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Im Hause des Doktor Allbach sah es seit einigen Tagen etwas anders aus als bisher, und zwar seitdem Fräulein Lucie Immenhof als Gast in dasselbe eingezogen war und darin wohnte. Der Schwerpunkt der Hausordnung war verschoben; für gewöhnlich ruhte derselbe in der Person des Hausherrn, jetzt stellte Fräulein Lucie ihn dar. Sie hatte aus Berlin, wo sie früh verwaist, ohne Eltern und Geschwister in der Gesellschaft einer alten Anstandstante wohnte, ihre großstädtischen Lebensgewohnheiten mitgebracht, und die stimmten nicht ganz mit denen des Städtchens überein. In kleinen Städten geht man früh zu Bett, um früh aufzustehen – in Berlin macht man es umgekehrt.
Den Morgenkaffee, den Doktor Allbach zu früher Morgenstunde in Gemeinschaft mit seiner Frau einzunehmen pflegte, mußte er jetzt meistens allein trinken, da seine Gefährtin um diese Zeit mit tausend kleinen Besorgungen für den noch schlummernden Gast beschäftigt war. Sie hatte an Luciens Schlafzimmertür zu lauschen, ob sie auch noch schliefe, den Mädchen anzuempfehlen, daß sie leise sein und den Gast nicht 28 stören sollten; manchmal hatte sie auch ganz heimlich in das Gemach zu schlüpfen, um einen frischen Blumenstrauß hinein zu befördern, der die Erwachende begrüßen sollte.
Doktor Allbach ertrug sein Schicksal jedoch, ohne zu murren. Er war noch jung und empfand das heimlich süße Gefühl, das es dem Manne bereitet, einem weiblichen Wesen in seinen vier Pfählen Schutz und Obdach zu gewähren; namentlich, wenn dies weibliche Wesen schön ist, wie Fräulein Lucie Immenhof es war. Das Haus, das der Mann sich gründet, ist sein Reich, und es ist ein Gefühl ritterlichen Stolzes, den Frieden dieses Reiches einem schönen Geschöpf zuteil werden zu lassen, das sich ihm so ganz anvertraut, daß es sich darin entkleidet und zu Bett legt, und sich ihm in aller Hilflosigkeit des Weibes dahingibt.
Als Freundin der Frau Allbach, mit der sie sich seit den Kinderjahren kannte, war Lucie ins Haus gekommen, als Freundin des Herrn und der Frau Allbach wohnte sie jetzt darin, denn der Doktor brachte dem schönen, geistvollen Mädchen aufrichtige Verehrung dar.
Noch nie hatte er eine Frau gefunden, mit der er sich über wissenschaftliche Fragen so zu unterhalten vermochte, wie mit Lucie; er bewunderte das Interesse, mit dem sie ihm zuhörte, und den scharfen Verstand, mit dem sie Fragen stellte und Meinungen äußerte. Und zu dem allen kam jener unbestimmte Hauch der großen Welt, den sie wie einen feinen Duft um sich verbreitete, der aus der feinen Fügung ihrer Worte herausklang, in der freien Leichtigkeit ihrer körperlichen Bewegungen sichtbar wurde, und der den Bewohner der kleinen Stadt gewissermaßen berauschte.
Doktor Allbach war ein pünktlicher Mann in seinem 29 Beruf und daher auch an dem Morgen des Tages früh aufgestanden, welcher dem Abende folgte, an dem die Gebrüder Doppnau bei ihm zu Gaste gewesen waren.
Er war schon bei der zweiten Tasse und der Zigarre, als Frau Allbach hereingeschlüpft kam, um sich doch auch einmal nach ihrem vernachlässigten »armen Alten« umzusehen.
Sie fand ihn in die Morgenzeitung vertieft, die er bei ihrem Eintritt sofort beiseite legte.
»Wie steht's?« fragte er, »bist Du schon bei Fräulein Lucie gewesen?«
Frau Allbach hatte bereits zu ihr hineingespäht – Lucie schlief noch ganz fest; sie mußte, ihrer Gewohnheit nach, gestern abend noch lange gelesen haben, denn das Licht sei ganz herabgebrannt gewesen.
Die Erdbeerbowle gestern abend würde ihr doch gut bekommen sein? forschte der Arzt.
Frau Allbach hoffte so.
