest und stattlich erbaut, auf den hohen Werften, wo sie vor Ueberschwemmung sicher sein sollen, – unser Pfarrhaus und die alte Kirche beisammen. Auch der Anblick der See hat nichts Frisches, Belebendes von solcher Höhe aus, es ist trübes, fast unbewegtes Wasser, in dem sich nur die Fahrwege unterscheiden. Nichts Lebendes, als einige Schafe, die in dem matten Grün weiden.

Es ist alles, wie Theodor damals gesagt hat: es rauschte kein Baum, es sang kein Vogel, es rieselte kein Bächlein zu unsrem Willkomm, aber der liebe Gott hatte uns klaren blauen Himmel und hellen Sonnenschein bescheert, das macht immer die Herzen fröhlich.

Die Inselbewohner, mehr Frauen als Männer, da diese zum Theil zur See sind, kamen herbei, uns zu grüßen; gute Gestalten, etwas farblos von Angesicht wie ihr Land. Ihre Sprache, sie reden ein eignes Plattdeutsch, verstand ich nicht; ich verstand aber ihren treuherzigen Gruß, den ernsten Blick ihrer dunkelblauen Augen, ich sah, daß sie mit Verehrung und Liebe an Theodor hingen; es ist ein alter Seemann darunter, der sich von vielen Seefahrten hier zur Ruhe gesetzt hat, der sagte feierlich: »Gott segne euren Eingang, junge Frau,« und ich schritt an Theodors Hand freudigen Muthes über die Schwelle unsres Hauses.

Meine Sachen sind noch nicht hier, ich habe nur, was die Reisekoffer faßten, doch ist Theodor mit Geschenken des Herrn von Reezow und einigen Stücken, die zum Hause gehören, schon nothdürftig eingerichtet. Die Leute haben uns allerlei Vorräthe und kleine Geschenke gebracht, und das ist gut, denn wie ich hier haushalten soll, das weiß ich noch nicht. Daß ein Tönnchen Trinkwasser das werthvollste der Geschenke ist, war mir wunderlich; sind wir hier inmitten der See und sollen nicht einmal Wasser haben?

Karen heißt das Dienstmädchen, die Theodor für uns gemiethet, auch wie die Andern etwas bleich und still, aber willig und geschickt. Sie hat schon draußen gedient, ist aber von Heimweh getrieben, wieder zurückgekommen, – wie man gerade nach hier das Heimweh haben kann, das begreife ich noch nicht recht, – so verstehe ich mich schon leichter, als mit ihr.

Etwas bange war mir zuerst in der ungewohnten Umgebung; ich mußte mich immer an Theodor halten wie ein furchtsames Kind, und doch durfte ich ihn nicht merken lassen, daß ich mich fürchte, ich fühlte die liebevolle Sorge, mit der er mich heimlich ansah. Aber als es Abend wurde, als Karen den alten eichenen Tisch, der in Mitte der Wohnstube steht, gedeckt hatte und die Lampe brachte, als wir bei dem traulichen Lichte unsern ersten Thee am eignen Tische tranken, allein, das erstemal so ganz allein miteinander, allein auf der Welt, – o Ida, da überkam uns ein so tiefes, süßes Heimathgefühl, wie wir Beide es nie zuvor im Leben genossen. Und der klare Mond schien in unser Stübchen und die hellen Sterne; da und dort sahen wir die Lichter glänzen von den andern Werften herüber, – da habe ich mich nicht mehr gefürchtet; Ida, liebe Ida, ich bin daheim.

Gestern war Sonntag, der erste seit wir hier sind. Jetzt darf ich Dir's schon sagen, daß ich ihm mit heimlichem Bangen entgegengesehen. Ich hatte nie gewagt, Theodor zu fragen, wie es ihm mit dem Predigen ergangen; nicht wahr, Du begreifst, daß es Dinge gibt, die man sich scheut, gerade mit den Nächsten und Liebsten offen zu besprechen. Ich dachte, die kleine Gemeinde hier werde sich an sein leises Wort gewöhnt haben und – wenn ihnen auch die Predigt nicht so viel biete, so werden sie ihn schätzen und lieben um seines Werthes, um seiner Güte willen.

Es war mir so feierlich zu Muthe, als auf den Ruf der Kirchenglocken von allen Werften herab die Leute kamen in feierlicher, schwarzer Kleidung, wohl Alle, bis auf Wenige, die Kindlein oder Kranke zu Pflegen hatten, den schmalen Pfad zu unsrer Kirche herauf. Unser alter Kapitain kam in stattlichem Aufzug, die alte Marthe, eine blinde Seemannswittwe, geführt von einem rosigen Enkelkind, das leitete sie so sorgsam, blickte so kindlich fragend mit den blauen Augen zu ihr auf und strengte sein schwaches Stimmchen nach Kräften an, als ob die blinde Großmutter auch taub sei. Ich gieng mit leisem Herzklopfen, ich mußte immer mit innerlichem Zagen an jene Eine Predigt daheim denken, die ich hören gewollt, und – nicht hören konnte. So saß ich denn bange in meinem Kirchenstuhl, – siehe da ertönte eine tiefe, wohllautende Stimme klar und vernehmlich: »Friede sei mit Euch.« Das klang mir wie ein Friedensgruß von Oben aus dem Munde des Liebsten, was ich auf Erden habe; mit tiefer innerer Herzensfreude, die ich Dir nicht beschreiben kann, lauschte ich den Worten, die, vom ersten bis zum letzten klar und kraftvoll gesprochen wurden, und sah die ernsten Gesichter der kleinen Gemeinde, die erloschenen Augen der alten Frau mit großer Andacht auf den Prediger gerichtet. Liebe Ida, ich weiß nicht, ob Du das verstehst, aber jetzt erst ist er mir aufs Neue gegeben, nicht nur der Mann, den mein junges Herz lieb gewonnen, dem ich gefolgt bin übers Meer, weil ich so unendliches Mitleid hatte mit seiner Einsamkeit und – weil meine Seele bei ihm seine Heimath fand, – nein, auch ein Priester des Herrn, geweiht, um in dieser farblosen Einöde die Herzen aufwärts zu wenden, zu den hellen Lichtern der Ewigkeit.

Du weißt ja, Ida, ich habe mir's immer schön gedacht eine Pfarrfrau zu sein, noch als Grafenkind auf unsrem Schlosse und in den fröhlichen Cirkeln der Residenz, damals dachte ich zunächst nur an ein freundliches Pfarrhaus mit einer Linde davor und einem blühenden Gärtchen daneben in schöner, anmuthiger Gegend. Jetzt weiß ich, was das Schöne daran ist: ein Leben, dessen Kern und Zielpunkt die Beziehung auf das Ewige ist. Was Andre mit Mühe aus dem Schutt ihrer täglichen Berufsarbeit, ihrer kleinen Tagesarbeit suchen und sich retten müssen, das ist bei dem Prediger Beruf und Tagesarbeit, er muß sein Angesicht gewendet haben gen Jerusalem. Es weht mich ein eigner, feierlicher Hauch an, wenn Theodor am Sonntag Morgen eintritt in seinem Priestergewande, und wenn er, indem er zur Gemeinde spricht, auch die Bitten und Fragen meines schwachen Herzens emporbringt zum rechten Vater über alles; wenn ich fühle, wie ihm selbst, in dem er Licht sucht für die Blöden und Trost für die Bekümmerten, klarer und klarer der Schein des ewigen Lichtes aufdämmert, – o liebe Ida, ich weiß nicht, wie es möglich ist, nachher wieder sich mit dem Staub und Schmutz kleiner Verdrießlichkeiten zu beflecken, nachdem man so angehaucht wurde von der Luft der Ewigkeit. Jetzt erst weiß ich, wie schön es ist, Pfarrfrau zu sein und ich gebe den Lindenbaum und das blühende Gärtchen gerne auf, um dies selige Gefühl. Theodor sagte mir, daß bei der ersten Predigt, die er hier gehalten, bei dem Blick auf diese kleine einsame Heerde, so fern von aller Welt, jener traurige Bann wie Schuppen von ihm gefallen und seine Stimme vom ersten Wort an frei und klar geblieben sei. Darum war's doch werth, auf eine Hallig zu ziehen!

Mußt Dir freilich nicht denken, es sei mein Leben nun ein ganz wolkenloses. Ach nein, das Alltagsleben hier ist oft gar mühsam, einerseits meine eigne häusliche Unvollkommenheit, – die kurzen Küchenstudien, die ich auf Schloß Rhönek und bei der Tante noch gemacht, wollen nicht viel helfen, – andrerseits der gänzliche Mangel hier an so Vielem, was mir unentbehrlich erscheint, machen mich oft muthlos, nur Theodors Geduld und Nachsicht bei den oft sehr wunderlichen Gerichten, die ich mit Karen präparire, tröstet mich wieder und spornt mich zu neuem Eifer. Manchmal schon wollt' ich die Flügel hängen und alles gehen lassen, wie es geht, dann kam mir das Schriftwort zu Sinn vom tugendhaften Weibe: »Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen und Nahrung wird ihm nicht mangeln,« und ich denke, es ist ja hier doppelt und dreifach meine Sache, den Herd warm zu halten.

Ich freue mich wie ein Kind, bis meine Sachen kommen, dann kommt auch wieder Wasser mit, – das Cisternenwasser hier scheint mir graulich. Adieu, liebe Ida, beklage mich ja nicht; grüße Tante und theile ihr von meinem Brief mit. Als das Beste, was ich Dir von meiner Lage sagen kann, laß mich das freudige Wort wiederholen: ich bin daheim. Möchtest auch Du das bald von Dir sagen können, ich möchte so gern, daß Du an's Ziel Deiner Wünsche kämest, aber bist Du auch gewiß, daß es Dein Glück sein wird?

Von Herzen

Deine
Adele.


Ida an Adele.

Juli …

Keinem andern Menschen auf der Welt fände ich Zeit zu schreiben, aber Dich, Du armer, lieber, guter Tropf kann ich doch nicht ganz im Stich lassen auf Deiner Einöde.

Beklagen soll ich Dich nicht? Na 's ist mir ja ungeheuer lieb, wenn Du zufrieden bist; es war mir immer heimlich bang, es werde Dich so reuen und dann müsse ich so betrübt um dich werden und Du weißt, ich bin nicht gern traurig. Es ist auch immerhin sehr interessant, daß Du den Entschluß gefaßt hast, die Leute würden es gar nicht glauben, wenn es gedruckt in einer Geschichte stände, – aber wenn es nur nicht für immer wäre! das kann ich mir noch nicht vorstellen; nun, wenn Dein Liebster jetzt laut predigen kann, was mich sehr freut, so wird er doch auch nicht sein Lebtag auf der Wüstenei da drinnen bleiben müssen.

Warum ich Dir so lange nicht geschrieben, – ja, liebe Adele, das erräthst Du nicht, es ist nicht mehr Deine Ida Döring schlechtweg, sondern Frau Ida von Ehrenfeld, die Dir schreibt, – Oskar meint sogar, ich könnte mich Freifrau schreiben; weißt, der Adel, den Du so leicht aufgegeben, ist hier zu Lande immer noch in Geltung.

