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Epistola: in carcere et vinculus

....... und mein Platz wäre zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade. »My place would be between Gilles de Retz and the Marquis de Sade«. So lautet jetzt der erste Satz in der neuen englischen Ausgabe. Daß er unvollständig ist, zeigt schon grammatikalisch das ›would be‹. Tatsächlich hat Wilde an Alfred Douglas geschrieben: »In a letter to Robbie I said that you were the infant Samuel, and that my place would be between Gilles de Retz and the Marquis de Sade«. Er zitiert also eine Stelle aus dem zweiten – von mir ›November 1896‹ – datierten Brief an Robert Ross (S. 134). Schon daraus ginge deutlich hervor, daß der uns bekannt gegebene Teil der »Epistola: in Carcere et Vinculis« nicht vor November 1896 geschrieben sein könnte. Wann Wilde mit ihr begonnen hat, läßt sich auf Grund innerer Kriterien erst durch Einsichtnahme des ganzen Werkes feststellen. Ob er nun, wie Ross angibt (S. XI), sechs Monate oder, wie Ingleby in seiner Biographie (p. 75) schreibt, drei Monate dazu gebraucht hat, der uns vorliegende Teil der »Epistola« kann nicht vor 1897 abgefaßt sein, Wilde spricht S. 1 von Dingen, die sich ›in der ersten November-Hälfte des vorletzten Jahres‹ zugetragen haben, d. h. November 1895, und fährt (S. 3) fort: »Eine Woche später schafft man mich hierher«. Wie er S. 101 erzählt, hat die Überführung von Wandsworth – einem südwestlichen Vororte Londons – nach Reading – einem lieblichen Themsestädtchen auf halbem Wege zwischen London und Oxford – am 13. November 1895 stattgefunden. Abermals drei Monate später wird dann der Tod der Mutter (S. 3 ) verzeichnet: Lady Wilde ist am 3. Februar 1896 gestorben. Die chronologischen Angaben stimmen also durchaus, so schwer es anfänglich infolge der Lücken scheint, sich in ihnen zurecht zu finden.

Gilles de Retz (eigentlich: Gilles de Laval, Baron de Retz, c. 1396-1440) focht an der Seite der Jungfrau von Orleans gegen die Engländer und erhielt für seine Tapferkeit den Marschallstab. Überverschuldet zog er sich auf sein Schloß bei Nantes zurück, wo er mehrere hundert Kinder geschändet haben soll. Er wurde zum Flammentod verurteilt, jedoch vorher erwürgt. (Vgl. die Romane »Vathek« von William Beckford und »Là-Bas« von Huysmans, wo der Schriftsteller Durtal mit einer Studie über den perversen Marschall beschäftigt ist.)

Marquis de Sade (Donatien Alphonse Francois, Marquis de Sade, 1740-1814) wurde 1772 wegen Sodomie zum Tode verurteilt, entkam jedoch in die Schweiz; 1777 wegen neuer Ausschweifungen angeklagt, ward er erst 1790 wieder in Freiheit gesetzt. Seine beiden berüchtigtsten Romane sind »Justine ou les malheurs de la vertu« (4 Bde., Paris 1791) und »Juliette ou les bonheurs du vice« (6 Bde., 1798).

So ist es wohl am besten. Ich will mich nicht darüber beklagen. Eine der vielen Lehren, die man dem Gefängnis verdankt, ist die: daß die Dinge sind, was sie sind, und es in alle Zukunft bleiben werden. Ich zweifle auch nicht im geringsten daran, daß der mittelalterliche Wüstling und der Verfasser der »Justine« bessere Gesellschafter sind als Sandford und Merton... »The History of Sandford and Merton« von Thomas Day (1748-1789), ein höchst moralisches englisches Kinderbuch, an Popularität vielleicht nur von »Robinson Crusoe« übertroffen.

 

All das hat sich in der ersten Novemberhälfte des vorletzten Jahres zugetragen. Ein breiter Lebensstrom fließt zwischen mir und einem so entfernten Zeitpunkt. Kaum, wenn überhaupt, kannst Du einen so weiten Zwischenraum überblicken. Mir aber kommt es vor, als wär' es mir, ich will nicht sagen: gestern, nein, heute zugestoßen. Leiden ist ein sehr langer Augenblick. Es läßt sich nicht nach Jahreszeiten abteilen. Wir können nur seine Stimmungen aufzeichnen und ihre Wiederkehr buchen. Für uns schreitet die Zeit selbst nicht fort. Sie dreht sich. Sie scheint um einen Mittelpunkt zu kreisen: den Schmerz. Die lähmende Unbeweglichkeit eines Lebens, das in allem und jedem nach einer unverrückbaren Schablone geregelt ist, so daß wir essen und trinken und spazieren gehn und uns hinlegen und beten oder wenigstens zum Gebet niederknien nach den unabänderlichen Satzungen einer eisernen Vorschrift: diese Unbeweglichkeit, die jeden Tag mit seinen Schrecken bis auf die kleinste Einzelheit seinem Bruder gleichen läßt, scheint sich den äußern Gewalten mitzuteilen, deren ureignes Wesen der beständige Wechsel ist. Von Saat und Ernte, von den Schnittern, die sich über das Getreide neigen, von den Winzern, die sich durch die Rebstöcke schlängeln, von dem Gras im Garten, über das sich die weiße Decke der abgefallenen Blüten breitet oder die reifen Früchte ausgestreut sind: davon wissen wir nichts und können nichts wissen.

Für uns gibt es nur eine Jahreszeit: die Jahreszeit des Grams. Die Sonne selbst und der Mond scheinen uns genommen. Draußen mag der Tag in blauen und goldnen Farben leuchten – das Licht, das zu uns hereinkriecht durch das dicht beschlagene Glas des kleinen, mit Eisenstäben vergitterten Fensters, unter dem wir sitzen, ist grau und karg. In unsrer Zelle herrscht stets Zwielicht, in unserm Herzen Mitternacht. Und im Bereich des Denkens stockt, ebenso wie im Kreislauf der Zeit, alle Bewegung. Was Du persönlich längst vergessen hast oder leicht vergessen kannst, trifft mich heut und wird mich morgen wiederum treffen. Das bedenke, und Du vermagst ein wenig zu verstehn, warum ich schreibe und so schreibe...

Eine Woche später schafft man mich hierher. Drei Monate verstreichen, da stirbt meine Mutter. Lady Wilde (Jane Francesca Elgee, 1826-1896) war seit 1851 mit dem Dubliner Augen- und Ohrenarzt William Wilde vermählt, der im Jahre 1864 in den Ritterstand erhoben wurde. Schon als Mädchen nahm sie regen Anteil an der politischen Bewegung in Irland und schrieb unter dem Pseudonym Speranza ein Pamphlet, das sie mit der englischen Regierung in Konflikt brachte. Als Schriftstellerin hat sich die exzentrische, aber hochgebildete und vielseitig begabte Frau auf verschiedenen Gebieten betätigt; von ihren Büchern wären zu nennen: »Driftwood from Scandinavia« (1884), »Legends of Ireland« (1886), »Social Studies« (1893). Ihre Gedichte (»Poems by Speranza«) sind vor einigen Jahren in Dublin neugedruckt worden. Auch als Übersetzerin aus dem Deutschen wirkte sie und übertrug u. a. Wilhelm Meinholds Roman »Sidonia von Bork, die Klosterhexe« (vgl. S. 146). Zuletzt lebte sie in London bei ihrem ältesten Sohne William, 146 Oakley Street in Chelsea; dort ist sie auch, in recht kümmerlichen Verhältnissen, gestorben. Du weißt, niemand weiß es besser, wie sehr ich sie geliebt und verehrt habe. Ihr Tod war mir furchtbar; aber ich, einst der Sprache Meister, finde nicht Worte, meinen Kummer und meine Beschämung auszudrücken. Niemals, nicht einmal in den glücklichsten Tagen meiner künstlerischen Entwicklung, wär' ich imstande gewesen, Worte zu finden, die eine so erhabene Last hätten tragen oder wohllautend und hoheitsvoll genug im purpurnen Zuge meines unaussprechlichen Wehs hätten einherschreiten können. Von ihr und meinem Vater hatte ich einen Namen geerbt, dem sie Ruhm und Ehre verschafft, nicht nur in der Literatur, Kunst, Archäologie und Naturwissenschaft, sondern auch in der politischen Geschichte meines Vaterlands, in seiner nationalen Entwicklung. Ich hatte diesen Namen für ewig geschändet. Zu einem gemeinen Schimpfworte bei gemeinen Menschen gemacht. In den Schlamm gezerrt. Rohen Gesellen ausgeliefert, daß sie ihn verrohen lassen durften, Verrückten, daß er ihnen gleichbedeutend mit Verrücktheit werden durfte. Was ich damals gelitten habe und noch leide, kann keine Feder schreiben, kein Buch künden. Meine Frau, Constance Mary Lloyd (1857 – 1898) war seit dem 29. Mai 1884 mit Oscar Wilde vermählt. Der Ehe sind zwei Söhne entsprossen: Cyril (geb. 1885) und Vyvyan (geb. 1886). Constance Wilde hat ihren Mann zum erstenmal am 21. September 1895 im Gefängnis in Wandsworth besucht und ihm später, in Reading, die Nachricht vom Tode seiner Mutter überbracht. Dies war ihre letzte Begegnung. Nachdem Wilde das Zuchthaus verlassen, haben sie sich nicht mehr gesehn. Sie wohnte damals schon in Genua und ist dort auch, am 7. April 1898, gestorben. die in jenen Tagen sehr gütig und liebenswert gegen mich war, wollte es mir ersparen, daß ich die Nachricht von gleichgültigen Menschen, von fremden Lippen hörte, und kam trotz ihrem Kranksein den ganzen Weg von Genua nach England gereist, um mir die Botschaft eines so unersetzlichen, so unermeßlichen Verlustes selbst zu überbringen. Von allen, die mir noch zugetan waren, erreichten mich Beileidskundgebungen. Sogar Leute, die mich nicht persönlich gekannt hatten, ließen mir, als sie hörten, daß ein neuer Schmerz in mein Leben getreten sei, den Ausdruck ihrer Teilnahme übermitteln...

Drei Monate verstreichen. Der tägliche Ausweis über meine Führung und Arbeit, der draußen an der Tür meiner Zelle hängt, – auch mein Name und mein Urteil stehn darauf – sagt mir, es ist Mai...

Glück, Wohlleben und Erfolg mögen von rauher Oberfläche und aus gemeinem Stoffe sein: das Leid ist das Zarteste in aller Schöpfung. Es gibt nichts in der ganzen geistigen Welt, an das der Schmerz mit seinem schrecklichen, überaus feinen Pulsschlag nicht heranreicht. Das dünne, ausgehämmerte Zittergold-Blättchen, das die Richtung der dem Auge nicht wahrnehmbaren Kräfte anzeigt, ist im Vergleich damit grob. Das Leid ist eine Wunde, die zu bluten anfängt, wenn eine andre Hand als die der Liebe daran rührt, und selbst dann von neuem bluten muß, wenn auch nicht vor Schmerz.

Wo Leid ist, da ist geweihte Erde. Eines Tages wird die Menschheit begreifen, was das heißt. Vorher weiß sie nichts vom Leben. Robbie Robbie, d. i. Robert Ross (geb. 1869), Kunsthändler und Kunstschriftsteller, Mitinhaber der Carfax Gallery in London, auch literarisch vielfach tätig, besonders in satirischen und parodistischen Skizzen ausgezeichnet. Er war einer der wenigen Freunde, die Wilde auch im Unglück nicht verlassen haben, wurde von ihm zum literarischen Testamentsvollstrecker ernannt (vgl. S. 136) und hat als solcher die bei Methuen & Co. in London erschienene dreizehnbändige Gesamtausgabe der Werke Oscar Wildes besorgt, nach der im folgenden alle Zitate angeführt sind. und Wesen seiner Art können es ermessen. Als ich zwischen zwei Polizisten aus dem Zuchthaus vor den Konkursgerichtshof geführt wurde, da wartete Robbie in dem langen, düstern Korridor, um zum Erstaunen der ganzen Menge, die ob einer so lieben, schlichten Handlung verstummte, ernst den Hut vor mir abzuziehn, während ich in Handschellen gesenkten Hauptes an ihm vorüberging. Um kleinerer Dienste willen sind Menschen in den Himmel gekommen. Von diesem Geiste beseelt, von solcher Liebe erfüllt, knieten die Heiligen nieder, um den Armen die Füße zu waschen, neigten sie sich, um den Aussätzigen auf die Wange zu küssen. Ich habe nie ein Wort darüber zu ihm gesagt. Bis zur Stunde weiß ich nicht einmal, ob er eine Ahnung hat, daß ich seine Handlungsweise überhaupt bemerkte. Dafür kann man nicht in förmlichen Worten förmlichen Dank aussprechen. In der Schatzkammer meines Herzens lasse ich es lagern. Dort bewahr' ich es als eine geheime Schuld, die ich zu meiner Freude wahrscheinlich nie zurückzahlen kann. Dort ist es einbalsamiert und behält sein liebliches Aussehn durch die Myrrhen und Narden vieler Tränen. Wenn alle Klugheit mir wertlos, die Philosophie unfruchtbar und die Redensarten und Sprüche derer, die mich zu trösten suchten, wie Staub und Asche im Munde erschienen, dann hat mir die Erinnerung an diesen kleinen, holden, stummen Akt der Liebe alle Brunnen des Mitleidens rauschen, die Wüste wie eine Rose aufblühn lassen, mich aus der Bitternis der einsamen Verbannung herausgehoben und in Einklang gebracht mit dem verwundeten, gebrochnen, großen Weltenherz. Wer fähig ist zu begreifen, nicht allein, wie schön Robbies Handlungsweise war, sondern warum sie mir so viel bedeutete und immer so viel bedeuten wird, der kann vielleicht einsehn, wie und mit welcher Gesinnung er mir nahen sollte ...

Der erste Gedichtband, den ein junger Mensch im Lenze seines Mannesalters in die Welt hinausschickt, soll wie eine Frühlingsblüte oder -blume sein, wie der Hagedorn auf den Wiesen Oxfords oder wie die Primeln auf den Feldern Cumnors. Cumnor, ein anmutiges Dorf in der Nähe Oxfords, viel besungen in der englischen Literatur, so von Matthew Arnold in »The Scholar Gipsy« und in »Thyrsis«, wo es Strophe 10 heißt: »Her foot the Cumner cowslips never stirr'd«. Wilde, dem diese Stelle in den »Intentions« (p. 145) und den »Reviews« (p. 22) vorschwebt, schreibt Cumnor. Walter Scotts Roman »Kenilworth« sollte ursprünglich Cumnor Hall heißen. Das Werk soll nicht mit dem Gewicht einer schrecklichen, empörenden Tragödie, eines schrecklichen, empörenden Skandals belastet sein. Lord Alfred Douglas hatte Wilde geschrieben, er beabsichtige – wohl ›pour épater le bourgeois‹ – ihm seinen ersten Gedichtband zu widmen. Davor warnt Wilde hier, um den Skandal nicht aufs neue zu entfachen. Die Gedichte sind, unter dem Titel »The City of the Soul«, 1899 ohne die Widmung erschienen. Hätte ich einem solchen Buche meinen Namen als Herold dienen lassen, es wäre ein schwerer künstlerischer Irrtum gewesen; es hätte das ganze Werk in ein falsches Milieu gestellt, und in der modernen Kunst hat das Milieu so großen Wert. Das moderne Leben ist kompliziert und relativ; dies sind seine beiden unterscheidenden Merkmale. Um das erste wiederzugeben, bedürfen wir des Milieus mit seinen zarten Nuancen und Andeutungen, seinen seltsamen Perspektiven; das zweite verlangt Hintergrund. Deswegen ist die Plastik für uns keine repräsentierende Kunst mehr, ist es die Musik, ist, war und wird die Literatur stets die höchste repräsentierende Kunst bleiben.

Jedes Vierteljahr schickt mir Robbie ein kleines Bündel literarischer Neuigkeiten. Es kann nichts Entzückenderes geben als seine Briefe, die so witzig, so geschickt zusammengefaßt, so leicht hingeworfen sind. Es sind wirkliche Briefe: Plaudereien unter vier Augen. Sie haben die Vorzüge einer französischen ›causerie intime‹; und in seiner feinen Art, mir zu huldigen, die sich bald an meine Urteilsgabe, bald an meinen Humor, dann wieder an meine angeborene Neigung zur Schönheit oder an meine Bildung wendet und mich auf hunderterlei Weise zart daran erinnert, daß ich einst vielen als Autorität in künstlerischen Stilfragen, einigen als die höchste Autorität galt, zeigt er, daß er den Takt der Liebe ebenso wie literarischen Takt besitzt. Seine Briefe sind die Boten gewesen zwischen mir und der herrlichen, unwirklichen Kunstwelt, in der ich ehedem König war und König geblieben wäre, hätte ich mich nicht in die unzulängliche Welt rauher, unvollkommner Leidenschaften, eines wahllosen Geschmackes, eines Verlangens ohne Grenzen und einer formlosen Gier locken lassen. Doch wenn alles gesagt ist, wirst Du gewiß verstehn oder Dir vorstellen können, daß zum mindesten rein als psychologische Kuriosität es mich mehr interessiert hätte, etwas Näheres von Dir zu hören, als zu erfahren, daß Alfred Austin Alfred Austin (geb. 1835), seit 1896 poeta laureatus, ein politisches Temperament, ein literarischer Epigone. Im Jahre 1897 brachte er »The Conversion of Winckelmann« heraus; vermutlich spielt Wilde darauf an. Über Austin hat er sich einmal (Reviews, p. 130) so geäußert: »Austin ist weder ein Olympier noch ein Titan, und alle Verlegerreklame kann ihn nicht auf den Parnaß setzen«. einen Band Gedichte zu veröffentlichen plane, daß George Street George Slythe Street (geb. 1867), Journalist und Schriftsteller. Hauptwerk: »The Autobiography of a Boy« (1894); schrieb 1907 das viel beachtete Buch »The Ghosts of Piccadilly«. jetzt Theaterkritiken für die Daily Chronicle schreibe, oder daß Mrs. Meynell Alice Meynell, geb. Thompson, Lyrikerin und Essayistin. In einem Aufsatz über »Englische Dichterinnen« (neugedruckt Miscellanies, p. 110 ff.) zählt Wilde Mrs. Meynell unter den Frauen auf, die ›wirklich Gutes in der Dichtkunst‹ geleistet haben. George Meredith hatte im August-Heft der »National Review« vom Jahre 1896 über »Mrs. Meynell's two Books of Essays« – gemeint sind »The Rhythm of Life« (1893) und »The Colour of Life« (1896) – begeistert geschrieben; sein überschwengliches Lob gipfelt in dem Schlußsatze: »A woman who thinks and who can write.«

Über George Meredith, den verehrten Doyen der englischen Romanschriftsteller, hat sich Wilde ähnlich, wenn auch weniger schroff als hier, in den »Intentions« (p. 17) und ebenso in den »Reviews« (p. 261) ausgesprochen: »... as an artist he is everything, except articulate«.
von einem, der kein begeistertes Loblied singen kann, ohne zu stottern, als die neue Sybille des Stils ausgerufen worden sei...

