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Kritik als Kunst.

Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit des Nichtstuns.

Ein Dialog.

Personen: Gilbert und Ernst.

Ort: Die Bibliothek eines Hauses auf Piccadilly mit der Aussicht auf den »Green Park«.

Erster Teil.

Gilbert.

( am Klavier).

Worüber lachst du, Ernst?

Ernst.

( blickt auf).

Über eine köstliche Geschichte in diesem Band Lebenserinnerungen, den ich auf deinem Tische fand.

Gilbert.

Was für ein Buch ist es? Ah, ich sehe schon. Ich habe es noch nicht gelesen. Ist es gut?

Ernst.

Je nun; ich habe während deines Spiels ein paar Seiten durchblättert und mich ganz gut unterhalten. Freilich liebe ich eigentlich keine modernen Memoiren. Im allgemeinen schreiben nur solche Leute Memoiren, die entweder kein Gedächtnis mehr haben, oder die nie etwas Gedenkenswertes taten. Doch zweifellos erklärt das ausreichend ihre Beliebtheit. Denn das Publikum fühlt sich am wohlsten, wenn eine Mittelmäßigkeit zu ihm redet.

Gilbert.

Ja, das Publikum ist merkwürdig duldsam. Es verzeiht alles, nur nicht das Genie. Doch ich muß gestehen, mir gefallen alle Memoiren. Nicht weniger wegen ihrer Form als wegen ihres Inhalts. In der Literatur ist nackter Egoismus wundervoll. Er bezaubert uns an den verschiedensten Leuten, an Cicero wie Balzac, an Flaubert und Berlioz, an Byron und Mad. de Sévigné. Wo und so oft wir ihn finden – und es geschieht merkwürdigerweise selten genug – begrüßen wir ihn mit Vergnügen und vergessen ihn nicht leicht. Die Menschen werden Rousseau ewig dafür lieben, daß er seine Sünden gebeichtet hat, und zwar keinem Priester, sondern der Welt. Die schlafenden Nymphen, die Cellini für das Schloß des Königs Franz in Erz goß, ja, der grüne und goldene Perseus, der auf der offenen Loggia in Florenz dem Monde das tödliche Schreckbild zeigt, das einst Leben in Stein verwandelte: das alles hat den Menschen nicht so viel Genuß bereitet, wie die Lebensgeschichte, in der der souveräne Schelm der Renaissance das Märchen seines Glanzes und seiner Schande erzählt. Was kümmern uns Meinungen, Charaktere, Taten? Mag ein Skeptiker reden, wie der edle Sieur de Montaigne, oder ein Heiliger, wie der verbitterte Sohn der Monica: Wer uns von seinen eigensten Geheimnissen erzählt, bezaubert unsere Ohren zu hören, unsere Lippen zu schweigen. Die Methode des Denkens, die der Kardinal Newman vertrat, – wenn anders man den Versuch, geistige Probleme durch Leugnung der Kompetenz des Intellekts zu lösen, Methode nennen kann – wird vielleicht, ja, ich glaube sicher, kein langes Leben fristen. Aber nie wird die Welt müde werden, jene verwirrte Seele auf ihrem Wege von Finsternis zu Finsternis zu begleiten. Die einsame Kirche zu Littlemore, wo »der Hauch des Morgens feucht und der Andächtigen wenige sind«, wird ihr stets teuer bleiben, und so oft die Menschen das gelbe Löwenmaul an der Mauer des Trinity College blühen sehen, werden sie des anmutigen Studenten denken, der in der sicheren Wiederkehr der Blumen eine Prophezeiung sah, daß er ewig bei der Gütigen Mutter seiner Tage weilen werde – eine Prophezeiung, deren Erfüllung der Glaube in Weisheit oder Torheit nicht zuließ. Ja, die Selbstbiographie ist unwiderstehlich. Selbst der arme, alberne überspannte Sekretär Pepys Anm.: Samuel Pepys, Esq., F. R. S. Admiralitätssekretär unter Karl I. und Jakob II. Die Memoiren erschienen erst 1825, etwa 150 Jahre nach seinem Tode. D. Ü. fand durch sein Plappern den Weg zu den Unsterblichen und im Bewußtsein, daß die Indiskretion der bessere Teil des Wertes ist, drängt er sich unter ihnen: in jenem »rauhen Purpurgewand mit goldenen Knöpfen und gerafften Spitzen«, das er uns so gern beschreibt, vollständig zu Hause, schwätzt er zu seinem und unserem unendlichen Vergnügen von dem indischblauen Unterrock, den er seiner Frau gekauft hat, von dem guten »Schweinsgekröse« und dem »netten französischen Kalbsfrikassee«, das er liebte, von seinem Kegelschieben mit Will Joyce, von seiner Jagd nach Schönheiten und davon, wie er eines Sonntags Hamlet rezitierte oder wie er Wochentags die Violine spielte, und noch von vielen anderen schlimmen oder trivialen Dingen.

Auch im wirklichen Leben hat ein solcher Egoismus seine Reize. Wer über andere redet, ist meistens langweilig. Wer von sich erzählt, ist fast immer interessant. Wenn man ihn zuklappen könnte, wie ein Buch, dessen man müde ist, er wäre ganz vollkommen.

Ernst.

In diesem Wenn liegt manches Wahre, würde Touchstone sagen. Aber meinst du im Ernst, daß jeder sein eigner Boswell werden sollte? Was würde aus all den fleißigen Arbeitern, die für Erinnerungen und Biographien sammeln?

Gilbert.

Was ist aus ihnen geworden? Sie sind nicht mehr und nicht weniger als die Pest jeder Zeit. Jeder große Mann hat heute seine Jünger, und immer beschreibt sein Leben – Judas.

Ernst.

Aber mein lieber ...

Gilbert.

Es ist so, leider! Früher erhoben wir unsere Helden zu Göttern, jetzt ziehen wir sie in den Staub der Erde nieder. Volksausgaben großer Bücher können wundervoll sein, aber Volksausgaben großer Männer sind einfach abscheulich.

Ernst.

Darf ich fragen, auf wen du anspielst, Gilbert?

Gilbert.

O, auf alle unsere Literaten zweiten Ranges. Uns überläuft eine Schar von Menschen, die beim Tode eines Malers oder Dichters zugleich mit dem Sargmacher ins Haus stürmen. Sie vergessen, daß ihre erste Pflicht ist, die stumme Person zu spielen. Aber nicht von ihnen laß uns reden. Sie nähren sich nur vom Abfall der Literatur. Der eine holt sich den Staub – der andere die Asche der Toten, doch an die Seele können sie nicht rühren. – Aber jetzt will ich dir Chopin spielen, oder Dvorak. Soll ich dir eine Phantasie von Dvorak vorspielen? Er schreibt leidenschaftlich und seltsam farbenreich.

Ernst.

Nein! Gerade jetzt möchte ich keine Musik hören. Sie ist viel zu unbestimmt. Übrigens führte ich gestern die Baronin Bernstein zu Tisch. Sonst ist sie reizend, aber gestern bestand sie darauf, über Musik zu reden, als wäre sie in deutscher Sprache geschrieben. Nun mag Musik klingen wie sie will, zum Glück klingt sie nie auch nur entfernt wie deutsch. Einige Formen des Patriotismus sind doch geradezu erniedrigend. Aber nein, Gilbert! nicht mehr spielen. Dreh dich um und sprich mit mir. Laß uns plaudern, bis der weißgehörnte Tag ins Zimmer steigt. Du hast ein wundervolles Etwas in deiner Stimme.

Gilbert.

( steht vom Klavier auf).

Ich bin heute nicht in der Stimmung, zu plaudern. Wie häßlich, daß du lachst! Wirklich, ich bin nicht in der Stimmung. Wo sind die Zigaretten? Danke schön. Wie köstlich sind diese Affodills! Wie aus Bernstein und kühlem Elfenbein gedreht. Wie Werke Griechenlands aus bester Zeit. Wie war die Geschichte des büßenden Akademikers, über die du lachtest? Erzähle sie mir. Wenn ich Chopin gespielt habe, meine ich immer, ich hätte über Sünden geweint, die ich nicht beging, und über Tragödien getrauert, die ich nie erlebte. Mir scheint, die Musik wirkt immer so. Sie schafft uns eine Vergangenheit, die wir nicht kannten, und füllt uns an mit dem Gefühl von Leiden, die unseren Tränen verborgen waren. Ich könnte mir jemanden denken, der das alltäglichste Leben geführt hätte, und bei den Klängen seltsamer Töne plötzlich entdeckte, wie seine Seele ohne sein Wissen durch furchtbare Erfahrungen gegangen wäre und schreckhafte Freuden erlebt hätte, oder wildromantische Liebe gekannt und große Entsagungen.

Drum erzähle mir deine Geschichte, Ernst. Du mußt mich aufheitern.

Ernst.

O, ich wüßte nicht, daß sie irgend bedeutend wäre. Doch mir scheint, sie zeigt vortrefflich, wie wenig im Grunde die ganze Kunstkritik wert ist. Es scheint, daß eine Dame den »büßenden Akademiker, wie du ihn nennst, einmal in allem Ernst gefragt hat, ob sein berühmtes Gemälde – etwa »Frühlingstag bei Whiteley« oder »Haltestelle des letzten Omnibus« oder etwas Ähnliches – ganz mit der Hand gemalt sei.

Gilbert.

Und stimmte das?

Ernst.

Du bist unverbesserlich. Aber, im Ernst gesprochen, wozu nützt die Kunstkritik? Warum kann man nicht den Künstler sich selbst überlassen, wenn er will, eine neue Welt zu schaffen, oder wenn nicht, die schon bekannte Welt abzuspiegeln? Ich denke, wir wären ihrer längst müde, wenn nicht die Kunst sie mit ihrem feinen Sinn für Auswahl gleichsam für uns reinigte und auf Augenblicke vollkommen machte. Mir scheint, die Phantasie umkleidet sich mit Einsamkeit (wenigstens sollte sie es) und schafft am liebsten in Schweigen und Absonderung. Warum den Künstler mit dem lauten Geschrei der Kritik stören? Wie sollte es denen, die nicht schaffen können, anstehen, den Wert schöpferischer Arbeit abzuschätzen? Was können sie davon verstehen? Und ist eines Mannes Werk verständlich, so ist die Erklärung unnötig – –

Gilbert.

Und ist sein Werk unverständlich, so ist es ruchlos, es zu erklären.

Ernst.

Das habe ich nicht gesagt.

Gilbert.

