Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Oscar Wilde

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Neuntes Kapitel

Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins Zimmer.

»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian,« sagte er in ernstem Tone. »Ich war gestern abend da, und man sagte mir, du seist in der Oper. Natürlich wußte ich, daß das nicht sein konnte. Aber ich wollte, du hättest ein Wort hinterlassen, wohin du wirklich gegangen warst. Ich verbrachte eine schreckliche Nacht und fürchtete halb, der einen Tragödie könnte eine zweite gefolgt sein. Du hättest mir telegraphieren sollen, sowie du es erfuhrst. Ich las es ganz zufällig in einer späten Ausgabe des Globe, den ich im Klub in die Hand bekam. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich nicht zu finden. Ich kann dir nicht sagen, wie bitter weh mir das Ganze tut. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst du? Warst du hingegangen, ihre Mutter zu sehen? Einen Augenblick dachte ich daran, dich dort aufzusuchen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich fürchtete, in einen Schmerz einzudringen, dem ich nicht helfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein? Und dazu ihr einziges Kind! Was sagte sie zu dem allem?«

»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« fragte Dorian Gray, der aus einem entzückenden bauchigen venezianischen Glas, das mit Goldperlen verziert war, von einem blaßgelben Wein kleine Schlucke nahm und äußerst indigniert aussah. »Ich war in der Oper. Du hättest auch kommen sollen. Ich lernte Lady Gwendolen, Harrys Schwester, kennen. Wir waren bei ihr in der Loge. Sie ist ein reizendes Geschöpf; und die Patti sang himmlisch. Sprich nicht über gräßliche Sachen! Wenn man über eine Sache nicht spricht, ist sie nie gewesen. Nur der Ausdruck, sagt Harry, gibt den Dingen Wirklichkeit. Hinzufügen möchte ich, daß sie nicht das einzige Kind der Mutter war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Bursche, glaube ich. Aber er ist nicht beim Theater – Matrose oder so was Ähnliches. Und jetzt erzähle von dir etwas. Was machst du?«

»Du warst in der Oper?« sagte Hallward. Er sprach sehr leise, sein Ton war schmerzhaft gepreßt. »Du gingst in die Oper, während Sibyl Vane in einem schmutzigen Hause auf dem Totenbette liegt? Du kannst zu mir von andern reizenden Frauen sprechen und von dem himmlischen Gesang der Patti, ehe das Mädchen, das du geliebt hast, noch der Ruhe des Grabes übergeben ist, in dem sie schlafen soll? Mensch, Mensch, was für Schrecknisse warten auf ihren kleinen weißen Körper!«

»Hör auf, Basil, ich will das nicht hören!« rief Dorian aufspringend. »Du mußt nicht von geschehnen Dingen mit mir reden. Was geschehen ist, ist geschehen. Was vorbei ist, ist vorbei. Laß das Vergangne!«

»Du nennst gestern die Vergangenheit?«

»Was hat der Verlauf der Zeit damit zu tun? Nur oberflächliches Volk braucht Jahre, um eine Empfindung loszuwerden. Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann einem Schmerz so leicht ein Ende machen, wie er einen Genuß finden kann. Ich habe keine Lust, meinen Empfindungen preisgegeben zu sein. Ich will sie nutzen, sie genießen und sie beherrschen.«

»Dorian, das ist gräßlich! Es hat dich etwas völlig gewandelt. Du siehst genau so aus wie der wundervolle Jüngling, der Tag für Tag in mein Atelier kam, um mir für sein Bild zu sitzen. Aber damals warst du einfach, natürlich und liebevoll. Du warst das unverdorbenste Menschenkind in der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als ob du kein Herz und kein Erbarmen in der Brust hättest. Das ist alles Harrys Einfluß, ich sehe es.«

Der Jüngling errötete, trat ans Fenster und blickte einige Augenblicke auf den grünen, blitzenden, von der Sonne übergossenen Garten. »Ich verdanke Harry sehr viel,« antwortete er schließlich, »mehr als dir. Du warst es, der mir die Eitelkeit beigebracht hat.«

»Ich bin gestraft dafür, Dorian – oder werde eines Tages dafür gestraft werden.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil!« rief er aus und drehte sich um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?«

»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe,« sagte der Künstler traurig.