Du kennst ja die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sich gegen unsre Verbindung aufgethürmt hatten, die leidige Kaution! Was ist das eine unnöthige Fürsorge vom Staat, man soll doch die Leute heirathen und nachher selbst sorgen lassen, wie sie zurecht kommen. Wie viel Zeit und Mühe und Kosten machten Oskar nicht die Nachforschungen nach einem halb verschollenen Onkel in Amerika, von dem wir hofften, er sei drinn als Millionär gestorben, und wir werden doch wenigstens Hunderttausend von ihm erben. Was war's? – Gestorben ist er freilich, hatte aber unnöthigerweise geheirathet, eine geborene Kühbeis, irgend eine obskure eingewanderte Person, oder eine Mulattin, – die wollte noch Vermögen von uns heraus haben; das wäre uns eben recht, wir könnten vielleicht noch ein paar braungelbe Cousins und Cousinen heraus bekommen. Wir haben auch in vier Staatslotterieen gesetzt, in Einer sollt' es doch gelingen! und endlich hat sich mein Schwager und Oskars Vetter verstanden, uns soviel Kapital abzutreten, – freilich leider nur zum Schein, daß es endlich zu der verwünschten Summe reichte, und so haben wir schließlich vor einem Monat Hochzeit gefeiert. Wie schade, daß Du nicht mehr dabei sein konntest; in ganz K. hätte ich keine so liebliche Brautjungfer finden können, wie Dich.

Wir haben es freilich sehr kurz und einfach gemacht, wenn ich auch nicht so nonnenhaft schlicht gehen konnte, wie Du in Deinem weißen Gewand und Schleier, obgleich Oskar noch so entzückt von Deinem Anblick damals ist, daß ich heute noch eifersüchtig werden könnte. Das Modejournal brachte eine reizende Brauttoilette und meine Schneiderin hat sie mit Glück nachgemacht. Civiltrauung, wie Oskar verlangt, wollte ich doch nicht, das thun meist nur Wiedertäufer und Juden; aber wir hörten, daß es viel weniger koste, wenn man keine Traurede, nur kurz die vorgeschriebne Formel verlange; nicht wahr, wir haben bald zu sparen angefangen? die Trauung war früh; mit ein paar Flaschen fremden Wein und etwas fein Backwerk wurde die Hochzeitgesellschaft bewirthet, dann reisten wir ab – eine Hochzeitreise ist doch unerläßlich – nicht weit, wir blieben ganz in der Stille ein paar Tage in Baden; brauchts niemand zu wissen, daß wir nicht weiter gewesen sind, es ist das freilich viel zu nah; es ist jetzt sehr neu und elegant, seine Hochzeitreise nach Spanien zu machen.

Unsre Wohnung hier ist zwar klein, – siehst Du, ich kann auch Raum finden in der kleinsten Hütte, – aber der Salon reizend eingerichtet; Küchengeräth brauche ich nicht viel, wir lassen uns Mittags speisen aus der Restauration, Abends gehen wir bei schönem Wetter in einen öffentlichen Garten, das Dienstmädchen bekommt dann daheim etwa einen Rettig und kann sich ein Stück Brod abschneiden, so spare ich das Abendessen. Eine kleine Gesellschaft reicht's dann doch von Zeit zu Zeit, das ist so unprofitabel nicht, man lebt lange von den Resten.

Du siehst, auch wir verstehen uns nach den Umständen zu richten und mit Wenigem glücklich zu sein, wenn's auch hie und da eine kleine Verstimmung giebt, wenn Oskar eine Ausgabe für sich für nöthiger hält, als ein neues Kleid für mich, aber wir versöhnen uns immer wieder.

Ich gönne Dir's recht, daß Du Dich so erbaust, Deinen Mann im Priestertalar zu sehen, mir haben die Pfarrer gerade nie gefallen; da ist's ein Andres, einen Oberlieutenant an der Spitze des Regiments in schöner Uniform zur Parade vorüberziehen sehen, – ich begreife nicht recht, warum Du das nicht gewollt, Hauptmann v. Behr, der um Dich geworben, wäre erst noch reich gewesen, und der Herr von Rhönek! Nun, »des Menschen Wille, das ist sein Glück.«

Darfst deßhalb nicht glauben, daß wir nur so gottlos in den Tag hinein leben; in die Kirche kommen wir zwar nicht oft; weißt, am Sonntag schläft man gern aus, und Oskar ist nicht dazu aufgelegt, aber, denke, er hat mir zu meinem Geburtstag die Stunden der Andacht gekauft, acht Bände um 2 Gulden! sie haben früher 32 fl. gekostet, – da lese ich, wenn ich dazu komme, jeden Sonntag eine Betrachtung und sie sind sehr schön.

Hast Du jetzt Deine Sachen? Wenn Du nur sähest, wie geschmackvoll unser Salon ist; meine Mutter hat aus all ihren Möbeln das Pferdehaar verkauft, man nimmt jetzt nur Seegras und dafür einen eleganten Ueberzug; wenn man auch nicht gut darauf sitzt, es sieht doch schön aus, und diese Etagere und so reizende coins de chambre! Mit dem Weißzeug habe ich's einfach, man kann ja waschen.

So also wäre Jedes von uns glücklich nach seiner Weise; arme Adele, einmal wirst Du doch aus Deiner Verbannung erlöst werden!


Theodor an Gustav.

November …

Du hast zum voraus auf viele Briefe von mir verzichtet, einmal aber mußt Du doch wissen, daß ich glücklich bin. Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest!

Ja was für ein Nest! wirst Du sagen; nun ja, lieber Gustav, ich gebe Dir zu, daß keine Illusion reich genug ist, meine jetzige Heimath schön zu machen; ja, die Erde ist farblos hier und trübe und wer geboren ist in einer glücklichern Zone, der wird es nie vergessen können. Keine Illusion kann das Leben hier schön machen, sage ich, aber eine süße, liebliche Wirklichkeit kann es, und die nenne ich mein eigen; ein Weib, die edler ist denn Gold und köstliche Perlen, und wenn ich auch gern, o wie gerne! sie in eine lieblichere Gegend führen möchte, so weiß ich doch keinen Zauber der Natur, keinen Reiz menschlichen Verkehrs, den wir tauschen möchten um das selige Gefühl, daß wir uns eigen gehören.

Du weißt, wie tief ich in dem letzten einsamen Winter die Oede des hiesigen Aufenthaltes empfunden, wie bange mir war, mein süßes, zartes Kind hieherzuführen, wie ich ihr feierlich ihr Wort zurückgegeben habe und ihr freigestellt, sich in ihrem schönen Heimathlande eine glücklichere Zukunft zu gründen, Du weißt auch, wie sie fest geblieben ist in starker Treue.

Noch bei unsrer Anfahrt, wie ich sie erbleichen sah beim Anblick des farblosen Landes inmitten der trüben Wasser, wurde mir todesbang und jene Worte klangen mir wieder:

Und eh' Du verfluchest das Leben Dein,
Eh' wollen wir Beide begraben sein;

aber ihr liebes treues Auge sagte mir: Du sollst nicht sterben, sondern leben. Und ich lebe, das weiß Gott, dem ich es täglich danke, ein volles und schönes Leben, wenn es auch arm und öde erscheint nach außen.

Das eine laß Dir im Vertrauen sagen, Gustav: menschliche Liebe, wie reich sie auch sei, wie warm und treu, sie ist doch nicht reich genug, um ein Leben, wie wir hier es finden können, inhaltreich und froh zu machen; aber menschliche Liebe, die sich in Gottes Hand gegeben, die aus der ewigen Quelle immer neuen Reichthum schöpft für ihre Armuth, die ist ein Licht, das uns nie im Dunkeln läßt.

Du fragst, ob es nicht ohne Heimweh gegangen? Ja, Gustav, wir haben es Beide gehabt, nachdem das erste selige Gefühl sich eigen zugehören, ein rechtes Heim zu haben in Frieden und Segen, uns nicht neu mehr war. Wir haben's uns lange nicht gestanden, Adele hatte immer ein freundliches Lächeln, wenn ich mich trübselig zurückzog in die Kammer, die meine Studierstube vorstellte. Einmal kam ich von einem Krankenbesuch etwas spät heim, sie hatte die Lampe angezündet, und hörte diesmal mein Eintreten nicht, sie saß mit aufgestützten Armen über ein Buch gebeugt; verwundert, welche Lektüre aus unserer wohlgekannten kleinen Bibliothek sie so fesseln könne, trat ich näher und hob ihr Köpfchen auf, ich hatte ihre Augen nie so verweint gesehen – das Buch, das vor ihr lag, war ein Kalender; wir hatten den 18. Oktober. Sie versuchte zu lächeln und sagte: »am Neckar daheim, da haben sie jetzt Herbst.« Wir hatten heute eben mit Mühe unser dürftiges Heu heimgebracht, es galt Eile, es vor den bald drohenden Wassern zu sichern, – da freilich war's ein Gegensatz, sich das Bild einer fröhlichen Weinlese am grünen Neckarstrand vorzustellen. Ich nahm sie stille an mein Herz, da blickte sie wieder auf und fragte leise: »Theodor, wenn wir auch hier leben müssen, meinst Du nicht, es wäre doch schön, drüben einmal zu sterben, begraben zu liegen unter einem grünen sonnigen Hügel, unter einem Baum, darauf die Vöglein singen?« Ich drückte sie fest an mich und ließ sie recht ausweinen; ich war selbst zum Sterben betrübt und wußte keinen Trost.

Sie war so müde, ich beredete sie, sich bald zur Ruhe zu legen, ich selbst gieng lange noch in meiner Kammer auf und ab. Da ging leise meine Thür auf und Adele trat ein, ich erschrak tödtlich, sollte das Heimweh sie geisteskrank gemacht haben?

Es war aber ein klarer, lichter Blick, mit dem sie mich ansah aus ihren verweinten Augen und sie sagte mit getroster Stimme: »Lieber Theodor, der Herr hat verheißen, wo Zwei oder Drei Eins werden, warum sie bitten wollen, das will ich euch geben; wollen wir ihn nicht jetzt recht von Herzen bitten um freudigen Muth und um die rechte Liebe zu unsrer neuen Heimath?«

Gustav, ich habe mich nie mit so innigem süßem Frieden zur Ruhe gelegt, als in jener Nacht.

Gott hat unser Gebet erhört, er hat Adelen ein freudiges Herz gegeben, an dem sich oft mein düstrer Muth aufgerichtet hat; und das tiefe Gefühl, wie viel sie mir geopfert, wie ich alles thun muß, was Mannesliebe und Treue thun kann, um es ihr zu vergüten, läßt mich nicht erschlaffen im täglichen Schlendrian; ich glaube nicht, daß wir je so kühl und gleichgültig nebeneinander hingehen könnten, wie ich es oft bei sonst getreuen Ehegatten gesehen.

