Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Oscar Wilde

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Dreizehntes Kapitel

Er trat aus dem Zimmer und fing an, die Treppe hinaufzugehn; Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie traten leise auf, wie man es instinktiv bei Nacht zu tun pflegt. Die Lampe warf auf die Wand und die Treppe phantastische Schatten. Einige Fenster klirrten in dem Wind, der sich erhoben hatte.

Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, stellte Dorian Gray die Lampe auf den Fußboden, nahm den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. »Du bestehst auf einer Antwort, Basil?« fragte er leise.

»Ja.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte er lächelnd. Dann fügte er mit etwas rauher Stimme hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der Anspruch darauf hat, alles über mich zu wissen. Du hast mehr mit meinem Leben zu tun gehabt, als du glaubst.« Damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat ein. Ein kalter Luftzug traf sie, und das Licht schoß einen Augenblick zu einer dunkelorangefarbenen Flamme empor. Er schauderte. »Schließe die Tür hinter dir!« flüsterte er und stellte die Lampe auf den Tisch.

Hallward blickte erstaunt um sich. Das Zimmer sah aus, als sei es seit vielen Jahren nicht bewohnt. Ein verblichener flämischer Wandteppich, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer cassone und ein fast leerer Bücherschrank, das war, außer einem Stuhl und einem Tisch, alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb heruntergebrannte Kerze anzündete, die auf dem Kaminsims stand, sah Basil, daß das ganze Zimmer mit Staub bedeckt war und daß der Teppich in Fetzen lag. Eine Maus lief ängstlich hinter die Täfelung. Es roch dumpfig nach Schimmel.

»Du glaubst also, nur Gott sehe die Seele, Basil? Zieh den Vorhang zurück, und du wirst meine sehn.«

Die Stimme, die sprach, war kalt und grausam.

»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst eine Rolle!« erwiderte Hallward und runzelte die Stirn.

»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun,« sagte der junge Mann; und er riß den Vorhang von seiner Stange und warf ihn zu Boden.

Ein Ausruf des Entsetzens kam von den Lippen des Malers, als er in der schlechten Beleuchtung das häßliche Gesicht auf der Leinwand sah, das ihn angrinste. Es lag etwas in dem Ausdruck, das ihn mit Widerwillen und Ekel erfüllte. Großer Gott! es war Dorian Grays eigenes Gesicht, auf das er blickte! Das Gräßliche, was es auch war, hatte die wunderbare Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem dünnen Haar und etwas Rot auf dem sinnlichen Mund. Die stumpfen Augen hatten etwas von ihrem lieblichen Blau bewahrt, die edeln, geschwungenen Linien um die feingebauten Nüstern und der plastische Hals waren noch nicht ganz geschwunden. Ja, es war Dorian selbst. Aber wer hatte das gemacht? Er glaubte das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst entworfen. Der Gedanke war ungeheuerlich, aber ihn überkam Angst. Er ergriff die Kerze und hielt sie nahe ans Bild. In der linken Ecke stand sein Name in langen hellroten Buchstaben.

Es war irgendeine verruchte Parodie, eine schmähliche, unwürdige Satire. Er hatte das nie gemalt. Aber doch, es war sein eigenes Bild. Er wußte es und hatte die Empfindung, als wandle sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in stockendes Eis. Sein eigenes Bild! Was sollte das heißen? Warum war es verändert? Er drehte sich um und sah Dorian mit fiebernden Augen an. Sein Mund zuckte, und seine Zunge klebte am Gaumen und schien sich nicht rühren zu können. Er fuhr mit der Hand über die Stirn; kalter Schweiß bedeckte sie.

Der junge Mann stand an den Kamin gelehnt da und beobachtete ihn mit dem seltsamen Ausdruck, den man auf den Mienen derer sieht, die vom Spiel eines großen Künstlers in einem Theaterstück ganz hingerissen sind. Es war kein wirklicher Schmerz und keine wirkliche Freude. Es war nur die Leidenschaft des Zuschauers, vielleicht noch mit einem Flackern des Triumphs in den Augen. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und sog ihren Duft ein oder tat wenigstens so.

»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm grell und seltsam in den Ohren.

»Vor vielen Jahren, als ich fast noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray und zerdrückte die Blume in seiner Hand, »lerntest du mich kennen, schmeicheltest mir und lehrtest mich, auf mein Aussehn eitel zu sein. Eines Tages machtest du mich mit einem deiner Freunde bekannt, der mir erklärte, was für eine wunderbare Sache die Jugend sei, und du vollendetest ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit offenbarte. In einem tollen Augenblick – ich weiß auch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht – sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein Gebet nennen ...

»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich daran! Nein! So etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist verschimmelt. Die Farben, die ich benutzt habe, hatten irgendein schädliches, mineralisches Gift in sich. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich!«

»Ah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und lehnte seine Stirn an die kalte, nebelnasse Scheibe.

»Du sagtest mir, du hättest das Bild zerstört.«

»Das habe ich falsch gesagt. Es hat mich zerstört.«

»Kannst du dein Ideal nicht darin erblicken?« sagte Dorian bitter.