Ah, aber du hättest es sagen sollen. Uns sind heute so wenig Geheimnisse geblieben, daß wir keines entbehren können. Die Anhänger der Browning-Gesellschaft, scheint mir, erklären wie die Theologen der Broad Church-Partei oder die Verfasser der Walter Scotts Great Writers' Series so lange an ihrer Gottheit herum, bis nichts mehr übrig bleibt. Wo wir hofften, in Browning einen Mystiker zu haben, versuchten sie zu zeigen, daß er nur unklar stammelte. Wo wir glaubten, er habe etwas zu verbergen, bewiesen sie, daß er kaum etwas zu offenbaren hatte. Doch ich rede nur von seinen einzelnen Werken. Als Gesamtheit betrachtet, war er groß. Er gehörte nicht zu den Olympiern und hatte alle Schwächen eines Titanen. Er konnte nicht überschauen, und selten nur fand er seine Melodie. Sein Werk trägt die schlimmen Spuren von Kampf und gewaltsamer Anspannung. Sein Weg führte nicht aus der Erregung zur Gestaltung, sondern vom Gedanken zum Chaos. Und doch war er groß. Man hat ihn einen Denker genannt, und sicher dachte er stets, und immer dachte er laut. Aber nicht der Gedanke bezauberte ihn, sondern nur der Prozeß des Denkens. Er liebte die Maschine, nicht, was die Maschine schafft. Der Weg, auf dem der Narr zu seiner Narrheit kommt, war ihm so reizvoll, wie des Weisen letzte Weisheit. Der feine Mechanismus des Geistes bezauberte ihn so sehr, daß er die Sprache schmähte und sie als unvollkommenes Ausdrucksmittel ansah. Der Reim ist im welligen Hügellande der Muse ein herrliches Echo, das, seiner eigenen Stimme nachschaffend, Antwort tönt. Er ist in den Händen des wirklichen Künstlers nicht bloß ein formales Element metrischer Schönheit, sondern er wird zum vergeistigten Träger des Gedankens und der Leidenschaft, der eine neue Stimmung schaffen kann und einen frischen Strom des Denkens entfesselt. Oder er öffnet durch die bloße Schönheit und Gewalt des Klanges goldne verschlossene Türen, an die auch die Göttin Phantasie vergebens klopfte. Er erhebt des Menschen Stammeln zur Sprache der Götter. Aber in Brownings Händen wurde diese einzige Saite, die wir der Leyer der Griechen hinzufügten, wurde der Reim zum grotesken, häßlichen Mantel, mit dem er bisweilen gleich einem schlechten Komödianten in der Dichtung Maskerade spielt. Es gibt Augenblicke, wo er uns durch schreckliche Mißtöne verwundet. Ja, wenn er die Saiten seiner Leyer zerreißen muß, um zu seiner Musik zu kommen, so zerreißt er sie, und nun schlagen sie in Mißakkorden hin und her, und es kommt keine griechische Cicade, um sich auf das Horn seiner Leyer zu setzen und mit den Tönen schwingender Flügel den Rhythmus vollkommen, die Sprünge weniger rauh zu machen. Und doch war er groß. Und ob er auch die Sprache in unedlen Lehm verwandelte, er formte aus ihr Männer und Frauen, die leben. Seit Shakespeare kam keiner Shakespeare so nahe wie er. Konnte Shakespeare mit Millionen Lippen singen, so konnte Browning mit tausend Munden stammeln. Noch jetzt, da ich rede und nicht gegen ihn, sondern für ihn rede, gleiten durch diese Räume die Wesen, die er erschuf. Dort schleicht Fra Lippo Lippi, und seine Wangen glühen vom heißen Kusse eines Mädchens. Dort steht der finstre Saul, und in seinem Turban glänzen die königlichen Saphire. Mildred Thresham ist da und, gelb vor Haß, der spanische Mönch und Blougram, Ben Esra und der Bischof von St. Praxed. Setebos' Brut lallt dort im Winkel, und Sebaldus hört Pippa vorübergehen und er schaut in Ottimas hagres Gesicht, und Ekel erfaßt ihn vor ihr, vor seiner Sünde, vor sich. Bleich, wie sein weiß-seidenes Wams, schaut mit verträumten Verräteraugen der König auf Strafford, den Allzugetreuen, der nun seinem Schicksal entgegengeht. Andrea schaudert, da er den Pfiff seiner Vettern im Garten hört, und gebietet seinem herrlichen Weibe, hinabzusteigen.

Ja, Browning war groß. Und wie wird er im Gedächtnis der Menschen leben? Als Dichter? O nein, nicht als Dichter! Man wird von ihm reden, als von einem, der Erzählungen schrieb, und unter ihnen wird er vielleicht der erste sein. Sein Sinn, dramatische Situationen zu erraten, ist ohnegleichen, und fand er auch nicht auf seine eigenen Fragen die Antwort, so verstand er doch, Probleme aufzustellen; und was kann ein Künstler mehr tun? Als Bildner von Charakteren steht er als nächster hinter dem, der Hamlet schuf. Wäre er klar gewesen, er hätte neben ihm thronen können. Der einzige, der würdig ist, an dem Saum seines Kleides zu rühren, ist George Meredith. Meredith ist ein Browning in Prosa. Doch auch Browning! Ihm war der Vers ein Mittel, Prosa zu schreiben.

Ernst.

Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, aber es liegt nicht alles in ihnen. In mancher Hinsicht bist du ungerecht.

Gilbert.

Es ist schwer, gegen das, was man liebt nicht ungerecht zu sein. Doch laß uns zu unserem besonderen Ausgangspunkt zurückkehren. Was sagtest du doch?

Ernst.

Ganz einfach: daß es in den besten Zeiten künstlerischer Kultur keine Kunstkritik gegeben hat.

Gilbert.

Ich glaube, die Bemerkung habe ich schon gehört, Ernst. Sie hat alle Lebenskraft eines Irrtums und alle Anhänglichkeit eines lästigen alten Freundes.

Ernst.

Sie ist wahr! Ja, du brauchst nicht so mutwillig mit dem Kopf zu schütteln. Sie ist völlig wahr! In den besten Tagen der Kunst gab es keine Kunstkritik. Der Bildhauer schlug aus dem Marmorblock den großen, weißgliedrigen Hermes, der in ihm schlief. Töner und Vergolder gaben der Statue Farbe und Leben, und wenn die Welt sie sah, betete sie an und verstummte. Er goß das glühende Erz in die Form von Lehm, der Strom roten Metalls erstarrte in edlen Wölbungen und erhielt die Form der Gottesgestalt. Mit farbigem Schmelz oder geschliffenen Steinen gab er blinden Augen Gesicht und Leben. Unter seinem Grabstichel kräuselten sich die dunklen Locken. Und wenn dann der Sohn der Leto im dämmrig farbigen Tempel oder in sonnendurchfluteter Säulenhalle auf seinem Piedestale stand, dann ward allen, die vorübergingen ἁβρῶς βαίνουτες διὰ λαμπροτάτου αἰθέρος eine neue Macht kund, die in ihr Leben griff, und sie gingen wie im Traum oder mit dem Gefühl fremdartiger, jäher Freude heim oder an die Arbeit ihres Tages. Vielleicht auch zogen sie aus den Toren der Stadt hinaus auf die Wiese der Nymphen, wo der junge Phädrus badete, und wenn sie dort auf weichem Grase lagen, zu Füßen großer Platanen, die im Winde flüsterten, oder unter blühendem Agnus castus, dann sannen sie über die Wunder der Schönheit und verstummten vor nie gefühlter Scheu. Damals war der Künstler frei. Aus dem Bette des Flusses nahm er den feinen Ton und formte in seinen Händen mit einem Stabe aus Holz oder Bein so köstliche Gestalten, daß das Volk sie den Toten als Spielzeug ins Grab gab; und wir finden sie heute in den staubigen Gräbern auf dem gelben Hügelhange von Tanagra. Noch tragen sie das matte Gold und das bleichende Rot auf Haar und Lippen und Gewand. Auf den frischen Bewurf einer Wand, der mit leuchtendem Bleirot gefärbt oder mit Milch und Safran gemischt war, malte er sie, die mit müden Füßen auf dem weißgestirnten Purpurgrund der Asphodeloswiese wandelte, sie, in deren Augen der ganze Trojanische Krieg beschlossen lag, Polyxena, Priamos' Tochter; oder er bildete Odysseus, den weisen, den listigen, wie er sich mit engen Stricken an den Mastbaum fesseln ließ, um ungefährdet dem Sang der Sirenen lauschen zu können, oder wie er am klaren Wasser des Acheron wandelte, wo die Geister der Fische über den Kieselgrund huschten: oder er zeigte die Perser, die, bekleidet mit Hosen und Mitra, bei Marathon vor den Griechen flohen, oder die Galeeren, die mit ehernen Schnäbeln in der kleinen Bucht von Salamis aufeinanderprallten. Er zeichnete mit dem Silberstift oder mit Kohle auf Pergament und künstlich behandeltes Cedernholz. Auf Elfenbein und auf rosafarbenen Ton malte er mit Wachs, das er in Olivenöl löste und mit heißem Eisen fixierte. Holz und Marmor und Leinwand schuf er zu Wundern um, wenn er mit seinem Pinsel darüber hinflog. Da aber das Leben sein eigenes Bildnis sah, verstummte es und wagte nicht, zu reden. Ja, alles Leben gehörte ihm zu eigen, von dem Händler auf dem Markte bis zum Hirten, der im Mantel auf dem Hügel lag, von den Nymphen im Lorbeerbusch und dem Faun, der am Nachmittage die Flöte bläst, bis zu dem König, den auf ölglänzenden Schultern in langer, grün verhangener Sänfte Sklaven trugen und mit Pfauenwedeln fächelten. Männer und Frauen, auf deren Antlitz Schmerz oder Freude lag, zogen vor ihm vorüber. Er aber sah sie, und ihr Geheimnis ward das seine. Durch Form und Farbe schuf er eine Welt.