Der Doktor blickte eine Zeitlang schweigend in die Rauchwolken seiner Zigarre, dann sprang er auf. »Weißt Du,« sagte er, »was mich geradezu in Erstaunen setzt? Daß das Mädchen noch nicht geheiratet hat.«
Er ging im Zimmer auf und ab.
»Du kennst sie ja seit lange,« fuhr er fort, »sie hat wohl schon eine gehörige Menge Körbe ausgeteilt? Hm?«
»Ich habe nie etwas davon gehört,« erwiderte Frau Allbach.
Ganz überrascht blieb er stehen. »Was? Nicht? Es hätte noch niemand um sie angehalten?«
»Ich glaube nein,« versetzte sie.
»Aber wie ist das möglich?« fuhr Allbach auf, »sag' 30 mir nur. wie ist das möglich? Ich will ganz davon absehen, daß sie schön ist, daß sie Verstand hat für zehn, aber daneben, denk' ich, hat sie von ihrem Vater ein ganz hübsches Vermögen mitbekommen; sie steht ganz allein in der Welt, bringt ihrem Manne keine Familienverpflichtungen mit, keine Schwiegereltern –«
Frau Allbach zeigte ein etwas ungeduldiges Gesicht; er ging zu ihr und küßte sie.
»Du weißt ja, Annchen,« sagte er begütigend, »Deine Eltern sind so – so – das sind gar keine Schwiegereltern, sondern nur Eltern, überhaupt – aber was sind denn das für junge Männer in Berlin, wenn keiner sich das Mädchen holt?«
Frau Anna war aus Fenster getreten und blickte sinnend hinaus; jetzt wandte sie sich zurück.
»Ja siehst Du,« sagte sie, »es ist ein eigen Ding – alles, was Du sagst, ist ganz richtig, und ich will auch gar nicht behaupten, daß Lucie die Männer gleichgültig ließe, aber, es ist merkwürdig, aber wahr, die verheirateten Männer interessieren sich weit mehr für sie, als die unverheirateten – und das kann ihr schließlich nichts nützen,« fügte sie auflachend hinzu.
»Was Du sagst,« erwiderte ungläubig der Doktor.
»Du kannst es mir glauben,« fuhr sie fort, »ich habe es mehr als einmal bemerkt und mich selbst darüber gewundert; die verheirateten und die sehr viel älteren Männer, das sind ihre Anbeter; die jüngeren kommen an sie heran, flattern eine Zeitlang um sie herum – und plötzlich sind sie wieder fort.«
Allbach stampfte mit dem Fuß auf den Boden. 31
»Hab' ich es nicht immer gesagt,« rief er, »unser deutsches Männergeschlecht ist im Niedergang begriffen! Ein neuer Beleg für meine Behauptung. Auf der einen Seite geißelt man mit schalen Witzeleien die sogenannten Emanzipationsgelüste der Frauen, und auf der anderen läßt man die bedeutenden Mädchen sitzen und zwingt sie zu dem, was man ihnen vorwirft. Die Lucie ist ihnen ganz einfach zu klug und zu bedeutend, das ist des Pudels Kern; sie fürchten sich vor ihr.«
»Mag sein, daß Du recht hast,« entgegnete Frau Allbach, »ich habe immer das Gefühl gehabt, als wäre sie den Männern zu selbständig; sie lebt, ganz ohne irgend jemand zu fragen, gerade wie es ihr beliebt, macht Reisen in die Welt, liest Zeitungen, spricht über ernste Angelegenheiten mit, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen – und daran ist man bei uns zu Lande nun einmal nicht gewöhnt.«
»Weil wir Deutschen uns die Frau noch immer nicht anders denken können, als mit dem Strickstrumpf oder hinter dem Herd,« murrte der Doktor. »Die Herren fühlen ganz genau, daß der Mann, der mit solch einem Mädchen fertig werden soll, ein ganzer Kerl sein müßte, und das ist unbequem – natürlich.«
»Ich habe mir schon manchmal recht ernste Gedanken über die arme Lucie gemacht,« sagte Frau Anna. Sie blickte wieder zum Fenster hinaus: »über die erste Jugend ist sie ja doch auch hinaus.«
»Na, was das anbetrifft,« erwiderte Allbach, »so wollen wir uns nur beruhigen; die Natur hat, als sie ihr das Gesicht gab, einen gut geschnittenen Prägestock gebraucht, sie hat Züge, und solch ein Gesicht hält sich länger als die 32 Eintags-Gesichtchen, die nur von der Gnade und Barmherzigkeit der Zeit leben.«
»Du brauchst Dich nicht so zu ereifern,« sagte Frau Anna, »es hat noch niemand etwas anderes behauptet.«
Sie war rot im Gesicht geworden; der Doktor fühlte sich veranlaßt, wieder zu ihr zu gehen und ihr einen Kuß zu geben.