So ganz ohne Wechsel ist denn doch auch unser Leben nicht geblieben. Es war ein Ereigniß, als Adelens Ausstattung ankam, als wir mit all dem zierlichen Geräthe unser schlichtes Haus schmücken durften. Unsre Inselbewohner waren über diese Herrlichkeit gerade nicht so verwundert, wie wir geglaubt. Ob auch Viele von ihnen kaum je die heimathliche Insel verlassen, so wissen doch die heimgekehrten Seeleute immerhin, wie's in der Welt draußen hergeht, und da und dort findet sich in den Häusern manch schönes, seltnes Geräthe, das sie von der Fahrt heimgebracht.

Mein Kind war so glücklich und fröhlich in ihrer Geschäftigkeit, bis sie alles hübsch geordnet und eingerichtet hatte, und als sie an ihrem zierlichen Nähtisch saß und anfieng eine Brieftasche fertig zu sticken, die sie noch in der alten Heimath für mich angefangen hatte, da tönte zum erstenmal wieder eins der fröhlichen Liedchen von daheim von ihren Lippen und wir dünkten uns die reichsten Herrn der Welt.

Das Piano, das vorher nicht ersten Ranges war, hatte vom Transport gelitten; wie froh war ich, daß ich als Student bei meinem Hauswirth, dem Instrumentenmacher, Privatstudien in seinem Geschäft gemacht hatte. Ihr habt mich oft darüber verhöhnt, ich aber dachte damals, wo schon der unselige Bann auf meiner Stimme lag, es könne das später in einem Nothfall zur Ressource für mich werden, wenn alles fehlschlage; – daß ich auf einer Hallig noch meiner Frau ihr Klavier einrichten werde, das freilich hätt' ich nicht gedacht.

Wir freuen uns wie Kinder auf Weihnachten, wo wir schon Mittel finden werden, einen Baum anzuzünden; Karsten, der alte Seemann, hat mir versprochen, für einen zu sorgen. Adele thut sehr geheimnißvoll mit der Brieftasche, »dem Kind zweier Welten«, wie sie sie nennt, die fertig werden soll; ich gebe ihr als Weihnachtsgeschenk mein Tagebuch; alle die Briefe, die ich in jenen Tagen der Trennung an sie geschrieben; auch habe ich überall, wo ich früher verweilt, Skizzen aufgenommen; die will ich nach und nach für sie ausführen, das gibt noch manches Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk.

Und, lieber Gustav, bis wir zum zweitenmal Weihnachten erleben, werden wohl noch zwei kleine Aeuglein nach den Lichtern schauen; kannst Du Dir größern Reichthum denken, und wär's auf einer armen Hallig?

Die gefürchtete Zeit der Ueberschwemmung ist diesmal gnädig vorübergegangen und unser Heu haben wir glücklich eingebracht, unsre Schafe sind in gedeihlichem Zustand. Ob wir an eine Aenderung denken können? ich weiß es nicht, aber beklagen darfst Du mich nicht. In alter Freundschaft

Dein
Theodor.


Adele an Ida.

Herbst …

Nun, das war ja freundlich, liebe Ida, daß Du auch wieder mein gedenkst und eine Kunde in unsre Einsamkeit schickst. Daß so unerwartet das Glück bei Euch eingekehrt ist, und der Lotteriegewinnst Euch so mancher Sorge enthoben hat, gönne ich Euch von Herzen; mögest Du recht und wirklich glücklich werden, liebe Ida. Denn, nimm mir's nicht übel, etwas mühevoll kommt mir doch Dein Leben vor. All diese vielen Gesellschaften, Einladungen zu Leuten, die Du nicht magst, Bälle, auf die Dein Mann nicht gern geht; Leute, die er einladet und die Dir lästig sind; – sieh, das macht mich müde nur zum Drandenken, und ist mir wie ein Traum, daß ich auch einmal eine Weile in solchem Strudel gelebt habe. Aber freilich, so lang man ganz jung ist, nimmt man nur die sorglose Seite der Sache und jetzt werde ich, wie Du und Tante fürchtet, versauert und verbauert sein.

Von der Säure spüren wir zwar nichts, und wenn Dein Kleiner nur halb so goldig und so köstlich ist wie der unsre, so dauerst Du mich, Du arme Ida, daß Du so wenig bei ihm sein kannst. Hat denn der Deine auch so ein paar prächtige schwarze Augen, die Dich weit offen und lachend anschauen, wenn Du leise das Wiegentuch lüftest und meinst er liege noch im Schlaf? und spielt er auch so köstlich mit seinen Füßchen und jauchzt dazu hell auf? Wie Deiner heißt, weiß ich nicht einmal mehr, weiß es kaum von dem meinen, er bekommt hunderterlei Namen an Einem Tag; kleine Kinder haben noch gar keinen ordentlichen Namen.

Ich hab's ja immer gehört und geglaubt, daß so ein kleines Kind unbeschreiblich viel Freude mit sich bringe, aber daß es eine solche Herrlichkeit und Lieblichkeit ist, das habe ich nicht gewußt.

Nun wirst Du freilich nicht immer von meinem kleinen Prinzen und Goldvogel hören wollen, – wahrscheinlich bildest Du Dir ein, der Deine sei noch viel lieblicher und köstlicher, was aber unmöglich ist, – sondern auch wie ich hier lebe und ob ich überhaupt hier leben kann, was Ihr so oft bezweifelt habt.

Nun, der Tante habe ich ja ein Lebenszeichen gegeben, nachdem ich die Sendung kleiner Sachen erhalten hatte, die mir so große, große Freude gemacht.

Einmal, im Frühling haben wir auch eine Reise gemacht nach Tondern, mit einem jungen Seemann, der seine Eltern hier besuchte. Da habe ich denn auch wieder ein Stückchen Welt gesehen, das Regen und Leben draußen, grüne Saaten und blühende Gärten, – das war nun freilich wunderbar, und ich möchte wohl gern auch mit meinem Knaben einmal unter grünen Bäumen sitzen, – aber es war mir doch ein heimathlich Gefühl, als ich bei der Heimkehr von ferne schon das Licht scheinen sah, das die treue Karen bei uns angezündet. Wir hatten damals in Tondern die Wiege bestellt.

Lernen mußt ich freilich gar viel seit ich hier bin und ich bin lange nicht fertig, aber das macht ja eben das Leben reich und erhält uns jung, wenn wir noch immer zu lernen haben. Plattdeutsch habe ich ziemlich gut gelernt, besser verstehen als reden; doch habe ich Theodor zu seinem Geburtstag mit einer kleinen plattdeutschen Rede erfreut, hatte vorher heimlich Privatstunden bei Karen genommen. Wie ich ihre Sprache besser verstehen lerne, so werde ich auch mit den Leuten hier bekannter, zwar haben sie fast Alle etwas Stilles, für sich Abgeschlossenes in ihrem Wesen, aber durch die Kinder bin ich ihnen zuerst freundlich nahe gekommen.

Am meisten besuche ich die blinde Martha und lasse mir von ihr erzählen: wunderbare Seemährchen und schauerliche Sagen von Wiedergängern: Ertrunkenen, die den Ihrigen wieder erscheinen, bleich, triefend von Wasser, wie eben der See entstiegen. Am liebsten redet sie von ihrem Mann und ihren Söhnen, die Alle nach und nach auf die See hinausgezogen und Alle nicht wiedergekommen sind. »Gesehen hab' ich sie nicht wieder,« sagt sie, einigermaßen getröstet, »sie müssen im Frieden ruhen, träumt mir auch nicht von ihnen, nur Jan, meinen Jüngsten, den sehe ich oft im Traum, ich meine immer, der müsse noch leben.«

Junge Mädchen sind nicht viele hier, und ihre Tracht dient eben nicht zur Hebung der Schönheit, aber sie haben etwas Anziehendes in ihrem stillen, züchtigen Wesen. Ich höre sie gern singen an stillen Abenden, seltsam traurige Volksweisen, sie klingen mir wie Schlummerlieder für die, die in der Tiefe ruhen.

Auch von der letzten furchtbaren Fluth erzählt die Alte, die vor Jahren die ganze Insel begraben mit allen Häusern und aller Habe; die Geretteten, denen man draußen ein andres Asyl anbot, sind Alle wieder hieher gezogen, haben sich mühsam ihre Werfte wieder aufgerichtet, ihre Häuser wieder aufgebaut. Diese tiefe Liebe zu der armen Heimath habe ich noch nicht ganz begreifen lernen.

Aber traulich und gemüthlich ist's hier in unsrer großen Wohnstube mit dem behaglichen Kachelofen, die ich geschmückt habe mit den kleinen Schätzen aus unsern Mädchentagen, mit den Bildern aus der Heimath, die mir Theodor gemalt. Auch für ein kleines Gärtchen habe ich Raum gefunden auf unsrer Werft; der junge Seemann hat mir Samen gebracht, und meine Blumen sind ein Wunder der Insel; auch haben wir eine Bank vor dem Haus, da sitzen wir an schönen Abenden, in mondhellen Nächten, und weil nicht viel zu schauen ist an dem falben Gras unsrer Insel, so blicken wir hinauf zu den Zügen der Wolken in's leuchtende Abendroth, zu den funkelnden Sternen. Weißt Du nicht mehr das schöne Lied vom »Gärtner auf der Höhe«, das uns Theodor einmal vorgelesen hat: der Wanderer beklagt den Gärtner, der auf der kalten Höhe in dem blumenlosen Garten weilt.

Doch der blieb träumend stehen,
Bis daß voll Gluth die Höhen
Im letzten Abendstrahl.

Dort Fremder, steht mein Garten,
Sprach drauf der Gärtnersmann,
Wo sind die kalten Moose?
Sieh Hyazinth und Rose
Auf himmelblauem Plan.

Und sieh, vom Gold erbauet
Ein herrlich Königshaus,
Die Sterne drüber stehen,
Glutroth die Wimpel wehen,
Da geh ich ein und aus.

Siehst Du, dieser herrliche Garten steht auch uns offen. Wie oft habt ihr mich geneckt, über meine Neigung Verse zu rezitiren; jetzt, liebe Ida, ist mein Versegedächtniß, das Fräulein Dobler sehr gering angeschlagen, eine geschätzte Eigenschaft, es ersetzt uns eine halbe Bibliothek.

Wir haben unsern Tag recht ordentlich eingetheilt. Am Vormittag, da habe ich immer eine Menge zu sorgen und zu thun, bis der Kleine gewaschen oder gebadet ist, und die Küche angeordnet; – vom Frühstück bis Mittag sehe ich Theodor selten, wenn er nicht mit dem Kleinen hie und da ein halb Stündchen vertändelt. Denn neben seinem geistlichen Amt, das freilich nicht zu anstrengend ist, hat er auch noch den Schulunterricht der Inselkinder zu besorgen; die Zahl der Schüler ist selten mehr als zehn und die Ansprüche an Bildung bescheiden. Zu unsrem Mittagsmahl nehmen wir uns aber Zeit, machen nachher einen kleinen Gang oder Besuch; dann widmet sich auch der Papa seinem Sohn, und der Schelm strebt gleich nach ihm hin, obgleich ich viel mehr Mühe und Arbeit mit dem kleinen Burschen habe.