Aber auch die kleinste Kunst war sein Reich. Er hielt die Gemme gegen das wirbelnde Rad, der Amethyst ward zum purpurnen Lager des Adonis, und quer durch den geäderten Sardonyx jagte Artemis mit ihren Rüden. Er hämmerte Rosen aus Gold und wand sie zusammen zum Halsschmuck oder zur Armspange. Er hämmerte goldene Kränze für des Siegers Helm, oder Flimmerbesatz für tyrische Kleider oder Totenmasken der Könige. Auf dem Gehäuse des silbernen Spiegels grub er Thetis ein, die die Nereïden halten, oder die liebeskranke Phaidra mit ihrer Amme, oder Persephone, die, des Gedenkens müde, Mohnköpfe in ihre Haare flicht. In seinem Schuppen saß der Töpfer, und unter seinen Händen wuchs die Vase von der stillen Scheibe empor. Fuß und Stil und Henkel zierte er dann mit Mustern anmutiger Olivenblätter, mit großem Akanthus oder mit Reihen schwellender, überschäumender Wogen. Dann malte er rote und schwarze Gestalten: Jünglinge im Ringkampf oder im Wettlauf, Helden in voller Rüstung mit wappengeschmückten Schilden und seltsamen Visieren, die auf muschelförmigem Wagen stehen und sich über die bäumenden Rosse beugen, Götter beim Mahl oder Wunder verrichtend, Heroen in ihrem Siegesglanz und in ihren Leiden. Oder er ätzte mit dünnen roten Linien auf weißem Grunde den harrenden Bräutigam ein und die Braut und Eros, der sie umflattert gleich einem Engel Donatellos, – ein kleines lachendes Wesen mit goldenen oder blauen Flügeln. Auf die gewölbte Seite schrieb er dann wohl den Namen seines Freundes, und die Worte ΚΑΛΟΣ ΑΛΚΙΒΙΑΔΗΣ oder ΚΑΛΟΣ ΧΑΡΜΙΘΗΣ erzählen uns die Geschichte seiner Tage. Aber auf dem Rand der weiten, flachen Schale zeichnete er den rasenden oder den ruhenden Löwen, wie seine Phantasie es wollte. Von dem zierlichen Salbfläschchen lacht Aphrodite uns an, die sich schmückt, und, umgeben von nackten Mänaden, tanzt Dionysos mit bloßen weinfeuchten Füßen um den Mischkrug, während gleich einem Satyr der alte Silen sich auf schwellenden Fellen spreizt, oder den magischen Thyrsos schwingt, den ein verwitterter Tannenzapf krönt und dunkles Efeulaub umwindet. Und niemand kam, den Künstler in seinem Werk zu stören. Kein leichtfertiges Geschwätz verwirrte ihn. Er wurde nicht durch Meinungen belästigt. Am Ilyssos, mein lieber Gilbert, gab es keine törichten Kunstkongresse, die den Provinzen den Provinzialismus brachten, und die Mittelmäßigkeit lehrten, wie sie schelten konnte. Am Ilyssos gab es keine langweiligen Kunstzeitschriften, in denen die Unermüdlichen von Dingen schwätzen, die sie nicht verstehen. An den schilfbewachsenen Ufern jenes kleinen Flusses machte sich kein Journalismus lächerlich, indem er die Stimme des Urteils für sich in Anspruch nahm, während er im Dock sein Daseinsrecht zu beweisen hätte. Die Griechen kannten keine Kunstkritik.

Gilbert.

Mein lieber Ernst, du bist köstlich; aber deine Ansichten sind schrecklich verkehrt. Ich fürchte, du hast auf die Reden eines Älteren gehört. Das ist immer gefährlich, und wenn du es zur Gewohnheit werden läßt, so wirst du finden, daß es jede geistige Entwickelung hemmt. Es ist nicht meine Sache, den Journalismus zu verteidigen. Er rechtfertigt sich selbst nach dem großen Darwinschen Gesetz der Auslese: das Gemeinste überlebt. Ich habe es nur mit der Literatur zu tun.

Ernst.

Und welcher Unterschied herrscht zwischen Journalismus und Literatur?

Gilbert.

O, die Journalisten kann man nicht lesen, und die Literatur liest man nicht. Das ist der ganze Unterschied. Aber deine Behauptung, die Griechen hätten keine Kunstkritik gehabt – dessen sei versichert – ist einfach widersinnig. Man könnte richtiger sagen: die Griechen waren ein Volk von Kunstrichtern.

Ernst.

Wirklich?

Gilbert.

Ja, ein ganzes Volk von Kunstrichtern. Doch ich möchte die köstliche Phantasie nicht vernichten, die du von den Beziehungen hellenischer Künstler zum kritischen Geist ihrer Zeit entworfen hast. Ausführlich zu schildern, was sich nie ereignete, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern das unveräußerliche Recht jedes wirklichen Kulturmenschen. Ich denke noch weniger daran, Gelehrsamkeit auszukramen. Das ist entweder Anmaßung des Narren, oder der Beruf der geistig Untätigen. Die sogenannte bildende Unterhaltung aber ist nichts als ein törichter Versuch noch törichterer Philanthropen, den gerechten Groll der niedrigsten Gesellschaftsschichten zu entwaffnen. – Nein! Ich will dir einen tollen scharlachnen Übermut Dvoraks spielen. Die bleichen Gebilde der Teppiche lächeln uns an, und die schweren Lider meines Bronce-Narkissos sind zum Schlafe geschlossen. Laß uns nicht so feierlich reden. Ich weiß nur zu gut, daß wir in einer Zeit leben, wo nur die ödesten Köpfe ernst genommen werden, und ich lebe in ewiger Furcht, man könnte mich einmal nicht mißverstehen. Bringe mich nicht in die erniedrigende Lage, dir nützliche Belehrung geben zu müssen. Unterricht ist etwas Wundervolles. Aber von Zeit zu Zeit sollte man sich daran erinnern, daß nichts wissenswert ist, was man lehren kann. – Durch die Spalte der Vorhänge sehe ich den Mond wie ein ausgeschnittenes Stück Silber. Gleich goldenen Bienen umschwärmen ihn die Sterne, und der Himmel ist ein harter, hohler Saphir. Laß uns in die Nacht hinausgehen. Denken ist herrlich – aber herrlicher ist das Abenteuer. Wer weiß? Vielleicht treffen wir gar Prinz Florizel von Böhmen und hören die schöne Cubanerin, die uns zuruft, sie sei nicht, was sie scheine.

Ernst.

Du bist furchtbar launisch. Ich bestehe darauf, mit dir über dieses Thema zu reden. Du sagtest, die Griechen seien ein Volk von Kunstrichtern gewesen. Was haben sie uns an Kunstkritik überliefert?

Gilbert.

Mein lieber Ernst! Wäre auch nicht das kleinste Stück von Kunstkritik aus hellenischer oder hellenistischer Zeit auf uns gekommen, es wäre darum nicht minder wahr, daß die Griechen ein Volk von Kunstrichtern waren. Sie haben die Kunstkritik erfunden, wie sie jede Kritik erfanden. Denn was verdanken wir im Grunde den Griechen? Doch wohl den kritischen Geist! Und diesen kritischen Geist, den sie in Fragen der Religion und Wissenschaft, der Ethik und Metaphysik, der Politik und Erziehung betätigten, ihn wandten sie auch auf die Kunst an. Ja, in den beiden höchsten und wichtigsten Künsten haben sie uns das fehlerloseste kritische System hinterlassen, das die Welt je gesehen hat.

Ernst.

Und was nennst du die höchsten und wichtigsten Künste?

Gilbert.

Das Leben und das Schrifttum. Das Leben und den höchsten Ausdruck des Lebens. – Die Grundsätze des Lebens, wie sie die Griechen aufstellen, können wir nicht mehr befolgen; denn wir leben in einer Zeit, die durch falsche Ideale verderbt ist. Die Grundsätze, die sie für das Schrifttum aufstellen, sind oft so fein, daß wir sie kaum verstehen. Sie erkannten, daß die vollkommenste Kunst die ist, die das Leben in all seiner unendlichen Mannigfaltigkeit wiederspiegelt. Daher brachten sie die Kritik der Sprache – betrachtet einzig als Werkzeug jener Kunst – auf eine Höhe, die wir mit unserem Betonungssystem, das sich auf sinngemäßen oder durch die Gefühlsstärke bedingten Nachdruck stützt, kaum – wenn überhaupt – erreichen können. Sie studierten, um ein Beispiel zu geben, den rhythmischen Gang der Prosa so wissenschaftlich, wie ein moderner Musiker Harmonienlehre und Kontrapunkt studiert, und zwar – das brauche ich kaum zu sagen – mit einem viel schärferen ästhetischen Instinkt. Sie hatten recht darin, wie sie in allem recht hatten. Seit der Erfindung des Drucks, und seit sich die schlimme Gewöhnung des Lesens in den mittleren und unteren Schichten des Volkes verbreitet hat, wendet sich das Schrifttum immer mehr ans Auge und immer weniger ans Ohr. Und doch ist gerade das Ohr der Sinn, dem es – vom Standpunkte der Kunst aus betrachtet – gefallen sollte, und dessen Gesetzen gefälliger Schönheit es sich zu fügen hätte. Selbst die Bücher Paters, der doch wohl der größte lebende Meister englischer Prosa ist, gleichen oft eher einem Mosaik, als einem musikalischen Satz. Hier und da entbehren sie des wahren rhythmischen Lebens in der Wortfolge und sie ermangeln jener feinen Freiheit und jener Stärke der Wirkung, die ein solches rhythmisches Leben hervorruft. Freilich! Wir haben ja das Schreiben zur endgültigen Methode künstlerischen Schaffens gemacht. Die Griechen behandelten es im Gegenteil nur als eine Form der Aufzeichnung. Ihr Prüfstein war stets das gesprochene Wort in seinen rhythmischen und musikalischen Werten. Die Stimme war der Träger der Mitteilung, das Ohr der Kritiker. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob nicht die Erzählung von der Blindheit Homers nur ein künstlerischer Mythus sei, den man in kritischen Tagen schuf. Er sollte uns nicht nur daran mahnen, daß ein großer Dichter immer zugleich ein Seher ist, der weniger mit den Augen des Körpers als mit den Augen der Seele sieht, sondern auch daran, daß er ein wahrer Sänger ist, der seinen Sang aus Tönen baut, und jeden Vers so lange wiederholt, bis er das Geheimnis seiner Melodie erfaßt hat und im Dunkel Worte singt, deren Flügel aus Licht gewoben sind. Sicher aber war bei Englands großem Dichter seine Blindheit eine, wenn nicht die Ursache für den majestätischen Gang und tönenden Glanz seiner späteren Verse. Als Milton nicht mehr schreiben konnte, da hub er an zu singen. Erst als er blind war, schuf er, wie alle schaffen sollten, nur mit der Stimme. So wurde, was in früheren Tagen ein Rohr oder eine Flöte war, zu der gewaltigen, vielstimmigen Orgel, dessen reiche, widerhallende Tonfülle ganz die Majestät homerischer Verse zeigt, wenn sie auch auf die Leichtigkeit und Beweglichkeit jener verzichtet. Sie ist das unverlierbare Erbe englischer Dichtung geworden. Sie tönt durch alle Zeiten, weil sie über ihnen tönt. Sie verharrt ewig bei uns, weil sie unsterblich ist in ihrer Form. Ja, das Schreiben hat dem Schrifttum viel geschadet. Wir müssen zur Stimme zurück, sie muß unser Prüfstein werden. Dann werden wir vielleicht einige der Feinheiten griechischen Kunstrichtertums würdigen können.

Jetzt können wir es nicht. Bisweilen, wenn ich ein Stück Prosa geschrieben habe und bescheiden genug bin, es für fehlerlos zu halten, überkommt mich plötzlich der schreckliche Gedanke, ich könnte mich einer verpönten Weichlichkeit schuldig gemacht und trochäische oder tribrachysche Rhythmen gebraucht haben. Dieses Verbrechen geißelt mit gerechter Strenge ein gelehrter Kritiker der Augusteischen Zeit an dem glänzenden und ein wenig paradoxen Hegesias. Mich überläuft es kalt bei dem bloßen Gedanken, und dann frage ich mich, ob der ganze moralische Einfluß jenes Schriftstellers, der kürzlich ohne Erbarmen für die Ungebildeten behauptete, drei Viertel des Lebens lägen im Betragen, eines Tages verloren gehen könnte, wenn man entdeckte, daß er seine Päane falsch stellte.

Ernst.