 

Andre beklagenswerte Geschöpfe, die ins Gefängnis geworfen werden, sind, wenn ihnen die Schönheit der Welt geraubt ist, wenigstens bis zu einem gewissen Grade vor den tückischsten Schlingen, den bittersten Pfeilen der Welt sicher. Sie können sich im Dunkel ihrer Zelle verbergen und aus ihrer Schande noch eine Art unverletzliches Heiligtum machen. Der Welt ist Genüge geschehn, die Welt geht ihren Weg weiter; man läßt sie ungestört leiden. Nicht so bei mir. Ein Leid nach dem andern hat auf der Suche nach mir an die Gefängnistüren geklopft; man hat ihm die Tore weit geöffnet und es hereingelassen. Meinen Freunden ist kaum oder gar nicht gestattet worden, mich zu besuchen. Aber meine Feinde haben jederzeit in vollem Maße Zutritt zu mir gehabt: zweimal, als ich vor dem Konkursgerichtshof öffentlich erscheinen mußte, und dann noch zweimal, als ich von einem Kerker zum andern öffentlich transportiert wurde, war ich unter unsagbar erniedrigenden Umständen Worin die »unsagbar erniedrigenden Umstände« bei der Überführung von Wandsworth nach Reading bestanden, ist S. [auf] 101 erzählt. den Blicken und dem Gespött der Menge preisgegeben. Der Bote des Todes hat mir seine Zeitung gebracht und ist davongegangen; völlig vereinsamt, ausgeschlossen von allem, was mich hätte trösten oder meinen Schmerz lindern können, habe ich die unerträgliche Pein des Elends und der Gewissensbisse erdulden müssen, die das Andenken an meine Mutter in mir hervorrief und noch immer hervorruft. Kaum hat die Zeit diese Wunde verharscht, nicht geheilt, da läßt mir meine Frau durch ihren Anwalt barsche, bittere, schroffe Briefe schreiben. Man droht mir mit Armut und macht sie mir gleichzeitig zum Vorwurf. Das kann ich ertragen. Ich kann mich an noch Schlimmeres gewöhnen. Aber meine beiden Kinder nimmt man mir auf gesetzlichem Wege. Das verursacht und wird mir stets unendlichen Schmerz, unendlichen Kummer, grenzenlosen Gram verursachen. Daß das Gesetz bestimmen kann und sich die Bestimmung anmaßt, mir stehe es nicht zu, bei meinen eignen Kindern zu sein, ist mir etwas ganz Fürchterliches. Die Schande, im Kerker zu sitzen, ist im Vergleich damit ein Nichts. Ich beneide die andern Männer, die mit mir im Gefängnishof auf- und abschreiten. Ihre Kinder warten gewiß auf sie, freun sich auf ihr Kommen, werden lieb und gut gegen sie sein.

Die Armen sind klüger, barmherziger, freundlicher, empfindungstiefer als wir. Wilde hatte nicht immer so von den Armen gedacht; in »The Soul of Man« (p. 289) heißt es: »Wealthy people are, as a class, better than impoverished people; more moral, more intellectual, more well-behaved«. In ihren Augen ist das Gefängnis eine Tragödie im Leben eines Menschen, ein Mißgeschick, eine Fügung des Zufalls, etwas, das bei andern Teilnahme weckt. Sie sprechen von einem, der im Gefängnis sitzt, als von einem, der einfach ›im Unglück‹ ist. Das ist die Redensart, die sie immer gebrauchen, und der Ausdruck enthält die höchste Weisheit der Liebe. Bei Leuten unsers Standes ist es anders. Bei uns macht das Gefängnis einen zum Paria. Ich und meinesgleichen haben kaum noch ein Anrecht auf die Luft und die Sonne. Unsre Gegenwart besudelt die Freuden der andern. Wir sind ungebetene Gäste, wenn wir wieder zum Vorschein kommen. Aufs neu des Mondes Dämmerschein Anspielung auf »Hamlet« (I, 4), wo Hamlet den Geist seines Vaters fragt: »Was bedeutet's, daß, toter Leichnam, du in vollem Stahl aufs neu des Mondes Dämmerschein besuchst?« zu besuchen, steht uns nicht zu. Unsre Kinder werden uns genommen. Diese holden Bande, die uns an die Menschheit knüpfen, werden zerrissen. Wir sind dazu verurteilt, einsam zu sein, während unsre Söhne noch am Leben sind. Uns verwehrt man das eine, das uns heilen und erhalten, das dem zerschlagenen Herzen Balsam und der Seele in ihrem Schmerz Frieden bringen könnte ...

Ich muß mir sagen, daß weder Du noch Dein Vater, und wenn man Euch mit tausend multiplizierte, einen Menschen wie mich hätten zugrunde richten können; daß ich mich selbst zugrunde gerichtet habe; daß niemand, ob hoch oder niedrig, zugrunde gerichtet werden kann außer von seiner eignen Hand. Ich bin gern bereit, das zu sagen. Ich versuche, es zu sagen, mag man es mir auch gegenwärtig nicht zutraun. Habe ich eine unbarmherzige Klage erhoben, so bedenke: dies ist eine Klage, die ich ohn' Erbarmen gegen mich selbst erhebe. So Schreckliches mir auch die Welt angetan hat: ich habe weit Schrecklicheres an mir selbst getan. Ich war ein Repräsentant der Kunst und Kultur meines Zeitalters. Ich hatte dies selbst schon an der Schwelle meines Mannesalters erkannt und meine Zeitgenossen später zur Anerkennung gezwungen. Wenige Menschen nehmen eine solche Stellung bei Lebzeiten ein, und wenigen wird sie so bestätigt. Gewöhnlich, wenn überhaupt, wird sie erst vom Historiker oder Kritiker bestimmt, lange nachdem der Mann wie sein Zeitalter dahingegangen sind. Bei mir war es anders. Ich habe sie selbst empfunden und andre empfinden lassen. Auch Byron war ein Repräsentant, aber er spiegelte die Leidenschaft seiner Zeit und ihren Leidenschaftsüberdruß. Ich vertrat etwas Edleres, Bleibenderes, etwas von vitalerer Bedeutung, von weiterem Umkreis.

Die Götter hatten mir fast alles verliehn. Ich besaß Genie, einen erlauchten Namen, eine hohe soziale Stellung, Ruhm, Glanz, intellektuellen Wagemut; ich habe die Kunst zu einer Philosophie, die Philosophie zu einer Kunst gemacht; ich habe die Menschen anders denken gelehrt und den Dingen andre Farben gegeben; alles, was ich sagte oder tat, setzte die Leute in Erstaunen. Ich nahm das Drama, die objektivste Form, die die Kunst kennt, und machte es zu einem so persönlichen Ausdrucksmittel, wie das lyrische Gedicht oder das Sonett; zugleich erweiterte ich seinen Bezirk und bereicherte es in der Charakteristik. Drama, Roman, Gedicht in Prosa, Versgedicht, den geistreichen oder den phantastischen Dialog – alles, was ich berührte, hüllte ich in ein neues Gewand der Schönheit; der Wahrheit selbst gab ich das Falsche ebenso wie das Wahre als ihr rechtmäßiges Reich und zeigte, daß das Falsche und das Wahre lediglich intellektuelle Daseinsformen sind. Die Kunst behandelte ich als die oberste Wirklichkeit, das Leben nur als einen Zweig der Dichtung. Ich erweckte die Phantasie meines Jahrhunderts, so daß es rings um mich Mythen und Legenden erschuf. Alle philosophischen Systeme faßte ich in einen Satz, das ganze Dasein in ein Epigramm zusammen. Daneben hatte ich noch andres. Aber ich ließ mich in lange Perioden eines sinnlosen, sinnlichen Wohlbehagens locken. Ich belustigte mich damit, ein Flaneur, ein Dandy, ein Modeheld zu sein. Ich umgab mich mit den kleineren Naturen und den geringeren Geistern. Ich ward zum Verschwender meines eignen Genies und fand absonderliches Wohlgefallen daran, eine ewige Jugend zu vergeuden. Müde, auf den Höhen zu wandeln, stieg ich aus freien Stücken in die Tiefen und fahndete nach neuen Reizen. Was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens war, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft. Die Begierde war schließlich eine Krankheit oder Wahnsinn oder beides. Ich kümmerte mich nicht mehr um das Leben andrer. Ich vergnügte mich, wo es mir beliebte, und schritt Weiter. Ich vergaß, daß jede kleine Handlung des Alitags den Charakter prägt oder zerstört, und daß man deshalb das, was man im geheimen Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen muß. Ich verlor die Herrschaft: über mich. Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wußte es nicht. Ich ließ mich vom Vergnügen knechten. Ich endete in greulicher Schande. Jetzt bleibt mir nur eins: völlige Demut.

Ich habe fast zwei Jahre im Kerker gelegen. Wilde Verzweiflung ist bei mir zum Ausbruch gekommen; ein Wühlen im Jammer, dessen Anblick schon Mitleid erregte; schreckliche, ohnmächtige Wut; Bitterkeit und Verachtung; Seelenpein, die laut weinte; Elend, das keine Stimme finden konnte; Schmerz, der stumm blieb. Alle erdenklichen Leidensmöglichkeiten habe ich durchgemacht. Besser als Wordsworth selbst weiß ich, was er mit den Versen sagen wollte:

»Das Leiden ist beständig, trüb und finster
Und hat das Wesen der Unendlichkeit.«

»Suffering is permanent, obscure, and dark
And shares the nature of infinity«, steht im dritten Akte von William Wordsworths Drama »The Borderers« (1795-96). – Die Zitate, die Wilde anführt, stimmen häufig aufs Wort, obwohl er einzig und allein auf sein Gedächtnis angewiesen war.

Aber während ich zuzeiten in der Vorstellung selig war, daß meine Leiden endlos sein sollten, konnte ich es nicht ertragen, daß sie keine Bedeutung hatten. Jetzt finde ich an einem fernen Punkt in meinem Wesen etwas verborgen, das mir sagt, nichts in der Welt sei ohne Bedeutung, am allerwenigsten das Leiden. Dieses Etwas, das tief in mir vergraben liegt, wie ein Schatz auf einem Felde, ist die Demut.

Sie ist das letzte, das noch in mir, und das beste; das äußerste Ziel, an dem ich angelangt bin; der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Ganz aus mir selbst heraus ist sie gekommen; ich weiß darum, daß sie zur rechten Zeit gekommen. Sie hätte nicht eher, aber auch nicht später kommen können. Hätte mir einer davon gesprochen, ich hätte sie von mir gewiesen. Hätte man sie mir gebracht, ich hätte sie abgelehnt. Ich habe sie gefunden und will sie deshalb bewahren. Ich kann nicht anders. Sie ist das einzige, was Lebenskeime in sich birgt, Keime eines neuen Lebens, einer Vita Dante hat in der »Vita Nuova« seiner Liebe zu Beatrice Portinari ein Denkmal gesetzt. Das Werk wurde von Dante Gabriel Rossetti ins Englische übertragen und seinem Sammelband »The Early Italian Poets« (1861) einverleibt. für mich Von allen Dingen ist sie das Wunderbarste; man kann sie nicht verschenken und sich nicht von einem andern schenken lassen. Man kann sie nicht erwerben, es sei denn, daß man allem entsage, was man sein eigen nennt. Erst wenn man alles verloren hat, weiß man, daß man sie besitzt.

Jetzt, da ich überzeugt bin, daß sie in mir liegt, seh' ich klar und deutlich, was ich tun soll, unbedingt tun muß. Und wenn ich mich eines solchen Ausdrucks bediene, brauche ich nicht zu versichern, daß damit keine Anspielung auf irgend ein äußeres Gesetz oder Gebot gemeint ist. Für mich gibt es keine. Ich bin weit mehr Individualist, als ich es je war. Alles scheint mir ganz wertlos, was man nicht aus sich selbst hat. Meine Natur ist auf der Suche nach einer neuen Art der Selbstverwirklichung. Das ist das einzige, was mich beschäftigt. Und das erste, was ich zu tun habe, ist. mich von einer etwa vorhandenen Verbitterung gegen die Welt zu befrein.

Ich bin völlig mittellos, gänzlich obdachlos. Allein es gibt Härteres auf der Welt als das. Es ist mein heiliger Ernst, wenn ich sage: eh' ich dies Gefängnis mit Groll gegen die Welt verlasse, will ich lieber herzlich gern von Tür zu Tür gehn und um Brot betteln. Wenn ich in den Häusern der Reichen nichts bekäme, würden mir die Armen etwas schenken. Wer viel besitzt, ist oft geizig; wer wenig hat, ist immer zum Teilen bereit. Mir wär' es ganz gleich, müßte ich im Sommer im kühlen Gras schlafen und, wenn der Winter käme, in einem warmen, dichten Heuschober oder unter dem Wetterdach einer großen Scheune Zuflucht suchen – vorausgesetzt daß ich Liebe im Herzen hätte. Die äußern Dinge des Lebens scheinen mir jetzt von gar keiner Bedeutung mehr. Daraus magst Du ersehn, wie weit ich es schon im Individualismus gebracht habe – oder vielmehr allmählich bringen werde, denn der Weg ist lang, und ›wo ich gehe, sind Dornen‹. »... and where I walk there are thorns«, sagt Mrs. Arbuthnot in »A Woman of no Importance« (p. 170).

Ich weiß freilich, auf der Landstraße um Almosen betteln wird nicht mein Los sein, und wenn ich je bei Nacht im kühlen Gras liege, werde ich Sonette an den Mond schreiben. Verlasse ich das Gefängnis, dann wird Robbie draußen vor dem großen Tore mit den Eisenpfosten auf mich warten, und er deutet nicht nur seine eigne Zuneigung sinnbildlich an, sondern auch die Zuneigung vieler andrer außer ihm. Ich soll, glaube ich, so viel bekommen, daß ich auf jeden Fall ungefähr anderthalb Jahre davon leben kann; Wildes Freunde hatten eine Summe von achthundert Pfund Sterling für ihn gesammelt, die er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis erhalten sollte; es ist bezeichnend, daß er nur anderthalb Jahre davon leben zu können glaubte. wenn ich dann keine schönen Bücher schreibe, bin ich wenigstens in der Lage, schöne Bücher zu lesen. Gibt es eine größere Freude? Danach werde ich hoffentlich meine Schaffenskraft: neu schaffen können.

Aber wäre es anders: hätte ich keinen Freund mehr auf der Welt; stünde mir nicht ein Haus mitleidig offen; müßte ich das Felleisen und den zerlumpten Mantel der baren Armut nehmen: solang ich von aller Rachbegierde, Grausamkeit und Verachtung frei bin, könnte ich dem Leben mit viel größerer Ruhe und Zuversicht ins Auge schaun, als wenn mein Leib in Purpur und feines Linnen gekleidet und meine Seele krank vor Haß wäre.

Und ich werde wirklich keine Schwierigkeit haben. Wer wahrhaft Liebe begehrt, wird sie für sich bereit finden.

Ich brauche nicht zu sagen, daß meine Aufgabe hier noch nicht endet. Sonst wäre sie verhältnismäßig leicht. Viel mehr steht mir bevor. Ich habe weit steilere Höhen zu ersteigen, viel dunklere Täler zu durchwandern. Und ich muß alles aus mir selbst haben. Nicht die Religion, nicht die Moral, nicht die Vernunft können mir irgendwie dabei helfen.

Die Moral hilft mir nicht. Ich bin ein geborener Antinomist. Ich gehöre zu denen, die für Ausnahmen, nicht für Gesetze geschaffen sind. Aber so gut ich einsehe, daß kein Unrecht in dem liegt, was man tut, sehe ich auch ein, daß ein gewisses Unrecht in dem liegt, was man wird. Diese Erkenntnis kommt einem zustatten.

Die Religion hilft mir nicht. Glauben andre an das Unsichtbare, vgl. »Dorian Gray«, Kap. 1: »The true mystery of the world is the visible, not the invisible«. so glaube ich an das, was man berühren und erblicken kann. Meine Götter bewohnen von Menschenhand erbaute Tempel; und innerhalb des Bereichs der wirklichen Erfahrung vervollständigt und vervollkommnet sich mein Evangelium - vielleicht allzusehr: denn wie die meisten oder alle von denen, die ihren Himmel auf dieser Erde suchen, habe ich auf ihr sowohl die Schönheit des Himmels wie die Greuel der Hölle gefunden. Wenn ich überhaupt an Religion denke, ist es mir, als ob ich gern einen Orden für die gründen möchte, die nicht glauben können: Brüderschaft der Ungläubigen Die neue Ausgabe liest hier »Confraternity of the Fatherless« statt, wie früher, »Faithless« (d. h. die Brüderschaft derer, die keinen Vater oder keinen Vater im Himmel haben). Wilde soll tatsächlich »Fatherless« geschrieben haben, offenbar durch das vorausgehende »Confraternity« beeinflußt; natürlich ist »Faithless« dem Sinn nach besser. möchte man ihn nennen. Hier würde an einem Altar, auf dem keine Kerze brennte, ein Priester, in dessen Herzen der Friede keine Ruhestatt hätte, mit ungeweihtem Brot und einem Kelche, in dem kein Wein wäre, die Messe lesen. Um wahr zu sein, muß alles zur Religion werden. Und die Lehre der Agnostiker sollte ebenso ihr Ritual haben wie der Glaube. Sie hat ihre Märtyrer gesät, sie sollte ihre Heiligen ernten und Gott täglich dafür danken, daß er sich den Blicken der Menschen verborgen hat. Doch ob Glaube ob Agnostizismus: es darf nichts Äußerliches für mich sein. Ich muß seine Symbole selbst geschaffen haben. Transzendent ist nur, was sich seine eigne Form gestaltet. Finde ich sein Geheimnis nicht in mir, dann werde ich es nie finden; besitze ich es nicht schon, so wird es mir nie zuteil werden.

Die Vernunft hilft mir nicht. Sie sagt mir, daß die Gesetze, deren Opfer ich geworden bin, verkehrt und ungerecht sind, daß das System, unter dem ich gelitten habe, verkehrt und ungerecht ist. Aber irgendwie habe ich diese beiden Dinge für mich gerecht und richtig zu machen. Und ganz so, wie man sich in der Kunst nur damit abgibt, was einem ein besondrer Gegenstand in einem besondern Moment ist, verhält es sich mit der ethischen Entwicklung des Charakters. Es ist meine Aufgabe, alles, was mich betroffen hat, zum Guten für mich zu wenden. Die Lattenpritsche, die ekelerregende Nahrung, die rauhen Stricke, die man zu Werg zerzupft, bis einem vor Schmerz die Fingerspitzen empfindungslos werden, die Gesindeverrichtungen, mit denen jeder Tag beginnt und endet, die schroffen Befehle, die das Herkommen zu erfordern scheint, die abscheuliche Kleidung, die den Kummer grotesk erscheinen läßt, das Schweigen, die Einsamkeit, die Schande – alle diese Erfahrungen habe ich ins Geistige umzusetzen. Es gibt keine einzige körperliche Erniedrigung, die ich nicht zu einer geistigen Erhebung zu machen versuchen muß.

