Ernst von Wildenbruch
Der Astronom
Ernst von Wildenbruch

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Drittes Kapitel

Ein so verdrießliches Gesicht hatte die alte Agathe vielleicht in ihrem ganzen Leben noch nicht gemacht, wie heute, zwei Tage nach der Abendgesellschaft bei Allbachs, als sie aus des Professors Arbeitszimmer trat. Er hatte nach ihr gerufen und gleich, als sie eingetreten, war er ihr »so besonders, so anders als sonst« erschienen, »beinah so wie jemand, der was auf'm Gewissen hat«. Er war vom Schreibtisch aufgestanden, ans Fenster getreten, hatte ihr den Rücken zugedreht, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und dann gesagt: »Sagen Sie mal, Agathe, wenn man nachmittags Damen zum Besuch hat, ist es dann richtiger, daß man Kaffee oder Schokolade vorsetzt?«

»Aber wer hat denn Damen zum Besuch?« war Agathe, nachdem sie die Sprache wiedergefunden hatte, herausgeplatzt.

»Ich will nämlich in den nächsten Tagen Herrn Doktor Allbach mit seiner Frau einladen –« hatte er darauf gesagt – dann war er ganz rot geworden, »und vielleicht ist auch noch eine andre Dame dabei.« 45

Da war's heraus! Diese »andre Dame« ging wie ein Brummkreisel in Agathens Hirn herum, so daß sie kaum die genügende Geistesgegenwart zusammenraffen konnte, um ihr Gutachten auf Kaffee abzugeben. Aber ihre Prüfungen waren damit noch nicht beendet. Denn eine halbe Stunde, nachdem sie des Professors Zimmer verlassen hatte, klopfte es an ihr eigenes Zimmer, in dem sie halb beleidigt und ganz verstört saß, und der Professor erschien auf der Schwelle.

»Sagen Sie mal, Agathe,« fing er wieder an, »mir ist eingefallen, steht nicht auf dem Boden oben eine ganze Kiste voll Porzellan von meinen Eltern her?«

Allerdings stand dort oben eine solche, und nun mußte Agathe mit dem Herrn Professor hinaufsteigen, und beide rückten aus einem Winkel eine Kiste hervor, auf der uralter Staub in faustdicken Schichten lag. Der Deckel wurde mit Anstrengung aufgebrochen, und aus der Kiste entstieg, in den Strohverpackungen, in denen es vor vielleicht zwanzig Jahren hineingelegt worden war, ein schönes altes Familienporzellan: Teller, Schüsseln, Terrinen und Tassen.

»Das ist ja eine vollständige Ausstattung,« sagte Doppnau, der ganz verblüfft vor seinem ungeahnten Reichtum stand. »Und da ist ja noch eine zweite Kiste? ob da auch Sachen drin sind?«

Auch diese zweite wurde aus dem Winkel gezerrt; sie war etwas kleiner, aber ebenso schwer wie die erste, und als Inhalt derselben enthüllten sich feine alte Damast-Tischtücher, Servietten und schweres altes Tafelsilberzeug für mehrere Bestecke.

»Ist denn so etwas erhört?« sagte der Professor; »da stehen all die Herrlichkeiten hier oben und verkommen. 46 Damit kann ich ja eine Gesellschaft von hundert Personen geben!«

Er hatte eins der Tischtücher aus der Kiste genommen und ausgebreitet.

»Wahrhaftig«, sagte er, »ein Glück, daß ich einmal darüber herkomme; der Damast fängt schon an zu vergilben und zu stocken; er muß ans Licht und an die Luft.«

Agathe hockte schweigend am Boden und entfernte die Strohhüllen von den einzelnen Porzellanstücken; der Professor trat hinzu und legte selbst mit Hand an. Ein bisher ungekanntes Wohlgefühl ging von seinen arbeitenden Fingerspitzen bis in sein Herz, das des Besitzes. Aus der lange verschlossenen Kiste stieg der Hauch der alten Zeit; das Porzellan war von altmodischer Gestalt; an viele der einzelnen Stücke knüpften sich Erinnerungen aus seiner Knabenzeit, die lange versunken und vergessen, jetzt beim Anblick derselben plötzlich wieder auftauchten. Da war eine alte Sauciere, mit einem sonderbar geschweiften, in einem Vogelkopf endigenden Griff, deren er sich gar wohl besann; hier eine alte Mostrichbüchse. Er betrachtete heimlich lächelnd den Deckel derselben, auf dem ein Türkenturban von Porzellan als Knopf angebracht war.

War es denn möglich, so etwas so gänzlich zu vergessen? Der Turban war blau bemalt gewesen, und der Kopf, den er umschloß, rot; die Farbe war nur in schwachen Andeutungen noch erkennbar, und er erinnerte sich, wie seine eigenen Kinderhände dazu getan hatten, sie abzugreifen. Denn so oft er das Mostrichbüchschen auf dem Tische erblickte, hatte er danach geampelt und gestrampelt.