Ah, aber jetzt wirst du cynisch.

Gilbert.

Wer sollte nicht cynisch werden, wenn man ihm in allem Ernst sagt, die Griechen hätten keine Kunstkritik gekannt? Ich würde es verstehen, wollte jemand behaupten, die schöpferische Kraft der Griechen habe sich in der Kritik aufgerieben, aber ich verstehe nicht, daß das Volk, dem wir den kritischen Geist verdanken, keine Kritik gekannt haben soll. Du wirst von mir nicht verlangen, dir einen Überblick über die griechische Kunstkritik von Plato bis Plotinus zu geben. Dazu ist die Nacht zu schön, und wenn der Mond uns hörte, er würde noch mehr Asche auf sein Haupt streuen. Aber denke doch nur an das eine kleine Stück Vollkommenheit ästhetischer Kritik, an Aristoteles' Poetik! Es ist unvollkommen in der Form, denn es ist schlecht geschrieben. Vielleicht sind es nichts als kurze Notizen, hingeworfen für eine Vorlesung über die Kunst, vielleicht sind es lose Fragmente eines größeren Buches. Aber in Haltung und Methode ist es geradezu vollkommen. Den ethischen Einfluß der Kunst, ihre Bedeutung für die Kultur und ihre Wichtigkeit für die Bildung des Charakters – das hatte Plato für alle Zeiten abgetan. Hier wird die Kunst nicht vom Standpunkte der Moral aus betrachtet, sondern vom Standpunkte der Ästhetik. Natürlich hatte auch Plato vieles rein Künstlerische behandelt, wie die Bedeutung der Einheit in einem Kunstwerk, ihre Notwendigkeit für Tonklang und Harmonie, den ästhetischen Wert der Erscheinungswelt, die Beziehungen sichtbarer Kunst zur Außenwelt und die Beziehungen von Dichtung und Wahrheit. Vielleicht erregte er zuerst in des Menschen Seele jene Sehnsucht, die noch immer keine Erfüllung fand, die Sehnsucht, zu erfahren, was die Schönheit mit der Wahrheit verbindet, um die Stellung zu erkennen, die die Schönheit in der moralischen und vernünftigen Ordnung des Kosmos einnimmt. Mögen auch die Probleme des Idealismus und Realismus in der metaphysischen Welt abstrakten Seins, wo er sie aufstellt, manchem leer und ergebnislos erscheinen, aber übertrage sie auf die Welt der Kunst, und du wirst finden, daß sie noch immer lebendig und voll Sinn und Bedeutung sind. Es könnte sein, daß Plato als Kritiker der Schönheit eine Zukunft hat, und daß wir eine neue Philosophie fänden, wenn wir seiner Gedankensphäre einen neuen Namen gäben. Aristoteles jedoch hatte es wie Goethe zunächst mit der Kunst in ihren wirklichen Daseinsformen zu tun. Er nimmt zum Beispiel die Tragödie, untersucht ihr Werkzeug, die Sprache; ihren Gegenstand, das Leben; die Art ihres Ganges, nämlich die Handlung; die Bedingungen ihrer Offenbarung, nämlich die Darstellung auf einem Theater; ihren logischen Bau, die Verwickelung, und ihre endliche ästhetische Wirkung, die sich an den Schönheitssinn wendet und durch Erregung von Schrecken und Mitleid erreicht wird. Jene Reinigung und Vergeistigung der Natur, die er Κάθαρσις nennt, ist wesentlich ästhetischer Natur. Das sah schon Goethe. Sie liegt nicht auf sittlichem Gebiet, wie Lessing glaubte. Aristoteles beschäftigt sich in erster Linie mit dem Eindruck, den ein Kunstwerk hervorruft. Er zergliedert diesen Eindruck, um seine Ursache zu finden und zu erkennen, wie er zustande kommt. Er weiß als Physiologe und Psychologe, daß eine Kraft nur gesund bleibt, wenn sie ausgelöst und geübt wird. Den Keim einer Leidenschaft in sich bergen und sie nicht auslösen, das heißt sich selbst begrenzen und verstümmeln. Das mimische Schauspiel des Lebens, das die Tragödie uns bietet, reinigt die Brust von vielem »verderblichen Stoff«. Sie bietet den Gefühlen große und würdige Gegenstände, und so reinigt und vergeistigt sie den Menschen. Ja, sie vergeistigt ihn nicht nur, sondern weiht ihn auch ein in edle Empfindungen, die ihm bisher vielleicht unbekannt waren. Denn mir schien oft, das Wort ?Üèáñóéò habe eine ganz bestimmte Beziehung zum Akt der Einweihung, wenn das nicht gar, wie ich bisweilen glauben möchte, an dieser Stelle seine wahre und einzige Bedeutung ist. Natürlich ist das nur ein Umriß des Buches. Aber du siehst, welch vollkommenes Stück Kunstkritik wir hier haben. Und in der Tat: hätte jemand, der kein Grieche war, die Kunst so gut zergliedern können? Nach dem Lesen wundert man sich nicht mehr darüber, daß Alexandria in solchem Umfange die Kunstkritik pflegte, und daß die künstlerischen Geister jener Zeit jede Frage des Stils und des Ausdrucks untersuchten, daß sie über die großen akademischen Malerschulen stritten, über die Schule von Sikyon, die die würdigen Überlieferungen alten Stiles zu bewahren trachtete, oder über die Naturalisten und Impressionisten, die darnach strebten, wirkliches Leben wiederzugeben, oder über die idealisierenden Züge im Porträt, oder den Wert des Epos in einer so vorgeschrittenen Zeit, wie es die ihrige war, oder über das eigentliche Schaffensgebiet des Künstlers. O, ich fürchte, auch die unkünstlerischen Geister jener Tage machten sich in Kunst und Schrifttum breit. Denn die Anklagen wegen Plagiats nahmen kein Ende, und solche Anklagen fließen entweder von den dünnen, farblosen Lippen der Impotenz, oder aus den komischen Mäulern solcher, die nichts Eigenes zu sagen haben, aber die da meinen, sie könnten in den Ruf des Reichtums kommen, wenn sie hinausposaunen, man habe sie bestohlen. Und ich versichere dich, Ernst, die Griechen schwätzten ebensoviel über die Maler, wie wir es heute tun. Sie hatten ihre Privatmeinungen, ihre Ausstellungen (Eintritt eine Mark), ihre Kunst- und Kunstgewerbevereine, praeraphaelitischen Strömungen und ihre naturalistische Epoche, ihre Vorlesungen und Aufsätze über die Kunst, Kunsthistoriker und Archäologen und was noch sonst dazu gehört. Aber, was sage ich, selbst die Theaterdirektoren nahmen auf ihren Tournees ihre Kritiker mit und zahlten beträchtliche Honorare für Auflobungsartikel. Was überhaupt bei uns modern ist, verdanken wir den Griechen. Was bei uns veraltet ist, verdanken wir dem Mittelalter. Die Griechen haben uns das ganze System der Kunstkritik gegeben. Wie fein ihr kritischer Sinn war, das können wir aus der Tatsache schließen, daß sie, wie ich schon sagte, ihre Kritik hauptsächlich an der Sprache übten. Denn im Vergleich mit der Sprache ist das Material des Malers oder Bildhauers beschränkt und gering. Die Sprache hat nicht nur Töne, so lieblich wie die der Leier oder der Laute, Farben, so reich und lebendig wie irgendwelche, die die Leinwand eines Venetianers oder Spaniers zieren, plastische Form, so stark und sicher, wie sie nur je sich in Bronce oder im Stein offenbarte; ihr gehörten auch Gedanken und Leidenschaften und Geistigkeit, und diese gehören ihr allein. Hätten die Griechen keine Kritik geschaffen, außer ihrer Kritik der Sprache, sie blieben doch die größten Kunstrichter der Welt. Wer die Gesetze der höchsten Kunst kennt, kennt die Grundsätze aller Künste.

Aber der Mond birgt sich hinter schwefelgelben Wolken. Aus lohgelber Mähne blitzt er wie das Auge eines Löwen. Er fürchtet, ich könnte anfangen, dir von Lukian und Longin, von Quinctilian und Dionysios, von Plinius und Fronto und Pausanias zu erzählen. Denn sie alle redeten oder schrieben im Altertum über die Kunst. Aber er sei unbesorgt. Ich bin meiner Wanderung in die dunklen, dumpfen Abgründe der Tatsachen herzlich müde. Mir bleibt jetzt nur noch die göttliche einzige μονόχρονος ἡδονή einer – neuen Zigarette. Zigaretten haben wenigstens einen Reiz: sie lassen unbefriedigt.

Ernst.

Nimm eine von meinen. Sie sind recht gut. Ich beziehe sie direkt aus Kairo. Unsere Attachés taugen wenigstens dazu, ihre Freunde mit gutem Tabak zu versorgen. Und da sich der Mond verbirgt, laß uns noch ein wenig plaudern. Ich bin auch bereit, zuzugeben, daß ich in allem unrecht hatte, was ich über die Griechen sagte. Wie du sagst: sie waren ein Volk von Kunstrichtern. Ich gebe das zu, und ich bedaure sie ein wenig. Denn die schöpferische Kraft steht über der kritischen. Man kann sie eigentlich gar nicht vergleichen.

Gilbert.

Der Gegensatz zwischen beiden ist ganz willkürlich. Es gibt gar kein künstlerisches Schaffen, das den Namen verdiente ohne kritische Tätigkeit. Du sprachst vorhin von jenem feinen und zarten Sinn für Unterscheidung und Auswahl, durch den der Künstler das Leben für uns umschafft und ihm auf Augenblicke Vollkommenheit leiht. Nun, dieser Sinn für Auswahl, dieser feinfühlige Takt im Weglassen ist nichts anderes als der kritische Geist in einer seiner eigensten Offenbarungen, und wer ihn nicht besitzt, kann nie etwas Künstlerisches schaffen. Arnolds Definition der Dichtung als einer Kritik des Lebens war vielleicht nicht allzuglücklich in ihrer Form, aber sie zeigt, wie treffend er die Wichtigkeit kritischer Auswahl in allen schöpferischen Künsten erkannt hatte.

Ernst.

Ich sollte meinen, daß große Künstler unbewußt arbeiten, daß sie »klüger sind, als sie ahnen«, wie Emerson einmal bemerkt, wenn ich mich recht erinnere.

Gilbert.