Einigemal in der Woche kommen auch die kleinen Mädchen der Insel mit ihren Arbeitskörbchen zu mir; ich lehre sie stricken und nähen und singe mit ihnen oder erzähle etwas; es freut mich, wenn die ausdrucksvollen Gesichtchen so andächtig auf mich geheftet sind. Es ist eine Belohnung für die Artigste, wenn sie nachher den Kleinen im Wägelchen führen darf.

Der Abend aber, das ist wieder die allerbeste Zeit. Da hat der Kleine endlich seine immer wachen Augen geschlossen, und nicht wahr, liebe Ida, so lieb und köstlich die Kleinen sind, wenn sie wachen, es ist doch auch eine recht behagliche Ruhe, wenn sie endlich eingeschlafen sind?

Die kleine Wiege steht nah der offnen Thür ins Schlafzimmer, da kann ich immer nach ihm sehen; ich höre fast die tiefen Athemzüge, wenn's recht still ist. O, wie ein friedevolles, behagliches Gefühl ist's, wenn wir Beide so stille beisammen sitzen; alles so nah beisammen, was uns lieb ist auf Erden; unsre Welt so klein und so unermeßlich reich und herrlich die Welt die unser wartet, die wir ahnen in den leuchtenden Sternen, den »vielen Wohnungen in des Vaters Hause.«

Unsre Abendunterhaltungen sind mancherlei. Oft liest mir Theodor etwas vor, – unsre eigne kleine Bibliothek wird recht gründlich genossen, da und dort findet auch ein Buch von draußen den Weg zu uns. Weil wir die Lektüre aber sparen müssen, so wird manchmal ›Dichters‹ gespielt; da sagt Eins irgend eine schöne Stelle aus einem deutschen Dichter und das Andre muß errathen, wo sie steht: in diesem Wettstreit bleibe ich meistens Siegerin. Auch Sprachstudien werden getrieben; Theodor lehrt mich Englisch, Französisch lernt er bei mir; er wollte mich sogar in's Griechische einweihen: seit aber der Kleine da ist, finde ich nicht mehr viel Zeit zum Studiren.

Mein Klavier, das aber nicht das einzige auf unsrer Hallig ist, – Johanna, die Tochter des alten Kapitäns besitzt eins, – bringt viel Freude; der Kleine jauchzt laut und zappelt mit den Händchen, wenn ich ihm spiele: lustige, fröhliche Weisen. Abends singe ich die alten, lieben Lieder, die ich daheim am Neckar gesungen; der Kleine wacht nicht auf daran. Theodor begleitet mich manchmal, aber noch lieber mag er in einer Ecke sitzen und zuhören. Ich freue mich so, wenn mir oft wieder ein neues Lied einfällt, mit dem ich ihn überraschen kann, und ich glaube, die erste Sängerin der Welt dürfte nach keinem schöneren Lohn verlangen, als mein schlichter Gesang erndtet. Theodor meint, es wäre gar nett, wenn wir auch einmal ein Töchterlein hätten, das ich meine Lieder lehren könnte, – mir ist der Junge indeß Freude genug.

Am schönsten sind die Sonntagabende, da singe ich einen Choral und Theodor begleitet ihn mit seiner prächtigen Stimme. Unsre stillen Nachbarsleute, die sonst wenig Zeichen von Interesse und Beifall geben, kommen da oft von ihrem Werft herab, zu uns herauf und lauschen vor unsrer Thür. Und wenn mir nachher Theodor liest aus den Schriften Luthers und andrer Gottesmänner, oder wenn er mir Stellen der Schrift klar macht, die ich nicht ganz verstehe, – o Du glaubst nicht, welch seliges Gefühl der Demuth mich da überkommt, daß ich so zu ihm hinaufsehen darf, der mir doch so nahe steht; wie gehen dann alle kleinen Klagen und Beschwerden unter im tiefen Gefühl, daß mir ein schönes Loos gefallen, und in der seligen Hoffnung auf ein noch schöneres. Möchtest auch Du fühlen, liebe Ida, wie ein rechter Sonntag so frisch macht für die Wochentage.

Siehst Du, liebe Ida, unser farbloses Leben ist nicht ohne Wechsel und nicht ohne Freude. Aber auch nicht ohne Heimweh? wirst Du fragen. Nein, das kann ich nicht sagen, wenn ich wahr sein will. Es gibt viel Seufzer der Ungeduld im Alltagsleben: wenn mir so manches fehlt, was die Häuslichkeit leicht und bequem machen könnte; stille Seufzer, wenn mich Einmal verlangt, ein befreundetes Menschengesicht aus der alten Zeit zu sehen; Seufzer des Heimweh's nach den Bergen meines Jugendlandes, nach dem klaren, blauen Neckarfluß, wenn ich über unsre öde Fläche auf das trübe, sumpfige Wasser blicke. Aber dann sieht mich Theodor so innig an, so ermuthigend und er weiß mein Heimweh so schön hinauf zu lenken nach der rechten Heimath; und wenn wir an unsern Sonntagabenden an die geheimnißvollen Bücher der Offenbarung kommen, wenn wir lesen von der leuchtenden Gottesstadt, dadurch ein lauterer Strom lebendigen Wassers fließt, klar wie Kristall, an dessen Ufer die ewig grünen Lebensbäume wachsen, wo die Durstigen schöpfen werden des lebendigen Wassers umsonst, – dann dünkt uns die Zeit der Entbehrung hienieden nicht mehr zu lang und zu schwer; wir wissen, daß der Herr das, was wir um seines Friedens willen gerne entbehren hienieden, uns hundertfältig vergüten wird.

Auch die Zeit hier, wo wir uns so ganz gehören, wo wir uns Ersatz sein dürfen für alles, wollen wir nicht ansehen als eine Zeit der Verbannung, zumal, seit die Einsamkeit hier durch so ein paar liebe, helle Aeuglein aufgehellt ist.


Aber das war ein langer Brief! Nun, es wird so bald nicht wieder geschehen; aber Einmal mußt' ich doch Dich und die gute Tante beruhigen über mein Loos. Möge Dir's so gut gehen wie mir! Ida, meine liebe Ida, hast Du denn auch etwas, was Dich so recht von Herzen freut?

Ob wir Aussicht haben, auf eine andre Stelle zu kommen, weiß ich nicht. Es scheint, man ist so sehr froh, einen Pfarrer hier zu haben, und wie Theodor ist, welch ein Schatz und Segen für jede Gemeinde, – das können sie draußen nicht wissen. Leb wohl, von Herzen

Deine
Adele.


Theodor an seinen Freund.

Winter …

Nun sind es zwölf Jahre, seit ich auf die Insel gezogen, die ich zunächst für das Grab eines lebendig Todten und – als ich eine holde Gefährtin mitnehmen durfte, für ein vorübergehendes Exil betrachtete.

Es ist keines von Beiden geworden. Wir sind nun zwölf Jahre hier; unsre Kinder, die keine Heimath kennen als diese Wasseröde, blühen lustig um uns auf; meine Versuche, eine andre Stelle zu erlangen, sind noch nicht gelungen und wenn ich an frühere Zeiten denke, voll Herzensnoth und tiefer Demüthigung, und sehe hier, wie ernst und andächtig Aller Herzen auf das Wort gerichtet sind, das mir jetzt leicht und freudig von der Lippe quillt, – dann verlange ich nicht mehr so ungeduldig nach Aenderung, wie vor Zeiten, und Adele hat sich hier so tief und innig mit mir eingelebt, daß ich kaum glaube, sie begehrt darnach.

Um der Kinder willen möchte ich freilich nicht, daß diese öde Scholle unsre Heimath bliebe. Sie wissen's ja freilich nicht anders, aber doch regt sich in ihnen der Drang hinaus und hinüber. Edward, der kleine Bursche, – meine Frau hat ihn so genannt, weil der wahrscheinlich lange verstorbene einzige Bruder ihrer Mutter so geheißen, von dem diese noch ein Bild bewahrte, – Edward der treibt sich am liebsten am Ufer herum, läßt sich von den heimgekehrten Seeleuten grausige Seemährchen und Schiffbruchsgeschichten erzählen, hat auch schon todesgefährliche Versuche gemacht, durch den Schlick, – das sumpfige Wasser zwischen den Inseln, – hinüberzuwaten.

Ein recht kalter Winter ist hier gesellige Zeit, wenn das Wasser so gefroren ist, daß Freunde oder Verwandte von andern Inseln oder gar vom Lande herüberkommen können. Dann geht im Innern der Häuser ein fröhliches Leben an; langesparte Schätze der Seeleute werden auf den gastlichen Herd geopfert. Zu uns fährt niemand auf Schlittschuhen herüber; unser Junge aber, der ist daheim in jedem Haus und weiß eine Menge zu erzählen, wenn er Abends heim kommt. Seemann will er werden, darauf steht sein Sinn fest; nun, Gott lenke das wie's recht ist; jedenfalls nehme ich Dein Anerbieten, ihn zu Dir zu nehmen und auf eure Schule schicken zu wollen, mit herzlichem Dank an; der Unterricht eines verrosteten Halligpfarrers kann nicht mehr genügen; bis jetzt gings gut und hatte er mehr von mir zu lernen, als dem wilden Burschen lieb war.

Bei Mary, unserm Töchterlein – nach der englischen Großmutter genannt – denken wir noch an keine Trennung. Das Kind hat von der Mutter noch genug zu lernen und es ist gar zu niedlich, so ein klein Mägdlein schon geschäftig um sich herumtrippeln zu sehen. Die streift nicht viel draußen herum, wenn der wilde Bruder sie nicht hie und da mitschleppt; sie sitzt daheim bei der Mutter und bittet: »Mutterchen, erzähl mir, wie Du noch klein gewesen bist,« und sie kann nicht genug hören von da draußen, wo blaue Berge sind und große Gärten voll Blumen und lustige Bächlein. »Komme ich da auch einmal hin, Mutterchen?« fragt sie, und Edward ruft lustig dazwischen: »ich fahre hinaus auf einem großen Schiff, weit, weit hinaus in alle Länder, und wenn Du recht artig bist und gar nicht schreist, und Dich nicht fürchtest, so darfst Du mit und der Mutter bringen wir viel, viel schöne Sachen mit.«

Viel Lust und Leben haben die Kinder in's Haus gebracht, von jenem Tage an, wo noch von der Ankunft des ersten zu unendlicher Freude meiner Adele das Kistchen mit niedlichen Kinderjäckchen und Häubchen kam, – bis heute, wo Morgens und Abends die jungen Stimmchen sich mischen, mit der noch immer süßen, melodischen Stimme meiner Adele.

Und eine Hausfrau ist sie geworden! Wie erfinderisch, immer neue Gerichte zu konstruiren aus dem einfachen Material, das uns hier zu Gebot steht; ich rathe ihr schon lang, in einem ganz neuen Zweig der Schriftstellerschaft aufzutreten und ein Kochbuch für Halligbewohner zu schreiben.

Zu einer Reise an's Land, obgleich die Entfernung nicht groß ist, kommen wir selten; es zeigt sich nicht oft eine passende Schiffgelegenheit; wir haben nicht viel Bekannte draußen und können kaum Gegenbesuche einladen. Auch braucht es immer eine Weile, bis sich das Auge wieder an den fahlen Grasfleck gewöhnt, nachdem es das blühende Land gesehen.