»Ich glaube nicht, daß es mein Bild ist.« »Mein Ideal, wie du es nennst . .

»Wie du es nanntest.«

»Es hatte nichts Böses in sich nichts Schmachvolles. Du warst für mich ein Ideal, wie ich es nie wieder finden werde. Dies ist das Gesicht eines Satyrs.«

»Es ist das Gesicht meiner Seele.«

»Mein Heiland! was habe ich angebetet! Es hat die Augen eines Teufels.«

»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil!« rief Dorian mit einer wilden Bewegung der Verzweiflung.

Hallward wandte sich wieder dem Bild zu und starrte es an. »Mein Gott! es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht! Wehe, du mußt noch schlechter sein, als die, die so schlimm von dir reden, ahnen!« Er hielt das Gesicht wieder nahe an die Leinwand und untersuchte sie genau. Die Oberfläche schien völlig unangetastet und geblieben, wie sie aus seinen Händen gekommen war. Von innen war augenscheinlich die Verderbnis und das Entsetzliche gedrungen. Durch einen seltsamen Zeugungsprozeß inneren Lebens fraß der Aussatz der Sünde langsam an dem Bilde. Das Faulen eines Leichnams, der im Wasser begraben liegt, war nicht so grauenhaft.

Seine Hand zitterte, und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Fußboden und lag qualmend da. Er trat mit dem Fuß darauf und löschte sie aus. Dann warf er sich in den gebrechlichen Stuhl, der am Tisch stand, und begrub das Gesicht in den Händen.

»Guter Gott, Dorian, was für eine Züchtigung! Was für eine gräßliche Züchtigung!« Es kam keine Antwort, aber er konnte hören, wie der junge Mann am Fenster schluchzte. »Bete, Dorian, bete!« sagte er in leisem, eindringlichem Tone. »Wie war es, was man uns in der Kinderzeit aufsagen ließ? ›Führe uns nicht in Versuchung. Vergib uns unsere Sünden. Tilge unsere Missetaten.‹ Komm, wir wollen es zusammen sprechen! Das Gebet deines Hochmuts ist erhört worden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich betete dich zu sehr an. Ich bin dafür gestraft worden. Du hast dich selbst zu sehr angebetet. Wir sind beide gestraft.

Dorian Gray drehte sich langsam um und sah ihn mit tränenumschleierten Augen an. »Es ist zu spät, Basil,« sagte er, und die Stimme versagte ihm fast.

»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen zusammen hinknien, wir wollen versuchen, uns eines Gebetes zu erinnern. Steht nicht ein Vers irgendwo: ›Und wenn schon eure Sünden wie Scharlach sind, ich will sie weiß machen wie Schnee?‹«

»Solche Worte haben keinen Sinn mehr für mich.«

»Still! sag nicht so etwas! Du hast genug Schlimmes getan im Leben. Mein Gott! siehst du nicht, wie das verruchte Bild höhnisch zu uns her schielt?«

Dorian Gray sah auf das Bild, und plötzlich überkam ihn ein unwiderstehliches Gefühl des Hasses gegen Basil Hallward, als ob es ihm von dem Bildnis auf der Leinwand eingeflößt würde, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr geraunt würde. Die wilde Wut eines gehetzten Tieres erwachte in ihm, und er verabscheute den Mann, der am Tische saß, mehr, als er je im Leben etwas verabscheut hatte. Er blickte wild um sich. Es glänzte etwas oben auf der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand. Sein Auge fiel darauf. Er erkannte, was es war. Es war ein Messer, das er ein paar Tage vorher mit herauf gebracht hatte, um ein Stück Schnur durchzuschneiden, und das er vergessen hatte, wieder fortzutragen. Er bewegte sich langsam darauf zu, wobei er an Hallward vorüber mußte. Sowie er an ihm vorbei war, ergriff er es und drehte sich um. Hallward bewegte sich auf seinem Stuhl, als ob er eben aufstehn wollte. Dorian stürzte auf ihn und stieß das Messer in die große Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch herunter und stieß wieder und wieder.

Es gab ein dumpfes Röcheln und den gräßlichen Ton eines Menschen, der am Blute erstickt. Dreimal streckten sich die krampfhaft ausgebreiteten Arme empor, und die Hände wogten mit steif gereckten Fingern grotesk durch die Luft. Er stieß noch zweimal mit dem Messer nach, aber der Mann rührte sich nicht mehr. Etwas fing an, auf den Boden zu tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte immer noch den Kopf herunter. Dann warf er das Messer auf den Tisch und lauschte.

Er konnte nichts weiter hören als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis zum Beginn der Treppe. Das Haus war völlig ruhig, niemand war zu hören. Ein paar Sekunden stand er über die Brüstung gelehnt und spähte hinab in den schwarzen, kochenden Brunnen der Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel heraus, kehrte in das Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich zu.

Das Ding saß noch im Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen, wunderlichen Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, tief ausgebohrte Riß im Nacken gewesen und die schwarze, geronnene Pfütze, die sich auf dem Tisch langsam erweiterte, man hätte denken können, der Mann sei eingeschlafen.