Ich wünsche dahin zu gelangen, ganz schlicht und ohne Heuchelei sagen zu können, daß mein Leben zwei große Wendepunkte hatte: als mich mein Vater nach Oxford Wilde wurde am 17. Oktober 1874, am Tage nach seinem zwanzigsten Geburtstag, in Oxford (Magdalen College) immatrikuliert. und als mich die Gesellschaft ins Gefängnis schickte. Ich will nicht sagen: das Gefängnis war das beste, was mich hätte treffen können; denn das würde zu sehr nach Verbitterung gegen mich schmecken. Ich möchte lieber sagen oder von mir gesagt wissen, ich sei ein so typisches Kind meiner Zeit gewesen, daß ich in meiner Perversität und um dieser Perversität willen das Gute meines Lebens in Schlechtes und das Schlechte meines Lebens in Gutes verkehrte.

Indes, was ich oder andre sagen, darauf kommt es wenig an. Das Wichtige, das, was vor mir liegt, was ich zu tun habe, wenn der kurze Rest meiner Tage Wenn Wilde hier schon von dem »kurzen Rest« seiner Tage spricht, so hat sich dieser Glaube oder Aberglaube später in ihm noch befestigt; denn er gab seiner Überzeugung wiederholt Ausdruck, daß er das neue Jahrhundert nicht erleben werde, und er hat auch schließlich damit Recht behalten. nicht verstümmelt, vernichtet und unvollständig werden soll, ist: alles, was an mir getan worden ist, in mich aufzusaugen, zu einem Teil von mir zu machen, ohne Murren, Bangen und Sträuben hinzunehmen. Das höchste Laster ist Oberflächlichkeit. Was sich verwirklicht hat, ist recht.

Als meine Gefängniszeit eben begonnen hatte, gaben mir einige Leute den Rat, ich möge zu vergessen suchen, wer ich sei. Es war ein verderblicher Rat. Nur darin, daß mir zum Bewußtsein kommt, was ich bin, habe ich irgendwelchen Trost gefunden. Jetzt raten mir andre, ich solle, wenn ich freigelassen werde, zu vergessen suchen, daß ich je im Gefängnis war. Ich weiß, das wäre ebenso verhängnisvoll. Es hieße, daß ich zeitlebens von einem unerträglichen Gefühl der Schande verfolgt würde, daß das, was für mich ebensogut bestimmt ist wie für jeden andern – die Schönheit der Sonne und des Mondes, der Festzug der Jahreszeiten, die Musik bei Tagesanbruch und das Schweigen langer Nächte, der Regen, der durch die Blätter rieselt, der Tau, der über das Gras schleicht und es versilbert – daß all das für mich befleckt und seine Heilkraft und seine Fähigkeit, Freude zu spenden, verloren sein sollte. Seine eignen Erfahrungen bedauern heißt seine eigne Entwicklung hemmen. Seine eignen Erfahrungen verleugnen heißt seinem eignen Leben eine Lüge auf die Lippen legen. Es ist nicht weniger, als wollte man seine Seele verleugnen.

Denn ebenso wie der Körper alles Mögliche in sich aufnimmt, Gewöhnliches und Unreines nicht minder als das, was der Priester oder die Ekstase geweiht hat, und es in Rüstigkeit oder Kraft umwandelt, in das Spiel schöner Muskeln und die Formen des leuchtenden Fleisches, in die Rundungen und Farben des Haares, der Lippen, des Auges: so hat die Seele ihrerseits ihre nährende Tätigkeit und kann das, was an und für sich gemein, grausam und erniedrigend ist, in edle Regungen und Leidenschaften voll tiefer Bedeutung umsetzen – ja, noch mehr: gerade darin ihren erhabensten Stoff zur Betätigung finden und sich oft am vollkommensten durch das offenbaren, was ursprünglich eine entweihende oder zerstörende Absicht hatte.

Die Tatsache, daß ich in einem gemeinen Zuchthaus ein gemeiner Gefangner war, muß ich bedingungslos hinnehmen, und so merkwürdig es auch scheinen mag, eine von den Lehren, die ich mir beizubringen habe, ist, mich dessen nicht zu schämen. Ich muß es als Strafe hinnehmen, und wenn man sich einer Strafe schämt, dann ist es ebensogut, als hätte man sie nie empfangen. Allerdings, ich bin für viel verurteilt worden, was ich nicht getan habe, aber auch für viel, was ich getan habe, und es gibt noch mehr in meinem Leben, für das ich niemals zur Rechenschaft gezogen wurde. Und wie ich schon in diesem Briefe gesagt habe: da die Götter wunderlich sind und uns für das, was gut und menschenfreundlich in uns ist, ebenso strafen wie für das, was schlecht und pervers ist, so muß ich die Tatsache hinnehmen, daß man gleichermaßen für das Gute wie für das Schlechte, das man tut, bestraft wird. Ich zweifle nicht daran, daß es durchaus mit Recht geschieht. Es hilft einem oder sollte einem helfen, beides zu durchschaun und sich auf keins von beiden zu viel einzubilden. Wenn ich mich demnach meiner Strafe nicht schäme – und ich hoffe das –, dann werde ich frei denken, frei herumgehn und leben können.

Viele nehmen bei ihrer Entlassung das Gefängnis mit sich hinaus und verbergen es als geheimen Schimpf in ihrem Herzen und kriechen schließlich wie arme vergiftete Wesen in ein Loch und sterben. Es ist abscheulich, daß ihnen nichts andres übrig bleibt, und es ist unrecht, schrecklich unrecht von der Gesellschaft, sie dahin zu treiben. Die Gesellschaft maßt sich das Recht an, dem Individuum entsetzliche Strafen aufzuerlegen; aber sie besitzt auch das höchste Laster der Oberflächlichkeit, und es gelingt ihr nicht, sich über das, was sie getan hat, klar zu werden. Hat der Betreffende seine Strafe abgebüßt, dann überläßt sie ihn sich selbst, will sagen: sie läßt ihn just in dem Augenblicke fallen, wo ihre vornehmlichste Pflicht gegen ihn anfängt. Sie schämt sich tatsächlich ihrer eignen Handlungen und meidet die Bestraften, wie Leute einem Gläubiger ausweichen, dem sie ihre Schulden nicht bezahlen können, oder einem, dem sie unersetzlichen, unwiderruflichen Schaden zugefügt haben. Ich kann meinerseits den Anspruch erheben, wenn ich mir vergegenwärtige, was ich gelitten habe, daß die Gesellschaft sich vergegenwärtige, was sie mir angetan hat, und daß auf beiden Seiten keine Verbitterung, kein Haß herrsche.

Selbstverständlich weiß ich, daß von einem Gesichtspunkt aus die Dinge sich für mich schwieriger gestalten werden als für andre, durch die Natur der Sache es sein müssen. Die armen Diebe und Vagabunden, die hier mit mir eingesperrt sind, sind in vieler Hinsicht glücklicher als ich. Der kurze Weg in grauer Stadt oder auf grünem Felde, der ihre Sünde sah, ist eng; sie brauchen, wollen sie Menschen finden, die von ihrem Verschulden nichts wissen, nicht weiter zu gehn, als ein Vogel zwischen Zwielicht und Morgendämmerung fliegt. Für mich dagegen ist die Welt zu einer Handbreite »For me the world is shrivelled to a palm's breadth«, sagt Mrs., Arbuthnot in »A Woman of no Importance« (p. 170). zusammengeschrumpft, und überall, wo ich mich hinwende, ist mein Name in ehernen Lettern an die Felsen geschrieben. Denn ich bin nicht aus dem Dunkel in das grelle Licht momentaner Verbrecherberühmtheit getreten, sondern von unsterblichem Ruhm zu ewiger Ehrlosigkeit gelangt, und manchmal scheint es mir, als hätte ich dargetan, wenn es dieses Beweises überhaupt bedurfte, daß vom Berühmten zum Berüchtigten nur ein Schritt ist oder noch weniger als ein Schritt.

Immerhin, gerade in dem Umstand, daß die Menschen mich erkennen werden, wo ich mich auch zeige, und alles aus meinem Leben wissen, so weit seine Torheiten in Betracht kommen, kann ich noch Gutes für mich entdecken. Daraus erwächst mir die Notwendigkeit, mich wieder als Künstler durchzusetzen – und zwar so bald wie irgend möglich. Kann ich auch nur ein schönes Kunstwerk hervorbringen, Wilde hat tatsächlich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nur noch »ein schönes Kunstwerk« hervorgebracht: »The Ballad of Reading Gaol« (Zuchthausballade), geschrieben während des Sommers und Herbstes 1897 im Chalet Bourgeat in Berneval bei Dieppe. dann werde ich imstande sein, der Bosheit ihr Gift, der Feigheit ihr Hohnlächeln zu rauben und der Schmähsucht die Zunge an der Wurzel auszureißen.

Und sollte das Leben, wie es gewiß der Fall ist, für mich ein Problem sein, so bin ich für das Leben nicht minder ein Problem. Die Leute müssen mir gegenüber einen Modus finden, wie sie sich zu verhalten haben, und dadurch sich wie mir das Urteil sprechen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich nicht auf bestimmte Individuen anspiele. Die einzigen Menschen, die ich jetzt um mich wünsche, sind Künstler und solche, die gelitten haben: solche, die wissen, was Schönheit, und solche, die wissen, was Schmerz ist. Sonst interessiert mich niemand. Ich stelle auch keine Ansprüche an das Leben. Alles, was ich hier geäußert habe, zielt einfach auf meine eigne geistige Stellung gegenüber dem Leben in seiner Gesamtheit; und ich fühle, daß mich meiner Strafe nicht zu schämen einer der ersten Punkte ist, die ich erreichen muß, um meiner eignen Vollendung willen und weil ich so unvollkommen bin.

Dann muß ich glücklich sein lernen. Einst wußte ich es oder glaubte es zu wissen, instinktmäßig. Ehedem war immer Frühling in meinem Herzen. Mein Temperament war der Lebensfreude verwandt. Bis hoch zum Rande füllte ich mein Leben mit Vergnügen, wie man einen Becher bis zum Rande mit Wein füllt. Jetzt trete ich von einem völlig neuen Standpunkt an das Leben heran, und mir auch nur eine Vorstellung vom Glück zu machen wird mir oft überaus schwer. Ich erinnre mich aus meinem ersten Semester in Oxford Wildes erstes Semester in Oxford, vgl. Anm. zu S. 26, Z. 11. der Lektüre von Paters Renaissance »Studies in the History of the Renaissance« by Walter Pater (1873); die zweite Auflage des Buches erschien vier Jahre später unter dem veränderten Titel »The Renaissance: Studies in Art and Poetry« (deutsche Ausgabe von Wilhelm Schölermann, Leipzig 1902). Pater sagt in dem Aufsatz über die »Dichtung des Michelangelo«: »Indem wir sein Leben verfolgen ..., kommt uns wieder und wieder der Gedanke, daß er einer von denen war, welche, nach Dantes Strafurteil, zu leiden hatten, ›weil sie in eigenwilliger Traurigkeit gelebt‹«. – des Buches, das einen so seltsamen Einfluß auf mein Leben gewonnen hat –, wie Dante in den Tiefen des Inferno die ansiedelt, die eigenwillig in Traurigkeit leben; ich ging in die College-Bibliothek und schlug die Stelle in der Göttlichen Komödie nach, wo unter dem Höllenmoor diejenigen hausen, die »in der süßen Luft grämlich« waren und nun ewig in ihren Seufzern stöhnen:

     Tristi fummo
Neil' aer dolce che dal sol s'allegra. Inferno VII, 121 ff.

Ich wußte, die Kirche verurteilte accidia, aber die ganze Idee schien mir ziemlich phantastisch, so recht die Art Sünde, dachte ich mir, die ein lebensunkundiger Priester erfinden würde. Ebenso wenig begriff ich, wie Dante, der doch sagt: »Der Schmerz vereint uns wiederum mit Gott«, »Del buon dolor ch'a Dio ne rimarita«, Purgatorio XXIII, 81. so schroff gegen die sein konnte, die in der Wonne der Wehmut schwelgten, wenn es wirklich solche gab. Ich ahnte nicht, daß dies eines Tages eine der größten Versuchungen meines Lebens werden sollte.

Während ich im Gefängnis in Wandsworth saß, sehnte ich den Tod herbei. Sterben war mein einziger Wunsch. Als ich nach einem Aufenthalt von zwei Monaten in der Krankenabteilung hierher gebracht wurde und meine physische Gesundheit sich allmählich besserte, schäumte ich vor Wut. Ich beschloß, an dem Tage meiner Entlassung Selbstmord zu begehn. Nach einiger Zeit legte sich diese Verstimmung, und ich setzte es mir in den Kopf zu leben, aber Trübsal anzutun, wie ein König seinen Purpur; nie wieder zu lächeln; jedes Haus, das ich betrat, zu einem Hause der Trauer zu machen; meine Freunde langsamen Schrittes in Schwermut neben mir gehn zu lassen; sie zu lehren, daß die Melancholie das wahre Geheimnis des Lebens ist; ihre Freude durch fremdes Leid zu vergällen; sie mit meinem eignen Schmerze zu peinigen. Jetzt denke ich ganz anders. Ich sehe ein, es wäre undankbar und unliebenswürdig von mir, ein so langes Gesicht zu machen, daß meine Freunde, wenn sie mich besuchten, noch längere Gesichter machen müßten, um mir ihr Mitgefühl auszudrücken, oder, wenn ich sie bewirten wollte, sie einzuladen, sich schweigend zu bittern Kräutern und einem Leichenschmause niederzusetzen. Ich muß lernen, guter Dinge werden und glücklich sein.

Die beiden letzten Male, als ich meine Freunde hier empfangen durfte, gab ich mir Mühe, so heiter wie möglich zu sein und ihnen meine Frohlaune zu zeigen, um sie doch ein klein wenig dafür zu entschädigen, daß sie den ganzen Weg von London zu mir hergekommen waren. Ich weiß, es ist nur ein spärlicher Dank, aber keiner – davon bin ich durchdrungen – wäre ihnen lieber. Ich habe mich Sonnabend vor acht Tagen eine Stunde mit Robbie unterhalten und ließ es mir angelegen sein, ihn die herzliche Freude, die ich über unser Zusammensein empfand, so deutlich wie möglich merken zu lassen. Daß ich mit den Ansichten und Auffassungen, die ich mir hier im stillen bilde, auf der rechten Fährte bin, das beweist mir die Tatsache, daß ich jetzt zum ersten Male seit meiner Verurteilung wahres Verlangen nach dem Leben habe.

Vor mir liegt so viel, daß ich es als eine schreckliche Tragödie betrachten würde, wenn ich sterben müßte, eh' es mir verstattet wäre, wenigstens einen kleinen Teil davon durchzuführen. Ich sehe neue Entwicklungen in der Kunst und im Leben, von denen jede eine ungebrauchte Form der Vollkommenheit ist. Ich sehne mich nach dem Leben, damit ich erforschen kann, was jetzt so gut wie eine neue Welt für mich ist. Willst Du wissen, was diese neue Welt ist? Du kannst es wohl erraten. Es ist die Welt, in der ich zuletzt gelebt habe. Das Leid also und alles, was man von ihm lernt, ist meine neue Welt.

Ich habe früher ausschließlich dem Vergnügen gelebt. Ich ging Schmerzen und Leiden jeder Art aus dem Wege. Sie waren mir beide zuwider. Ich hatte mir vorgenommen, sie so weit wie möglich nicht zu beachten, sie gewissermaßen als Formen der Unvollkommenheit zu behandeln. Sie gehörten nicht zu meinem Lebensgebäude. Für sie war in meiner Philosophie kein Platz. Meine Mutter, die das Leben durch und durch kannte, pflegte mir oft die Goetheschen Verse zu zitieren, die ihr vor langen Jahren Carlyle in ein Buch geschrieben hatte und die – wenn ich mich recht erinnre – in seiner Übersetzung folgendermaßen lauteten:

Who never ate his bread in sorrow,
     Who never spent the midnight hours
Weeping and waiting for the morrow, –
     He knows you not, ye heavenly powers.

In »Wilhelm Meisters Lehrjahren« (2, 13) singt der Harfner: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« usw. Dazu bemerkt Goethe in den »Sprüchen in Prosa« (No. 153): »Diese tiefschmerzlichen Zeilen wiederholte sich eine höchst vollkommene, angebetete Königin in der grausamsten Verbannung, zu grenzenlosem Elend verwiesen«.

Diese Verse pflegte die edle Königin von Preußen, die Napoleon so brutal behandelt hat, in ihrer Erniedrigung und Verbannung zu zitieren; diese Verse hat meine Mutter im Ungemach ihres späteren Lebens oft angeführt. Ich lehnte es rundweg ab, die ungeheure Wahrheit, die darin verborgen liegt, mir zu eigen zu machen oder einzuräumen. Ich konnte sie nicht verstehn. Ich erinnre mich noch sehr wohl, wie ich damals meiner Mutter sagte, ich hätte keine Lust, mein Brot in Tränen zu essen, die Nächte zu durchweinen und einem noch traurigeren Morgen entgegenzuwachen.

Ich ahnte nicht, daß es zu den besondern Dingen gehörte, die mir das Schicksal vorbehalten hatte: daß ich ein ganzes Jahr meines Lebens kaum etwas andres tun sollte. Aber so ist mir mein Teil zugemessen worden; und während der letzten Monate ist es mir nach fürchterlichen Überwindungen und Kämpfen gelungen, einige Lehren zu begreifen, die im Herzen des Grams verborgen sind. Geistliche und Leute, die Redensarten ohne Sinn und Verstand anwenden, sprechen manchmal vom Leiden als einem Geheimnis. In Wahrheit ist es eine Offenbarung. Man erkennt Dinge, die einem nie aufgefallen sind. Man tritt unter einem andern Gesichtswinkel an die Geschichte heran. Was man schwach, instinktiv von der Kunst geahnt hat, gewahrt man im Bereich des Denkens und Fühlens mit vollendeter Klarheit des Sehvermögens und mit absoluter Stärke der Vorstellungskraft.