Dann trat eine Pause ein, Allbach zog sein Notizbuch hervor und überblickte die Reihe der Krankenbesuche, die er heute zu machen hatte.
»Weißt Du, was ich heute vorhabe?« fragte er nach einiger Zeit.
»Nun?«
»Ich werde zu Doppnau gehen und ihm sagen, er solle uns einmal seine Sternwarte zeigen.«
»Uns?« fragte Frau Allbach langsam zurück, »heißt das Dir und mir?«
»Und natürlich Fräulein Lucie,« entgegnete er.
Sie sah ihn mit listigem Lächeln schweigend an; der Doktor errötete ein wenig.
»Ich bin überzeugt, daß sie das sehr interessieren wird,« stotterte er.
Statt aller Antwort hob sie die Hand und drohte ihm mit langgestrecktem Zeigefinger.
»Na? Was soll's?« fragte er mit erkünstelter Unbefangenheit.
»O Du, Du, Du,« sagte Frau Anna.
Allbach ließ ein kurzes Lachen hören. »Mit was für Gedanken diese Frauen immer gleich bei der Hand sind,« sagte er. 33
Die Schlaguhr auf dem Kaminsims verkündete die neunte Stunde; Allbach wandte sich zur Tür, um sich zum Ausgehen fertig zu machen. Auf der Schwelle drehte er sich um, Frau Anna stand noch immer mit vielsagendem Lächeln mitten im Zimmer.
»Na und schließlich,« erklärte er, »es ist wahr, Doppnau ist auch ein ganz famoser Kerl – oder bist Du anderer Ansicht?«
»Ganz und gar nicht,« erwiderte sie, »und ich bin auch überzeugt, daß es Lucie außerordentlich interessieren wird.«
Der Doktor ging hinaus.
Als er auf dem Flur an der Tür vorüberschritt, hinter der Fräulein Lucie schlief, konnte er sich nicht enthalten, einen zärtlich bewundernden Blick auf die kleinen, zierlichen Stiefelchen zu werfen, welche dort, ihrer Gebieterin wartend, aufgestellt waren.
Wenige Minuten darauf trat Frau Anna bei Lucien ein.
In dem geräumigen Gemach herrschte noch das Halbdunkel; die Vorhänge an den Fenstern waren herabgelassen; vorsichtig spähte sie nach dem Bett, das quer im Zimmer stand.
»Komm nur herein,« ertönte vom Lager her eine helle Stimme, »ich bin schon lange wach.«
Die Arme unter dem Haupte gekreuzt, lang auf dem Rücken ausgestreckt, lag Lucie Immenhof da, mit klaren Augen ihrer Wirtin entgegenlächelnd.
»Darf ich die Gardinen öffnen?« fragte Frau Allbach.
»Nur zu,« entgegnete Lucie.
Das einströmende Licht beleuchtete die Gestalt eines schönen, ruhenden Weibes.
Sie stand nicht mehr in der ersten Jugendblüte, aber 34 unter der leichten Bettdecke zeichneten sich weiche, volle Körperformen ab, und die Züge des Gesichts, um welches sich das Federkopfkissen zu beiden Seiten emporbauschte, waren geistvoll, bedeutend und schön.
»Hast Du gut geschlafen?« fragte Frau Anna, indem sie an das Bett herantrat.
»Wie ein Sack,« erwiderte Lucie mit herzhaftem Gähnen – »setz' Dich doch drauf,« fuhr sie fort, als sie sah, wie Frau Anna nach einem Stuhl umherblickte und mit den Augen an dem Polsterschemel hangen blieb, auf dem Luciens Unterröcke und Strümpfe lagen.
»Ich zerdrücke Dir ja Deine Sachen,« entgegnete diese – »sieh nur, welche Pracht.«
Mit der sachverständigen Neugier der Hausfrau und Kleinstädterin betrachtete sie Luciens elegante Kleidungsstücke; sie ließ den spitzenbesetzten Saum des weißen Unterrocks durch ihre Finger gleiten, dann strich sie mit der flachen Hand über die langen Strümpfe von feiner weißer Baumwolle.