Und jetzt, indem er eine alte Obstschale sich aus dem 47 Stroh herausschälte, war es ihm, als sähe er die Hände seiner Mutter wieder, die sie hielten, die schlanken Hände, an deren einem Finger ein schmaler Goldreif blinkte, wie ein nie verlöschender Liebesblick seines längst verstorbenen, kaum gekannten Vaters. Es war ihm, als tauchte über der alten Schale ihr Gesicht wieder auf, die blasse Stirn, von feinen, tiefen Furchen durchzogen, die er mit kindlich ahnungslosem Finger so manchesmal tastend nachgezählt, während sie still dazu gelächelt hatte. – Das leise Rauschen ihres Kleides glaubte er wieder zu hören, in das er so oft sich hineingedrückt; der Duft, der aus der alten Kiste stieg, umfing ihn wie der Duft der alten Heimat, wie die stille, eingeschlossene, anheimelnde Luft des häuslichen Lebens – und das alles so in den Winkel geschoben, so versunken während langer, langer Jahre, vergessen unter rastlosem Arbeiten und Ringen und Schaffen! Es überkam ihn plötzlich etwas, das er nie bisher gekannt, etwas wie ein unbestimmtes großes Sehnen, das ihm die Brust weitete, das ihm vom Herzen emporschwoll bis in den Hals – und er stand auf und ging stumm hinaus.

Mit nachdenklichen Blicken schaute die alte Agathe hinter ihm drein.

Hastigen Schrittes durchmaß der Professor das ganze Haus; Klemens war ausgegangen; es erschien ihm so geräumig und so einsam. Zum ersten Male fiel es ihm ein, daß es eigentlich eine Wohnung für eine Familie war: die Regierung hatte offenbar darauf gerechnet, daß der Direktor der Sternwarte ein verheirateter Mann sein würde. Jetzt mußte er beinahe lachen, indem er daran dachte, wie verschwenderisch er mit dem Raume umgegangen war: sein 48 Arbeitszimmer war ein Salon; Klemens' Stube über der seinigen gleichfalls ein Salon, und das zweifenstrige Zimmer, in dem die alte Agathe nach der Seite hinaus wohnte, konnte man füglich ebenso nennen.

Zum Herbste kam die Zeit, da Klemens auf die Universität ging – dann würde es noch einsamer als jetzt, und er mit der alten Agathe allein sein.

Und indem er so vom Flur in das Zimmer und aus dem Zimmer wieder auf den Flur ging und dem Widerhall seiner Schritte lauschte, überkam es ihn wieder, wie vorhin beim Anblick der alten Kiste, und der Gedanke stieg in ihm auf, wie anders das alles sein würde, wenn ein Frauenkleid in diesen öden Räumen rauschte, wenn der leichte Schall weiblicher Füße auf der Treppe und im Flur sich vernehmen ließe.

Es trieb ihn hinaus in den Garten. Die Bäume standen dunkelgrün im wolkenverhangenen, dämmernden Nachmittagslicht, regungslos wie in der Erwartung eines kommenden Ereignisses, vielleicht eines Gewitters, und die schwere, warme Luft trug ihm den Duft der Levkojen zu. Mit tiefen Atemzügen sog er den süßen Hauch, und plötzlich war es nicht der Duft der Blumen mehr, sondern ein anderer, heißerer, ein Duft, der in seiner Erinnerung geschlummert hatte und nun daraus hervorquoll, seine Nerven überrieselnd, seiner Sinne sich bemeisternd, so wie ein plötzlicher Trunk Wein einen fastenden Asketen berauscht, der Geruch der Menschheit, der Atem, den das eine Geschlecht zum anderen Geschlecht hinübersendet, der Duft des Weibes, neben dem er gesessen hatte vor zwei Tagen.

Er blieb jählings stehen, wie ein Mensch, dem etwas 49 Ungeahntes begegnet; er blickte umher, als fürchtete er, daß irgend jemand da sei, der irgend etwas gehört oder erraten haben könnte, und dann, von leidenschaftlicher Unruhe ergriffen, stürzte er ins Haus, setzte den Hut auf und schlug sich durch die hintere Gartenpforte hinaus in den Wald, der unmittelbar am Garten der Sternwarte beginnend, auf Meilen weit das hüglige Gelände der Umgebung bedeckte. Stürmenden Schrittes ging er dahin, durch die köstliche, grüne Fichteneinsamkeit; rot hinter den fernen Stämmen leuchtete die Glut der untergehenden Sonne, die mit letzten Strahlen durch die Wolken brach, und dieser Wald, den er so gut kannte, verwandelte sich ihm in ein Gebiet des Märchens und des Geheimnisses. Es war ihm, als müßte etwas Niegesehenes, Wunderbares in seinen Tiefen verborgen sein, und als würde er es sein, der es fände, sähe, entdeckte, wenn er nur hineindränge, immer tiefer, eifriger, und jetzt, indem er an eine Waldblöße gelangt war, auf welcher der Abendnebel zu steigen begann, würde er nicht gestaunt haben, wenn dort vor ihm Erlkönigs Tochter mit ihren Gespielinnen den Reigen geschwungen hätte.

Er wußte ja nun, wie es aussah, das bestrickende Weib; mit dunklen, blaugrünen Augen, halb gut und halb bös, halb sehnend und halb abstoßend, halb klug wie die Schlange und halb träumend wie ein Kind. – Er wußte ja nun den Namen der Zauberin, den niemand noch gekannt, und indem er sich aufatmend an den Stamm einer mächtigen Kiefer lehnte und mit träumerischer Hand von der schuppigen Rinde Stückchen abbrach, sprach er ihn vor sich hin: »Lucie, Lucie, Lucie.« 50



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