»Basil,« antwortete der Jüngling, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gestern, als ich erfuhr, daß Sibyl Vane sich getötet habe...«

»Sich getötet! Großer Gott! Ist das sicher?« schrie Hallward auf und blickte ihn entsetzt an.

»Mein lieber Basil! Du nimmst doch nicht an, daß es ein gemeiner Zufall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.« Der Altere barg das Gesicht in den Händen. »Wie furchtbar,« flüsterte er, und ein Schauder durchlief ihn.

»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist nichts Furchtbares daran. Es ist eine der großen romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel führen Leute vom Theater das trivialste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue Gattinnen oder sonst etwas Langweiliges. Du weißt, was ich meine – Philistertugend und dergleichen. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre schönste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, an dem sie spielte – an dem Abend, wo du sie sahst-, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit kennen gelernt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit kennen lernte, starb sie, wie Julia gestorben ist. Sie floh wieder ins Land der Kunst. Etwas von Märtyrertum umschwebt sie. Ihr Tod hat die ganze pathetische Nutzlosigkeit des Märtyrertums, all seine verschwendete Schönheit. Aber wie gesagt, du darfst nicht glauben, ich hätte nicht gelitten. Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick gekommen wärest – vielleicht um halb sechs Uhr oder dreiviertel sechs –, hättest du mich in Tränen gefunden. Selbst Harry, der hier war, der mir die Nachricht tatsächlich gebracht hat, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt unsäglich. Dann verflog es. Ich kann eine Empfindung nicht wiederholen. Niemand kann es, außer den Sentimentalen. Und du bist sehr ungerecht, Basil. Du kommst hierher, mich zu trösten. Das ist sehr lieb von dir. Du findest mich getröstet und wirst wütend. Ist das dein Mitgefühl? Du erinnerst mich an eine Geschichte, die Harry mir von einem Philantropen erzählte, der zwanzig Jahre seines Lebens sich bemühte, einen Mißstand zu heben oder die Abänderung eines ungerechten Gesetzes zu erwirken – ich weiß nicht mehr genau. Schließlich hatte er Erfolg, und nichts kann größer sein als seine Enttäuschung. Er hatte ganz und gar nichts mehr zu tun, starb fast vor Langerweile und wurde ein vollendeter Menschenfeind. Und überdies, lieber alter Basil, wenn du mich wirklich trösten willst, lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder es von dem rechten künstlerischen Standpunkt aus betrachten. War es nicht Gautier, der gern von der ›consolation des arts‹ geschrieben hat? Ich erinnere mich, in deinem Atelier fand ich einmal ein kleines Buch in Pergamenteinband und stieß auf das entzückende Wort. Nun, wie der junge Mann bin ich nicht, von dem du mir erzähltest, als wir zusammen in Marlow waren, der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen in allen Unglücksfällen des Lebens trösten. Ich liebe schöne Dinge, die man berühren und zur Hand nehmen kann. Alter Brokat, grüne Bronze, Lackarbeiten, geschnitztes Elfenbein, ein erlesenes Interieur, verschwenderische Üppigkeit, von dem allem ist viel zu holen, Aber die künstlerische Seelenverfassung, die sie schaffen oder jedenfalls offenbaren, gilt mir noch mehr. Zuschauer seines eigenen Lebens werden, wie Harry sagt, heißt dem Leiden des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist überrascht, daß ich so zu dir spreche. Du hast nicht wahrgenommen, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein Knabe, als du mich kennen lerntest. Ich bin ein Mann geworden. Ich habe neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Ideen. Ich bin ein anderer, aber du darfst mich darum nicht weniger lieben. Ich bin verwandelt, aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber ich weiß, daß du besser bist als er. Du bist nicht stärker du fürchtest das Leben zu sehr– aber du bist besser. Und wie glücklich sind wir doch miteinander gewesen! Verlaß mich nicht, Basil, und streite nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Da ist nichts weiter zu sagen.«