Einmal im letzten Sommer ist auch der farbige Glanz von der Welt draußen in unsre Einsamkeit gedrungen.

Es war eine glänzende Gesellschaft von einer der benachbarten Inseln, auf denen Seebäder gebraucht werden, darunter der älteste meiner ehmaligen Zöglinge: Albert von Reezow mit einer jungen Braut. Da rauschten seidene Gewänder, schimmerten hellfarbige Mousselinstoffe, wehten Schleier und Hüte mit Blumen und Aehren geschmückt; es nahm sich wunderbar aus, diese farbenreichen Gestalten auf unsrem farblosen Grund. Da ein Gasthof hier nicht ist, so lud ich sie ein, in unsrem schlichten Pfarrhaus einzukehren. Unser Junge war gleich gut Freund mit Allen und ergötzte sie mit seinen naiven Fragen; klein Mary, die hielt sich fest an ihrer Mutter Kleid und betrachtete die Fremden mit glänzenden Augen, wie Wesen aus einer andern Welt.

Meine Adele war nun freilich des Weltverkehrs lange entwöhnt, aber sie sah in ihrem schlichten dunklen Kleide nicht aus wie eine verkommene Pfarrfrau, sie erschien wie die stille Fee dieser einsamen Stätte; so unverwelkt ist die Lieblichkeit ihrer sanften Züge, so ist sie geschmückt mit dem sanften und stillen Geiste, der köstlich ist vor Gott und Menschen. Auch hat meine Adele, einsam und weltabgeschieden wie wir sind, sich nie eine Vernachlässigung ihres Aeußeren erlaubt, und wenn Du, wie Du verheißen, einmal kommst, um Deinen künftigen Zögling selbst zu holen, so findest Du sie wohl nicht mehr so jung und blühend, aber anmuthig, wie zu der Zeit, wo sie mir gefolgt aus ihrer blühenden Heimath.

Von Mode wissen wir nicht viel, aber ihr Gewand ist immer die reine Hülle einer reinen Seele.

Nun denke ich, wegen meines Jungen können wir uns noch besprechen. Adelens Augen werden naß, wenn sie an Trennung von dem Knaben denkt; es wird sein, als lösche ein helles Licht aus, wenn seine fröhliche Stimme verstummt ist und sein Kämmerlein verschlossen, das er sich angefüllt hat mit Sammlungen aller Art, mit Muscheln und Korallen, meist Geschenke unsrer Seeleute. Ich glaube, daß es Allen hier leid thun wird, wenn der Bursche fort ist; unser Töchterlein gilt ihnen mehr wie ein Wesen aus andrem Kreise, der Knabe ist ihnen eigen und vertraut.

Jetzt freilich ist an eine Reise zu uns oder von uns nur denkbar für die kühnen Leute, die ihren Weg zwischen dem Eis durch finden, das unsre Werfte oft wie eine Vormauer umgibt; der Anblick ist oft wunderbar, ich selbst aber habe mich noch nicht weit auf solche Eiswanderung gewagt. Im Frühling, da werden unsre Wasser wieder fahrbar, und kommst Du nicht hieher, so können wir uns da leicht auf dem Lande treffen. Also auf Wiedersehn!


Adele an Ida.

Herbst … vier Jahre später.

Lebst Du auch noch, liebe Ida? Du, nahezu die Einzige, die noch von mir weiß in der Heimath drüben? Du warst nie eine fleißige Korrespondentin, und seit meine Tante nicht mehr lebt, bist Du ja ganz verschollen. Nun aber, liebe Ida, schicke ich Dir einen lebendigen Boten, – der Dir diese Zeilen bringt, das ist mein Sohn Edward, – nicht wahr, Du hättest nicht gedacht, daß so ein netter, frischer Junge aus der »Wasserwüste,« wie Du unsre jetzige Heimath benennst, hervorgegangen sei. Es sind nun mehr als vier Jahre, seit wir uns von unsrem einzigen Sohne getrennt, – ein schweres Opfer, aber seine frischen fröhlichen Briefe sind ein immer heller Morgenblick in unser stilles Leben gewesen.

Der Knabe ist in Wahrheit ein Kind der Hallig, er hat neben seinem frischen, kräftigen Wesen etwas von der tiefen Liebe, der leisen Sehnsucht, die die Eingebornen hier immer wieder zu ihrem Eilande zieht. Der Jugendfreund meines Mannes, Justizrath Leising, hat sich durch treue Fürsorge Vaterrechte an Edward erworben, und wünscht, daß er die Rechte studire, den Jungen aber zieht sein ganzes Herz, Seemann zu werden; noch wissen wir nicht, wie wir ihm die Wege dazu ebnen sollen. Bis wir uns nun darüber verständigt, soll er nach dem Wunsch unsres Freundes gründliche Vorstudien machen und in diesen Ferien das schöne Heimathland seiner Mutter bereisen; auf dieser Reise ist's, wo er bei Dir einkehren wird, und mir Kunde von Dir bringen; denn zunächst erwarten wir ihn hier, und meine Mary fängt jetzt schon an, das Haus zu schmücken für des Bruders Wiederkehr.

Von mir, liebe Ida, ist nicht viel zu schreiben. Mein Leben geht seinen stillen Gang, ohne viel Wechsel, nicht ohne Freude. Wir sind nun verwachsen mit allen Gliedern unsrer kleinen Gemeinde; was von Leid und Freud über die stille Insel zieht, das leben wir mit. Ich habe alle Kindlein auf den Armen gehalten, die heranwachsenden Mägdlein sind meine Zöglinge; wenn ein Schiff landet, ein Seemann heimkehrt, so theilen wir die Bewegung, die es bringt. Die Sonntagsglocken unsres Kirchleins tönen uns jedesmal wie eine Ahnung von dem ewigen Sabbath in's Herz, und Sorge und Mühe der Arbeitstage sind mir nicht zu schwer. Es ist wohl natürlich, daß hier, wo man gewissermaßen an der Pforte des Todes wohnt, das Leben sich ernster gestaltet, als draußen im bewegteren Leben, wo der dunkle Abgrund mit so viel farbigen Bildern zugedeckt ist. Aber, liebe Ida, die Theilung auf Erden ist doch gleicher, als es den Anschein hat. So vieles, was Ihr als alltäglich und selbstverständlich hinnehmet, wird hier zu besondrer Freude, – und wo die Kerzen irdischen Genusses matter glänzen, da scheint um so heller das klare Licht der Ewigkeit durch. Gott weiß, wir haben nie Mangel gehabt an Friede und Freude.

Bei euch draußen ist ja in diesen Jahren viel Lärm und Bewegung gewesen; in unsre Stille ist bis jetzt nicht viel davon gedrungen, und Du schiltst mich vielleicht langweilig, wenn ich Dir gestehe, daß mir ungestörter Frieden die liebste Idee von allen ist und daß ich mich über die nicht hinaufschwinge.

Daß wir so schrecklich hier versauert sind, wie Du es vor Zeiten gefürchtet, das glaube ich doch nicht. Wie mein Theodor bei dem immer gleichen, kleinen Kreis seiner Zuhörer immer voller, immer tiefer schöpfen muß aus dem Born des Gottesworts, aus dem Schacht eigner Herzenserfahrung, damit es frisch bleibe und lebendig wie die Wahrheit selbst, was er den Seelen bietet, so haben wir auch schon um der Kinder willen all unser Bischen zeitliches Wissen und Können sorgsam zusammenhalten und auffrischen müssen. Wie habe ich mich gefreut, mit meinen Kindern die alten lieben Dichter wieder zu lesen, meiner Mary unter der Arbeit die Lieder zu sagen, die im Schatz meines Gedächtnisses ruhen; all die lieben Weisen aus jungen Tagen wachen mir wieder auf, nun ich sie mit meinem Kinde singen kann.

Und was sagst Du dazu, daß unsre alte Fräulein Dobler noch ein Asyl bei uns hier gefunden hat, und meine Mary dieselben französischen Fabeln von ihr lernt, wie ich vor Zeiten?

Wir erfuhren ganz zufällig, daß sie krank lag auf der Insel F., allein und verlassen von der adeligen Herrschaft, wo sie zuletzt in Diensten gestanden. Theodor selbst fuhr hinüber und brachte sie zu uns. Wir haben sie mit aller Treue gepflegt und jetzt ist sie genesen an Leib und Seele und hat ihr Bischen Wissen treulich mit den Kindern getheilt.

Ob sie sich in alle Entbehrungen des hiesigen Lebens so leicht finden kann, wie wir es gelernt, das bezweifle ich: um so leichter wird es ihr werden, künftig mit ihrer Schwester zu leben.

Ein Glück, daß sie so gar kein Gegenstand ist, der die Eifersucht reizt, sonst müßte mir bange werden bei ihrer unbegrenzten Verehrung meines Mannes.

Von meinem Töchterlein, meiner Mary, habe ich Dir noch nichts gesagt; ich denke, ich darf ohne Muttereitelkeit sagen, sie ist eine liebliche Blume, aber, – ich fürchte oft, eine Blume, die nicht recht daheim ist in dem Grunde, wo sie erwachsen. Schon als Kind hörte sie nichts lieber erzählen, als wie es aussehe in der Welt draußen und wie die Mutter gelebt habe, als sie noch klein gewesen sei und jung.

Als die Badegesellschaft von F. vor einigen Jahren hier war, da war's, als ob dem Kinde erst recht seine Welt aufgienge, es gieng auch nicht als flüchtige Erscheinung an ihr vorüber; schon damals lebte sie in Gedanken, in all ihren kindischen Spielen, fort mit »den schönen Leuten draußen,« und jeden Sommer wartete sie mit stiller Sehnsucht, ob sie nicht wieder kommen.

In diesem Sommer kamen ein paar Reisende hierher, eine seltne Erscheinung, ein junger Mann darunter, der aus der Nähe unsrer Heimath stammt. Er schien sich gar sehr für unsre Insel zu interessiren und – für die zarte Blume, die darauf erwachsen, Mary mußte ihm gar viel erzählen von unsrem Thun und Leben hier, und sie lauschte mit glänzenden Augen auf seine Schilderung vom grünen Rhein und den Schlössern und Burgen an seinen Ufern. Sie spricht nie von ihm, seit er fort ist, wie sie früher von den Badegästen gesprochen, aber, – ich fürchte, mit der Blume, die er aus unsrem Gärtchen mitnahm, der Merkwürdigkeit halber, hat er mehr mitgenommen.

Ich habe bis jetzt noch nicht versucht, Mary in eine größere Stadt oder überhaupt in die Welt hinauszubringen; bei Frln. Dobler und mir konnte sie ja lernen, was ihr noth that, – ich fürchtete, es werde ihr zu schwer, sich nachher wieder bei uns zu gewöhnen – ich weiß nicht, ob es nicht doch meine Pflicht wäre. Du bist ja bekannt in der Welt draußen, rathe mir, liebe Ida, wo Du ein passendes Plätzchen für sie wüßtest.

Und nun hast Du viel gehört auf einmal, so viel, als sich von einer Hallig nur erzählen läßt.