Jetzt erkenne ich, daß der Schmerz als die edelste Regung, deren der Mensch fähig ist, gleichermaßen Urform und Prüfstein aller großen Kunst ist. Wonach der Künstler immer sucht, das ist die Daseinsart, in der Leib und Seele eins und unzertrennlich sind; in der das Äußere der Ausdruck des Innern ist; in der sich die Form enthüllt. Solcher Daseinsarten gibt es etliche: der junge Menschenleib und die Künste, die mit seiner Darstellung beschäftigt sind, können uns gelegentlich als Modell dienen; dann wieder mag uns der Gedanke erfreun, daß in der Zartheit und Feinheit ihrer Eindrücke, in der Weise, wie sie einen Geist andeutet, der im Äußerlichen wohnt und sich aus Erde und Luft, aus Nebel und Städtebild sein Gewand schafft, die moderne Landschaftsmalerei in ihrer krankhaft reizbaren Harmonie von Stimmungen, Tönen und Farben das für uns koloristisch verwirklicht, was die Griechen zu so plastischer Vollendung gebracht. Die Musik, in der alles Stoffliche im Ausdruck aufgeht und nicht von ihm getrennt werden kann, Über die Musik findet sich eine ganz ähnliche Stelle in der Vorlesung »The English Renaissance of Art« (Miscellanies, p. 262). ist ein kompliziertes Beispiel und eine Blume oder ein Kind ein einfaches Beispiel für das, was ich meine; aber der Schmerz ist der höchste Typ, im Leben sowohl wie in der Kunst.

Hinter Lust und Lachen mag ein Temperament stecken, rauh, hart und knorrig: hinter dem Schmerz ist stets nur Schmerz. Das Leid trägt keine Maske wie die Freude. Die Wahrheit in der Kunst ist keine Verbindung zwischen der wesenhaften Idee und der zufälligen Existenz; ist nicht die Ähnlichkeit von Gestalt und Schatten oder von dem Spiegelbild der Form und der Form selbst; ist kein Echo, das aus einem hohlen Hügel tönt, so wenig wie ein silberner Quell im Tale, dessen Wasser den Mond dem Monde und Narkissos dem Narkissos zeigt. Die Wahrheit in der Kunst ist die Übereinstimmung eines Dinges mit sich selbst; das Äußere Ausdruck des Innern geworden; die Seele Fleisch; der Leib vom Geiste belebt. Darum läßt sich keine Wahrheit dem Leiden vergleichen. Zu Zeiten scheint mir das Leiden die einzige Wahrheit. Andre Dinge mögen Wahngebilde des Auges oder des Hungers sein, jenes zu blenden, diesen zu sättigen; aber aus dem Leiden sind die Welten erbaut, und bei der Geburt eines Kindes oder eines Sternes geht es nicht ohne Schmerz ab. Ja, noch mehr: das Leiden hat eine ungewöhnlich starke Wirklichkeit an sich. Ich habe von mir gesagt, ich sei ein Repräsentant der Kunst und Kultur meines Zeitalters gewesen. Es gibt keinen Elenden in diesem Hause des Elends, keinen meiner Mitgefangnen, der nicht ein Repräsentant des Lebensgeheimnisses wäre. Denn das Geheimnis des Lebens heißt Leiden. Hinter allem ist es verborgen. Kaum fangen wir zu leben an, so schmeckt uns das Süße so süß, das Bittere so bitter, daß wir unvermeidlich unser ganzes Verlangen auf Freuden richten und nicht nur »einen Monat oder zwei von Honig zehren« »A month or twain to live on honeycomb
Is pleasant; but one tires of scented time« Algernon Charles Swinburne, »Before Parting« (Poems and Ballads I, 184; vgl. Otto Hauser »Aus fremden Gärten«, S 31:

»Von Honig leben einen Monat lang
Ist schön; doch wird man satt des süßen Seims«.
wollen, sondern unser ganzes Leben lang keine andre Nahrung kosten möchten, und wissen doch die ganze Zeit nicht, daß wir die Seele in Wirklichkeit verhungern lassen.

Ich erinnre mich, ich sprach einmal hierüber mit einem der herrlichsten Wesen, Gemeint ist Miss Adela Schuster, die als die »Dame in Wimbledon« noch öfter genannt wird. Sie hatte Wilde, als sein Bankrott erklärt wurde, eine Summe von tausend Pfund Sterling geschenkt. die ich je gekannt habe, einer Frau, deren reges Mitgefühl und edle Güte, sowohl vor wie seit der Tragödie meiner Kerkerhaft, sich unmöglich beschreiben lassen; die mir, wenn sie es auch nicht weiß, wirklich mehr als irgend jemand auf der ganzen Welt beigestanden hat, die Last meiner Sorgen zu tragen, und zwar bloß durch die Tatsache, daß sie lebt, daß sie ist, was sie ist – teils ein Ideal, teils eine einflußreiche Macht: eine Andeutung dessen, was man werden könnte, wie eine wirkliche Stütze des Vorsatzes, dahin zu gelangen; eine Seele, die der Alltagsluft Süßigkeit leiht und Geistiges einfach und natürlich erscheinen läßt wie das Licht der Sonne oder das Meer; für die Schönheit und Leid Hand in Hand gehn und dieselbe Botschaft haben. Ich besinne mich genau, wie ich ihr bei der Gelegenheit, die mir vorschwebt, sagte: es gäbe in einer engen Gasse in London schon genug Kummer, zu beweisen, daß Gott die Menschen nicht liebe, und überall, wo jemand leide, sei es auch nur ein Kind, das in einem Gärtchen weine über ein Vergehn, dessen es sich schuldig oder nicht schuldig gemacht, da sei das ganze Antlitz der Schöpfung entstellt. Ich hatte völlig Unrecht. Sie sagte mir das auch, doch ich konnte es nicht glauben. Ich lebte nicht in dem Vorstellungskreis, der einen zu solchem Glauben gelangen läßt. Jetzt dünkt mich, daß Liebe irgend einer Art die einzig mögliche Erklärung ist für das ungeheure Maß von Weh, das es auf der Welt gibt. Eine andre Erklärung kann ich mir nicht denken. Ich bin überzeugt, es gibt keine andre; und wenn die Welt wirklich, wie ich vorhin sagte, aus Leid gebaut ist, so ist sie von der Hand der Liebe gebaut, weil auf keine Weise sonst die Seele des Menschen, für den die Welt erschaffen ist, zu dem ganzen Wuchs ihrer Vollendung gelangen könnte. Freude für den schönen Körper, Schmerz für die schöne Seele.

Wenn ich sage, ich sei hiervon überzeugt, so liegt allzuviel Stolz in meinen Worten. Weit in der Ferne kann man, wie eine Perle sonder Fehl, die Stadt Gottes sehn. Sie ist so wundervoll, daß man meinen möchte, ein Kind könne sie an einem Sommertag erreichen. Und ein Kind kann es. Aber mit mir und meinesgleichen verhält es sich anders. In einem einzigen Augenblick kann man etwas in seiner ganzen Stärke fühlen, aber es geht einem wieder verloren in den langen Stunden, die bleiernen Fußes folgen. Es ist so schwer, »Höhen zu behaupten, darauf mit Fug die Seele wandeln darf«. Unsre Gedanken gehören der Ewigkeit, doch wir bewegen uns langsam durch die Zeit. Wie langsam die Zeit für uns vergeht, die wir im Gefängnis sitzen – davon brauche ich nicht mehr zu reden, nicht von der Müdigkeit und Verzweiflung, die in unsre Zelle und die Zelle unsers Herzens mit so seltsamer Beharrlichkeit zurückschleichen, daß man gewissermaßen sein Haus für sie fegen und schmücken muß, wie für einen unerwünschten Gast, einen gestrengen Herrn oder Sklaven, dessen Sklave man durch Zufall oder eigne Wahl ist.

Vielleicht, finden es meine Freunde jetzt schwer, es zu glauben, es ist aber trotzdem so: sie, deren Leben Freiheit, Müßiggang und Wohlbehagen, haben es leichter, die Lehren der Demut zu erlernen als ich, der ich den Tag damit beginne, auf den Knien den Boden meiner Zelle aufzuwaschen. Denn das Leben im Gefängnis mit seinen zahllosen Entbehrungen und Einschränkungen macht einen zum Rebellen. Das Schrecklichste daran ist nicht, daß es einem das Herz bricht – Herzen sind dazu da, zu brechen »Hearts live by being wounded«, heißt es in »A Woman of no Importance« (p. 172). –, sondern daß es einem das Herz in Stein verwandelt. Manchmal hat man das Gefühl, man könne den Tag überhaupt nur mit einer Stirn von Eisen und mit Hohn auf den Lippen überleben. Und wer sich im Zustande der Empörung befindet, kann nicht der Gnade teilhaftig werden, um den Ausdruck zu gebrauchen, dessen sich die Kirche mit Vorliebe bedient – und zwar mit Recht, möchte ich behaupten –, denn im Leben wie in der Kunst verschließt die aufrührerische Stimmung die Kanäle der Seele und sperrt die Luft des Himmels aus. Doch, soll ich diese Lehren irgendwo erlernen, so muß es hier geschehn, und ich muß voller Freude sein, wenn meine Füße auf der rechten Straße sind und mein Angesicht »dem Tore zugekehrt, das schön genannt wird«, »... the gate of the temple which is called Beautiful«, Apostelgeschichte 3, 2. mag ich auch vielmals im Schmutz fallen und oft im Nebel irre gehn.

Dieses Neue Leben, wie ich es bisweilen aus Liebe zu Dante gern nenne, ist natürlich überhaupt kein neues Leben, sondern einfach, vermittelst Entwicklung und Evolution, die Fortsetzung meines früheren Lebens. Ich erinnre mich, daß ich in Oxford zu einem meiner Freunde sagte, als wir eines Morgens in dem Jahr, eh' ich promovierte, Wilde promovierte in Oxford am 28. November 1878, nachdem er im vorhergehenden Semester mit seinem Gedicht »Ravenna« den Newdigate-Preis errungen hatte. auf den engen, von Vögeln umschwärmten Wegen um Magdalen College wandelten, es gelüste mich, von der Frucht aller Bäume im Garten der Welt zu essen, und mit dieser Leidenschaft im Herzen träte ich in die Welt hinaus. Und so, auf mein Wort, trat ich hinaus, und so lebte ich. Mein einziger Fehler war, daß ich mich so ausschließlich auf die Bäume beschränkte, welche, wie mir schien, auf der Sonnenseite des Gartens standen, während ich den andern Teil mit seinem Schatten und seiner Düsterheit mied. Mißerfolg, Schande, Armut, Kummer, Verzweiflung, Leid, selbst Tränen, die Worte, die Lippen im Schmerze stammeln, die Reue, die Dornen auf unsern Pfad streut, das Gewissen, das verdammt, die Selbsterniedrigung, die straft, das Elend, das Asche auf seih Haupt gießt, die Seelenpein, die sich in Sackleinwand kleidet und Galle in ihr eignes Getränk mischt: – all dem wich ich ängstlich aus. Und da ich beschlossen hatte, nichts davon wissen zu wollen, so wurde ich gezwungen, sie alle der Reihe nach zu kosten, mich von ihnen zu nähren, eine Zeitlang auf jede andre Speise zu verzichten.

Keinen Augenblick bedaure ich, dem Vergnügen gelebt zu haben. Ich tat es bis zum Rande, wie man alles tun soll, was man tut Es gab kein Vergnügen, das ich nicht genoß. Ich warf die Perle meiner Seele in einen Becher Weins. Ich schritt zum Klange der Flöten den Blumenpfad Anspielung auf Hamlet I, 3, 50 (»den Blumenpfad der Lust«). hinab. Ich lebte von Honig. Aber es wäre falsch gewesen, dieses Leben fortzusetzen, weil es einseitig gewesen wäre. Ich mußte weiter. Die andre Hälfte des Gartens hatte auch ihre Geheimnisse für mich. Natürlich ist all das in meiner Kunst vorgebildet und wirft: seine Schatten voraus. Spuren davon sind im »Glücklichen Prinzen«; »Der Glückliche: Prinz« ist das erste Märchen der Sammlung »The Happy Prince and other Tales« (London 1888, David Nutt). auch in dem Märchen »Der junge König«, »Der Junge König« eröffnet den Märchenband »A House of Pomegranates« (London 1891, Osgood, Mc Ilvaine & Co.). besonders an der Stelle, wo der Bischof zu dem knienden Jüngling spricht: »Ist Er, der das Elend schuf, nicht weiser als du?« »Is not He who made misery wiser than thou art?« (Gesamtausgabe, p. 25). – Worte, die mir, als ich sie schrieb, kaum mehr schienen als Worte; ein gut Teil davon ist hineingeheimnißt in die mahnende Stimme, die sich wie ein Purpurfaden durch den Goldbrokat des »Dorian Gray« »The Picture of Dorian Gray« wurde zuerst in Lippincott's Monthly Magazine vom Juli 1890 veröffentlicht; als Buch erschien der Roman, um sieben Kapitel erweitert, im folgenden Jahre bei Ward, Lock & Co. in London. zieht; in vielen Farben schimmert es in der »Kritik als Kunst«; »Kritik als Kunst« (»The Critic as Artist«, zuerst unter dem Titel »The True Function and Value of Criticism« im Nineteenth Century vom Juli und September 1890 veröffentlicht) steht in dem Essayband »Intentions« (London 1891, Osgood, Mc Ilvaine & Co.). in allzu leicht lesbaren Lettern steht es in der »Seele des Menschen«; »The Soul of Man under Socialism« (später kürzer »Die Seele des Menschen« genannt) erschien als Aufsatz in der Fortnightly Review vom Februar 1901. es ist einer der Refrains, deren wiederkehrendes Motiv »Salome« »Salome«. Drame en un acte: Paris 1893, Librairie de l'Art Independant; englische Ausgabe (translated by Lord Alfred Douglas): London 1893, Elkin Mathews & John Lane. so sehr einem Musikstück gleichen läßt und wie eine Ballade zusammenschließt; in dem Prosagedicht Sechs »Poems in Prose« erschienen in der Fortnightly Review vom Juli 1894; das erste, »The Artist«, ist hier gemeint. von dem Manne, der aus dem Erz des Bildes der »Freude, die einen Augenblick lebt«, das Bild der »Sorge, die ewig währet«, zu schaffen hat, ist es Fleisch und Blut geworden. Anders hätte es auch gar nicht sein können. In jedem einzelnen Moment seines Lebens ist man das, was man sein wird, nicht minder als das, was man gewesen ist. Die Kunst ist ein Symbol, weil der Mensch ein Symbol ist.

Kann ich ganz dahin gelangen, so ist es die letzte Verwirklichung des Künstlerlebens. Denn das Künstlerleben ist einfach Selbstentwicklung. Die Demut beim Künstler liegt darin, daß er alle Erfahrungen bedingungslos hinnimmt, genau so wie die Liebe beim Künstler einfach der Sinn für Schönheit ist, der der Welt ihren Körper und ihre Seele offenbart. In »Marius dem Epikuräer« sucht Pater das Künstlerleben mit dem religiösen Leben in der tiefen, holden und herben Bedeutung des Wortes in Einklang zu bringen. Aber Marius »Marius the Epicurean«, ein philosophischer Roman von Walter Pater (1839-1894), erschien 1885; eine deutsche Ausgabe hat der Insel-Verlag 1908 veranstaltet. ist wenig mehr als ein Zuschauer – ein idealer Zuschauer allerdings, einer, dem es gegeben ist, »das Schauspiel des Lebens mit eignen Empfindungen zu betrachten«, was Wordsworth Wordsworth schreibt in dem Essay Supplementary to the Preface to the Edition of the Poems, 1815: »The appropriate business of poetry ..., her appropriate employment, her privilege and her duty, is to treat of things not as they are, but as they appear...« Diese Stelle kommt dem von Wilde angeführten Ausdruck »to contemplate the spectacle of life with appropriate emotions« am nächsten; wahrscheinlich schwebte ihm aber eine Stelle aus der Abhandlung Walter Paters über Wordsworth vor (in dessen Buche »Appreciations, with an Essay on Style«, 1889), wo Pater sagt: »To witness this spectacle (sc. of life) is the aim of all culture«. als die wahre Bestimmung des Dichters bezeichnet; doch ein Zuschauer nur und vielleicht ein wenig zu sehr mit der Anmut der Bänke im Tempel beschäftigt, um zu gewahren, daß es der Leidenstempel ist, auf dem sein Blick ruht.

Ich sehe eine weit innigere, unmittelbarere Verbindung zwischen dem wahren Leben Christi und dem wahren Leben des Künstlers, und der Gedanke erfüllt mich mit großer Freude, daß ich, lange bevor sich das Leid meiner Tage bemächtigt und mich an sein Rad gebunden hatte, in der »Seele des Menschen« »And so he who would lead a Christlike life is he who is perfectly and absolutely himself«: »The Soul of Man«, p. 292 ; den Gefangnen hat Wilde allerdings hier nicht besonders namhaft gemacht. geschrieben habe: wer ein Christus ähnliches Leben fuhren wolle, müsse ganz und gar er selbst sein, und als Beispiele nicht nur den Schäfer auf der Heide und den Gefangnen in seiner Zelle angeführt habe, sondern auch den Maler, dem die Welt ein Mummenschanz, und den Dichter, dem die Welt ein Lied ist. Ich erinnre mich, ich sagte einmal zu André Gide, André Gide, als Stilkünstler geschätzter Schriftsteller. Von seinen Werken (»Les Cahiers d'André Walter«, »Nourritures terrestes« u. a.) sind in Deutschland sein Roman »L'Immoraliste« und sein Drama »Le roi Candaule« am bekanntesten geworden. Er hat mit Wilde in seiner letzten Pariser Zeit verkehrt und ihm einen an persönlichen Erinnerungen reichen Aufsatz in der Zeitschrift »L'Ermitage« (Juni 1902) gewidmet. als wir in einem Pariser Café zusammensaßen, die Metaphysik besitze für mich nur geringes wirkliches Interesse und die Moral nicht das mindeste; indessen ließe sich alles, was Plato und Christus gesagt hätten, ohne weiteres auf das Gebiet der Kunst übertragen und fände hier seine vollkommne Erfüllung. In dieser Verallgemeinerung war das ebenso tief wie neu.

Die enge Verbindung von Persönlichkeit und Vollkommenheit, die wir in Christus entdecken können, ist es nicht allein, die den wirklichen Unterschied zwischen klassischer und romantischer Kunst bildet und Christus als den wahren Vorläufer der romantischen Bewegung im Leben erscheinen läßt, sondern die Grundlage seines Wesens war dieselbe, die das Wesen des Künstlers ausmacht: eine starke, lodernde Phantasie. Er empfand in dem ganzen Bereich menschlicher Beziehungen jene Anteilnahme der Phantasie, die in der Kunst das einzige Geheimnis des Schaffens ist. Er begriff die Krankheit des Aussätzigen, das Dunkel des Blinden, das grimme Elend derer, die dem Vergnügen leben, die wundersame Armut der Reichen. Mir hat einer in meinem Unglück geschrieben: »Wenn Sie nicht auf Ihrem Piedestal stehn, sind Sie uninteressant«. Wie weit war der Briefschreiber von dem entfernt, was Matthew Arnold das »Geheimnis Jesu« Matthew Arnold (1822-1888) spricht in seinem Werke »Literature and Dogma« (1873) in dem Kapitel »The Testimony of Jesus to Himself« vom ›Geheimnis Jesu‹. nennt! Sie beide hätten ihn belehrt, daß alles, was einen andern trifft, einen selbst trifft; und wenn Du eine Inschrift haben willst, die Du in der Frühe und am Abend lesen kannst, im Schmerz und in der Freude, dann schreib' an die Wände Deines Hauses, daß es die Sonne vergolde und der Mond versilbere: »Alles, was einen andern trifft, trifft einen selbst«.