»Wie Seide,« sagte sie bewundernd, »wie Seide; ist das Berliner Arbeit?«
»Freilich,« erwiderte Lucie, die, ohne ihre Stellung zu verändern, der Freundin gleichgültig lächelnd zusah.
Endlich hatte Frau Allbach einen noch freien Stuhl entdeckt, den sie neben das Bett rückte. Lucie drehte sich auf die Seite, indem sie das Haupt, dessen schönes dunkles Haar lang aufgelöst herniederhing und das Kopfkissen überflutete, in die aufgestützte rechte Hand lehnte.
»Und Du sorglich waltende Hausfrau bist natürlich schon lange wieder auf den Beinen?« sagte sie, die klugen Augen, 35 in deren Tiefen der Schlaf noch wie ein verfliegendes Gewölk lag, auf Anna gerichtet.
»Man hat für seinen Mann zu sorgen,« versetzte Frau Allbach, beinah als ob sie sich entschuldigen müßte, »und für sein Haus –«
»Und für seinen faulen Logierbesuch,« unterbrach Lucie sie lachend, »o Du Heinzelmännchen! Von Gottes und Rechts wegen müßt' ich mich in Grund und Boden vor Dir schämen.«
Sie hatte den Oberleib aufgerichtet und umschlang den Hals der Freundin; die weiten Ärmel des Nachthemds glitten von den weißen, nackten Armen zurück; Frau Annas kleinbürgerliches Gesicht sah aus wie ein dürftiges Porträt in einem prachtvollen Rahmen.
Lucie hing sich mit der ganzen Wucht ihres vollen Oberleibes um Annas Nacken, so daß diese wie eine Weidenrute herabgebeugt wurde und sich mit den Händen auf die Bettkante stützen mußte, dazu lachte und kicherte sie wie ein neckischer Kobold.
»So,« sagte sie, indem sie Anna auf die sanften Augen küßte, »nun hab' ich wie ein Feinschmecker Dein Gesicht genossen, Deine Augen sind darin das Hübscheste.«
Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken und reckte und streckte die Glieder.
»O dies Talent zum Schlafen,« sagte sie, »ich glaube, es ist das einzige, das ich besitze.«
»Du hast wohl gestern abend noch lange gelesen?« fragte Frau Allbach, indem sie zu dem Nachttisch hinüberblickte, der neben dem Bette stand. Neben unzähligen zierlichen Kleinigkeiten, die eine elegante Frau mit sich führt, 36 um sie nicht zu gebrauchen, lag ein ziemlich dickleibiges, uneingebundenes Buch.
»Ja,« sagte Lucie gähnend, »ich habe einen Roman zu Ende gewürgt, um dann um so sicherer einzuschlafen.«
»Hübsch?« fragte Frau Anna.
»Ein deutscher Roman,« antwortete Lucie, »also versteht sich ja alles übrige von selbst. O diese deutschen Romane! Diese fürchterlichen deutschen Romane!«
Sie hatte die Füße gegen die untere Bettwand gestemmt und stampfte ungeduldig dagegen.
»Immer dieselbe Leier, mit ein paar neuen Modulationen, ohne eine neue Melodie. Zurechtgeschnitten wie ein Rechenexempel; statt des großen Ganges, den die Dinge ihrer Natur nach gehen müßten, immer der spanische Stiefelgang, den der Herr Verfasser sie machen läßt, damit sie hübsch artig an das Ziel gelangen, an dem er sie haben will. Und der unglückliche Leser, der dieses Ziel von der ersten Zeile an mit Händen greift! Wahrhaftig, man kommt sich vor wie ein Wanderer auf einer langweiligen Chaussee, der den Kirchturm auf eine Meile Entfernung sieht und die Pappeln zählt, die er noch hinter sich bringen muß, um bis ins Dorf zu kommen. Diese Männer, die in Druckform denken und in Aufsätzen reden! Und nun gar erst die Frauen! Diese Frauen! Das nennen sie das Leben! Das nennen sie Menschen! Diese Übermasse von Bildung und Büchergelehrsamkeit, und dieser gräßliche Mangel an Welterfahrung, an Lebenskühnheit und an Phantasie!«
Frau Anna saß ganz stumm und verschüchtert; sie fühlte sich zu fremd auf diesem Gebiete, um mitzureden.