Erfreue Du uns nun mit einem farbenhellen Bilde von Deinem Leben draußen. Freilich habe ich mehr Zeit, alter Freunde und alter Zeiten zu denken als Du. In alter Liebe

Deine
Adele


Fräulein Dobler an ihre Schwester.

Hallig F. im Sommer …

Meine liebe Mine!

Sicher meinst Du, ich sei gestorben, und von dem Ort, der auf meiner Briefadresse steht, hast Du wohl kaum Dein Lebtag gehört, wenn ich Dir nicht vor Zeiten erzählt habe, daß mein ehemaliger Zögling, die Gräfin Adele v. Rhönek, einen Pfarrer hier geheirathet habe.

Wenn Du es nicht geglaubt hättest, könnte ich Dir's nicht übel nehmen, Du würdest es noch viel weniger glauben, wenn Du das traurige Stückchen Erde ansehen könntest.

Und doch ist es wahr, und doch muß ich sagen, es ist mir nie in meinem Leben so wohl um's Herz geworden wie hier; Gott vergelte den guten Leuten hier, was sie an mir gethan! Du weißt ja, wie mir's all mein Lebenlang traurig gegangen ist – Dir auch nicht viel besser, obgleich Du einen Mann hast, – wo ich in der Welt einmal geglaubt habe, jetzt sei mir wohl, da bin ich wieder vertrieben und verstoßen worden.

Das Haus der Baronin Broksdorf, wo ich zuletzt war, wäre ja anständig gewesen, aber ich merkte bald, daß ich ihnen zu alt war. Wie nun meine alten Magenleiden sich einstellten, da redeten sie mir erstaunlich zu zum Seebad, sorgten mir für eine Begleitung und borgten mir einen Bademantel. Das Seebad aber konnt' ich gar nicht ertragen und bin erst recht krank davon geworden. Ich schrieb noch um einige wollene Leibchen und warme Kleider, da sandte mir die Frau Baronin all meine Sachen, ein charmantes Briefchen und ein paar Louis'dor. »Sie sehe wohl ein, daß die Stelle für mich zu anstrengend sei, die Heimreise gleich von Föhr einfacher etc.«, kurz, sie wollen mich los sein.

Ich kann Dir nicht sagen, Mine, wie verbittert ich war gegen Gott und Welt, ich hätte nur hinliegen mögen und sterben.

So saß ich vor dem Haus in meinen Mantel gewickelt und dachte, ob's denn so eine große Sünde wäre, in das Seebad zu gehen und nicht mehr heraus, wenn doch niemand auf der Welt etwas von mir will, da – rief man mir, ein Herr wolle mich sprechen, und ich sage Dir, wie ein Engel Gottes stand der Pfarrer Jessen vor mir. »Sie haben durch ein Mädchen ihrer Insel, die hier gedient, erfahren, daß ich hier sei, – sie hatte zufällig meine Karte gefunden in der Tasche einer alten Schürze, die ich ihr geschenkt, – und nun lasse mich seine Frau einladen.« Da ging ich mit und sie hat mich gepflegt wie eine Schwester, und wenn's auch hier einsam ist und trübselig, so ist doch ein Friede hier und eine Liebe, daß es oft ist wie im Himmel.

Daß man einem Menschen so viel zu lieb thun kann, wie die Frau ihrem Mann, hätte ich nie geglaubt. Denke, sogar das garstige Cisternenwasser hat sie ihm zu lieb trinken lernen, weil sie sah, daß es ihn so betrübte, daß sie lieber Durst litt. Die Kocherei hier ist eben wie man's hat; hie und da bringt ein Schiff wieder etwas Vorrath; es ist eine Art von Krämer hier, der in mehr Verbindung mit dem Lande steht, Thee hat man immer und Schafsmilch, sonst oft nichts als gesalznen Fisch und steinalten Zwieback. Aber sie sitzen so heiter um ihren Tisch, sind so fröhlich, wenn einmal wieder etwas Besondres kommt, daß man's fast vergißt. Seltsam, von meinem Magenleiden und meinem Rheumatismus spüre ich gar nichts mehr, und doch ist die Luft so feucht, und die Insel steht unter Wasser, so oft's ihr einfällt. Das sind aber die Leute so gewöhnt, sie sehen kaum mehr zum Fenster hinaus, wenn sie ringsum von Wasser umgeben sind.

Der Pfarrer sagt, gegen gewöhnliche Ueberschwemmung seien die Häuser durch feste Balken gesichert, und sehr selten komme eine große Sturmfluth, die dann freilich die ganze Insel begraben könne. Muß sagen, so gern ich hier bin, für so eine Seltenheit würd' ich mich doch bedanken.

Aber in die Welt hinaus gehe ich nicht mehr gern; die Ruhe hier und der Frieden, das ist ein Seelenbad, das hat mir Seele und Leib geheilt. Reich können die Pfarrleute nicht sein bei einer so kleinen Gemeinde, aber sie haben ja auch keine Gelegenheit viel zu brauchen; ich glaube nicht, daß ich ihnen lästig bin und kann ja beim Unterricht des Töchterleins helfen. Ich habe von Geld und Verbrauch fast nie bei ihnen reden hören, ich denke, von dem Muttergut der Frau ist doch wohl noch ein Rest übrig.

Nun denke ich noch hier zu bleiben, bis wir einmal zusammenziehen können, liebe Mine; sehr lang lebt doch Dein armer Mann schwerlich mehr. Mit meinem Bischen Ersparniß und Deinem Wittwengehalt können wir dann im Frieden leben; wunderlich und anspruchsvoll, wie Du früher oft geklagt, wirst Du mich nicht mehr finden, man kann auch in alten Tagen noch in die Schule geschickt werden. An Kreuzschulen hat mir's nie gefehlt, aber ich habe mehr gelernt in der Schule demüthiger Liebe. Das Töchterlein hier ist ein reizendes Geschöpf, so schön wie die Mutter war, nur zarter; die aber ist nicht recht für die Hallig geboren, obgleich sie auf ihr geboren ist; ich wollte, es holte sie Einer weg. Nun weißt Du doch wieder von mir; ich grüße Dich und die Deinen.

Deine getreue Schwester.


Ida an Adele.

Ein farbiges Bild willst Du von mir und meinem Leben? und was Du mir schreibst aus Deiner Einsamkeit, das kommt mir vor wie ein Roman, wie wir sie gelesen in unsrer Mädchenzeit, und mein Leben erscheint mir dagegen die trockene, nüchterne Prosa.

Du darfst nicht meinen, daß ich gar nicht mehr an Dich gedacht habe; nein, gerade in der letzten Zeit mehr als je, aber zum Schreiben wäre ich wohl nicht gekommen, wenn nicht der nette, frische junge Bursch, Dein Edward zu mir gekommen wäre.

Er hat mir viel von Eurem Leben erzählt; das sollte man nicht meinen, daß man so vergnügt zusammenleben könnte, wenn man die Sache nur von weitem ansieht, aber seinem Bericht nach lebst Du heiterer auf Deiner Einöde, als ich inmitten der Stadt.

Dein Töchterlein aber solltest Du noch ein wenig in die Welt lassen, das bist Du dem armen Kind schuldig; nimmt mich nicht Wunder, wenn's ihm bei Euch hie und da entleidet ist. Wie gerne würde ich Dir anbieten, sie aufzunehmen, aber, – ich sorge, sie würde in meinem Haus keine angenehme Heimath finden, und meine Hermine fürchtet, ein junges Mädchen, die nicht einmal tanzen gelernt, könne hier unmöglich fortkommen; wir wollen schon eine taugliche Pension für sie erfahren.

Von meinen Kindern weiß ich gerade nicht viel zu erzählen; die zwei Buben sind mir längst aus der Hand gewachsen. Alfred, der ältere, ist Kadet, Otto soll Kaufmann werden und ist in der Lehre, zum Studirenlassen reicht's nicht; Hermine ist schon ein nettes Fräzchen, aber hier werden die Mädchen nicht fertig mit Tanzstunden und französischen Konversationsstunden und wenn die fertig sind, so fangen Tanzkränzchen und Sprechkränzchen an; für sich hat man seine Kinder nicht, und seit dem Unfall, der über mich gekommen, komme ich mir hier wie auf einer Einöde vor, ärger als Du auf Deiner Insel.

Ich habe nemlich durch eine heftige Erkältung bei einer Schlittenfahrt im vergangenen Winter beinahe ganz mein Gehör verloren. Sie nennen es rheumatisch, oder skrophulös, und setzen mir spanische Fliegen und geben mir Thran zu trinken und legen mir Gichtpapier auf, – alles umsonst, ich glaube, mir wäre besser, ich wäre gestorben, denn wozu bin ich eigentlich auf der Welt? Was thue ich in Gesellschaft, wenn ich die Leute um mich herum lachen und plaudern sehe und verstehe sie nicht. Von all meinen Freundinnen, denen ich mit Einladungen die größten Opfer gebracht, nimmt sich kaum Eine die Mühe, mir laut zu wiederholen, was um mich her gesprochen wird. Gerade zur Unzeit höre ich oft, was ich nicht hören soll: ein »Bitte, setzen Sie mich nicht neben die Ehrenfeld, das laute Sprechen greift mich so an,« oder »die übelhörigen Leute sind so neugierig etc.« – und die Nächste rückt auf die Seite, – da bleibe ich lieber daheim; aber was daheim thun? Immer lesen mag ich nicht, was soll ich denn lesen? arbeiten, das ist auch langweilig, meine Hermine leistet mir schon Gesellschaft – wenn sie muß, aber »weißt Mutterchen, alles kann man einem doch nicht in die Ohren schreien,« heißt es dann und ich erfahre – nichts, und sehe, wie es das Mädchen zupft an allen Enden fortzukommen, und wie sie mich wo sie kann, beim Stubenmädchen allein läßt; »die Lisette hat ein viel deutlicheres Organ als ich, Mutter, die verstehst Du viel besser.« Oskar, – mein Gemahl, nun ja, der hält sich jetzt ein Pferd, was lang schon seines Herzens Sehnsucht war, und wozu es nicht reichen wollte, so lang ich auch noch billige, gesellige Ansprüche machte. Da kommt er denn heim, meist gut aufgelegt, schreit mir etwas in die Ohren und findet dann, daß es alle Zeit ist, in seinen Klubb zu gehen. Er vertröstet mich fortwährend, daß er beim nächsten Pferdemarkt eine leichte Droschke kaufen wolle und ein Pferd, das auch zum Fahren gehe, – aber der Einkauf läßt lange auf sich warten und indeß roste ich vollends ein.

Sonst war ich es, die Dir berichtete von dem Leben draußen, von dem fröhlichen Treiben der Welt, jetzt mußt Du es sein, die mir erzählt, was Leben heißt, Du lebst doch in Deinen Kindern. Was ist Dein Sohn ein netter, frischer Junge, und wie glänzten seine Augen, wenn er von Mutter und Schwester sprach, und von dem Vater, wie der in dem kleinen Kreis wirke in Liebe und Segen, – ich habe ihn jedes Wort verstanden, obgleich er mir nicht so löwenhaft in die Ohren brüllte, wie die Andern thun; seine Stimme hat so einen klaren, frischen Klang.