Christus gehört fürwahr unter die Dichter. Seine ganze Auffassung von der Menschheit entsprang geradeswegs der Phantasie und kann nur von ihr begriffen werden. Was Gott dem Pantheisten war, das war ihm der Mensch. Er hat zuerst die unterschiedlichen Rassen als eine Einheit erfaßt. Vor ihm hatte es Götter und Menschen gegeben; und da er durch eine geheimnisvolle Sympathie fühlte, daß beide in ihm Fleisch geworden waren, nennt er sich den Sohn des einen oder den Sohn des andern, wie es ihm eben beifiel. Mehr als irgend jemand in der Geschichte erweckt er in uns jene Stimmung für das Wunder, an die sich die Romantik allemal wendet. Die Idee hat für mich noch immer fast etwas Unglaubliches an sich, daß ein junger galiläischer Landmann sich vorstellt, er könne auf seinen Schultern die Last der ganzen Welt tragen: alles, was bereits getan und erduldet worden war, und alles, was dereinst noch getan und erduldet werden sollte: die Sünden Neros, Cesare Borgias, Alexanders VI. und dessen, der Kaiser von Rom und Sonnenpriester Heliogabal; vgl. Dorian Gray, Kap. 11: »... und wie er als Heliogabal ... den Mond aus Karthago geholt und ihn in mystischer Ehe der Sonne vermählt habe«. war; die Leiden derer, deren Zahl Legion ist und die zwischen Gräbern hausen, der unterdrückten Völker, der Kinder in Fabriken, der Diebe, der Sträflinge, der Enterbten, derer, die in ihrer Knechtschaft stumm sind und deren Schweigen nur von Gott vernommen wird; und sich nicht bloß vorstellt, sondern es auch tatsächlich durchsetzt, so daß noch im gegenwärtigen Augenblick alle, die mit seiner Person in Berührung kommen, selbst wenn sie weder vor seinem Altar sich neigen noch vor seinem Priester knien, doch irgendwie die Empfindung haben, daß die Häßlichkeit ihrer Sünde von ihnen genommen und die Schönheit ihres Leidens ihnen offenbart werde.

Ich hatte gesagt: Christus zählt zu den Dichtern. Das ist so. Shelley und Sophokles sind seine Brüder. Doch auch sein ganzes Leben ist das wundervollste Gedicht. Wenn man nach »Furcht und Mitleid« sucht, gibt es nichts im ganzen Sagenkreise der griechischen Tragödie, Aristoteles hat in seiner Poetik die Tragödie als Nachahmung einer Handlung definiert, »welche durch Mitleid und Furcht die Reinigung dieser Affekte vollzieht«. was sich damit messen könnte. Die makellose Reinheit des Protagonisten erhebt das ganze Gebäude zu einer Höhe romantischer Kunst, von der die Leiden des thebanischen Hauses und der Pelopiden schon durch ihre Greuel ausgeschlossen sind, und zeigt, wie falsch der Ausspruch des Aristoteles in seiner Abhandlung über das Drama ist, der Anblick eines schuldlos Leidenden sei unausstehlich. Weder bei Äschylus noch bei Dante, den strengen Meistern der Zartheit, weder bei Shakespeare, dem am reinsten Menschlichen von allen großen Künstlern, noch in sämtlichen keltischen Mythen und Legenden, darinnen die Lieblichkeit der Welt durch einen Tränennebel blinkt und das Leben eines Menschen nicht mehr gilt als das Leben einer Blume, gibt es irgend etwas, das an ergreifender Einfachheit, die sich der Erhabenheit tragischer Wirkung paart und in ihr aufgeht, dem letzten Akt der Leidensgeschichte Christi gleich oder auch nur nahe käme. Das schlichte Mahl mit seinen Jüngern, von denen ihn einer schon des Gewinnstes willen verkauft hat; die Seelenangst in dem ruhigen, mondbeglänzten Garten – der falsche Freund tritt dicht an ihn heran, um ihn mit einem Kusse zu verraten; der Freund, der noch an ihn glaubte und auf dem er wie auf einem Felsen eine Zufluchtsstätte für die Menschheit zu gründen gehofft hatte, verleugnet ihn, als der Hahn dem dämmernden Tag entgegenkräht – seine völlige Vereinsamung, seine Unterwürfigkeit und wie er sich allem fügt; daneben wiederum solche Szenen, da der Hohepriester der Orthodoxie im Zorne sein Gewand zerreißt und der Beamte des bürgerlichen Gerichtshofs Wasser holen läßt in der eitlen Hoffnung, sich von dem Fleck unschuldigen Blutes zu reinigen, der ihn zur Scharlachfigur der Geschichte macht; der Krönungsakt mit dem Dornenkranz – eine der wunderbarsten Begebenheiten in den Büchern aller Zeiten – die Kreuzigung des Unschuldigen vor den Augen seiner Mutter und des Jüngers, den er lieb hatte – die Soldaten spielen und würfeln um seine Kleider – der schreckliche Tod, durch den er der Welt ihr ewigstes Symbol gab; und schließlich sein Begräbnis in der Gruft des reichen Mannes – sein Leichnam wird mit kostbaren Spezerein und Wohlgerüchen gesalbt und in ägyptische Leinwand gewickelt, als wär' er eines Königs Sohn gewesen –: wenn man all das einzig und allein von künstlerischem Standpunkt aus betrachtet, muß man dafür dankbar sein, daß der feierlichste Gottesdienst der Kirche die Darstellung der Tragödie ohne das Blutvergießen ist: die mystische Vorführung der Leidensgeschichte des Herrn mit Hilfe von Dialog, Kostüm und Gesten sogar; und der Gedanke ist für mich stets eine Quelle ehrfürchtiger Erhebung, daß der letzte Überrest des griechischen Chors, der der Kunst sonst verloren gegangen ist, sich in dem Ministranten findet, der dem Messe lesenden Priester antwortet.

Doch in seiner Gesamtheit ist das Leben Christi – so völlig können Leid und Schönheit in ihrer Bedeutung und ihrer Darstellung verschmelzen – wirklich ein Idyll» mag es auch damit enden, daß der Vorhang im Tempel zerreißt, Finsternis das Antlitz der Erde bedeckt und der Stein vor des Grabes Tür gewälzt wird. Man stellt sich ihn immer als einen jungen Bräutigam im Kreise seiner Jünger vor, wie er sich ja an einer Stelle beschreibt; als einen Hirten, der mit seinen Schafen durch ein Tal streift auf der Suche nach grünen Auen oder einem kühlenden Strom; als einen Sänger, der die Mauern der Stadt Gottes durch Musik aufbaun möchte; als einen Liebenden, für dessen Liebe die ganze Welt zu klein war. Seine Wunder dünken mich köstlich wie das Nahen des Lenzes und ebenso natürlich. Ich sehe durchaus keine Schwierigkeit darin, an einen solchen Zauber seiner Persönlichkeit zu glauben, daß seine bloße Gegenwart gequälten Seelen Frieden bringen konnte und daß die, welche sein Gewand oder seine Hände berührten, ihres Schmerzes vergaßen; oder daß, wenn er auf der Heerstraße des Lebens vorüberschritt, Leute, denen bisher des Lebens Geheimnis verborgen geblieben war, es deutlich sahen, und daß andre, die jedem Laut ihr Ohr verschlossen hatten außer dem der Lust, zum erstenmal die Stimme der Liebe vernahmen und sie »musikalisch wie Phöbus' Leier« Shakespeare »Verlorene Liebesmüh« IV, 3 : »... as sweet and musical as bright Apollo's lute« (Schlegel: »so süß und musikalisch wie Phöbus' Lei'r«). fanden; oder daß üble Leidenschaften bei seiner Ankunft flohen und Menschen, deren stumpfes, phantasieloses Leben nur eine Form des Todes gewesen war, gleichsam aus dem Grabe auferstanden, da er sie rief; oder daß die Menge, als er am Hang des Hügels predigte, ihres Hungers und Durstes und der Sorgen dieser Welt vergaß und daß seinen Freunden, die ihm lauschten, als er beim Mahle saß, die grobe Nahrung wohlschmeckte, das Wasser wie trefflicher Wein mundete und das ganze Haus von dem süßen Duft der Narden erfüllt war.

Renan sagt irgendwo in seinem »Leben Jesu« Ernest Renan »Vie de Jésus«, chap. XXVIII: Caractère essentiel de l'oeuvre de Jésus: »S'être fait aimer, ›à ce point qu'après sa mort on ne cessa pas de l'aimer‹, voilà le chef-d'oeuvre de Jésus et ce qui frappa le plus ses contemporains«. – dem anmutigen fünften Evangelium, dem Evangelium, das man nach dem heiligen Thomas nennen möchte –: Christi großes Werk sei es gewesen, daß er sich die Liebe, die er bei Lebzeiten besessen, nach seinem Tode zu erhalten gewußt habe. Sicherlich, wenn sein Platz unter den Dichtern ist, so führt er den Reigen der Liebenden. Er erkannte, daß die Liebe an erster Stelle das Geheimnis der Welt sei, nach dem die Weisen ausgeschaut hatten, und daß man sich nur durch Liebe dem Herzen des Aussätzigen und den Füßen Gottes nähern könne.

Vor allem aber: Christus ist der höchste Individualist. Die Demut ist, wie die Künstler alle Erfahrungen hinnehmen, bloß eine Offenbarungsform. Nach der Seele des Menschen fahndet Christus immer. Er nennt sie »das Reich Gottes« τήν βασιλείαν τούδ εού – »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes«, Matth. 6, 33. und findet sie bei jedem. Er vergleicht sie mit Kleinigkeiten: einem winzigen Saatkorn, »Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn«, Matth. 13, 31. einer Handvoll Sauerteig, »Das Himmelreich ist einem Sauerteige gleich«, Matth. 13, 33.

»Abermal ist gleich das Himmelreich
einem Kaufmann, der gute Perlen suchte«, Matth. 13, 45.
einer Perle. Aus dem Grunde: weil man seine Seele nur dadurch ausbildet, daß man alle fremden Leidenschaften, alle erworbne Kultur und allen äußerlichen Besitz – ob gut oder schlecht – abstreift.

Mit der Hartnäckigkeit meines Willens und mehr noch mit dem Widerspruchsgeist meines Wesens bäumte ich mich gegen alles auf, bis ich nichts, gar nichts mehr auf der Welt hatte, als Cyril. Cyril, vgl. Anm., S. 157. Ich hatte meinen Namen, meine Stellung, mein Glück, meine Freiheit, mein Vermögen eingebüßt. Ich war ein Sträfling und bettelarm. Aber noch war mir ein holder Besitz geblieben: meine Söhne. Plötzlich wurden sie mir vom Gesetz genommen. Es war ein so betäubender Schlag, daß ich nicht aus noch ein wußte; ich warf mich auf die Knie, neigte das Haupt, weinte und sprach: »Der Leib eines Kindes ist wie der Leib des Herrn; ich verdiene sie beide nicht«. Dieser Augenblick hat mich, scheint's, gerettet. Damals erkannte ich, daß es nichts andres für mich gäbe, als alles hinzunehmen. Seitdem – so merkwürdig es unzweifelhaft klingen wird – bin ich glücklicher gewesen. Ich hatte nämlich meine Seele in ihrem letzten Wesensgehalt gefunden. In vieler Hinsicht war ich ihr Feind gewesen, aber ich fand, daß sie wie ein Freund auf mich wartete. Wenn man mit der Seele in Berührung kommt, läßt sie einen einfältig werden wie ein Kind, was man nach Christi Worten sein soll.

Es ist tragisch, wie wenige Menschen vor ihrem Tode im Besitze ihrer Seele sind. Der englische Ausdruck »possess their souls« spielt auf Luk. 21, 19 an (»In your patience possess ye your souls«); Luthers Übersetzung: »Fasset eure Seelen mit Geduld« verschiebt den Sinn, so daß die Stelle hier nicht als Zitat wiedergegeben werden konnte. Emerson sagt: »Nichts ist bei einem Menschen so selten, wie eine eigne Willenshandlung«. Das trifft ganz zu. Die meisten Leute sind andre Leute. Ihre Gedanken sind die Meinungen andrer, ihr Leben Mimikry, ihre Leidenschaften ein Zitat. Christus war nicht nur der größte Individualist, sondern auch der erste in der Geschichte. Man hat versucht, aus ihm einen gewöhnlichen Philanthropen zu machen, vom Schlage der schauderhaften Philanthropen des neunzehnten Jahrhunderts, oder hat ihn als Altruisten unter die Ungebildeten und Gefühlsschwärmer eingereiht. In Wirklichkeit war er weder das eine noch das andre. Gewiß, er hat Mitleid mit den Armen, den Eingekerkerten, den Niedrigen und Elenden; aber er hat viel mehr Mitleid mit den Reichen, den eingefleischten Hedonisten, mit denen, die ihre Freiheit verschwenden, indem sie Sklaven der Dinge werden, mit denen, die weiche Gewänder tragen und in königlichen Schlössern wohnen. Reichtum und Wohlleben schienen ihm größere Tragödien als Armut und Gram. Und was den Altruismus betrifft – wer wußte besser als er, daß es Anlage und nicht Willenskraft ist, was bei uns den Ausschlag gibt, und daß man nicht Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln lesen kann? »Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln?« Matth. 7, 16.

Für andre leben als bestimmter, einem selbst bewußter Zweck: das war nicht seine Lehre. Nicht die Grandlage seiner Lehre. Wenn er sagt: »Vergebet euren Feinden«, ›Vergebet euren Feinden‹ steht nicht in den Evangelien; Christus sagt: »Liebet eure Feinde«., Matth. 5, 44. so sagt er es nicht dem Feind zuliebe, sondern um unser selbst willen, und weil Liebe schöner ist als Haß. Wenn er den reichen Jüngling auffordert: »Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen«, »Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen«, Matth. 19, 21 (vgl. »The Soul of Man«, p. 1890. so denkt er dabei nicht an die Lage der Armen, sondern an die Seele des Jünglings, die liebliche Seele, die der Reichtum ins Verderben zog. In seiner Lebensauffassung ist er eins mit dem Künstler, der weiß, daß infolge des unvermeidlichen Gesetzes der Selbstvollendung der Dichter singen, der Bildhauer in Bronze denken, Der Ausdruck ›in Bronze denken‹ stammt aus dem Prosagedicht »The Artist« (p. 203)» der Maler die Welt zum Spiegel seiner Stimmungen machen muß, so unbedingt sicher, wie der Hagedorn im Frühling blühn, das Getreide im Herbst zur goldnen Fracht reifen und der Mond auf seiner vorgezeichneten Bahn von der Scheibe zur Sichel, von der Sichel zur Scheibe werden muß.

Hat Christus also nicht zu den Menschen gesprochen: »Lebet für andere«, so hat er vielmehr dargetan, daß gar kein Unterschied zwischen dem Leben der andern und unserm eignen Leben besteht. Hierdurch gab er dem Menschen eine ausgedehnte, titanische Persönlichkeit. Seitdem er erschienen, ist die Geschichte jedes einzelnen Individuums die Weltgeschichte oder kann dazu werden. Freilich, die Kultur hat die Persönlichkeit des Menschen gesteigert. Die Kunst hat unsern Myriadengeist Samuel Taylor Coleridge(1772-1834) hat den Ausdruck »our myriad-minded Shakespeare« in seiner »Biographia Literaria« (1817) geprägt. geschaffen. Wer das Künstlernaturell besitzt, der geht mit Dante ins Exil und lernt, wie salzig das Brot der andern ist Anspielung auf Paradiso XVII, 58ff.:

»Tu proverai sì com' sa di sale
Lo pane altrui, e com' è duro calle
Lo scendere e il salir per l'altrui scale«.

Schon in seinem Oxforder Preisgedicht »Ravenna« (1878) schwebten Wilde diese Verse vor (S. 95):


»Alas! my Dante! thou hast known ...
How steep the stairs within kings' houses are«

(die allzu steilen Stufen fremder Stiegen).
und wie steil ihre Stufen sind; der erlangt einen Augenblick die heitere Ruhe Goethes und weiß dennoch nur zu gut, daß Baudelaire zu Gott aufschrie:

»O Seigneur, donnez-moi la force et le courage
De contempler mon corps et mon coeur sans dégoût«.
»Ah! Seigneur! donnez-moi la force et le courage
De contempler mon coeur et mon corps sans degoût«,

Schluß des Gedichtes »Un Voyage à Cythère« aus den »Fleurs du Mal« von Charles Baudelaire (1821 – 1867).

Aus Shakespeares Sonetten holt er – sich selbst vielleicht zum Schaden – das Geheimnis seiner Liebe heraus Das ›Geheimnis der Liebe‹ liegt in Shakespeares Sonetten darin, daß sie zugleich von dem Seelenbund mit einem jungen, blonden Aristokraten und von der Liebe zu einer koketten, schwarzen Dame handeln. und macht es sich zu eigen; er sieht mit andern Augen das moderne Leben, weil er einem von Chopins Nocturnen gelauscht oder sich mit griechischen Künsten abgegeben oder die Geschichte der Leidenschaft eines toten Mannes gelesen hat zu einer toten Frau, deren Haar feinen Goldfäden, deren Mund einem Granatapfel glich. Aber das Mitfühlen des künstlerischen Temperaments richtet sich notwendigerweise auf das, was zum Ausdruck gelangt ist. In Worten oder Farben, in Tönen oder Marmor, hinter den gemalten Masken eines Äschyleischen Dramas oder durch die durchbohrten und aneinander gefügten Schilfrohre eines sizilischen Hirten Mit den ›Schilfrohren eines sizilischen Hirten‹ wird, neben der tragischen Dichtung eines Aischylos, die bukolische Poesie Theokrits bezeichnet. muß der Mensch und seine Sendung offenbart worden sein.