Das ist ein Irrtum, Ernst, wirklich! All die zarte Arbeit der Phantasie ist bewußt und gewollt. Kein Dichter singt, weil er singen muß, wenigstens kein großer Dichter. Ein großer Dichter dichtet, weil er es will. So ist es jetzt, so war es stets. Wir neigen mitunter zu dem Glauben, daß die Stimmen beim Sonnenaufgang aller Dichtung einfacher, frischer, natürlicher erklangen als heute, und daß die Welt, wie sie die ersten Dichter sahen und in der sie lebten, einen eigenen dichterischen Hauch hatte und beinahe unverändert in ihre Sänge übergehen konnte. Jetzt liegt tiefer Schnee auf dem Olympos, und seine steilen, zerrissenen Hänge sind düster und unfruchtbar; aber einst, so glauben wir, streiften die Silberfüße der Musen duftigen Tau von den Blüten am Morgen, und des Abends kam Apollo und sang den Hirten im Tale. Doch da leihen wir nur entschwundenen Zeiten, was wir für uns ersehnen oder zu ersehnen vermeinen. Da geht unser historischer Sinn in die Irre. Jedes Jahrhundert, das Dichtung schafft, ist ein künstliches Jahrhundert, und was als das natürlichste und einfachste Gewächs einer Zeit erscheint, ist immer das Ergebnis bewußten Wollens. Glaube mir, Ernst, es gibt keine Kunst ohne Bewußtheit; Bewußtheit aber und der Geist der Kritik sind ein und dasselbe.

Ernst.

Ich verstehe, was du meinst, und es liegt etwas Wahres darin. Nur mußt du doch zugeben, daß die großen Dichtungen der frühesten Zeit, die einfachen und namenlosen Sammeldichtungen eher das Werk der Phantasie einer Volksseele waren, als das Werk einzelner Dichter.

Gilbert.

Nicht, als sie Dichtung wurden; nicht, als sie die schöne Form erhielten. Denn es gibt keine Kunst, wo es keinen Stil gibt, und keinen Stil, wo es keine Einheit gibt; Einheit aber schafft der einzelne. Zweifellos fand Homer alte Balladen und Erzählungen vor, wie Shakespeare Chroniken, Schauspiele, Novellen. Mit diesen arbeitete er, aber sie waren nichts als roher Stoff. Er griff sie auf und formte sie zum Sange. Sie waren aus Tönen gebaut,

... und also nicht gebaut,
und drum gebaut für alle Zeiten.

Je länger man das Leben und die Kunst betrachtet, um so sicherer erkennt man, wie hinter allem Wunderbaren der einzelne steht; wie nicht der Augenblick den Menschen schafft, sondern der Mensch seine Zeit. Ja, ich möchte glauben, daß jede Sage und Legende, die uns aus dem Staunen, dem Schrecken, der Phantasie eines Stammes, eines Volkes entsprungen scheint, von allem Anfang an die Schöpfung einer einzelnen Seele war. Schon die eigentümlich beschränkte Zahl von Sagen scheint mir darauf hinzuweisen. Doch laß uns nicht zu Fragen der vergleichenden Mythologie hinüberschweifen. Wir wollen uns an die Kritik halten. Und was ich klarlegen will, ist dieses: In einer Zeit, die keine Kritik kennt, ist die Kunst entweder verknöchert, an Kasten gebunden, beschränkt auf die Nachbildung feststehender Typen, oder sie fehlt ganz. Wohl gab es kritische Zeiten, die im gewöhnlichen Verstande des Wortes nicht schöpferisch waren; Zeiten, in denen des Menschen Geist die aufgespeicherten Schätze zu ordnen suchte, Gold von Silber, Silber von Blei zu sondern hatte, in denen er seine Juwelen zählte, seinen Perlen Namen gab; aber nie gab es schöpferische Zeiten, die nicht zugleich kritisch waren. Denn der kritische Geist ist es, der neue Formen schafft. Das Schaffen neigt dazu, sich zu wiederholen. Jede neue Schule, die sich erhebt, verdanken wir dem kritischen Geiste, und ebenso jede neue Gußform, die sich der Kunst darbietet. Die Kunst benützt heute tatsächlich keine Form, die nicht dem kritischen Geist Alexandrias entsprungen wäre. Dort wurden jene Formen befestigt, erfunden und vervollkommnet. Ich nenne Alexandria, und zwar nicht nur, weil dort der griechische Geist zum größten Bewußtsein kam und schließlich im Skeptizismus und in der Theologie erstarb, sondern weil Rom sich nicht nach Athen, sondern eben dorthin wandte, um seine Vorbilder zu suchen, und weil denn doch im Grunde das Fortleben jeder Kultur durch das Fortleben der römischen Sprache bedingt war. Als zur Zeit der Renaissance die Sonne griechischen Schrifttums über Europa aufging, da war der Boden dafür gewissermaßen vorbereitet. Doch, um die historischen Einzelheiten abzuschütteln, die immer langweilig und meistens ungenau sind, so laß uns allgemein sagen, daß wir die Formen der Kunst dem kritischen Geist der Griechen verdanken. Ihm verdanken wir Epos und Lyrik und alle Formen des Dramas, den Schwank nicht ausgeschlossen. Ihm verdanken wir das Idyll, den Liebes- und Abenteuerroman, das Essay, den Dialog, die Rede, die Vorlesung – was vielleicht unverzeihlich ist – und alles, was wir unter dem Namen Epigramm zusammenfassen. Ja, wir verdanken ihm alles außer dem Sonett, das aber auch schon in einigen merkwürdigen Spuren dem Gedankengange nach in der Anthologie vorgebildet ist; außer der amerikanischen Presse, die nirgends ihresgleichen findet, und außer der Ballade im Talmidialekt, die unsere Tagespoeten nach dem neuesten Vorschlage eines unserer unermüdlichsten Skribenten zur Grundlage eines endgültigen und einmütigen Vorstoßes machen sollten, um zur wahren Romantik zu gelangen. Jede neuauftauchende Schule flucht der Kritik; aber ihr Dasein verdankt sie dem kritischen Geiste. Bloße schaffende Kraft neuert nicht, sondern wiederholt.

Ernst.

Du sprachst von der Kritik als einem wesentlichen Teil des schöpferischen Geistes, und ich stimme dir jetzt bei. Wie aber steht es mit der Kritik ohne die schaffende Kraft? Ich habe die dumme Gewohnheit, Zeitschriften zu lesen, und mir scheint, alle moderne Kritik ist gänzlich wertlos.

Gilbert.

Aber auch fast alles moderne Schaffen ist gänzlich wertlos. Mittelmäßigkeit hält der Mittelmäßigkeit die Wage; Ohnmacht klatscht ihrer Schwester Beifall: Dies Schauspiel zeigt von Zeit zu Zeit unsere künstlerische Geschäftigkeit. Doch ich fühle, dieses Mal bin ich ein wenig ungerecht. Durchschnittlich haben unsere Kritiker – ich rede natürlich von den besseren, etwa von denen, die für 50-Pfennigzeitschriften arbeiten – durchschnittlich haben sie viel mehr Kultur, als die, deren Arbeiten sie besprechen müssen. Allerdings ist das ja von vornherein anzunehmen; denn die Kritik erfordert viel mehr Kultur, als das Schaffen.

Ernst.

Wirklich?

Gilbert.

Sicher. Einen dreibändigen Roman kann jeder schreiben. Dazu braucht man weder etwas vom Leben noch von der Literatur zu wissen. Mir scheint, für den Kritiker liegt die größte Schwierigkeit darin, überhaupt irgendeinen Maßstab aufrecht zu erhalten. Wo kein Stil ist, ist natürlich jeder Maßstab unmöglich. Die armen Leute sind nur noch die Berichterstatter der literarischen Polizei. Sie zeigen die Taten der Gewohnheitsverbrecher in der Kunst an. Man sagt ihnen bisweilen nach, sie läsen die Bücher gar nicht durch, die sie besprechen sollten. Das tun sie nicht, sollten es wenigstens nicht tun. Täten sie es, sie würden ihr ganzes Leben zu Menschenhassern. Es ist auch gar nicht nötig. Um Lage und Wert eines neuen Weines zu bestimmen, braucht man kein Faß leerzutrinken. Es sollte doch leicht genug sein, nach einer halben Stunde zu entscheiden, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. Wer Formensinn hat, hat an 10 Minuten genug. Wer möchte durch einen Band voll Langeweile waten? Man nimmt eine Probe und ist fertig, sollte ich meinen; mehr als fertig. Ich weiß wohl, daß mancher tüchtige Handlanger in der Malerei oder Literatur der Kritik ihr Daseinsrecht abspricht. Und er hat ganz recht. Sein Werk hat mit dem Geist seiner Zeit nichts zu tun. Er schafft keinen neuen Genuß. Er erobert dem Denken, der Leidenschaft, der Schönheit keine neuen Provinzen. Man sollte gar nicht von ihm reden. Man sollte ihn der Vergessenheit überlassen, die er verdient.

Ernst.

Aber, mein lieber Junge – entschuldige, daß ich dich unterbreche – mir scheint, du läßt dich von deiner Vorliebe für die Kritik zu sehr fortreißen. Denn schließlich mußt du doch zugeben, daß es weit schwerer ist, etwas zu tun, als darüber zu reden.

Gilbert.

Schwerer, etwas zu tun, als darüber zu reden? Aber durchaus nicht! Das ist ein grober populärer Irrtum. Es ist bei weitem schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun. Im Kreise des wirklichen Lebens liegt das auf der Hand. Jeder kann Geschichte machen. Aber nur ein großer Mann kann Geschichte schreiben. Es gibt keine Art des Handelns, keine Form des Empfindens, die wir nicht mit den niederen Tieren gemein hätten. Nur durch die Sprache erheben wir uns über sie oder übereinander; nur durch die Sprache, die die Mutter, nicht das Kind des Gedankens ist. Handeln ist immer leicht. Ja, wo es in gedrängtester Fülle, weil ununterbrochen, auftritt – ich meine den wirklichen Fleiß –, da ist es nichts anderes, als das Asyl der Leute, die gar nichts sonst zu tun haben. Nein, Ernst, sprich mir nicht vom Handeln. Das ist nichts als blinde Bewegung, die von äußeren Einflüssen abhängt und von Kräften getrieben wird, deren Wesen es nicht kennt. Handeln ist etwas wesentlich Unvollkommenes, weil es vom Zufall abhängt und seine Richtung nicht kennt, denn ewig schwankt sein Ziel. Es gründet sich auf den Mangel an Phantasie. Es ist die letzte Zuflucht derer, die nicht zu träumen wissen.

Ernst.

Gilbert, du behandelst die Welt, als wäre sie eine Glaskugel. Du hältst sie in der Hand und drehst sie nach dem Willen deiner Launen. Du schreibst einfach die Geschichte neu.

Gilbert.

Es ist eine der Pflichten, die die Geschichte uns auferlegt, sie neu zu schreiben. Das ist nicht die geringste Aufgabe, die des kritischen Geistes harrt. Wenn wir dereinst mit Hilfe der Wissenschaft alle Gesetze erkannt haben, die das Leben beherrschen, dann werden wir inne werden, daß nur ein Mensch mehr Illusionen hat, als der Träumer: nämlich der Mensch des Handelns. Denn er kennt weder den Ursprung seiner Taten, noch ihren Ausgang. Von dem Felde, in das er Dornen zu säen vermeinte, haben wir unsern Wein geerntet, und pflanzte er, uns zu erfreuen, die Feige, so war sie unfruchtbar wie die Distel und bitterer als sie. Nur, weil die Menschheit nie wußte, wohin sie ging, hat sie noch immer vermocht, ihren Weg zu finden.