Lucie lag wieder auf dem Rücken ausgestreckt, das 37 Gesicht emporgerichtet; ihre Augen hafteten an der Stubendecke. Und diese eben noch so lächelnden Augen erschienen verändert, ganz dunkel, und aus ihren Tiefen blickte die schmachtende Seele eines einsamen Weibes.
»Ich habe mir immer gewünscht,« fuhr sie wie mit sich selbst sprechend fort, »einmal in einem Buch eine Frauengestalt zu finden, bei der ich mir hätte sagen können: ›das bist Du‹ – ich hab' es mir so schön gedacht, sich einmal von einem wirklich bedeutenden Mann so bis in die tiefste Tiefe durchschaut zu fühlen; er hätte vielleicht nicht viel Gutes gefunden, ich glaub's beinah selbst, aber er hätte mich auch nicht zu schonen brauchen, unbarmherzig hätte er mit mir umgehen können, nur daß er mir wirklich über sei, nur daß er wirklich und wahrhaftig die Wahrheit sagte, nur das hätte ich fühlen müssen – aber ich habe nichts gefunden. – Ich habe gelesen – puh, es ist gräßlich darüber nachzudenken – ganze Leihbibliotheken, glaub' ich – aber ich habe nichts gefunden.«
»Aber es wird doch gewiß manches Schöne und Gute geschrieben?« wagte Frau Anna beschwichtigend einzuwenden.
»Laß mich mit dem Schönen und Guten,« rief Lucie ganz wild, »das sind Etiketten für gemanschten Wein! Ein Buch, das ich lese, soll mir etwas nützen, und unsere deutschen Romane nützen uns nichts! Nein, es ist mir klar geworden, die Kraft des deutschen Geistes wohnt heutzutage nicht in der deutschen Literatur; sie hat sich auf einen anderen Körperteil der deutschen Seele geworfen, auf die Wissenschaft.«
Frau Anna fuhr wie elektrisiert auf. »Siehst Du,« rief sie, »siehst Du, genau dasselbe hat neulich einmal, bevor Du 38 kamst, Professor Doppnau zu meinem Mann gesagt, als sie über solche Geschichten sprachen.«
Lucie hatte wieder die Arme unter den Kopf geschoben; ein feines spöttisches Lächeln umkräuselte ihren Mund. »Professor Doppnau, das Orakel,« sagte sie langsam.
»Aber wirklich beinah mit denselben Worten,« versicherte Anna.
In Luciens Augen waren von neuem alle Kobolde des Mutwillens aufgewacht; sie wälzte den schönen, trägen Leib wieder auf die Seite und schaute die Freundin mit blinzelndem Lächeln an.
»Aber Dein Professor Orakel«, sagte sie, »ist in der Sache Partei; was der sagt, das zieht nicht.«
»Professor – Orakel?« fragte Frau Anna.
»Ist er denn Euer Hausorakel etwa nicht?« entgegnete Lucie. Sie schob sich mit halbem Leibe aus dem Bett und legte den Kopf auf Annas Schoß. »Aber siehst Du, Anna,« sagte sie flüsternd, mit tief ernstem Ton, »was die deutschen Gelehrten anbetrifft, so muß ich Dir etwas beichten, etwas Geheimes, etwas Schauerliches –«
»Was meinst Du denn?« fragte Anna, die ganz unruhig wurde.
Lucie hob das Gesicht empor: »Sie sind langweilig, Anna, über die Maßen, furchtbar langweilig!« Sie umfaßte Anna und brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Nun, es wird doch wohl Ausnahmen geben,« wandte Frau Anna etwas empfindlich ein.