Dem Künstler ist Ausdruck die einzige Form, unter der er das Leben überhaupt begreifen kann. Für ihn ist tot, was stumm ist. Anders bei Christus. Mit einer wunderbar umfangreichen Phantasie, die einen geradezu mit heiliger Scheu erfüllt, erkor er die ganze Welt des Unausgesprochnen, die Welt des Schmerzes, die keine Stimme hat, zu seinem Königreich und machte sich zu ihrem ewigen Sprachrohr. Die, von denen ich schon gesprochen habe, die unter einem Druck stumm sind und »deren Schweigen nur von Gott vernommen wird«, wählte er sich zu Brüdern. Er suchte, das Auge des Blinden, das Ohr des Tauben und ein Notschrei auf den Lippen derer zu werden, denen die Zunge gebunden war. Sein Wunsch war es, den Myriaden, die keine Sprache gefunden hatten, eine Drommete zu sein, durch die sie zum Himmel rufen könnten. Und da er mit der Künstlernatur eines, dem Leiden und Kummer Formen waren, durch die er seinen Schönheitsbegriff verwirklichen konnte, empfand, daß eine Idee wertlos sei, bis sie Fleisch wird und zum Bilde, so machte er aus sich das Bild des Leidenden, und als solches hat er die Kunst angeregt und beherrscht, wie es niemals einem griechischen Gotte gelang.

Denn die griechischen Götter waren trotz dem Weiß und Rot ihrer schönen, geschmeidigen Glieder in Wirklichkeit nicht das, was sie zu sein Schienen. Die geschwungne Stirn Apolls glich der Sonnenscheibe, die in der Dämmerung über einem Hügel steht, und seine Füße den Fittichen des Morgens; aber er selbst war grausam gegen Marsyas gewesen und hatte Niobe ihrer Kinder beraubt. In den Stahlschilden der Augen Athenes blitzte kein Erbarmen mit Arachne; Arachne wurde von Athene, weil sie die Göttin zum Wettstreit in der Webekunst herausgefordert hatte, in eine Spinne verwandelt (Ovids Metamorphosen). die prunkvolle Hoheit und die Pfauen Heras waren alles, was wirklich vornehm an ihr war; und der Vater der Götter selbst hatte die Menschentöchter zu gern gehabt. Die beiden bedeutungsvollsten Gestalten der griechischen Mythologie waren in der Religion Demeter, Demeter, die Mutter Proserpinas, wird von Homer nicht unter den Göttern des Olympos genannt. In Enna auf Sizilien, wo Pluton die Proserpina geraubt haben soll, stand das Heiligtum der Demeter. eine irdische Gottheit, keine der Olympischen, und in der Kunst Dionys, der Sohn einer Sterblichen, Semele, des Kadmos Tochter, gebar sterbend den Dionys, als Zeus auf ihre Bitten hin mit Blitz und Donner vor ihr erschien. In Böotien, dem Geburtslande des Dionys, war sein Kult zu Hause, besonders auf dem Kithäron, dem Grenzgebirge, nach Attika zu. für die der Augenblick seiner Geburt auch zum Augenblick ihres Todes geworden.

Aber das Leben selbst brachte aus seiner untersten, bescheidensten Schicht eine weit herrlichere Gestalt hervor, als die Mutter Proserpinas oder den Sohn der Semele. Aus der Zimmermannswerkstatt in Nazareth war eine unendlich größere Persönlichkeit hervorgegangen, als je eine in Mythe und Sage erstandene, eine Persönlichkeit, die seltsamerweise dazu bestimmt war, der Welt die geheimnisvolle Bedeutung des Weins und die wahre Schönheit der Lilien des Feldes zu enthüllen, wie es keiner je auf dem Kithäron oder in Enna getan hatte.

Die Worte Jesaias: Jesaia 53, 3. »Er war der allerverachtetste und unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg«, hatten ihm wie eine Vorankündigung seiner selbst geklungen, und die Prophezeiung ward an ihm erfüllt. Wir brauchen einen solchen Ausdruck nicht zu scheun. Jedes Kunstwerk ist die Erfüllung einer Prophezeiung; denn jedes Kunstwerk ist die Umwandlung einer Idee in ein Bild. Jedes menschliche Wesen sollte die Erfüllung einer Prophezeiung sein; denn jedes menschliche Wesen sollte die Verwirklichung eines Ideals sein, entweder in den Augen Gottes oder der Menschen. Christus fand den Typus und legte ihn fest, und der Traum eines Virgilischen Dichters Mit dem ›Traum eines Virgilischen Dichters‹ meint Wilde Virgils vierte Ekloge, deren sechste Zeile: »Jam redit et virgo, redeunt Saturnia regna« als Vorankündigung des Christentums gedeutet wurde. in Jerusalem oder Babylon verkörperte sich im langen Lauf der Jahrhunderte in ihm, auf dessen Ankunft die Welt harrte. »Seine Gestalt war häßlicher denn anderer Leute und sein Ansehen denn der Menschen Kinder«: Jesaia 51, 14. das hatte Jesaia unter den Erkennungsmerkmalen des neuen Ideals aufgezeichnet; und sobald die Kunst verstand, was damit gemeint war, brach sie auf wie ein Blumenkelch in Gegenwart dessen, an dem die Wahrheit in der Kunst zutage trat wie nie zuvor. Denn ist nicht Wahrheit in der Kunst, wie ich schon sagte, Wiederholung der auf S. 42 gegebenen Definition von der ›Wahrheit in der Kunst‹. das, worin »das Äußere Ausdruck des Innern, worin die Seele Fleisch und der Leib vom Geiste belebt« ist, worin die Form sich offenbart?

Für mich gehört es mit zum Bedauerlichsten in der Geschichte, daß die richtige christliche Renaissance, die den Dom in Chartres, Die Kathedrale in Chartres, ein frühes Bauwerk der Gotik (aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts), die größte und eine der schönsten Kirchen Frankreichs. den Legendenzyklus von König Arthur, Die Arthur- oder Artussage, ursprünglich walisisch-bretonisch, hat sich im frühen Mittelalter über die romanischen und germanischen Länder verbreitet. Arthur, ein mythischer König der Briten, der das alte Keltentum gegen die angelsächsische Invasion verteidigte, wurde auch zum Mittelpunkt der Gralsage. In Deutschland gewann der Legendenzyklus Popularität durch Richard Wagners Opern, in England hauptsächlich durch Alfred Tennysons »Idylls of the King«. Darin wird auch von der verräterischen Liebe Lancelots (vgl. S. 73, Z. 2), eines Ritters der Tafelrunde, zu Arthurs Gemahlin Guinevere erzählt. das Leben des Heiligen Franz von Assisi, Franz von Assisi (Giovanni Bernardone, 1182-1226), Stifter des Franziskanerordens, wegen seines frommen Lebenswandels verehrt. Er hat vornehmlich die Künstler angeregt und keinen mehr als Giotto (c. 1276-1337), dessen Darstellungen aus dem Leben dieses Heiligen die Wände der berühmten Kirche in Assisi schmücken. die Kunst Giottos und Dantes Göttliche Komödie hervorgebracht hat, in ihrer eignen Bahn sich nicht weiter entwickeln durfte, sondern gehemmt und verdorben wurde von der traurigen klassischen Renaissance, die uns Petrarca schenkte und Raphaels Fresken und Palladios Architektur und die formenstarre französische Tragödie und die St. Paulskirche und Popes Dichtung Alexander Pope (1688-1744) der Hauptvertreter der klassizistischen Dichtung in England, dessen lehrhafte Gedichte noch das Entzücken Byrons bildeten. und alles, was von außen und nach toten Regeln gemacht ist, statt von innen zu kommen aus einem belebenden Geiste. Allein überall, wo es eine romantische Bewegung in der Kunst gibt, ist irgendwie und unter irgendeiner Gestalt Christus oder Christi Seele. Er ist in »Romeo und Julia«, im »Wintermärchen«, in der provençalischen Poesie, im »Alten Matrosen«, »The Rime of the Ancient Mariner« von Coleridge erschien 1797, im Geburtsjahr der englischen Romantik. Ferdinand Freiligrath hat die Ballade vom »Alten Matrosen« ins Deutsche übertragen. in der »Belle Dame sans merci« »La Belle Dame sans Merci« von John Keats (1795-1821). und in Chattertons »Ballade von der Barmherzigkeit«. »An excelente Balade of Charitie«, angeblich 1464 von dem guten Priester Thomas Rowley verfaßt, ist eines der letzten Gedichte des Wunderknaben Thomas Chatterton (1752-1770). Helene Richter hat die »Ballade von der Barmherzigkeit« verdeutscht.

Wir verdanken ihm die unterschiedlichsten Dinge und Menschen. »Les Misérables« Victor Hugos Roman »Les Misérables« erschien 1862. von Hugo, Baudelaires »Fleurs du Mal«, Charles Baudelaires berühmteste Gedichtsammlung »Fleurs du Mal« ist zuerst 1857 erschienen, dann in wesentlich veränderter Form 1861. die Mitleidsnote in russischen Romanen, Über seine Bewunderung russischer Schriftsteller hat sich Wilde zu André Gide (L'Ermitage, p. 421) ausgesprochen: »Les écrivains de la Russie sont extraordinaires. Ce qui rend leurs livres si grands, c'est la pitié qu'ils y ont mise«(vgl. »The Soul of Man«, p. 333). Verlaine und seine Gedichte, Paul Verlaine (1844-1896), der Dichter der »Poèmes Saturniens«, der »Romances sans paroles« u.a., war mit Wilde persönlich bekannt. Über ihre erste und einzige Begegnung im Café François Premier in Paris hat Robert Sherard (»The Story of an Unhappy Friendship«, p. 56) Bericht erstattet. das bunte Glas, die Tapeten und die Quattrocento-Arbeiten von Burne-Jones Edward Burne-Jones(1833-1898), das größte Maltalent der Präraphaeliten, hat einer Reihe von Städten Großbritanniens und Irlands Glasfenster geliefert. Schon seit seiner Oxforder Zeit war er befreundet mit dem Dichter William Morris (1834-1896), der, durch Begründung seines Geschäfts für dekorative Kunst in London, der Reformator des englischen Kunstgewerbes wurde. und Morris gehören ebenso zu ihm wie der Glockenturm Giottos, Lancelot und Guinevere, Tannhäuser, die qualvollen romantischen Marmorwerke Michelangelos und der Spitzbogenstil. Auch die Liebe zu Kindern und Blumen. Für beide war in der klassischen Kunst nur wenig Raum übrig, kaum so viel, daß sie darin wachsen und spielen konnten; doch vom zwölften Jahrhundert an bis herab zu unsern Tagen sind sie immerwährend unter verschiedenen Formen und zu verschiedenen Zeiten erschienen – launenhaft und eigenwillig, wozu Kinder, wozu Blumen neigen. Der Lenz machte einem stets den Eindruck, als ob sich die Blumen versteckt hielten und nur ans Licht der Sonne träten, aus Furcht, Erwachsene möchten es müde werden, nach ihnen auszuschaun, und nicht weiter suchen. Und das Leben eines Kindes war nicht mehr als ein Apriltag, an dem die Narzisse bald Regen, bald Sonnenschein hat.

Das Phantasiereiche in Christi eignem Wesen macht ihn zum Puls und Mittelpunkt der Romantik. Die seltsamen Gestalten des poetischen Dramas und der Ballade werden von der Phantasie andrer erdacht, aber völlig aus seiner eignen Phantasie erschuf sich Jesus von Nazareth. Der Prophetenruf Jesaias hatte wirklich mit seinem Erscheinen nicht mehr zu tun, als das Lied der Nachtigall mit dem Aufgang des Mondes – nicht mehr, doch vielleicht auch nicht weniger. Er war sowohl die Verneinung wie die Bestätigung des Prophetenwortes. Auf jede Erwartung, die er erfüllte, kam eine andre, die er vernichtete. »In aller Schönheit«, sagt Bacon, »liegt eine absonderliche Proportion«, »There is no Excellent Beauty, that hath not some Strangenesse in the Proportion«, heißt es in dem Essay »Of Beauty of Person« von Francis Bacon Lord Verulam (1561-1626). und von denen, die vom Geiste geboren, will sagen: die wie er dynamische Kräfte sind, sagt Christus, daß sie dem Winde gleichen, der »blaset, wo er will, aber du weißt nicht, von Wannen er kommt und wohin er fährt«. »Der Wind blaset, wo er will...«, Joh. 3, 8. Darum bezaubert er Künstler so. Ihm eignen alle farbigen Lebenselemente: Rätsel, Neuheit, Pathos, Anregung, Verzückung, Liebe. Er spricht das für Wunder empfängliche Naturell an und erzeugt jene Stimmung, aus der heraus er einzig verstanden werden kann.

Und mit Freuden denke ich daran, daß, wenn er ganz und gar ›aus Einbildung besteht‹, »Aus Einbildung (of Imagination all compact) bestehn Wahnwitzige, Poeten und Verliebte«, Sommernachtstraum V, 1. Die Prägnanz des im Englischen als Zitat gebrauchten Ausdrucks ist in Schlegels Übersetzung verloren gegangen. die Welt aus demselben Stoffe ist. Im »Dorian Gray« habe ich gesagt, die großen Sünden der Welt vollzögen sich im Hirn. »It has been said that the great events of the world take place in the brain. It is in the brain, and the brain only, that the great sins of the world take place also«, Dorian Gray, Kap. 2. Im Hirn vollzieht sich aber alles. Wir wissen jetzt, daß wir nicht mit dem Auge sehn und nicht mit dem Ohre hören. Auge und Ohr sind in Wirklichkeit zweckdienliche oder unzulängliche Leitungskanäle der Sinneseindrücke. Im Hirn ist der Mohn rot, duftet der Apfel, singt die Feldlerche.

Seit einiger Zeit studiere ich mit heißem Bemühn die vier Prosagedichte, die von Christus handeln. Zu Weihnachten gelang es mir, ein griechisches Testament aufzutreiben, und jeden Morgen, wenn ich meine Zelle gereinigt und mein Zinngeschirr geputzt hatte, las ich ein wenig in den Evangelien, ein Dutzend Verse, aufs Geratewohl herausgegriffen. Es ist eine entzückende Art, damit den Tag zu beginnen. Jeder, selbst wenn er ein stürmisches, schlecht geregeltes Leben fuhrt, sollte es tun. Endlose Wiederholung – zur rechten Zeit und unzeitgemäß – hat uns die Frische, die Naivetät, den schlichten, romantischen Zauber der Evangelien verdorben. Wir hören sie viel zu oft und viel zu schlecht lesen, und alle Wiederholung ist geisttötend. Kehrt man aber zum Griechischen zurück, so ist es, als träte man aus enger, dunkler Stube in einen Liliengarten.

Und mir wird die Freude verdoppelt durch die Erwägung, daß wir höchst wahrscheinlich die tatsächlichen Ausdrücke, ipsissima verba Christi vor uns haben. Früher herrschte allgemein die Ansicht, Christus habe aramäisch gesprochen. Sogar Renan dachte es noch. »Ce qui est indubitable, en tout cas, c'est que de très-bonne heure on mit par ecrit les discours de Jesus en langue arameenne, que de bonne heure aussi on ecrivit ses actions remarquables«, Renan, Vie de Jésus, Introduction. Jetzt aber wissen wir, daß die Bauern in Galiläa zwei Sprachen redeten, wie heutzutage die irischen Bauern, und daß Griechisch in ganz Palästina, ja im ganzen Orient die übliche Verkehrssprache war. Ich konnte mich nie mit dem Gedanken befreunden, daß wir die eignen Worte Christi nur durch die Übersetzung einer Übersetzung kennen sollten. Mit Entzücken denke ich jetzt daran, daß Charmides seiner Unterhaltung zugehört, Charmides, vornehmer Athener, Anhänger der oligarchischen Partei, fiel mit seinem Vetter Kritias am Kephisos. Plato hat einen seiner Dialoge nach ihm benannt, Wilde den Namen für eines seiner schönsten Gedichte entlehnt (vgl. Intentions, p. 112 und Miscellanies, p. 12). Sokrates mit ihm philosophiert, Plato ihn verstanden haben könnte; daß er wirklich sagte: Εγω ειμι ο ποιμην ο χαλοσ; »Ich bin der gute Hirte«, Joh. 10, 11. daß, als er der Lilien auf dem Felde gedachte, die nicht arbeiten und nicht spinnen, sein Ausdruck unbedingt lautete: »Καταμαθετε τα χρινα του αγρου πωσ αυξανει ου χοπια, ουδε νηθει«; »Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht«, Matth. 6, 28. und daß sein letztes Wort, als er ausrief: »Mein Leben ist zu Ende, hat seine Erfüllung gefunden, ist vollendet«, genau hieß, wie Johannes uns mitteilt: »Τετελεσται« »Es ist vollbracht«, Joh. 19, 30. – nichts weiter.

Beim Lesen der Evangelien – zumal dessen, das Johannes selbst verfaßt hat oder sonst ein Gnostiker Gnostiker nennt man die (vom zweiten bis fünften Jahrhundert tätigen) Theosophen, die ›das Christentum durch Umdeutung seines dogmatischen Inhalts als absolutes Weltprinzip zu erweisen suchten‹. der Frühzeit, der seinen Namen als Deckmantel benutzte – erblicke ich darin, wie sich die Phantasie beständig geltend macht, die Grundlage alles geistigen und materiellen Lebens, sehe ich ferner, daß für Christus die Phantasie einfach eine Form der Liebe und die Liebe im vollsten Sinne des Wortes Herr war.

Ungefähr vor sechs Wochen erlaubte mir der Arzt, Weißbrot zu essen statt des groben schwarzen oder braunen Brotes, der üblichen Gefängniskost. Es ist ein Leckerbissen. Es wird seltsam klingen, daß einem trocknes Brot ein Leckerbissen sein kann. Mir ist es das so sehr, daß ich nach jeder Mahlzeit sorgsam alle Krumen esse, die auf meinem Zinnteller übrig geblieben oder auf das rauhe Handtuch gefallen sind, das man über seinen Tisch deckt, um ihn nicht zu beschmutzen; ich tue es nicht aus Hunger – jetzt bekomme ich völlig ausreichend zu essen – sondern einfach, damit nichts von dem, was man mir gibt, verschwendet werde. So soll man es mit der Liebe halten.

Christus besaß, wie alle bestrickenden Persönlichkeiten, die Gabe, nicht nur selbst Schönes zu sagen, sondern sich auch von andern Schönes sagen zu lassen. Ich liebe die Geschichte, die uns Markus von dem griechischen Weib erzählt, Mark. 7, 25 ff. Wilde bemängelt, daß das griechische κυνάρια im englischen Bibeltext mit ›dogs‹ übersetzt ist, während es mit ›little dogs‹ wiedergegeben sein sollte. das, als Jesus, um ihren Glauben zu prüfen, zu ihr sprach, er könne ihr nicht das Brot der Kinder Israels geben, ihm antwortete: »Die Hündlein – χυναρια – unter dem Tische essen von den Brosamen der Kinder«. Die meisten Menschen leben für Liebe und Bewunderung. vgl. Wordsworth, Excursion IV, 763: »We live by admiration, hope, and love«. Von Liebe und Bewunderung sollten wir leben. Erweist man uns Liebe, so sollten wir erkennen, daß wir ihrer ganz unwert sind. Niemand verdient geliebt zu werden. Die Tatsache, daß Gott die Menschen liebt, zeigt uns, daß in der göttlichen Anordnung der ideellen Güter geschrieben steht, ewige Liebe solle dem ewig Unwürdigen geschenkt werden. Oder, wenn der Satz zu bitter klingt, sagen wir so: jeder verdient Liebe, nur der nicht, der glaubt, daß er sie verdiene. Die Liebe ist ein Sakrament, das man kniend empfangen soll, und »Domine, non sum dignus« müßte auf den Lippen und im Herzen derer sein, die es erhalten.