Der Maler war seltsam bewegt. Der Jüngling war ihm unendlich wert, und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch ferner Vorwürfe zu machen. Schließlich war seine Gleichgültigkeit wahrscheinlich nur eine vorübergehende Stimmung. Es war so viel in ihm, was gut, so viel, was edel war.

»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit traurigem Lächeln, »ich werde von heute an nichts mehr von der traurigen Sache zu dir sagen. Ich hoffe nur, dein Name wird nicht in Verbindung mit ihr genannt. Die Leichenschau wird diesen Nachmittag stattfinden. Bist du geladen?«

Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung prägte sich bei dem Wort »Leichenschau" in seinen Mienen aus. Alles der Art hatte so etwas Rohes und Gemeines an sich. »Sie wissen nicht, wie ich heiße,« antwortete er.

»Aber sie wußte es doch?«

»Sie kannte nur meinen Vornamen, und ich bin sicher, daß sie den niemandem gegenüber aussprach. Sie sagte mir einmal, alle seien sehr neugierig, zu wissen, wer ich sei, und sie sage allen unweigerlich, ich heiße Prinz Wunderhold. Das war lieb von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich möchte gern etwas mehr von ihr haben als ein paar Küsse und ein paar schmerzvolle pathetische Worte.«

»Ich will versuchen, etwas zu machen, wenn du es haben willst. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich kann ohne dich nicht weiterkommen.«

»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Es ist unmöglich!« rief er aus und trat zurück.

Der Maler starrte ihn an. »Lieber Junge, was für Unsinn redest du!« rief er. »Willst du damit sagen, das Bild, das ich von dir gemalt habe, gefalle dir nicht? Wo ist es? Warum hast du den Schirm davorgestellt? Laß mich es sehn! Es ist die beste Arbeit, die je aus meinen Händen kam. Nimm den Schirm weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Diener mein Werk derart versteckt. Ich merkte gleich, als ich hereinkam, daß das Zimmer anders aussah.«

»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht, daß ich es ihm überlasse, wie es in meinem Zimmer aussieht? Er ordnet manchmal meine Blumen, aber weiter nichts. Nein; ich tat es selbst. Das Bild hatte zuviel Licht.«

»Zuviel Licht! Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen prachtvollen Platz. Ich möchte es sehen.« Und Hallward näherte sich der Zimmerecke.

Ein Ruf des Schreckens kam von den Lippen Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und den Wandschirm. »Basil,« sagte er und sah sehr blaß aus, »du darfst es nicht ansehn. Ich wünsche es nicht!«

»Mein eigenes Bild nicht ansehn! Du scherzest. Warum sollte ich es nicht sehen?« rief Hallward und lachte.

»Wenn du den Versuch machst, es anzusehn, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich nie wieder, solange ich lebe, ein Wort mit dir spreche. Ich scherze nicht. Ich gebe keinerlei Erklärung, und du wirst nicht danach fragen. Aber vergiß nicht, wenn du diesen Schirm berührst, ist alles zwischen uns vorbei!«

Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Donau Gray in heftigstem Staunen an. Er hatte ihn nie vorher so gesehen. Der Jüngling war tatsächlich blaß vor Wut. Seine Hände waren geballt, und seine Pupillen sahen aus wie Räder aus blauem Feuer. Er zitterte am ganzen Leib.