Lucie aber war nicht zu bändigen, wie ein wilder Wassernix schüttelte sie das flatternde Haar um den Kopf. »Traue meiner Erfahrung von so und soviel Berliner Abend- 39 und Mittaggesellschaften,« rief sie; »ich habe im vorigen Winter in einer Bankierfamilie, in welcher der Küchenzettel neben den feinsten Sommergemüsen stets die neuesten Berühmtheiten der Saison ausweist, zu Mittag gegessen und neben einem Afrikareisenden von orchestraler Berühmtheit gesessen. Keine Zeitung, die nicht spaltenlange Artikel über ihn gebracht hätte; der Herr des Hauses in lauter Wonne zerschmelzend wie Butter, die man an die Sonne stellt; alle Gäste in flüsternder Ehrfurcht und ich selbst, von der man schmeichelhafterweise angenommen hatte, daß ich den imposanten Gast am besten unterhalten würde, mit allen gezogenen Registern meines armen Geistes an seiner Seite – und siehst Du, nie im Leben habe ich mich öder gelangweilt, als in jenen Stunden! Ich weiß, daß hundert andre in meiner Lage sich ebenso gelangweilt haben würden wie ich und dann aufgestanden wären und ›welch ein interessanter, welch ein bedeutender Mann!‹ gelispelt hätten – aber ich konnte es nicht sagen und hab' es nicht gesagt und will's nicht sagen; denn die Wahrheit ist, daß der berühmte Reisende langweilig war wie ein unaufgeschnittenes Buch! Unzugänglich, wie sein schwarzer Erdteil selbst! Unausgiebig wie ein Barren Erz, den man einer Hausfrau in den Schoß legt, mit der freundlichen Aufforderung, damit ihre Wirtschaftsbedürfnisse zu besorgen!
»Ja, ich weiß schon, was Du sagen willst,« schnitt sie Anna, die den Mund zu einer Erwiderung spitzte, das Wort ab, »daß der Barren Gold ist; natürlich, das nehm' ich auf Treue und Glauben an, aber was nützt mir ein Riesenwust von Wissen und Gelahrtheit, wenn nie ein Körnchen davon abfällt, um mich armes hungerndes Menschenkind zu füttern? 40 Der Mensch soll dem Menschen nützen! ›Lies seine Werke‹, entgegnet man mir – aber ich will nicht immer lesen und lesen! In Deutschland wird schon viel zu viel gelesen! Ein bedeutender Mann soll nicht nur schreiben, sondern auch sprechen können! ›Salongeschwätz!‹ ruft man mir von oben herunter zu, ›Unter der Würde eines großen Geistes!‹ aber man braucht im Salon nicht zu schwatzen, man kann im Salon sehr gut reden, und die Männer sollten uns Frauen dankbar sein, die wir sie dazu nötigen. Ein gutes gesprochenes Wort ist mehr wert und bleibt lebendiger im Gedächtnis, als zehn Seiten guten geschriebenen Inhalts; wer schreibt, ist wie der Prediger auf der Kanzel, er hat immer recht; wer spricht, muß sich auf Einwendungen gefaßt machen. Und die Prediger auf der Kanzel sind langweilig und die Schreibemenschen desgleichen, und wer seinen Nebenmenschen langweilt, der – der begeht ein Verbrechen an der Menschheit, denn Langeweile tötet nicht bloß, sie richtet zugrunde, ruiniert, moralisch, geistig und körperlich! Langeweile ist gräßlich, fürchterlich, entsetzlich!«
Lucie hatte das Gesicht in das Federpolster gedrückt; dadurch bekam der erstickte Schall ihrer Worte etwas Dumpfes, Rauhes.
War das Scherz? War das Ernst? Es klang beinah wie eine verzweifelte Klage. Mit den Füßen stieß sie um sich wie ein wildes, ungebärdiges Kind, so daß die Decken umherflogen und die sorgliche Anna zutreten und ihren entblößten Körper zudecken mußte.
»Aber Lucie,« sagte sie, »Du wirst doch nicht so ungerecht sein und alle deutschen Gelehrten für langweilig erklären, weil Du einmal neben einem gesessen, der es vielleicht zufällig war?« 41
»Er war der erste nicht und nicht der letzte,« erwiderte Lucie, indem sie abermals den feierlichen Ton anschlug, durch den sich die gute Anna regelmäßig in die Falle locken ließ, »siehst Du, Anna, Freundin, Vertraute, da war ich vor kurzem bei Freunden zum Besuch, in einem Städtlein, so da liegt etliche Meilen von dem großen Berlin, und in dem Städtlein wohnte ein weiser Mann, welcher da kannte die Sonne, den Mond und den Gang aller Gestirne; und sie hatten ihn eingeladen zu einer Abendgesellschaft und hatten vor ihn hingestellt eine Erdbeerbowle, auf daß sein Herz fröhlich werde und sein Mund übergehen sollte von der Weisheit, so da in ihm aufgespeichert war, und mich hatten sie an seine Seite gesetzt, daß ich profitieren sollte von der Weisheit, so von ihm ausginge. Und er tat den Mund auf und siehe da – er war fürchterlich langweilig.«
Annas Augen waren ganz rund geworden vor staunendem Entsetzen.