Ernst.

Du meinst also, im Reiche des Handelns sei jedes Ziel eine Täuschung?

Gilbert.

Schlimmeres als eine Täuschung. Lebten wir lange genug, die Erfolge unserer Taten zu sehen, es könnte sein, daß die, die sich die Guten nennen, unter dem Alp der Gewissenspein dahinsiechten und daß die, welche die Welt die Bösen nennt, von edelster Freude durchströmt, sich erhöben. Das Kleinste, was wir tun, taucht hinab in das Räderwerk des Lebens, das unsere Tugenden zu Staub zermalmen und entwerten, das unsere Sünden zu Keimen neuer Gesittung umschaffen kann, einer Gesittung, wunderbarer und glänzender, als irgendeine vergangene war. Aber der Mensch ist der Sklave des Wortes. Er wütet gegen das, was er Materialismus nennt, und bedenkt nicht, daß noch nie ein materieller Fortschritt eintrat, der nicht die Welt auch vergeistigte, und daß es noch keine oder doch nur wenige geistige Morgenröten gab, die nicht die Kräfte der Welt in unfruchtbarer Hoffnung, nutzlosem Ringen und leeren oder verführerischen Dogmen aufrieben. Was man die Sünde nennt, ist ein wesentliches Glied in der Kette des Fortschritts. Ohne sie würde die Welt zum Sumpfe, sie würde alt und farblos. Durch ihre Einzigkeit schon vermehrt die Sünde die Erfahrung einer Rasse. Durch die starke Betonung der Individualität rettet sie uns vor der Einförmigkeit des Typus. In ihrer Verachtung der geläufigen Begriffe unserer Moral ist sie eins mit einer höheren Ethik. Und Tugend! Was heißt Tugend? Renan sagte uns, die Natur kümmere sich wenig um Keuschheit; und vielleicht verdanken unsere Lukretien ihre Fleckenlosigkeit weniger ihrer eigenen Reinheit, als der Schande der Magdalenen. Mitleid schafft eine Schar von Übeln; das müssen selbst die gestehen, in deren Religion es ein wesentliches Glied ist! Das bloße Dasein des Gewissens, mit dem man heute so prahlt, auf das man heute in seiner Dummheit so stolz ist, zeigt, wie unvollkommen noch unsere Entwicklung ist. Es muß in die Instinkte hinuntertauchen, ehe wir zur wahren Feinheit kommen. Selbstlosigkeit dient einzig, des Menschen Fortschritte zu hemmen, und Selbstaufopferung ist nichts als ein Überbleibsel der Selbstverstümmelung des Wilden, ein Teil jener alten Anbetung des Schmerzes, die in der Weltgeschichte schlimme Rollen spielt, und die noch jetzt ihre Opfer heischt, Tag für Tag, und ihre Altäre hat in unseren Landen. Tugend! Wer weiß, was Tugend ist! Nicht du, nicht ich! Niemand. Es ist gut für unsere Eitelkeit, daß wir den Mörder morden. Denn ließen wir ihn am Leben, er könnte sehen, was wir durch sein Verbrechen gewannen. Es ist gut für den Frieden des Märtyrers, daß er in sein Martyrium geht. So braucht er nicht das Grauen seiner Ernten zu sehen.

Ernst.

Gilbert, du tönst ein wildes Lied, laß uns zu den lieblicheren Feldern der Dichtung kehren. Was sagtest du doch? Es sei schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun.

Gilbert.

( nach einer Pause).

Ja, ich glaube, ich wagte es, diese einfache Wahrheit auszusprechen. Sicherlich siehst du nun ein, daß ich recht hatte. Wenn der Mensch handelt, ist er eine Puppe. Wenn er schildert, ist er ein Dichter. Das ist das ganze Geheimnis. Es war so leicht, auf den sandigen Ebenen des sturmreichen Ilion den holzgeschnitzten Pfeil von dem bemalten Bogen zu schnellen oder den eschenen Speerschaft gegen den Schild aus Leder und flammendem Erz zu schwingen. Es war so leicht für Klytämnestra, tyrische Teppiche vor ihrem Herrn zu breiten und, da er im Marmorbade lag, ihm das purpurne Netz über das Haupt zu werfen und ihren schönen Geliebten zu rufen, daß er den Dolch durch die Maschen stieße in das Herz, das hätte in Aulis brechen müssen. Selbst für Antigone war es leicht, da der Tod als Bräutigam auf sie wartete, durch die Luft des Mittags hinauszuziehen zum Hügel empor, um mit freundlicher Erde den armen nackten Leichnam zu decken, der kein Grab hatte. Aber die, die über solche Dinge schrieben! Die ihnen Wirklichkeit und ewiges Leben gaben! Sie sind nicht größer als die Männer und Frauen, von denen sie singen? »Hektor, der süße Held, ist tot«, und Lucian erzählt uns, wie Menippus im finsteren Orkus den bleichenden Schädel der Helena fand und sich verwunderte, um welcher Scheußlichkeit willen so viele gehörnte Schiffe das Meer befuhren, so viele strahlende Hopliten dahinsanken, so viele türmende Städte im Staube lagen. Und doch tritt jeden Tag die schwanengleiche Tochter der Leda auf die Marmorzinnen und blickt hinab auf die Flut des Krieges. Graubärte staunen ob ihrer lieblichen Schönheit, und sie steht zur Seite des Königs. In seiner Halle liegt Paris, ihr Buhle, putzt die Zier seiner Rüstung und kämmt seinen Helmbusch. Mit Rittern und Pagen zieht ihr Gatte von Zelt zu Zelt. Sie sieht sein blondleuchtendes Haar und hört seine helle, kalte Stimme. Unten aber im Hofe schnallt Priamos' Sohn seinen ehernen Panzer um. Um seinen Nacken schlingt Andromache die weißen Arme. Er setzt den Helm auf den Boden, damit sich ihr Kindlein nicht fürchte. Hinter den gestickten Teppichen seines Zeltes sitzt Achilles in duftigen Kleidern, indes, in Gold und Silber geharnischt, der Freund seiner Seele sich rüstet, hinaus in den Kampf zu ziehen. Aus einer seltsam geschnitzten Lade, die ihm seine Mutter Thetis zu den Schiffen brachte, nimmt der Fürst der Myrmidonen jenen geheimnisvollen Kelch, den nie eines Menschen Lippen berührten, reibt ihn mit Asche ab und kühlt ihn mit frischem Wasser. Nach der Waschung der Hände füllt er sein glänzendes Rund mit schwarzem Wein und spritzt das dicke Traubenblut auf den Boden, IHM zu Ehren, den in Dodona nacktfüßige Priester verehren; und er fleht zu Ihm und weiß nicht, daß er vergeblich fleht und daß von den Händen zweier Ilischer Helden, des Panthoos-Sohnes Euphorbos, dessen Locken mit Gold durchflochten sind, und des Priamiden, des löwenbeherzten, der Freund der Freunde, Patroklos, fallen muß. – Phantome? Wirklich? Heroen der Berge, des Nebels Schattengebilde im Sang? Nein! Sie sind! Handeln? Was ist Handeln? Es ist nichts als gemeine Anbequemung an die Tatsachen! Die Welt schafft der Sänger für den Träumer.

Ernst.

Wenn du sprichst, scheint es mir wirklich so.

Gilbert.

Es ist so, wahrlich! Auf der verwitterten Stätte Ilions liegt die Lacerte wie gegossen aus grüner Bronce. Im Palaste des Priamos baut sich die Eule ihr Nest. Über die leere Steppe ziehen Hirten mit Ziegen und Schafen, und wo auf der weinfarbenen, ölglatten See, dem οῖνοψ πόντος, die mächtigen Galeeren der Danäer im Glanze der erzbeschlagenen Schnäbel und roten Mennigstreifen einherzogen, da sitzt jetzt der einsame Fischer im kleinen Boot und starrt auf den zitternden Kork seiner Netze. Doch jeden Morgen springen die Tore der Stadt weit auf, und heraus stürmen zu Fuß oder im rossegezogenen Wagen die Helden zur Schlacht und spotten des Feindes hinter den ehernen Helmen. Den ganzen Tag lang rast der Kampf, und kommt die Nacht, so leuchten an den Zelten die Fackeln, und der Dreifuß raucht in der Halle. Die Statuen des Marmors, die Bilder der Leinwand kennen vom Leben nur eine köstliche Minute. Sie ist ewig in ihrer Schönheit, aber gebannt in eine Note der Leidenschaft, in eine Stimmung der Ruhe. Nur, wen der Dichter zum Leben ruft, der hat seine tausend Freuden und Schrecken, der kennt Mut und Verzweiflung, Lust und Leiden. Jahreszeiten kommen und gehen im fröhlichen oder traurigen Reigen. Auf Flügeln oder auf bleischweren Füßen ziehen die Jahre vor ihnen dahin. Sie haben Jugend und Mannheit, sind Kinder und werden alt. Ewig währt die Dämmerung für die heilige Helena, wie Veronese sie am Fenster schaute. Durch die ruhige Morgenluft bringen die Engel ihr die Symbole der Leiden ihres Gottes, und der kühle Hauch hebt die goldenen Fäden von ihrer Braue. Auf jenem Hügel bei Florenz, wo Giorgiones Liebende liegen, steht ewig die Sonne im Mittag, und die Sonne des Sommers macht den Mittag so müde, daß kaum noch das schlanke, nackte Mädchen den runden Bauch des blanken Glases in den Marmorbrunnen tauchen kann, und daß die schmalen Hände des Lautenspielers träg auf den Saiten ruhen. Ewig dämmert der Abend den tanzenden Nymphen Corots unter Frankreichs Silberpappeln. Sie schweben in ewigem Zwielicht, die gebrechlichen, durchsichtigen Gestalten, deren weiße, zitternde Füße das taufeuchte Gras kaum berühren.

Doch die, die im Epos, im Drama oder Romane leben, sie sehen im Wandel der Zeiten junge Monde wachsen und schwinden; sie sehen die Nacht vom Abend bis zum Morgenstern, und kennen den kreisenden Tag vom Aufgang bis zum Untergang mit all seinem Glanz und Schatten. Für sie blühen und welken die Blumen wie für uns, und die Erde, die »grünlockige Göttin«, wechselt ihr Kleid, um sie zu erfreuen. Die Statue erstarrt in einem Moment der Vollkommenheit. Das Bild auf der Leinwand kennt weder Wachstum noch Wandel. Sie wissen nichts vom Tode, aber nur, weil sie wenig vom Leben wissen, denn das Geheimnis des Lebens und Sterbens gehört denen und denen allein, die die Folgen der Zeiten erfahren, die nicht nur die Gegenwart haben, sondern die Zukunft auch, und die steigen oder fallen durch ein Vergangenes von Ruhm und Schande. Die Bewegung, das Problem der sichtbaren Künste, wird einzig zur Wirklichkeit in der Dichtung. Die Dichtung zeigt uns den Körper in seiner Bewegung und die Seele in ihrer Unruhe.