»Dorian!«

»Sprich nicht!«

»Aber was ist los? Natürlich sehe ich es nicht an, wenn du es nicht haben willst,« sagte er kalt, drehte sich auf dem Absatz herum und ging ans Fenster hinüber. »Aber wahrhaftig, es klingt wie Wahnsinn, daß ich mein eigenes Werk nicht sehn soll, besonders, wo ich es im Herbst in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher neu firnissen und es daher eines Tages sehen müssen. Warum also nicht heute?«

»Es ausstellen! Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, und ein seltsames Gefühl der Angst überkam ihn. Sein Geheimnis sollte der Welt gezeigt werden? Die Menschen sollten das Geheimnis seines Lebens begaffen dürfen? Das war unmöglich. Da mußte etwas – er wußte nicht was – sofort geschehen.

»Ja; ich denke nicht, daß du etwas dagegen hast. Georges Petit ist dabei, meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue de Seze zusammenzustellen, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird nur einen Monat fort sein. Ich sollte meinen, du könntest es leicht so lange entbehren. In Wahrheit wirst du sicher gar nicht in der Stadt sein. Und wenn du es immer hinter einem Schirm versteckst, kannst du dir nicht viel daraus machen.«

Dorian Gray fuhr mit der Hand über die Stirn, es standen Schweißtropfen darauf. Er spürte, daß er am Rande einer furchtbaren Gefahr war. »Vor einem Monat sagtest du mir, du wolltest es nie ausstellen. Warum bist du anderer Meinung geworden? Ihr Menschen, die ihr solch Wesen aus der Konsequenz macht, habt genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist, daß eure Launen keinen Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir sehr feierlich versichert hast, nichts in der Welt sollte dich dazu bringen, es auf eine Ausstellung zu schicken. Du sagtest Harry genau dasselbe.« Er hielt plötzlich inne, und seine Augen glänzten auf. Er erinnerte sich, wie Lord Henry halb im Ernst, halb scherzhaft einmal zu ihm gesagt hatte: ›Willst du eine seltsame Viertelstunde haben, so laß dir von Basil sagen, warum er dein Bild nicht ausstellen will. Er sagte mir den Grund, und es war eine Offenbarung für mich.‹ Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte den Versuch machen und ihn fragen.

»Basil,« sagte er, trat dicht an ihn heran und sah ihm gerade ins Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Laß mich deines wissen, und sich sage dir meines. Was war der Grund, warum du es von dir wiesest, mein Bild auszustellen?«

Den Maler überlief ein Frösteln. »Dorian, wenn ich dir das sagte, hättest du mich vielleicht nicht mehr so lieb wie jetzt und lachtest sicher über mich. Ich könnte beides nicht ertragen. Wenn du wünschst, daß ich dein Bildnis nicht wieder sehn soll, will ich mich zufrieden geben. Ich kann immer noch dich ansehn. Wenn du das beste Werk, das ich je gemacht habe, vor der Welt verstecken willst, soll es mir recht sein. Deine Freundschaft gilt mir mehr als alle Berühmtheit.«

»Nein, Basil, du mußt es mir sagen,« drängte Dorian Gray. »Ich denke, ich habe ein Recht, es zu wissen.« Sein Angstgefühl war gewichen und Neugier an die Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu kommen.

»Setzen wir uns, Dorian,« sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen wir uns. Und nun beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas Seltsames bemerkt? – Etwas, was dir wahrscheinlich zuerst nicht auffiel, was sich dir aber plötzlich offenbarte?«

»Basil!« rief der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, entsetzten Augen an.