Wenn ich je wieder schreibe, ich meine: ein Kunstwerk schaffe, möchte ich mich just über und durch zwei Themen äußern: das eine heißt »Christus als Vorläufer der romantischen Bewegung im Leben«; das andre »Künstlerleben und Lebenskunst«. Das erste ist natürlich außerordentlich verlockend; denn ich erblicke in Christus nicht nur die wesentlichen Merkmale des höchsten romantischen Typus, sondern auch alles Zufällige, sogar die Eigenwilligkeiten des romantischen Temperaments. Er hat als erster die Menschen aufgefordert, ein ›blumengleiches Leben‹ Christus hat den Ausdruck ›blumengleiches Leben‹ nicht geprägt; er ließe sich ableiten aus Matth. 6, 28 (s. o.). zu führen. Er hat den Ausdruck geprägt. Er sah in Kindern das Vorbild dessen, was man streben soll zu werden. Er stellte sie älteren Leuten als Muster hin; das habe auch ich stets für den Hauptzweck der Kinder gehalten, sofern das Vollkommne einen Zweck haben soll. Dante beschreibt die Seele eines Menschen, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgeht, »weinend und lachend wie ein kleines Kind«, und auch Christus erkannte, daß die Seele eines jeden »a guisa di fanciulla che piangendo e ridendo pargoleggia« Purgatorio XVI, 86 f. sein soll. Er fühlte, daß das Leben wechselvoll, flüssig, handlungsreich und daß es der Tod sei, es in irgend eine starre Form zwängen zu lassen. Er sah ein, daß die Menschen die materiellen Interessen des Tages nicht zu ernst nehmen dürften; daß es etwas Großes sei, unpraktisch zu sein; daß man sich nicht zu viel Gedanken über den Lauf der Welt machen dürfe. Die Vögel kümmerten sich ja auch nicht darum, warum also die Menschen? Es ist köstlich, wenn er sagt: »Sorget nicht für den anderen Morgen! »Sorget nicht für den anderen Morgen«, Matth. 6, 34. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung?« »Ist nicht das Leben mehr denn die Speise ...«, Matth. 6, 25. Ein Grieche hätte das letzte sagen können, so sehr spricht sich darin griechisches Fühlen aus. Aber Christus allein konnte beides sagen und damit für uns die Summe des Lebens zusammenfassen.

Seine Moral ist durchaus Liebe, eben was Moral sein soll. Hätte er nichts weiter gesagt als: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet«, Luk. 7, 47 (vgl. »The Soul of Man«, p. 291). es hätte sich verlohnt, für ein solches Wort zu sterben. Seine Gerechtigkeit ist durchaus poetische Gerechtigkeit, genau das, was Gerechtigkeit sein soll. Der Bettler kommt in den Himmel, weil er unglücklich gewesen ist. Ich kann mir keinen besseren Grund dafür denken. Die Leute, die eine Stunde am kühlen Abend im Weinberg arbeiten, erhalten ebensoviel Belohnung wie die, welche sich den ganzen Tag über in der heißen Sonne abgemüht haben. Warum auch nicht? Wahrscheinlich hat keiner etwas verdient. Oder es waren vielleicht Menschen von verschiedener Art. Christus konnte die stumpfen, leblosen, mechanischen Systeme nicht ausstehn, die Menschen wie Dinge und folglich alle gleich behandeln. Gesetze gab es für ihn nicht, nur Ausnahmen, als ob jeder und jedes seinesgleichen nicht noch einmal auf der Welt hätte.

Das, was der Grundton der romantischen Kunst ist, war für ihn die eigentliche Basis des natürlichen Lebens. Eine andre sah er nicht. Und als man ein Weib zu ihm brachte, das auf frischer Tat im Ehebruch ergriffen war, und ihm ihr Urteil, wie es im Gesetz geschrieben stand, vorwies und ihn fragte, was geschehn solle, da schrieb er mit dem Finger auf die Erde, wie wenn er sie nicht höre, und als sie von neuem in ihn drangen, da blickte er schließlich auf und sprach: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie«. Matth. 23, 27. Es verlohnte sich, für ein solches Wort zu leben.

Wie alle Dichternaturen, liebte er Ungebildete. Er wußte, daß in der Seele eines Ungebildeten stets Raum für eine große Idee ist. Aber Dumme waren ihm unerträglich, besonders die, welche die Erziehung verdummt hat: Leute, die voll Ansichten sind, davon sie keine einzige wirklich verstehn – ein vornehmlich moderner Typus, den Christus zusammenfassend als den Typus dessen beschreibt, der den Schlüssel zum Wissen hat, ihn selbst nicht gebrauchen kann und andern den Gebrauch nicht gestattet, wenn der Schlüssel auch dazu da ist, das Tor zum Reiche Gottes zu öffnen.

Sein Hauptkrieg war gegen die Philister gerichtet. Diesen Krieg hat jedes Kind des Lichts zu führen. Das Philistertum war das Kennzeichen des Zeitalters und des Staates, darin er lebte. In ihrer schwerfälligen Unzugänglichkeit, ihrer stumpfen Ehrbarkeit, ihrer langweiligen Orthodoxie, ihrer Anbetung der Tagesgötzen, ihrer völligen Befangenheit in grob materialistischen Lebensfragen, ihrem lächerlichen Selbstdünkel und ihrer Wichtigtuerei waren die Juden in Jerusalem zur Zeit Christi genau das Seitenstück zum britischen Philister unsrer Tage. Christus verspottete die »übertünchten Gräber« der Ehrbarkeit und hat diesen Ausdruck für alle Zeiten geprägt. Er behandelte den weltlichen Erfolg als etwas durchaus Verächtliches. Er sah gar nichts darin. Er betrachtete den Reichtum als eine Beschwer für den Menschen. Er wollte von einem Leben nichts wissen, das irgendeinem philosophischen oder ethischen System geopfert wird. Er setzte auseinander, daß Formen und Bräuche für den Menschen da seien, aber nicht der Mensch für Formen und Bräuche. Er hielt die Sabbatheiligung für etwas Nichtiges. Die kalte Philanthropie, das Schaugepränge der öffentlichen Wohltätigkeitsanstalten, der lästige Formalismus, den der Spießbürgerverstand so liebt, wurden von ihm mit äußerstem, unerbittlichem Hohn gegeißelt. Uns ist, was Orthodoxie heißt, bloß ein bequemes, geistloses Ja- und Amen-Sagen; ihnen aber und in ihrer Hand war es eine furchtbare, lähmende Tyrannei. Christus räumte damit auf. Er zeigte, daß der Geist allein von Wert sei. Es bereitete ihm hohe Lust, ihnen klar zu machen, daß sie zwar beständig das Gesetz und die Propheten läsen, in Wirklichkeit aber nicht die geringste Ahnung hätten, was beide bedeuteten. Im Gegensatz zu ihnen, die jeden einzelnen Tag mit seiner starren Schablone vorgeschriebener Pflichten verzehnteten, ebenso wie sie Minze und Raute verzehnten, »Wehe euch Pharisäern, daß ihr verzehntet die Minze und Raute«, Luk. 11, 42. predigte er, wie es über alle Maßen wichtig sei, durchaus dem Augenblick zu leben.

Die er von ihren Sünden erlöste, die werden einfach um schöner Momente willen in ihrem Leben erlöst. Als Maria Magdalena Christus erblickt, zerbricht sie die kostbare Alabastervase, die einer ihrer sieben Liebhaber ihr geschenkt hat, und gießt die wohlriechenden Salben über seine ermüdeten, staubigen Füße aus; dieses einen Moments wegen sitzt sie für alle Zeiten mit Ruth und Beatrice unter den Gewinden aus schneeweißen Rosen im Paradiese. Alles, was Christus in leise mahnendem Tone zu uns spricht, ist, daß jeder Augenblick schön, daß die Seele stets zur Ankunft des Bräutigams gerüstet sein und immer auf die Stimme des Liebenden warten soll, wobei das Philistertum einfach der Teil des menschlichen Wesens ist, der nicht von der Phantasie erhellt wird. Christus betrachtet alle lieblichen Einflüsse des Lebens als Lichtgattungen: die Phantasie selbst ist das Weltlicht, το φωσ του χοσμου. Die Welt ist von ihr erschaffen, und sie kann es doch nicht fassen; das kommt daher, daß die Phantasie nur eine Offenbarung der Liebe ist, und die Liebe und die Fähigkeit zu lieben unterscheiden ein Geschöpf vom andern.

Aber wenn er es mit einem Sünder zu tun hat, ist Christus am romantischsten im Sinne von am wirklichsten. Die Welt hatte von jeher den Heiligen als die nächstmögliche Stufe zur Vollendung Gottes geliebt. Christus scheint vermöge eines göttlichen Instinkts den Sünder von jeher als die nächstmögliche Stufe zur Vollendung des Menschen geliebt zu haben. Sein vornehmlichster Zweck war nicht, die Leute zu bessern, so wenig wie es sein vornehmlichster Zweck war, Leiden zu lindern. Ihm kam es nicht darauf an, einen interessanten Dieb in einen langweiligen Ehrenmann zu verwandeln. Er hätte von der Gesellschaft zur Unterstützung haftentlassener Sträflinge und ähnlichen modernen Bestrebungen wenig gehalten. Die Bekehrung eines Zöllners zu einem Pharisäer wäre ihm nicht als Heldentat erschienen. Doch in einer von der Welt noch nicht begriffenen Weise erachtete er Sünde und Leiden als etwas an sich Schönes und Heiliges, als Grade der Vollendung.

Das klingt sehr gefährlich. Ist es auch –¦ alle großen Ideen sind gefährlich. Daß dies Christi Glaube war, daran ist kein Zweifel möglich. Daß es der wahre Glaube ist, bezweifle ich selbst nicht.

Der Sünder muß natürlich bereun. Aber warum? Einfach aus dem Grunde, weil er sonst nicht imstande wäre, das, was er getan hat, zu begreifen. Der Moment der Reue ist der Moment der Weihe. Ja, noch mehr: ist das Mittel, durch das man seine Vergangenheit ändert. Die Griechen hielten das für unmöglich. In ihren Sinnsprüchen heißt es oft: »Nicht einmal die Götter können die Vergangenheit ändern«. vgl. Aristoteles »Eth. Nic.« VI, 2: Pindar »Olympia« II, 17; ähnlich sagt Milton im »Par. Lost« IX, 926:

»But past who can recall, or done undo?
Not God omnipotent, nor Fate!«
Christus zeigte, daß der gemeinste Sünder dazu in der Lage sei; daß es das einzige sei, was er tun könne. Hätte man Christus gefragt, er würde – ich bin dessen ganz sicher – gesagt haben, daß der verlorene Sohn, nachdem er sein Gut mit Dirnen verpraßt und dann die Schweine gehütet und Hunger gelitten und nach den Trebern begehrt hatte, die sie aßen, in dem Augenblick, da er auf die Knie fiel und weinte, all das zu schönen und heiligen Momenten seines Lebens machte. Den meisten Menschen wird es schwer, den Gedanken zu fassen. Vielleicht muß man im Gefängnis gewesen sein, um ihn zu verstehn. Dann verlohnte es sich der Mühe, im Gefängnis zu sitzen.

Christi Gestalt hat etwas so Einziges. Gewiß, gerade so wie es trügerische Lichtschimmer vor der Dämmerung gibt und Wintertage, an denen die Sonne plötzlich so hell scheint, daß sie den vorsichtigen Krokus verlocken, sein Gold vor der Zeit zu verschwenden, und ein törichter Vogel seinem Weibchen zuruft, das Nest auf kahlen Zweigen zu baun: so gab es Christen vor Christus. Dafür müßten wir dankbar sein. Leider hat es nur seitdem keine mehr gegeben. Mit einer Ausnahme: Franz von Assisi. Franz von Assisi, s. Anm., S. 168. Die bis zur Schwärmerei gesteigerte Verehrung für diesen Heiligen blieb Wilde auch später treu. So sagte er zu Andre Gide (L'Ermitage, p. 422): »Nous ne pouvons pas suivre la même route... La sienne (sc. Alfred Douglas), c'est celle d'Alcibiade; la mienne est maintenant celle de saint François d'Assise... Connaissez-vous saint François d'Assise? aoh! admirable! admirable!« Aber ihm hatte Gott bei seiner Geburt die Seele eines Dichters verliehn, so wie er selbst, da er noch ganz jung war, in mystischer Ehe die Armut zu seiner Braut erkoren hatte; und mit der Seele eines Dichters und dem Leib eines Bettlers fand er den Weg zur Vollendung nicht schwer. Er verstand Christus und ward ihm dadurch ähnlich. Wir wollen nicht vom Liber Conformitatum Der Verherrlichung des zwei Jahre nach seinem Tode heilig gesprochenen Franz von Assisi widmete Bartholomäus von Pisa seinen »Liber Conformitatum« (1399); darin werden vierzig Ähnlichkeiten zwischen Christus und Franziskus aufgezählt und diesem häufig der Preis der Heiligkeit verliehn. belehrt sein, daß das Leben des Heiligen Franz die wahre Imitatio Christi Thomas à Kempis (1380-1471) ist der Verfasser der »Invitatio Christi«. gewesen sei – ein Gedicht, im Vergleich mit dem das Buch jenes Namens bare Prosa ist.

In der Tat, das ist in letztem Betracht der Reiz, der von Christus ausgeht: er gleicht völlig einem Kunstwerk. Er lehrt uns wirklich nichts, aber dadurch, daß wir mit ihm in Berührung kommen, werden wir etwas. Und jeder ist dazu prädestiniert. Einmal mindestens im Leben geht jeder Mensch mit Christus nach Emmaus.

Was das andre Thema betrifft, »Künstlerleben und Lebenskunst«, so wirst Du es zweifellos merkwürdig finden, daß ich es mir wähle. Die Menschen deuten auf das Zuchthaus in Reading und sagen: »Dahin fuhrt einen das Künstlerleben«. Nun, es könnte zu noch schlimmeren Stätten führen. Banausen, denen das Leben eine scharfsinnige Spekulation ist, die sich aus einer sorgfältigen Berechnung der Mittel und Wege ergibt, wissen immer, wohin sie gehn, und gehn dahin. Sie treten mit dem idealen Lebenszweck auf den Plan, Kirchendiener zu werden, und einerlei, auf welchen Posten man sie stellt, es gelingt ihnen. Mehr nicht. Wer danach trachtet, etwas zu werden, das nicht in ihm liegt: Parlamentsmitglied, ein erfolgreicher Gewürzkrämer, ein hervorragender Anwalt, Richter oder sonst etwas gleich Langweiliges, sieht allemal sein Streben von Erfolg gekrönt. Das ist seine Strafe. Wer eine Larve will, muß sie tragen.

Doch mit den treibenden Kräften des Lebens und denen, die diese Kräfte verkörpern, verhält es sich anders. Menschen, die nur auf die Entfaltung ihres eignen Ichs aus sind, wissen niemals, wohin ihr Weg sie führt. Sie können es nicht wissen. In einer Bedeutung des Wortes ist es natürlich nötig, wie es das griechische Orakel verlangte, sich selbst zu kennen; Γνώδι σεαυτόν (erkenne dich selbst) stand über dem Eingang des Apollo-Tempels in Delphi. das ist der erste Schritt zu allem Wissen. Aber die Erkenntnis, daß die Menschenseele unergründlich sei, ist der Weisheit letzter Schluß. Wir selbst sind das Endgeheimnis. Hat man die Sonne auf die Wagschale gelegt, den Lauf des Mondes gemessen und die sieben Himmel Stern für Stern auf der Karte verfolgt, so bleibt noch eins übrig: wir selbst. Wer kann die Bahn seiner eignen Seele berechnen? Als der Sohn ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, Anspielung auf 1. Sam. 9, 3. wußte er nicht, daß ein Mann Gottes mit dem Krönungssalböl auf ihn wartete und daß seine Seele bereits die Seele eines Königs war.

Ich hoffe, so lange am Leben zu bleiben und solche Werke zu schaffen, daß ich am Ende meiner Tage sprechen darf: »Da seht ihr es nun, wohin das Künstlerleben einen Menschen fuhrt!« Zu dem Vollkommensten, das mir im Bereich meiner Erfahrung begegnet ist, gehört das Leben Verlaines Paul Verlaine, s. Anm., S. 169. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er seinen Freund, den Dichter Arthur Rimbaud, mit einem Dolche verwundet hatte. und das des Fürsten Kropotkin. Fürst Peter Kropotkin (geb. 1842), aus uraltem Adelsgeschlecht, zuerst Militär, wirkte seit 1872 im geheimen unter den russischen Arbeitern für den Umsturz, wurde als Agitator 1874 verhaftet, entfloh 1876 nach England, wandte sich von da nach Genf, wo er seit 1879 das Anarchistenblatt »La Révolte« herausgab; 1881 aus der Schweiz ausgewiesen, wurde er 1883 in Lyon verhaftet, wegen Zugehörigkeit zur Internationalen Arbeiter-Assoziation zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, 1886 aber begnadigt. Seitdem lebt er in England. Beides Männer, die jahrelang im Gefängnis gesessen haben: Verlaine der einzige christliche Dichter seit Dante; der andre ein Mann mit der Seele jenes schönen, weißen Christus, der aus Rußland hervorzugehn scheint. Und während der letzten sieben oder acht Monate habe ich, trotz einer Reihe großer Unannehmlichkeiten, die ohne Unterbrechung von der Außenwelt an mich herangetreten sind, enge Fühlung unterhalten mit einem neuen Geist, der in diesem Gefängnis Menschen und Dinge beseelt und mir mehr, als ich es in Worten auszudrücken vermöchte, zugute gekommen ist. Habe ich im ersten Jahre meiner Haft nichts andres getan und kann ich mich an nichts andres erinnern, als daß ich in ohnmächtiger Verzweiflung die Hände rang und ausrief: »Was für ein Ende, was für ein entsetzliches Ende!« so versuche ich jetzt mir zu sagen und sage auch manchmal, wenn ich mich nicht selbst quäle, wirklich und aufrichtig: »Was für ein Anfang, was für ein wunderbarer Anfang!« Das mag es wahrhaft werden. Und wenn es dazu kommt, so verdanke ich viel der neuen Persönlichkeit, Die neue Persönlichkeit, die den segensreichen Wandel hervorgebracht, ist Major Nelson. Er trat im Juli 1896 an die Stelle des grausamen, ›phantasielosen‹ Gefängnisdirektors Isacson und führte alsbald ein milderes System ein. Dieses kam auch Wilde zugute: unter dem neuen Herrn wurden ihm allerlei Vergünstigungen eingeräumt, nicht als geringste die, daß er nach Belieben schreiben durfte. die das Leben aller an diesem Orte geändert hat. Die Dinge an sich sind von geringer Bedeutung – laßt uns wenigstens einmal der Philosophie für etwas danken, das sie uns gelehrt hat – ich meine nicht die Vorschriften, denn die sind nach eisernen Regeln bestimmt, sondern den Geist, der in ihnen waltet.