Ernst.

Ja, ich verstehe, was du meinst. Aber je höher du den schaffenden Künstler stellst, um so tiefer muß doch der Kritiker stehen.

Gilbert.

Warum?

Ernst.

Weil das Beste, was er uns geben kann, nur ein Echo reicher Töne ist, nur ein dunkler Schatten klar gezeichneter Formen. Mag sein, daß das Leben ein Chaos ist, wie du behauptest; daß seine Martyrien gemein sind, seine großen Taten ohne Adel, mag sein, daß es Aufgabe der Dichtung ist, aus dem rohen Stoff wirklichen Daseins eine neue Welt zu schaffen, die wunderbarer und dauernder ist und wahrer, als die Welt, auf die unsere Augen schauen und in der die Natur zur Vollkommenheit strebt. Aber ist diese neue Welt durch den Geist und die Macht eines großen Künstlers erstanden, so ist sie vollkommen, und dem Kritiker bleibt nichts zu tun. Ich verstehe nun und gebe gern zu, daß es schwerer ist, über etwas zu reden als etwas zu tun. Doch mir scheint, dieser gute und schöne Grundsatz, der unsere Sorgen so sehr beruhigt, und den jede Akademie der redenden Künste zu ihrem Wahlspruch machen sollte, geht nur die Beziehungen zwischen Leben und Kunst an, und nicht das mögliche Verhältnis zur Kritik.

Gilbert.

Aber ist denn die Kritik keine Kunst? Und noch mehr? Wie das künstlerische Schaffen die Tätigkeit des kritischen Geistes voraussetzt und ohne sie, kann man sagen, gar nicht vorhanden wäre, so ist wahrlich die Kritik schöpferisch im höchsten Sinne des Wortes. Ja, die Kritik ist sowohl schöpferisch wie unabhängig.

Ernst.

Unabhängig?

Gilbert.

Ja, unabhängig! Man darf die Kritik ebensowenig an dem niedrigen Maßstab der Nachahmung oder der Ähnlichkeit messen, wie das Werk des Dichters oder Bildners. Der Kritiker steht dem Kunstwerk so gegenüber, wie der Künstler der sichtbaren Welt der Form und der Farbe, oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaft und des Gedankens. Er braucht nicht einmal den feinsten Stoff, um zur Vollkommenheit zu kommen. Alles dient seinem Zwecke. Flaubert machte aus den unreinen oder sentimentalen Liebesgeschichten der albernen Frau eines kleinen Landarztes im schmutzigen Dorfe Yonville-l'Abbaye bei Rouen ein klassisches Buch und ein Meisterwerk des Stils; und ebenso kann ein wirklicher Kritiker aus den wertlosesten Stoffen – zum Beispiel den Bildern der letzten Akademie-Ausstellung, den Gedichten von Morris, den Romanen Ohnets – sobald es ihm einfällt, seinen Blick darauf zu verwenden –, ein Werk schaffen, das in Schönheit und sicherem Takt glänzend ist. Warum nicht? Langeweile lockt unwiderstehlich, selbst zu glänzen, und der Stumpfsinn bleibt ewig die Bestia triumphans, die die Weisheit aus ihrer Höhle lockt. Was ist der Stoff einem so schöpferischen Künstler wie dem Kritiker? Nicht mehr und nicht weniger als dem Dichter und Maler. Wie sie, findet er seine Anregungen überall. Wie man etwas behandelt, darauf kommt es an. Es gibt nichts, was nicht Anregung und Keime enthielte.

Ernst.

Aber ist denn die Kritik eine schöpferische Kunst?

Gilbert.

Warum nicht? Sie behandelt Stoffe und gibt ihnen eine neue und reizvolle Form. Kann man von der Dichtung mehr sagen? Ich würde die Kritik ein Schaffen aus Geschaffenem nennen. Denn wie die großen Künstler von Homer und Aeschylos bis zu Shakespeare und Keats nicht dem Leben selbst ihre Stoffe entnahmen, sondern dem Mythus, den Sagen oder alten Erzählungen, so behandelt der Kritiker Stoffe, die andere für ihn gleichsam schon gereinigt, denen sie schon Form gegeben haben. Ja, ich gehe noch weiter: Die höchste Kritik gibt die reinste Form persönlichen Eindrucks, und ist also in ihrer Art schöpferischer, als das Schaffen selbst. Denn sie kann an keinem äußeren Maßstab gemessen werden. Sie ist ihre eigene Ursache und ist, wie ein Grieche sagen würde, in sich und für sich ein Ziel und Ende. Sie ist durch keine Fesseln der Wahrscheinlichkeit gebunden. Keine gemeine Berechnung der Möglichkeit, jene feigen Rücksichten im langweiligen Kreislauf des wirklichen Lebens, gehen sie an: Man kann von der Dichtung an die Welt der Tatsachen appellieren. Über der Seele gibt es keine Instanzen.

Ernst.

Über der Seele?

Gilbert.

Ja, über der Seele. Denn die höchste Kritik ist nichts anderes als ein Erzählen von seiner eigenen Seele. Sie ist bezaubernder als die Geschichte; denn sie befaßt sich nur mit dem Innern eines Menschen. Sie ist reizvoller als die Philosophie, da ihr Gegenstand kein abstrakter, sondern ein wirklicher ist, kein schweifend-verschwimmender, sondern ein greifbarer. Sie ist die einzige würdige Form der Autobiographie; denn sie behandelt nicht die Ereignisse, sondern die Gedanken eines Lebens, nicht die Zufälligkeiten des Lebens, Taten oder Umstände, sondern die Stimmungen des Geistes und die unwirklichen Leidenschaften der Seele. – Mich belustigt immer die Eitelkeit unserer Schriftsteller und Künstler, die da meinen, es sei des Kritikers erste Aufgabe, über ihr wertloses Zeug zu schwätzen. Das Beste, was von dem größten Teil moderner Kunst zu sagen wäre, ist etwa, daß sie ein ganz klein wenig weniger gemein ist, als die Wirklichkeit; der Kritiker aber mit seinem feinen Gefühl für Unterschiede und seinem sicheren Sinn für die zartesten Abstufungen wendet sich fort vom Chaos und Lärm des wirklichen Lebens und schaut in den silbernen Spiegel oder durch den gewobenen Schleier, wenn auch der Spiegel getrübt, der Schleier zerrissen ist. Er hat nur ein Ziel: Eindrücke seiner Seele zu schildern. Für ihn werden Gemälde gemalt, Bücher geschrieben, Bilder aus dem Stein geschlagen.

Ernst.

Mir scheint, ich hörte schon eine andere Theorie der Kritik.

Gilbert.

O ja: Und das Gedächtnis dessen, der sie aussprach, ehren wir alle! Denn die Töne seiner Flöte lockten einst Proserpina von ihren sikilischen Feldern fort, so daß ihre weißen Füße – und nicht vergeblich – Cumnors Wiesenblüten bewegten. Aber wenn er sagte: das eigentliche Ziel der Kritik sei, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, so war das ein ernster Irrtum, so kannte er nicht die Kritik in ihrer vollkommenen Gestalt, die wesentlich subjektiv ist und nur ihr eigenes Geheimnis, nicht das Geheimnis anderer, zu offenbaren sucht. Denn die höchste Kritik kümmert sich um die Kunst nur insofern, als sie Eindrücke schafft, nicht, soweit sie etwas auszudrücken versucht.

Ernst.

Aber ist das wirklich richtig?

Gilbert.

Natürlich! Wer kümmert sich darum, ob Ruskins Ansichten über Turner richtig sind oder nicht? Was geht das uns an? Seine gewaltige und königliche Sprache, glühend und farbenprangend im Adel ihrer Redekunst, reich und stark in ihren kunstvollen symphonischen Klängen, sicher und unfehlbar in der feinen Wahl von Wort und Beiwort – sie ist als Kunstschöpfung nicht minder groß, als irgendein herrlicher Sonnenuntergang, der in Englands Sammlungen auf verdorbener Leinwand bleicht oder fault. Ja, sie ist größer, sollte man manchmal meinen, nicht nur, weil ihre ebenbürtige Schönheit dauernder ist, sondern weil sie uns stärker und mannigfaltiger bewegt. Denn in jenen langen, rhythmisch rollenden Zeilen spricht Seele zu Seele, und nicht nur durch Form und Farbe, sondern durch Geist und Leidenschaft, durch erhabenes Pathos und erhabenere Gedanken, durch anschauende Einsicht und dichterische Absicht. Sie ist größer, denke ich, schon weil die Kunst der Rede die größere Kunst ist. Und ferner: Wer kümmert sich darum, ob Pater in die Züge der Mona Lisa hineinsah, wovon Leonardo nie träumte? Mag sein, daß der Maler einzig der Sklave eines archaischen Lächelns war, wie manche glauben: doch immer, wenn ich durch die kühlen Gänge des Louvre gehe und stille stehe vor jener seltsamen Gestalt, die in ihrem Marmorsessel ruht, in jenem erhabenen Rund phantastischer Felsen, wie im bleichen Lichte auf Meeresgrund, dann flüsterte ich: »Ja, sie ist älter als die Felsen, die sie umgeben; gleich dem Vampyr ist sie gestorben, viele Male, und sie erfuhr des Grabes Geheimnisse; und sie war ein Taucher in tiefe Meere und bewahrt um sich ihren sinkenden Tag; und sie feilschte um seltene Gewebe mit Händlern des Ostens; und sie war als Leda Mutter der ilischen Helena, und sie war als Anna die Mutter Marias; und all das war ihr nichts als ein Ton von Flöten und Leiern und lebt nur in den leichten Furchen, die über die wechselnden Züge zogen und Stirn und Hand berührten.« Und ich sage zu meinem Freunde: »Das Wesen, das sich so seltsam neben den Wassern erhob, sagt uns, was wir Menschen nach Jahrtausenden der Wanderung endlich ersehnen;« und er antwortet: »Auf ihr Haupt fiel jedes Ende der Welt, und nun sind ihre Augen ein wenig müde.« So wird das Bild uns wunderbarer, als es ist, und offenbart uns Geheimnisse, die es nicht kennt, und die Klänge mystischer Reden sind unseren Ohren so süß, wie die Klänge des Flötenspielers, der den Lippen der Gioconda ihre feinen, verderblichen Linien lieh. Und fragst du mich, was Leonardo sagen würde, erzählte ihm jemand: »Alles Denken und alle Erfahrung der Welt hätten mit dem, was sie geben konnten, mitgearbeitet und geformt, um die äußere Bildung zu verfeinern und ausdrucksfähig zu machen, Griechenlands reine Menschlichkeit, Roms Lüste, das Träumen des Mittelalters mit seinem geistlichen Streben und seiner unirdischen Liebe, die Rückkehr der heidnischen Welt und die Sünden der Borgias?« Er würde wohl antworten, er habe nichts dergleichen gewollt; er habe sich einfach um gewisse Verbindungen von Linien und Massen bemüht und um neue und seltene Farbeneinklänge von Blau und Grün. Und eben darum ist solche Kritik die höchste Kritik. Ihr ist das Kunstwerk nur der Ausgangspunkt für eine neue Schöpfung. Sie beschränkt sich nicht – nehmen wir es wenigstens einmal an – darauf, die wirkliche Absicht des Künstlers zu finden und darin ihr endliches Ziel zu sehen. Doch das ist ihr Recht. Denn die Bedeutung einer schönen Schöpfung liegt mindestens ebensosehr in der Seele dessen, der sie betrachtet, wie dessen, der sie erschuf. Ja, es ist einzig der Betrachter, der dem Schönen seine tausend Bedeutungen leiht und es für uns zum Wunderwerk macht. Denn er verbindet es von neuem mit unserer Zeit, so daß es ein Glied unseres Daseins wird und ein Symbol dessen, um was wir flehen, oder dessen, was wir durch unser Flehen zu erlangen uns fürchten. Je länger ich mich umsehe, Ernst, um so klarer erkenne ich, daß die Schönheit sichtbarer Künste, wie die der Musik, hauptsächlich in den Eindrücken liegt, die sie schafft, und daß sie durch gedankliche Absicht des Künstlers leicht zerstört werden kann und leider oft zerstört wird. Denn wenn das Werk vollendet ist, führt es ein Leben für sich und kann ganz andere Botschaften künden, als ihm der Künstler auf die Lippen legte. Wenn ich das Tannhäuser-Vorspiel höre, erscheint mir bisweilen, ich sähe wirklich den stattlichen Ritter zart auf die geblümte Wiese treten, und ich höre die Stimme der Venus, die aus der Bergeshöhle nach ihm ruft. Doch ein ander Mal redet sie mir von tausend anderen Dingen, von mir vielleicht, von meinem Leben oder vom Leben derer, die ich liebte, und die zu lieben ich müde ward, oder von Leidenschaften, die der Mensch nicht kannte und also suchte. Heute füllt sie mich mit jenem ΕΡΩΣ ΤΩΝ ΑΔΥΝΑΤΩΝ, jenem Amour de l'Impossible, der manchen gleich einem Wahnsinn befällt, der eben noch meinte, sicher und jedem Übel unerreichbar zu leben, so daß er nun plötzlich am Gift unstillbarer Sehnsucht erkrankt und, indem er ewig verfolgt, was er nie erreichen kann, ermattet dahinsiecht oder gewaltsam stürzt. Morgen vielleicht übt sie gleich jenen Tönen, von denen Plato und Aristoteles reden, gleich der edlen dorischen Musik, das Amt des Arztes, und leiht uns ein Mittel gegen den Schmerz, und heilt die Wunden des Geistes, und »gibt der Seele den Einklang mit allen rechten Dingen«. Und was für die Tonkunst gilt, das gilt für alle Künste. Die Schönheit hat so viele Bedeutungen, wie der Mensch Stimmungen hat. Die Schönheit ist das Symbol der Symbole. Die Schönheit offenbart alles, weil sie nichts ausdrückt. Zeigt sie sich selbst, so zeigt sie die ganze Welt in ihren Feuerfarben.