»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sprich nicht! Warte, bis du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Moment an, wo ich dich kennen lernte, übte deine Erscheinung den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus. Du herrschtest über mich, über meine Seele, mein Hirn und all meine Kraft. Du wurdest für mich die sichtbare Verkörperung des unsichtbaren Ideals, das wir Künstler nicht los werden wie einen köstlichen Traum. Ich betete dich an. Ich wurde eifersüchtig auf jeden, mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen war. Wenn du von mir fort warst, lebtest du noch immer in meiner Kunst und warst da ... Natürlich ließ ich dich davon nie etwas ahnen – es wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden, ich verstand es kaum selbst. Ich wußte nur, daß ich der Vollkommenheit von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und daß die Welt sich meinen Augen wundervoll erschlossen hatte – zu wundervoll vielleicht, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt Gefahr – die Gefahr, daß sie aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen vergingen, und ich verlor mich mehr und mehr in dir. Dann kam eine neue Wendung. Ich hatte dich als Paris in funkelnder Rüstung gemalt und als Adonis im Jagdgewand mit blitzendem Jagdspieß. Mit schweren Lotosblumen bekränzt hast du am Bug der Barke Hadrians gesessen und auf das grüne, trübe Wasser des Nils gesehn. Du hast dich über den stillen Teich einer Waldlandschaft Griechenlands gebeugt und in dem schweigenden Silber des Wassers das Wunder deines eigenen Bildes erblickt. Und es war alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entfernt. Eines Tages – eines verhängnisvollen Tages, denke ich manchmal, beschloß ich, ein wundervolles Bild von dir, wie du wirklich bist, zu malen, nicht in der Tracht vergangener Zeiten, sondern in deinen eignen Kleidern und deiner eignen Zeit. Ob es der Realismus der Aufgabe oder das bloße Wunder deiner eigenen Erscheinung war, die sich so unmittelbar ohne Dunst und Schleier vor mich hinstellte, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, als ich daran arbeitete, schien jede Schicht Farbe, die ich auftrug, mein Geheimnis zu enthüllen. Ich bekam Angst, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, herausfinden. Ich empfand, Dorian, daß ich zuviel gesagt hatte, daß ich zuviel von mir selbst hineingelegt hatte. Damals entschloß ich mich, das Bild nie ausstellen zu lassen. Du schienst etwas betroffen; aber damals gewahrtest du nicht alles, was es für mich bedeutete. Harry, dem ich davon sprach, lachte mich aus. Aber das beirrte mich nicht. Als das Bild vollendet war und ich allein vor ihm saß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Nun, nach ein paar Tagen verließ es mein Atelier, und sowie ich den unerträglichen Zauber seiner Gegenwart los war, schien mir, ich sei töricht gewesen, daß ich irgend etwas darin hatte finden wollen, außer daß du sehr schön bist und daß ich gut malen kann. Selbst jetzt kann ich mich des Gefühls nicht gut erwehren, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, die Glut, die man im Schaffen verspürt, zeige sich je leibhaftig in dem Werke, das man geschaffen hat. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir glauben. Form und Farbe sagen uns etwas von Form und Farbe – weiter nichts. Mir will oft scheinen, die Kunst verbirgt den Künstler weit mehr, als sie ihn offenbart. Und als mir daher von Paris aus dieser Vorschlag gemacht wurde, beschloß ich, dein Porträt solle das Hauptstück meiner Ausstellung werden. Es fiel mir nie ein, du könntest die Erlaubnis versagen. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht gezeigt werden. Du darfst mir nicht zürnen, Dorian, um deswillen, was ich dir gesagt habe. Ich ,habe es einmal zu Harry gesagt und wiederhole es: Du bist dazu geschaffen, angebetet zu werden.« Dorian Gray holte tief Atem.

Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Die Gefahr war vorüber; für diesmal war er gerettet Aber er konnte sich nicht enthalten, unendliches Mitleid mit dem Maler zu empfinden, der ihm eben dieses seltsame Bekenntnis abgelegt hatte, und er sann darüber nach, ob er selber je von der Persönlichkeit eines Freundes so beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu gescheit und zu zynisch, um wirklich geliebt zu werden. Würde es je einen Menschen geben, den er so seltsam abgöttisch verehrte? War das eins von den Dingen, die das Leben für ihn in Bereitschaft hielt?