Wie schnell das alles gegangen war! Er war seltsam ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte den Nebel auseinandergejagt, und der Himmel war wie ein ungeheurer Pfauenschweif mit unzähligen goldenen Augen ausgestirnt. Er sah hinunter und sah den Schutzmann, der seine Runde machte und mit der Laterne an die Türen der schweigend daliegenden Häuser leuchtete. Das rote Licht einer langsam fahrenden Droschke glomm an der Ecke auf und verschwand dann wieder. Eine Frau schlich langsam an den Geländern hin und taumelte im Gehn. Ihr Tuch flatterte im Winde. Hie und da blieb sie stehn und sah sich um. Plötzlich fing sie mit heiserer Stimme zu singen an. Der Schutzmann ging langsam über die Straße und sagte etwas zu ihr. Sie stolperte lachend weiter. Ein scharfer Windstoß fegte über den Platz. Die Gasflammen flackerten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten ihre schwarzen Zweige, die wie Eisenstangen aussahen, hin und her. Er fröstelte, trat zurück und schloß die Tür hinter sich.

Als er an der Stubentür angekommen war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er warf keinen Blick auf den ermordeten Menschen. Er fühlte, das Geheimnis der ganzen Sache bestand darin, sich die Situation nicht zu vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Porträt gemalt hatte, von dem all sein Elend kam, war aus dem Leben geschieden. Das war genug.

Dann erinnerte er sich der Lampe. Es war eine ziemlich absonderliche von maurischer Arbeit, aus mattem Silber gefertigt, das mit Arabesken aus schwarzem Stahl und mit ungeschliffenen Türkisen belegt war. Vielleicht könnte sie von seinem Diener vermißt werden, es könnte danach gefragt werden. Er zögerte einen Augenblick, dann kehrte er um und nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt sehn. Wie still sie war! Wie schrecklich weiß die langen Hände aussahen! Es war wie eine gräßliche Wachsfigur.

Er schloß die Tür hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. Das Holzwerk krachte und schien wie klagend zu schreien. Er blieb ein paarmal stehn und wartete. Nein, es war alles still. Es war nichts zu hören als der Klang seiner eignen Tritte.

Als er in seinem Zimmer angelangt war, sah er die Tasche und den Mantel in der Ecke. Sie mußten irgendwo versteckt werden. Er schloß einen Geheimschrank in der Holzverkleidung auf, in dem er die eigenen Kleidungsstücke aufbewahrte, die er manchmal für seine Vermummungen brauchte, und tat die Sachen hinein. Er konnte sie später leicht verbrennen. Dann sah er nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei. Er setzte sich und fing an zu überlegen. In jedem Jahr – in jedem Monat beinahe – wurden in England Menschen für solche Dinge, wie er eben eins getan hatte, gehenkt. Eine tolle Mordlust war in der Luft gewesen. Ein roter Stern war der Erde zu nahe gekommen.

Aber was für einen Beweis gab es gegen ihn? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte gesehn, daß er noch einmal zurückgekommen war. Die meisten Bedienten waren in Selby Royal. Sein Diener war zu Bett gegangen ... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem Zwölfuhrzug, wie er vorgehabt hatte. Bei seinen seltsamen Gewohnheiten, sich von allem zurückzuziehen, würde es Monate dauern, bevor sich ein Argwohn regte. Monate! Jede Spur konnte lange vorher getilgt sein. Ein plötzlicher Einfall kam ihm. Er zog seinen Pelzmantel an, setzte den Hut auf und ging in das Vestibül. Dort stand er still und lauschte auf den langsamen, schweren Tritt des Schutzmannes draußen auf dem Pflaster und sah auf den Widerschein der leuchtenden Blendlaterne im Türfenster. Er wartete und hielt den Atem an.

Nach ein paar Augenblicken schob er den Riegel zurück, schlich hinaus und schloß die Tür sehr leise hinter sich zu. Dann fing er an, die Glocke zu ziehen. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener halb angezogen und sehr verschlafen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis,« sagte er und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe vergessen, meinen Drücker mitzunehmen. Wieviel Uhr ist es?«

»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr,« antwortete der Mann, der nach der Uhr gesehn hatte, und blinzelte.

»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«

»Gewiß, gnädiger Herr.«

»Ist jemand hier gewesen?«

»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er blieb hier bis elf Uhr und ging dann, um seinen Zug zu erreichen.«

»Schade, daß ich ihn nicht getroffen habe. Hinterließ er etwas?«

»Nein, gnädiger Herr; er sagte nur, er werde Ihnen von Paris aus schreiben, wenn er Sie im Klub nicht anträfe.«

»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun Uhr zu wecken!«

»Sehr wohl, gnädiger Herr.«

Der Mann schlürfte in seinen Pantoffeln über die Durchfahrt in die Dienerwohnung.

Dorian Gray legte Hut und Mantel auf den Tisch und trat in das Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er im Zimmer hin und her, biß sich auf die Lippen und überlegte. Dann nahm er das Adreßbuch aus einem der Fächer und fing an zu blättern. »Alan Campbell, 152 , Hertford Street, Mayfair.« Ja; das war der Mann, den er brauchte.


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