Ernst.

Aber ist denn, wovon du redest, wirklich Kritik?

Gilbert.

Es ist die höchste Kritik. Denn es handelt nicht vom einzelnen Kunstwerk, sondern von der Schönheit selbst, und füllt ein Gefäß mit Wundern, das der Künstler vielleicht leer ließ oder nicht verstand oder unvollkommen verstand.

Ernst.

Also wäre die höchste Kritik schöpferischer als das Schaffen, und ihre erste Aufgabe wäre, die Dinge zu sehen, wie sie an sich nicht sind; das ist deine Theorie, wie ich glaube.

Gilbert.

Ja, das ist meine Theorie. Für den Kritiker ist das Kunstwerk nur der Ausgangspunkt für ein neues, eigenes Werk, das nicht notwendig irgendeine sichtbare Ähnlichkeit mit dem besprochenen Werke zu haben braucht. Das wichtigste Merkmal der schönen Form ist, daß man hineinlegen kann, was man will, und in ihr sehen, was man zu sehen wünscht. Die Schönheit aber, die der Schöpfung ihren allgemeingültigen ästhetischen Wert verleiht, macht wieder den Kritiker zum Schaffenden und raunt ihm tausend Dinge zu, an die nicht dachte, wer die Statue meißelte, das Bild malte, die Gemme schnitt.

Es gibt Menschen – und sie verstehen weder das Wesen der höchsten Kritik, noch den Zauber höchster Kunst – die behaupten, der Kritiker schreibe am liebsten über Bilder, die Anekdoten oder der Dichtung und Geschichte entnommene Szenen darstellen. Aber das ist falsch. Solche Gemälde sind viel zu verständlich. Als Gesamtheit stehen sie nicht höher als Illustrationen, und selbst als solche betrachtet, sind sie verfehlt, da sie die Phantasie nicht anregen, sondern endgültig eindämmen. Denn, wie ich vorher sagte: das Reich des Malers ist ein anderes, als das des Dichters. Diesem gehört das Leben in voller Ganzheit; nicht nur die Schönheit, die wir sehen, sondern auch die Schönheit, die wir hören; nicht nur die vergängliche Anmut der Form, nicht das flüchtige Lachen der Farbe, sondern die ganze Stufenleiter des Empfindens, der volle Umkreis des Denkens. Das aber ist die Grenze, die dem Maler gesetzt ist: er kann uns die Geheimnisse seiner Seele nur durch die Maske der Form zeigen; nur durch überlieferte Typen kann er Ideen verkörpern; und für die Offenbarung seiner Seelenkunde braucht er immer die körperliche Welt als Ausdrucksmittel. Und wie schlecht sind seine Ausdrucksmittel! Er mutet uns zu, am zerrissenen Turban des Mohren die stolze Wut eines Othello zu erkennen, oder in einem Irren im Sturm den rasenden Wahnsinn Lears. Und trotzdem scheint es, als könne man ihnen nicht Einhalt gebieten. Die meisten unserer älteren Maler bringen ihr traurig verlorenes Leben damit zu, Diebstähle im Lande der Dichtung zu begehen; sie verderben ihre Stoffe durch plumpe Behandlung und quälen sich ab, in sichtbarer Form das Wunder des Unsichtbaren, den Glanz des Niegesehenen darzustellen. Die Folge ist: Sie sind langweilig, tödlich langweilig. Sie haben die sichtbaren Künste zu deutlichen erniedrigt, und das einzige, was keines Blickes wert ist, ist das Deutliche. Ich sage nicht, daß nicht Dichter und Maler nicht den gleichen Stoff behandeln dürften. Das haben sie immer getan und werden es immer tun. Doch wenn der Dichter je nach Willen malerisch sein kann oder nicht: der Maler muß immer malerisch sein. Denn das Reich des Malers ist begrenzt; und zwar nicht nur auf das, was er in der Natur sieht, sondern auf das, was auf der Leinwand sichtbar werden kann.

Daher werden den Kritiker solche Bilder nicht fesseln. Er wendet sich ab von ihnen und solchen zu, die ihn sinnen und träumen und dichten machen, zu Werken, die die geheime Kraft der Anregung besitzen und uns zu sagen scheinen: Auch von uns aus gibt es eine Flucht in die weite Welt. Man hat wohl gesagt, die Tragödie eines Künstlerlebens liege darin, daß er sein Ideal nicht verkörpern könne. In Wahrheit ist die Tragödie der meisten Künstler die, daß sie ihr Ideal zu deutlich verkörpern. Denn sobald ein Ideal verkörpert ist, fällt alles Wunder und alles Geheimnis von ihm ab; es bleibt nichts als ein neuer Ausgangspunkt für ein neues Ideal. Daher ist die Musik der vollkommenste Typus der Kunst. Die Musik verrät nie ihr letztes Geheimnis. Das erklärt auch den Wert aller Beschränkungen in der Kunst. Gern verzichtet der Bildner auf die Täuschung der Farbe, der Maler auf die wirkliche Größe der Form. Denn durch solches Verzichten können sie die allzu deutliche Wiedergabe des Wirklichen meiden, die nur Nachahmung wäre, und auch die allzu klare Verkörperung ihrer Idee, die sich ausschließlich an den Verstand wendet. Gerade durch ihre Unvollkommenheit wird die Kunst in Schönheit vollkommen. Sie wendet sich nicht an die Fähigkeit des Wiedererkennens, nicht an Vernunft und Verstand, sondern einzig an den ästhetischen Sinn, welcher Vernunft und Verstand als Stufen der Wahrnehmung braucht, aber beide dem reinen, aufbauenden Eindruck des Kunstwerkes als Ganzem unterordnet. Mag auch das Werk noch andere fremde Elemente der Erregung besitzen, er ergreift ihre Vielfältigkeit nur als ein Mittel, dem letzten Eindruck eine reichere Einheit zu leihen. Du siehst also: der feinfühlige Kritiker wird jene aufdringlichen Kunstarten ablehnen, die nur eine Botschaft zu bringen haben und nachher stumm und unfruchtbar sind. Er sucht nach einer Kunst, die sein Träumen und seine Stimmung befruchtet und durch ihre unirdische Schönheit jede Deutung als wahr, aber keine Deutung als endgültig erscheinen läßt. Allerdings wird das schöpferische Werk des Kritikers dem Werk, das ihn zum Schaffen anregte, in gewissem Sinne gleichen, aber nicht, wie die Natur dem Spiegelbilde gleicht, das der Maler ihr in Landschaften oder Gestalten entgegenhält, sondern wie die Natur dem Werke des schmückenden Künstlers gleicht. Wie auf den blumenlosen Teppichen Persiens Tulpen und Rosen wahrhaft blühen und lieblich anzuschauen sind, ob sie gleich weder in Form noch Linie sichtlich nachgebildet wurden; wie die Perlen und der Purpurglanz der Muscheln des Meeres ihr Echo finden im Dome von San Marco; wie das gewölbte Gebälk im Wunderbau von Ravenna strahlt und gleißt vom Gold und Grün und Blau des Pfauenschweifes, ob auch die Vögel der Juno es nicht im Fluge queren; so schafft der Kritiker nach dem Werke, das er bespricht, doch ohne es nachzuahmen. Ja, ein Teil des Zaubers, den er ausübt, liegt gerade darin, daß er den Anklang meidet und so nicht nur die Schönheit deutet, sondern ihr Geheimnis zeigt; und indem er jede Kunst in die Rede überträgt, löst er für immer das Problem der Einheit der Kunst. – Doch wie ich sehe, ist es Zeit zum Essen. Jetzt wollen wir uns mit dem Chambertin und den Ortolanen unterhalten und nachher zu einem neuen Problem übergehen, nämlich den Kritiker als Interpreten betrachten.

Ernst.

O, du gibst also zu, daß der Kritiker mitunter die Dinge betrachten darf, wie sie sind?

Gilbert.

Das weiß ich noch nicht sicher. Vielleicht nach Tisch. Bisweilen übt das Essen einen zarten Einfluß aus.


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