O Adele, laß Dir's nicht leid thun, daß Du dort drüben geblieben, – »der Dienst der Welt ist ein dankloser Dienst,« hat unser alter Pfarrer einmal gesagt; erst jetzt verstehe ich, wie er's gemeint. Ich habe gar nichts auf Erden, was mir so recht Freude macht, und Du würdest Deine alte, lustige Ida nicht mehr erkennen.

Leb wohl, Adele.


Adele an ihren Sohn.

Lieber Edward!

Ob die Zeitungen so viel Notiz nehmen von unsrem Eiland, daß sie Dir Kunde gebracht von dem, was uns befallen, weiß ich nicht. Jedenfalls darfst Du von mir hören, daß wir leben und gesund sind, wenn auch Schwester Mary noch etwas bleich sieht; – der barmherzige Gott hat uns gnädig errettet aus großen Wassern.

Diesmal, alter Junge, hättest Du zufrieden sein können mit der Überschwemmung! Es wollte Dir nie genug sein, wenn alljährlich die Wasser wiederkehrten und die Gefahr mit ihnen; wenn wir in der Stube um unsern Theetisch saßen, wie auf einem Schifflein mitten im Meer, wenn ringsum die Häuser nur noch wie kleine Inselchen aus den Wassern ragten und wir geduldig warten mußten, bis die Wasser sich verlaufen. Du wußtest dann immer alle Seemannsgeschichten von furchtbaren Sturmfluthen, wo die ganze Insel mit Mann und Maus von den Wellen verschlungen wurde.

Diesmal, mein Edward, ist es Ernst geworden und beinahe wäre es so furchtbar gekommen wie damals. Die Sturmfluth wurde gewaltiger als je. Ein Glück, daß unsre gute, alte Fräulein Dobler vorher eine Reisegelegenheit benützt hat, um zu ihrer Schwester zu reisen, die Wittwe geworden.

Sie schreibt von dort jetzt zufrieden und vergnügt; nirgends auf der Welt seien zwar so gute Menschen wie wir, aber besser sei doch zu leben, wo man alle Tage sein frisches Fleisch und neugebackene Wecken haben könne; aber sie verdanke mir's ihr Lebenlang, daß sie bei uns so viel Liebe erfahren, und gesehen habe, was rechte Liebe sei.

Du weißt, lieber Edward, wie wenig sich die Wassergefahr auf unsrer Insel vorhersehen oder abwehren läßt; unser Kapitän kann Dir einmal deutlicher sagen, wie es kam, daß in Einer Nacht Sturm und Fluth zusammentraf, – das war ein gewaltiges Steigen und Rauschen und Toben der Wasser! Von allen Seiten her, wie von Bergen herab, strömten die Fluthen auf uns ein; in Einem Augenblick war die ganze Insel bedeckt; wir konnten uns mit niemand mehr berathen, keine Rücksprache nehmen; wir flüchteten uns, die Schafe und was wir von werthvoller Habe noch retten konnten, auf den obern Boden.

Deine arme Schwester Mary hat sich zu Anfang eben nicht als Heldin gezeigt; aber als wir oben beisammen waren, die treue Karen mit uns, als der Vater in wenigen Worten innigen Gebetes sich an den Herrn wandte, dem Wind und Meer gehorsam sind, und unser Leben in Seine Allmächtige Hand befahl, – da wurde es uns Allen ruhig um's Herz; wir konnten miteinander dem Herrn danken für all die schönen, friedevollen Jahre, die Er uns hier in dieser Einsamkeit hat erleben lassen. – Ja, lieber Edward, Dir, der Du jetzt inmitten des fröhlichen Lebens und Treibens der Welt stehst, wird's vielleicht nicht so scheinen; aber, ich fühlte es selbst in der Todesstunde: wir sind glücklich gewesen, recht innig und von Herzen. Es dünkte mir schön, zusammen zu sterben, – aber, – vor dem Ertrinken fürchtete ich mich doch sehr, zumal für unsere liebliche Mary, die still und bleich mit gefalteten Händen dasaß; ich dachte mir's so furchtbar, wenn wir von der Fluth auseinandergerissen und hinausgeschwemmt würden. Da ward das Toben stiller, ich sah einen Stern durch die Dachlücke, – es war mir wie ein Gruß von Oben, der Sturm ließ nach, fast plötzlich; ganz, ganz allmählich schien auch das Toben und Rauschen der Wogen abzunehmen, die unten theilweise die Mauern schon durchbrochen hatten und mit unsrem sorgsam geschonten Hausgeräth ein lustiges Spiel trieben. Die starken Balken aber, die das Dach halten, sind nicht gewichen; der Herr hat den Fluthen Stillstand geboten zur rechten Zeit.

Traurig sah es nun freilich aus, als wir wieder hinunter stiegen; Sopha und Polsterstühle, mein zierlicher Arbeitstisch, den ich Mary abgetreten, fast alles, was mir im Gedanken an die Heimath lieb gewesen, ist zum Theil zerstoßen, zum Theil treibts auf den Wogen. Aber, lieber Edward, wem der Tod in dieser Gestalt nicht schon nahe getreten, der weiß nicht, was es heißt, das Leben wieder gerettet haben. Gott weiß, wir waren ergeben zu sterben; es ist uns Ernst gewesen, wenn wir uns früher gesehnt und gefreut in manch stiller Stunde nach der Heimath droben; – aber als wir wieder auf nothdürftig geretteten Stühlen um unsern alten Eichentisch saßen – der polirte Ovaltisch schwimmt draußen auf dem Meere, – als wir uns so recht labten an dem guten warmen Thee, – der Kapitän, der seine Vorräthe besser geborgen, hat uns mit Thee, Zucker und Zwieback versorgt; da durchdrang uns doch wieder mit inniger Freude das Gefühl des Daseins: wir sahen einander glückselig in die Augen und gaben uns die Hand, und hatten große Sehnsucht, daß Du bei uns sein möchtest.

O lieber Edward, es muß ein heiliges und theures Gut sein um das Leben, sonst hätte uns der Herr nicht so tiefe Liebe dazu in's Herz gesenkt. Du kennst das alte Gleichniß, nach dem die Lebensstunden Samenkörner sind; der Eine schüttet sie nutzlos aus, der andre wirft sie unter Unkraut, daß schlimme Saat aufgeht. – Lieber Edward, säe Du sie in guten Grund; es muß so fürchterlich sein, mit dem Leben alles zu verlieren.

Nun unsre Insel wieder zugänglich ist, kommen Leute von nah und fern, um den Jammer zu beschauen und Hilfe zu bringen. Wunderliche Dinge kommen freilich mitunter hier an: eine Bibliothek aus lauter Rechenschaftsberichten von Waisenhäusern und Armen-Anstalten, ein kunstvolles Instrument, um Hasen zu tranchiren, – ich glaube nicht, daß Viele auf der Hallig wissen, wie ein Hase aussieht; – aber es kommt auch Schönes und Nützliches geschwommen und man darf hoffen, die zerstörten Wohnungen wieder zu füllen.

Ein Menschenleben hat die Fluth verschlungen, nur Eines darf mit Dank sagen, wer das grausige Toben von Sturm und Fluth gehört; es war der Junge des Fischer Klas, der seine Aepfel noch retten wollte, die er von der letzten Fahrt aus Tondern mitgebracht. Die alte blinde Martha war allein, hat allein ihren Weg auf den Dachboden gefunden und ist doch verschont geblieben. »Jetzt weiß ich gewiß, daß mein Jan noch lebt,« sagt sie zuversichtlich; »mich alte müde Frau hätte der Herr nicht übergelassen, wenn er nicht noch eine Freude für mich aufgehoben hätte,« und sie läßt sich diesen Glauben nicht nehmen.

Wir haben viel freundliche Einladungen erhalten, auf dem Festland zu verweilen, bis das Haus wieder hergestellt ist. Wir gedenken die einer Predigerfamilie in H. anzunehmen und wollen Mary, die sich freut wie ein Kind, längere Zeit dort lassen. Ob es ihr nicht schwer wird, sich wieder hier heimisch zu fühlen, wenn sie zu lange das bewegtere Leben, die reichere Natur draußen gesehen hat?

Dir, mein Junge, würde es wohl leichter, die Hallig als Deine Heimath anzusehen, wenn Dir der Weg in die weite See offen bliebe. Es scheint mir nach Deinen Briefen, daß auch Du etwas fühlst vom Heimweh der Halligbewohner und es freut mich, daß auch Du erfahren, wie man dies stille Fleckchen Erde lieb gewinnen kann.

Es wird uns ja auch noch gelingen, Dir die Laufbahn auf die See zu öffnen, nach der Dein Herz verlangt. Bedenke aber wohl, mein Sohn, welch wechselvolles Leben Du ergreifst. Und indeß benütze recht wohl Zeit und Gelegenheit, Dir innern Reichthum zu sammeln für eine Zeit, wo Du auf dem weiten Meere schwimmst; ein Gärtchen soll sich Jeder, der es kann, anlegen neben seinem Wohnhaus; ein geistiges Gebiet, darin er sich gerne ergeht, nicht um sich den Beruf zu entleiden, sondern um sich frisch dafür zu erhalten.

Und nun Gott befohlen, mein Edward; ob der Vater heute Zeit findet, Dir noch zu schreiben, zweifle ich. Da der Weg zur Kirche noch nicht frei ist, so hat er um so mehr zu thun, bis er nach Allen sieht, Alle tröstet, die die Fluth beschädigt und die gesandten Gaben zu vertheilen.

Behüt Dich Gott, mein Junge, denk an die Heimath Deiner Eltern mit dem sichern Trost: Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie wohl bleiben, Gott hilft ihr frühe.

Deine
treue Mutter.


Schluß.

Adele an Fräulein Dobler.

Meine liebe, alte Freundin!

Es war mein Wunsch und meine Absicht, auf der Reise, die ich nach so langer, langer Zeit wieder in das Heimathland meiner Jugend gemacht habe, auch bei Ihnen einzusprechen, da ich aus Ihrem letzten Brief gesehen, wie Sie jetzt manches von Beschwerden des Alters zu leiden haben. Es kam nicht dazu, ich habe mich so spät von meinem Kinde losreißen können, daß kein Umweg mehr möglich war. Zum Ersatz sollen Sie jetzt einen recht genauen Bericht über all unsre Schicksale haben, seit wir uns zum letztenmal geschrieben.

Sie wissen ja, um weit auszuholen, daß unsre Mary, Ihr Zögling, von klein auf immer Verlangen trug, nach dem farbenreichen Leben der Welt draußen, auch so lange sie es nur aus Büchern und Erzählungen kannte. Die Erscheinung eines jungen Mannes, der unsre Insel besuchte und sich sehr für das eigenthümliche Leben auf der Insel und – für das siebzehnjährige Pastorstöchterlein interessirte, hat wohl diese Sehnsucht noch lebendiger gemacht; wir dachten auf's Neue ernstlich daran, eine andere Stelle zu suchen, wenn ich auch wohl wußte, daß kein reiches und blühendes Land des Kindes stilles Herzweh heilen könne, mit dem sie oft hinübersah über die trübe Fluth.