»Es ist mir überaus erstaunlich, Dorian,« sagte Hallward, »daß du das dem Bild angesehn haben sollst. Sahst du es wirklich?«

»Ich sah etwas an ihm,« antwortete er, »etwas, das mir sehr seltsam vorkam.«

»Und nun hast du doch nichts mehr dagegen, daß ich das Bild ansehe?«

Dorian schüttelte den Kopf. »Du mußt es nicht von mir verlangen, Basil. Es wäre mir nicht möglich, dich vor dem Bilde stehn zu sehen.«

»Aber doch ein andermal?« »Niemals.«

»Nun, vielleicht hast du recht. Und nun leb wohl, Dorian. Du bist die einzige Person in meinem Leben gewesen, die wirklichen Einfluß auf meine Kunst hatte. Alles Gute, was ich vollbracht habe, danke ich dir. Ah! du weißt nicht, was es mich gekostet hat, dir all das zu sagen, was ich gesagt habe.«

»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir gesagt? Nichts weiter, als daß du fühlst, du bewunderst mich zu sehr. Das ist nicht eben sehr schmeichelhaft.«

»Es sollte keine Schmeichelei sein – es war ein Bekenntnis. Jetzt, da ich es abgelegt habe, ist es mir, als hätte ich etwas verloren. Vielleicht sollte man nie seiner Anbetung in Worten Ausdruck geben.«

»Es war ein Bekenntnis und eine Enttäuschung.«

»Ja, aber was erwartetest du, Dorian? Du sahst doch nichts anderes an dem Bilde, oder? Es war nichts anderes an ihm zu sehn?«

»Nein; es war nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du solltest nicht von Anbetung sprechen. Das ist Torheit. Du und ich sind Freunde, Basil, und wir wollen es immer bleiben.«

»Du hast Harry zum Freund,« sagte der Maler traurig.

»Oh, Harry,« sagte der junge Mann und lachte hell auf. »Harry verbringt seine Tage damit, Dinge zu sagen, die unglaublich sind, und seine Nächte, Dinge zu tun, die unwahrscheinlich sind. Gerade die Art Leben, wie ich es führen möchte. Aber doch, glaube ich, würde ich nicht zu Harry gehn, wenn mich etwas bekümmerte. Ich ginge eher zu dir, Basil.«

»Du wirst mir wieder sitzen?« »Unmöglich! «

»Du vernichtest mein Dasein als Künstler mit deiner Weigerung, Dorian. Niemand ist je zwei Idealen im Leben begegnet. Wenige haben eines getroffen.«

»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder sitzen. Es ist etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen. Es hat sein eigenes Leben in sich. Ich werde zu dir kommen und Tee mit dir trinken – das wird ebenso schön sein.«

»Für dich schöner, fürchte ich,« sagte der Maler in schmerzlichem Ton. »Und nun leb wohl. Ich bin traurig, daß du mich das Bild nicht noch einmal sehn lassen willst. Aber ich kann's nicht ändern. Ich verstehe völlig, was für eine Empfindung du dabei hast.«

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Dorian Gray. Armer Basil! wie wenig er den wahren Grund ahnte! Und wie seltsam es war, daß es ihm fast wie durch Zufall gelungen war, anstatt sein eigenes Geheimnis zu verraten, dem Freunde das seine zu entreißen! Wie viel erklärte ihm dieses seltsame Bekenntnis! Die absurden Eifersuchtsanwandlungen des Malers, seine wilde Hingebung, seine ausschweifenden Bewunderungshymnen, die Stimmungen seltsamer Schweigsamkeit – das alles verstand er jetzt, und er wurde traurig. Es schien ihm etwas Tragisches um eine Freundschaft zu sein, die so von der Romantik gefärbt war. Er seufzte und klingelte. Das Bild mußte unter allen Umständen versteckt werden. Er konnte sich nicht noch einmal einer solchen Gefahr der Entdeckung aussetzen. Es war Wahnsinn von ihm gewesen, das Bild auch nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, in das jeder seiner Freunde kommen konnte.


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