»Das – geht wohl gar auf Professor Doppnau?« stammelte sie endlich.
Statt aller Antwort brach Lucie von neuem in schmetterndes Gelächter aus. Anna war kleinlaut geworden und zupfte an ihrem Kleide.
»Aber liebe, liebe Lucie,« brachte sie nach längerem Schweigen schüchtern hervor, »wo willst Du denn schließlich die Menschen finden, mit denen Du leben kannst?«
Ein plötzliches Zucken ging über Luciens Gesicht, ein Schatten sank über ihre Augen.
»O Weisheit,« sprach sie langsam und dumpf, »Du sprichst wie eine Taube und wie Anna Allbach. Es ist schrecklich, wenn einem nichts und niemand imponiert.« 42
Sie hatte die Arme über dem Gesicht verschränkt und lag so eine geraume Zeit, ohne einen Laut von sich zu geben. Dann fuhr sie mit einem Ruck empor und schwang sich mit beiden Beinen aus dem Bett.
»Genug jetzt des Träumens,« rief sie, »jetzt wollen wir leben, und dazu gehört zunächst, daß man aufsteht!« Mit einem Satz stand sie mitten im Zimmer und reckte und streckte ihre schöne Gestalt, welche das Nachtkleid bis zu den Knöcheln umfloß.
»Erkälte Dich nur nicht,« sagte Frau Anna, indem sie auf Luciens Füße blickte, die nackt auf den Dielen standen.
Lucie streckte beide Arme aus: »Für wen soll ich mich denn aufsparen?« sagte sie, »ich arme, einsame, stachlige Agave!«
Das Haupt in den Nacken geworfen, die Arme, mit aufwärts gerichteten Handflächen, in der Luft schwebend, begann sie plötzlich mit hallender Stimme zu deklamieren:
»Der Strauch im Walde, welchen der Frühling weckt,
Vergißt des Winters, schmückt sich mit frischem Grün,
Er beugt sich flüsternd zu den Genossen
Und freut sich mit ihnen des kommenden Sommers;
Für mich kein Lenz, kein Sommer, noch Wandel der Zeit,
Mich kleidet immer das gleiche, nie wechselnde Grün,
Und immerdar schreckt mit stachligen Blättern
Ewig jungfräulich die herbe Agave.«
Anna hatte ihr mit wortlosem Staunen zugehört. »Hast Du das gemacht?« fragte sie.
»Es ist mir so eingefallen,« erwiderte Lucie leichthin, »weil es mir so auf mich zu passen scheint.« 43
Jetzt stürzte Anna auf die Freundin zu und schloß sie in leidenschaftlicher Inbrunst in ihre Arme.
»Nein!« rief sie, indem sie den schönen, vollen Leib, der so gar nichts von der Rauheit der Agave hatte, an sich drückte, »so soll es nicht sein, Lucie, so soll es nicht sein!«
Mit zärtlichen Küssen bedeckte sie Luciens Gesicht.
Lächelnd blickte ihr diese in die Augen. »Oder soll ich mich aufsparen für ihn?« fragte sie, »für Deinen Professor Orakel, den Sterndeuter?«
Anna wurde feuerrot. Lucie legte ihr beide Hände auf die Schultern, und indem sie sie so in einiger Entfernung von sich festhielt, weidete sie sich an ihrer Verlegenheit.
»Ach Lucie,« sagte Frau Anna, »ich weiß nicht, was ich Dir sagen soll, nur glücklich möchte ich Dich sehen, recht innerlich glücklich. Und wahr ist es ja,« fuhr sie stockend fort, »es ist ein sehr bedeutender und ausgezeichneter Mann. – Allbach sagt es auch.«
Lucie drehte sich mit kurzem Lachen auf den Hacken um.
»Nun, wenn es so steht,« rief sie, »dann merke ich, daß Ihr freilich viel früher aufgestanden seid als ich! Geh jetzt und mach' mir eine Tasse Tee; ich will so rasch nachholen, als ich kann; ich komme Dir nach.«
Während Lucie sich auf den Bettrand setzte, um die Strümpfe anzuziehen, ging Frau Anna hinaus, Frühstück für sie zu bereiten. 44