Jener Fremde war ein junger Landwirth gewesen, der aus den Rheinlanden stammte und der auf einer Reise in Norddeutschland als Kuriosität die Halligen kennen lernen wollte. Ob auch auf ihn das stille Inselkind einen so tiefen Eindruck gemacht hatte, oder ob das Leben der Welt draußen in seinem Wechsel und seiner Bewegung das Bild meiner blonden Mary wieder in ihm verlöscht hätten? – ich weiß das nicht, der Herr hat über dunkle Fluthen den Weg gebahnt zu meines Kindes Glück.

Als ich mich mit dem Gedanken trug, Mary für einige Zeit in eine größere Stadt zu senden, da kam im Herbst die gewaltige Sturmfluth, der Sie, liebe Freundin, noch glücklich entgangen sind. Unser Edward hat Ihnen damals in unsrem Namen Bericht davon gebracht. Wir glaubten an Ueberschwemmung und Gefahr gewöhnt zu sein, aber, was die Schrecken des Todes sind, das habe ich in jener Nacht erfahren. Der Herr hat gnädig der Fluth Halt geboten, im Augenblick, als sie drohte, die letzten Pfeiler unsres Hauses zu stürzen.

Es war ein trauriger Anblick nachher; die halbzerstörte Insel, zertrümmertes Geräthe, beschädigte Häuser und der Grund mit Schlamm bedeckt. Ihnen, liebe Freundin, die Sie sich nie recht an unsre Hallig gewöhnen konnten, als sie noch in blühendem Zustand war, würde er wohl ganz trostlos erschienen sein. Man half sich nothdürftig; unser Kapitän, der mehr Erfahrung hatte, hatte Haus und Vorräthe besser verwahrt und nahm uns auf. Bald auch kamen viel theilnehmende Leute vom Land herüber, um die Zerstörung zu schauen und Hilfe zu bringen. Wir schickten uns an, die Einladung einer Predigerfamilie zu H. anzunehmen; unsre Mary sah gar bleich nach dem Schrecken, – da landete wieder ein Schiff mit theilnehmenden und neugierigen Fremden. Wir waren eben unweit der Landungsstätte, Mary hatte, wie sie immer that, wenn ein Schiff landete, ihre blauen Augen mit ihrem eignen tiefen Ausdruck auf die Ankommenden geheftet, da – überflog ein lichtes Freudenroth das liebe Gesicht meines Kindes, – unter den Fremden war der junge Rheinländer.

Er war fern von hier auf einer landwirthschaftlichen Akademie und die Kunde von unsrem Unfall wäre wohl schwerlich so weit gedrungen, wenn nicht ein junger Hamburger, der ihm nah befreundet war, ihm die Geschichte von der überschwemmten Hallig erzählt hätte. Da scheints, hat er erst wieder des Mädchens gedacht, und feurig und ungestüm wie die Jugend ist, bewog er den Freund, da er eben seine Studien beendet, mit ihm die Reise hieher zu machen, – nur der Merkwürdigkeit wegen.

Nun, liebe Fräulein Dobler, wenn Sie noch an jenen Sommer denken auf Schloß Rhönek, so wissen Sie vielleicht auch noch, wie ein paar verliebte junge Menschenkinder aussehen. Wir Alten sahen dies glückselige Wiedersehn, all das stille junge Glück, das daraus keimte, mit leiser Wehmuth an, als uns der Hamburger die Verhältnisse seines Freundes gelegentlich erzählt. Es handelte sich hier freilich nicht um ein Grafenkind und einen Pastor ohne Stimme, aber um einen Landwirth ohne Gut und ein armes Pastorstöchterlein, und wie weltfremd wir auch in unsrer Einsamkeit geworden sind, wir wußten doch, daß man draußen in der Welt, nach der unsres Kindes Sinn verlangte, nicht von der Liebe allein leben kann.

Aber – die Wunder waren noch nicht zu Ende; schade, daß Sie nicht mehr da waren, ich weiß, wie oft Sie geseufzt: »es geschieht eben so gar nichts hier!« Diesmal ist geschehen, Wunderbares genug!

Denken Sie noch an die blinde Marthe? sie ist uns immer alt erschienen, sieht aber jetzt, wo sie vierundachtzig ist, nicht viel anders aus, als vor 21 Jahren. Wissen Sie nicht, wie oft sie von ihren ertrunkenen Söhnen sprach, besonders von Einem, auf dessen Wiederkehr sie hoffte? Nun, dieser Jan hat alle Länder und Meere durchschifft, hat in der Südsee Schiffbruch gelitten und dort auf einer Planke auf weitem Meer und einsam auf einer öden Insel Freundschaft geschlossen mit einem Engländer, der ihn bewogen, mit ihm auf seine Besitzungen in Indien zu gehen. Jan hat scheint's nicht die tiefe Heimathliebe der Halligbewohner, war auch wenig des Schreibens kundig und ein Brief, den er seiner Mutter durch einen Seemann zuschickte, ist verloren gegangen; so kam's, daß sie keine Kunde von ihm erhielt.

Nun hat der Aufstand in Indien Mr. Seyton nach Europa getrieben und seinen treuen Freund mit ihm. Da wacht Jan seine Heimathliebe wieder auf und Seyton entschließt sich, mit ihm sein Eiland zu besuchen, so kommen die Beiden auch kurz nach der Sturmfluth an.

O, ich wollte, Sie hätten die Glückseligkeit der Mutter gesehen, die den wettergebräunten Seemann, der Allen fremd geworden, beim ersten Laut seiner Stimme erkannt hat; wie sie mit ihren magern Händen über sein Gesicht fuhr und lachte und weinte, und ihm erzählte vom Vater und den Brüdern, die lange todt sind, und wie sie von ihm geträumt. – Er hat nun der alten Mutter und der Schwester ihr Haus wieder aufbauen helfen und will nicht mehr von ihr gehen, so lange sie noch lebt.

Aber, ich bin nicht zu Ende mit Ueberraschungen; der Engländer hielt sich viel zu uns, da er mit uns gut sprechen konnte; da kam es denn bald zu Tag, daß ich die Tochter einer englischen Mutter bin, und er, – der einzige Verwandte, den ich auf Erden habe, der Bruder meiner seligen Mutter, der sich vor Jahren im Verdruß von ihr getrennt hatte. Er war nicht, wie Tante Hofräthin gemeint, von einem Gletscher herunter gefallen; hatte sich aber großen Expeditionen angeschlossen und endlich in Indien niedergelassen. Ich leide nicht mehr, daß man die Engländer stolz und kalt nennt; die Freude und Liebe, mit der der alleinstehende Mann die neugefundnen Verwandten begrüßte, war rührend; auch ich habe ihn lieben lernen, so herzlich, ohne Furcht, wie ich leider meinen armen Vater nicht lieben konnte und diese Liebe ist ein neues Glück für mich.

Und nun, liebe, alte Freundin, haben sich die Wege für mein Kind wunderbar geebnet, leichter als einst die meinigen.

In der blühendsten Gegend der schönen Rheinlande steht das Schlößchen, das meine Mary, nun ehrbare Frau Neuland, mit ihrem Gatten bewohnt. Er nennt sich den Verwalter des Onkel Seytons, aber es ist ihnen wohl wie in ihrem Eigenthum, als das sie es wohl auch ansehen dürfen.

Zu lernen hat sie da freilich inmitten des gesegneten Landes fast mehr, als ich vor Zeiten auf unsrer dürftigen Hallig; und auch ihr junger Gemahl, der aus lauter Freiheitsliebe sich in kein Amtsjoch spannen wollte, erfährt reichlich, daß es ohne ein »Muß« nicht geht auf Erden. Aber ein schönes, reiches Leben führen die Kinder, und wenn ich meine Mary so gar lieblich erblüht sehe in der milden Luft, so bin ich doch froh, daß sie kein weißes Seeröslein geblieben.

Onkel Edward hat seinen Sitz in dem alten Köln aufgeschlagen und führt von da ein heitres Wanderleben, wie es ihm zusagt. Ein Millionär, wie meine arme Ida, – die ich taub, kränklich, verstimmt und frühgealtert gefunden, – von ihrem amerikanischen Onkel erwartete, ist er nicht; aber für uns hat doch die Leichtigkeit, mit der er Geldfragen erledigt, etwas Fabelhaftes; Indien muß sich ihm doch als Goldgrube gezeigt haben; mein armer Vater!

Unser junger Edward, schon des Namens wegen des Onkels Liebling, schifft schon seit bald einem Jahr nach Herzenslust auf der See. Mit seinen Besuchen geht allemal ein helles Freudenlicht in unsrem stillen Hause auf.

Seit mein Mann vor einem Jahre unsre Tochter in unsrer alten Kirche getraut, und wir das Kind haben ziehen lassen mit unsrem Segen, haben wir zwei Alten gar stille zusammengelebt; unser Haus ist durch die Güte des Onkels und die Fürsorge unsrer Tochter stattlich hergestellt, die Zimmer heiter und behaglich eingerichtet. Unser »Garten in der Höhe« leuchtet noch immer in unvergänglicher Schönheit und wechselndem Glanze und unser kleines Gärtchen ist nicht blumenleer. Wir haben genug zu sinnen und zu reden, bis wir alle Wege durchgehen, auf denen der Herr uns so wunderbar geführt.

Aber seit wir in diesem Frühling unsre Kinder besucht und all die reiche Schönheit meiner Jugendheimath uns Auge und Herz erfreut hat, seither denken wir doch alles Ernstes daran, uns eine andre Heimath zu suchen. Ein Nachfolger für Theodor ist gefunden; ein Enkelsohn unsres Kapitäns, der, sobald er seine Studien vollendet, auf seiner Mutter Heimathinsel kommen will, wird gewiß der Gemeinde Ersatz sein. Onkel Edward macht uns die freigebigsten Anerbietungen. Theodor denkt an eine Pfarrstelle in seiner Heimath, obgleich er geheime Scheu fühlt, in einer andern Gemeinde zu predigen. Mein Ideal ist ein Häuschen im Grünen, »wo die blauen Berge stehn,« in der Nähe unsres Kindes; unser junger Seemann würde uns auch da finden. Da könnte Theodor seinen lieben Studien leben, und Gelegenheit zu gesegnetem Wirken gäbe es auch ohne Pfarramt. Wo wir auch hinkommen, liebe Fräulein Dobler, ein Stübchen, wo eine alte Freundin ihr Ruheplätzchen findet, das gibt es gewiß bei uns.

Theodor meint, er sei doch noch zu jung, um sich so zur Ruhe zu setzen; Andre aber denken, zweiundzwanzig Jahre auf einer Hallig sei wie fünfzig draußen.

Ob nun einer unsrer Plane sich erfüllt, oder ob uns eine Ruhestätte werden soll, hier einsam mitten im Meer, – ich weiß es nicht. Gott segne unser liebes Eiland, es ist uns eine Friedensheimath gewesen. Der Herr, der uns so treu geleitet durch trübe Fluthen zu stiller See, der wird uns einst finden, wo wir auch ruhen, und möge uns Alle zusammenführen zu ewiger Freude.

Ihre
Adele.



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