Du kannst das ermessen, wenn ich sage: war' ich letzten Mai auf freien Fuß gesetzt worden, wie ich es versuchte, ich hätte diesen Ort voll Abscheu verlassen und alle Beamten hier mit so bittrem Hasse, daß er mein Leben vergiftet hätte. Ich mußte noch ein Jahr im Kerker bleiben, aber Menschlichkeit war für uns alle ins Gefängnis eingezogen; und wenn ich jetzt loskomme, werde ich mich stets der großen Freundlichkeit erinnern, die ich hier fast von allen erfahren habe, und am Tage meiner Entlassung werde ich vielen vielmals danken und sie bitten, sich meiner mitunter zu erinnern.

Die Gefängniseinrichtungen sind durch und durch verkehrt. Ich gäbe alles darum, wenn ich hierin später Wandel schaffen könnte. Ich habe auch vor, es zu versuchen. Wilde hat sein Vorhaben später ausgeführt, und der Aufsatz über die Behandlung der Kinder im Gefängnis (s. Anm., S. 190) brachte sofort einen Wandel zum Bessern herbei. Aber nichts in der Welt ist so verkehrt, daß der Geist der Humanität, der der Geist der Liebe ist, der Geist Christi, den man nicht in Kirchen antrifft, es wenn auch nicht ins rechte Geleise bringen, so doch ohne allzu große Verbitterung erträglich machen könnte.

Ich weiß ferner, daß draußen vieles meiner harrt, was entzückend ist: von dem angefangen, was der Heilige Franz von Assisi »meinen Bruder den Wind und meine Schwester das Wasser« nennt »Laudato si, misigniore, per frate vento« und »Laudato si, misignore, per sor acqua« heißt es in den »Laudes Creaturum«, dem einzigen uns erhaltenen Liede des Heiligen Franz von Assisi. – beides eine Wonne –, bis zu den Schaufenstern und den Sonnenuntergängen der Großstädte. Wenn ich eine Liste machen wollte von alledem, was mir hoch bleibt, ich wüßte nicht, wo ich aufhören sollte: denn wahrlich, Gott hat die Welt ebenso gut für mich wie für irgend jemand erschaffen. Vielleicht trete ich hinaus im Besitze von etwas, das ich zuvor nicht hatte. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß für mich Moralreformen ebenso bedeutungslos und abgeschmackt sind wie theologische Reformen. Aber während es unwissenschaftliche Heuchelei wäre, wollte man sich vornehmen, ein besserer Mensch zu werden, ist es das Vorrecht dessen, der gelitten, ein tieferer Mensch geworden zu sein. Und das bin ich, glaube ich, geworden.

Gäbe nach meiner Entlassung einer meiner Freunde ein Fest und lüde mich nicht dazu ein, so wäre mir gar nichts daran gelegen. Ich kann mit mir selbst ganz glücklich sein. Mit Freiheit, Blumen, Büchern und dem Monde – wer könnte nicht ganz glücklich sein? Außerdem passen Feste nicht mehr zu mir. Ich habe zu viele gegeben, um ihnen noch einen Reiz abzugewinnen. Dieser Teil des Lebens ist für mich vorüber, sehr zu meinem Glück, möchte ich sagen. Aber wenn nach meiner Entlassung einer meiner Freunde einen Kummer hätte und mir nicht gestatten wollte, ihn zu teilen, das würde ich schmerzlich empfinden. Wenn er mir die Tore des Trauerhauses verschlösse, würde ich immer wieder kommen und um Einlaß bitten, damit ich an dem Anteil hätte, wozu ich befugt wäre. Wenn er mich für unwürdig hielte, für ungeeignet, mit ihm zu Weinen, würde ich es als die grausamste Erniedrigung betrachten, als die schrecklichste Art, auf die mir ein Schimpf zugefügt werden könnte. Aber das wäre ja gar nicht möglich. Ich habe ein Recht, den Gram zu teilen; wer die Lieblichkeit der Welt schaun, ihren Gram teilen und etwas von dem Wunderbaren, das in beiden liegt, ermessen kann, der steht in unmittelbarer Berührung mit göttlichen Dingen und ist Gottes Geheimnis so nahe gekommen, wie es irgend jemand vermag.

Vielleicht dringt auch in meine Kunst, nicht minder als in mein Leben, eine noch tiefere Note, eine Note von größerer Einheitlichkeit der Leidenschaft und stärkerer Unmittelbarkeit. Intensität, nicht Extensität ist das wahre Ziel der modernen Kunst. Wir haben es in der Kunst nicht mehr mit dem Typus zu tun, sondern mit der Ausnahme. Ich kann meine Leiden nicht in eine Form bringen, die sie gehabt haben – das brauche ich kaum zu sagen. Die Kunst fängt erst da an, wo die Nachahmung aufhört; aber etwas muß in mein Werk kommen: ein vollerer Wortklang vielleicht, reichere Melodie, seltsamere Wirkungen, ein schlichteres architektonisches Gefüge – auf jeden Fall ästhetische Werte.

Als Marsyas ›aus der Scheide seiner Glieder gezogen wurde‹ – della vagina delle membra sue, Paradiso I, 21. um eins von Dantes furchtbarsten, taciteischen Bildern zu gebrauchen – da war es mit seinem Lied zu Ende, sagten die Griechen. Apollo war Sieger geblieben. Die Hirtenflöte war der Leier unterlegen. Aber vielleicht befanden sich die Griechen im Irrtum. Ich höre in der modernen Kunst vielfach den Schrei des Marsyas: vgl. Intentions, p. 45: » ... the singer of life is not Apollo but Marsyas« (vgl. auch Reviews, p. 348). bitter bei Baudelaire, süß und klagend bei Lamartine, Alphonse de Lamartine (1790-1869) wurde durch seine schwärmerischen Naturschilderungen, aus denen eine unbefriedigte Sehnsucht sprach (»Meditations«, »Harmonies poetiques et religieuses«, »Jocelyn« u. a.), der Lieblingsdichter der vornehmen Welt während der Restauration. geheimnisvoll bei Verlaine. In den hingehaltenen Auflösungen der Chopinschen Musik. In dem Mißvergnügen, das die immer wiederkehrenden Frauengesichter bei Burne-Jones Edward Burne-Jones, vgl. Anm. S. 169. umwittert. Sogar Matthew Arnold, dessen Lied des Callicles Callicles ist der junge Harfenspieler in Matthew Arnolds dramatischem Gedicht »Empedocles on Etna« (1852). In dem Schlußgesang des Callicles, der von dem Wettstreit Apolls mit dem phrygischen Faun Marsyas handelt, finden sich die Verse:

»Oh, that Fate had let me see
That triumph of the sweet persuasive lyre,
That famous, final victory
When jealous Pan with Marsyas did conspire«.
von dem »Triumph der süßen, eindrucksvollen Leier« und dem »berühmten schließlichen Siege« in so hellen Tönen von lyrischer Schönheit erzählt – sogar er hat in der angstvollen Unterstimme seiner Verse, aus denen Zweifel und Pein klingen, ein gut Teil davon; Weder Goethe noch Wordsworth Daß Goethe und Wordsworth die beiden großen Vorbilder Matthew Arnolds waren, hat er selbst in den »Stanzas in Memory of the Author of ›Obermann‹ (Etienne Pivert de Senancour)« bezeugt, in denen er »Wardsworth's sweet calm« und »Goethe's wide and luminous view« feiert. konnten ihm helfen, obwohl er sich abwechselnd beiden anschloß. Und wenn er »Thyrsis« »Thyrsis« ist eine Monodie zur Erinnerung an Arnolds 1861 in Florenz verstorbenen Freund Arthur Hugh Clough (vgl. Reviews, p. 432). zu beklagen oder von dem »Zigeuner-Studenten« »The Scholar Gipsy« ist eine Elegie auf einen Oxforder Studenten, der aus Armut die Universität verlassen mußte und sich einer Zigeunergesellschaft anschloß. zu singen versucht, muß er zur Hirtenflöte greifen, um seine Stimmung wiederzugeben. Ob nun der phrygische Faun verstummt ist oder nicht: ich kann nicht schweigen. Mir ist Darstellen eine Notwendigkeit, wie Treiben und Blühn den schwarzen Asten der Bäume, Der Vergleich des darstellenden Dichters mit dem Knospen treibenden Baume begegnet wieder im dritten Briefe an Robert Ross (S. 143). die über die Gefängnismauern ragen und so ruhelos im Winde schwanken. Zwischen meiner Kunst und der Welt klafft jetzt eine weite Kluft, aber nicht zwischen der Kunst und mir. Ich hoffe es wenigstens nicht.

Einem jeden von uns ist ein andres Los beschieden. Dir: Freiheit, Freuden, Vergnügungen, Wohlbehagen; mir sind öffentliche Schande, lange Kerkerhaft, Elend, Bankrott, Entehrung zugefallen, doch ich bin es nicht wert – noch nicht zum mindesten. Ich erinnre mich, davon gesprochen zu haben, ich dächte, eine wirkliche Tragödie ertragen zu können, wenn sie mir im Purpurmantel und in der Maske eines edlen Schmerzes nahe; vgl. Intentions, p. 165. »We come across some noble grief that we think will lend the purple dignity of tragedy to our days«. das Schreckliche der Moderne sei dagegen, daß sie die Tragödie ins Gewand der Komödie stecke, wodurch die großen Wirklichkeiten alltäglich, grotesk oder stillos erschienen. Das mit der Moderne hat seine Richtigkeit. Auf das gegenwärtige Leben ist es vermutlich immer zugetroffen. Man hat behauptet, alle Martyrien »It is said, all martyrdoms looked mean when they were suffered«, Emerson, »Essay on Experience« (Essays, second series, Boston 1844). kämen dem Zuschauer gemein vor. Das neunzehnte Jahrhundert macht keine Ausnahme von der Regel.

Alles an meiner Tragödie ist scheußlich, gemein, abstoßend, stillos gewesen; schon unsre Kleidung läßt uns grotesk erscheinen.

Wir sind die Hanswürste des Leids. Wir sind Clowns mit gebrochnem Herzen. Wir haben die besondre Bestimmung, auf die Lachmuskeln zu wirken. Am 13. November 1895 hat man mich von London hierher geschafft. Von zwei bis halb drei Uhr nachmittags mußte ich an diesem Tag in Sträflingskleidung und Handschellen auf dem mittleren Bahnsteig der Station Clapham Junction Clapham Junction ist eine der belebtesten Londoner Vorortstationen. stehn, den Blicken der Welt ausgesetzt. Ich war aus der Krankenabteilung geholt worden, ohne auch nur eine Minute vorher darauf vorbereitet zu werden. Unter allen möglichen Verworfenen war ich der groteskeste. Als mich die Leute sahen, lachten sie. Mit jedem neuen Zug, der ankam, vermehrten sich die Zuschauer. Ihr Spaß kannte keine Grenzen. Das war natürlich so, ehe sie wußten, wer ich war. Sobald sie es erfahren hatten, lachten sie noch mehr. Eine halbe Stunde lang stand ich im grauen Novemberregen da, vom johlenden Pöbel umringt.

Noch ein Jahr, nachdem mir das widerfahren, habe ich jeden Tag zur selben Stunde gleich lange geweint. Das ist nicht so tragisch, wie es Dir wahrscheinlich klingt. Denen, die im Gefängnis sitzen, sind Tränen ein Teil ihrer täglichen Erfahrung. Ein Tag im Gefängnis, an dem man nicht weint, ist ein Tag, an dem unser Herz verhärtet, kein Tag, an dem unser Herz glücklich ist.

Nun denn, ich bedaure allmählich die Leute, die lachten, wirklich mehr als mich. Als sie mich sahen, stand ich natürlich nicht auf meinem Piedestal, ich stand am Pranger. Aber ein ganz phantasieloses Wesen kümmert sich nur um Leute auf dem Piedestal. Ein Piedestal kann etwas sehr Unwirkliches sein; der Pranger ist eine fürchterliche Wirklichkeit. Sie hätten auch den Schmerz besser auslegen sollen. Ich sagte schon: hinter dem Schmerze birgt sich stets Schmerz. Es wäre noch richtiger zu sagen: hinter dem Schmerze birgt sich stets eine Seele. Und eine Seele in ihrer Qual verspotten ist etwas Grausiges. Wer das tut, dessen Leben ist unschön. In dem merkwürdig einfachen Haushalt der Welt bekommt man nur, was man fortgibt; kann man denen, die nicht genug Phantasie haben, die bloße Außenseite der Dinge zu durchschaun und Mitleid zu empfinden, ein andres Mitleid zollen als das der Verachtung?

Ich schreibe diesen Bericht über meine Überführung in dieses Gefängnis nur nieder, damit es einleuchte, wie schwer es mir wurde, meiner Strafe irgend etwas andres als Verbitterung und Verzweiflung abzugewinnen. Immerhin muß ich es tun, und ab und zu habe ich Momente der Ergebung und Unterwürfigkeit. In der einzelnen Knospe mag sich der ganze Frühling verstecken, und das Nest der Lerche in den Ackerfurchen kann alle Wonne umspannen, die dereinst dem Fuße mancher rosigen Morgenröte vorauseilt. So ist vielleicht auch alle Schönheit, die mir das Leben noch aufspart, in einem Augenblick der Hingabe, der Erniedrigung und Demütigung enthalten. Wie dem auch sei, ich kann lediglich in den Geleisen meiner eignen Entwicklung weiter schreiten und dadurch, daß ich alles hinnehme, was mir widerfahren ist, mich dessen würdig erzeigen.

Man pflegte mir nachzusagen, ich sei zu individuell. Ich muß ein noch viel größerer Individualist werden, als ich je war. Ich muß weit mehr aus mir herausholen, als ich je tat, und weniger von der Welt heischen. Im Grunde war mein Verderben nicht die Folge eines zu großen, sondern eines zu geringen Individualismus. Der einzige schändliche, unverzeihliche und für alle Zeiten verächtliche Schritt meines Lebens bestand darin, daß ich mir erlaubte, die Gesellschaft um Hilfe und Schutz anzugehn. Vom individualistischen Standpunkt aus wäre es schon schlimm genug gewesen, derart bei ihr Zuflucht zu suchen; aber welche Entschuldigung läßt sich je zu meinen Gunsten vorbringen? Sobald ich einmal die Kräfte der Gesellschaft in Gang gebracht hatte, wandte sie sich selbstverständlich gegen mich und sagte: ›Du hast die ganze Zeit meinen Gesetzen zum Trotz gelebt und rufst nun diese Gesetze zum Schutz an? Man wird dich diese Gesetze in vollem Maße spüren lassen. Du sollst die Folgen davon tragen‹. Das Ergebnis ist, daß ich im Kerker sitze. Und ich hab' im Laufe meiner drei Prozesse die schmachvolle Ironie meiner Stellung bitter empfunden.

Sicher ist nie ein Mensch so schändlich und durch so schändliche Werkzeuge gefallen wie ich. An einer Stelle des »Dorian Gray« heißt es: »Man kann in der Wahl seiner Feinde nicht vorsichtig genug sein«. »A man cannot be too careful in the choice of his enemies«, Dorian Gray, Kap. 1. Ich ließ es mir nicht träumen, daß ich durch Parias selbst zum Paria werden sollte. Deshalb verachte ich mich so.

Das Philisterhafte im Leben besteht nicht in dem Unvermögen, die Kunst zu begreifen. Reizende Menschen, wie Fischer, Hirten, Pflüger, Bauern und dergleichen, wissen nichts von der Kunst und sind doch das Salz der Erde. »das Salz der Erde«, Matth. 5, 13. Der ist der wahre Philister, der den schwerfälligen, lästigen, blinden, mechanischen Kräften der Gesellschaft Vorschub leistet und sie unterstützt, ohne die dynamische Kraft, wenn er sie in einem Menschen oder in einer Bewegung trifft, zu erkennen.

Man hat es mir entsetzlich verdacht, daß ich die Schädlinge des Lebens zu Tische lud und an ihrer Gesellschaft Vergnügen fand. Jedoch von dem Standpunkt aus, von dem ich ihnen als Künstler im Leben nahe trete, waren sie herrlich anregende Reizmittel. Es war, wie wenn man mit Panthern schwelgte; die Gefahr war der halbe Rausch. Ich kam mir vor wie ein Schlangenbeschwörer, wenn er die Kobra durch seinen Lockruf dahin bringt, sich von dem bunten Tuch oder aus dem Rohrkorb zu erheben, und sie auf seinen Befehl ihr Schild breiten und in der Luft hin und her schwingen läßt, wie eine Pflanze geruhig im Strome schwingt. Sie waren für mich die leuchtendsten vergoldeten Schlangen, ihr Gift ein Teil ihrer Vollkommenheit. Ich wußte nicht, daß sie ihren Angriff auf mich nach der Pfeife eines andern Der andre, nach dessen Pfeife die ›vergoldeten Schlangen‹ tanzten, ist natürlich Lord Queensberry. und gegen Bezahlung unternehmen sollten. Ich schäme mich keineswegs, sie gekannt zu haben, sie waren höchst interessant; wessen ich mich aber schäme, das ist der greulich philiströse Dunstkreis, in den ich geschleppt wurde. Meine Beschäftigung als Künstler rief mich zu Ariel. Ariel ist der freundliche Geist der Lüfte, Caliban das auf der Erde kriechende Scheusal in Shakespeares »Sturm«. Ich machte mich daran, mit Caliban zu ringen. Statt prachtvoll farbige, musikalische Werke zu schreiben, wie »Salome«, »Salome«, vgl. Anm., S. 163. die »Florentinische Tragödie« »Eine Florentinische Tragödie« ist eine der letzten dramatischen Arbeiten Wildes. Das Manuskript wurde ihm im April 1895 aus seiner Wohnung gestohlen. Ross hat eine frühere fragmentarische Niederschrift gefunden. (Näheres im Vorwort der deutschen Buchausgabe, Berlin 1907.) und »La Sainte Courtisane«, »La Sainte Courtisane or the Woman covered with Jewels« ist gleichfalls ein verschollenes Drama, von dem bis heute nur spärliche Bruchstücke aufgetaucht sind (Miscellanies, p. 229-239). Sie lassen inhaltlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Anatole France' Roman »Thaïs«, formell mit »Salome« erkennen. Eine ausführlichere Darstellung der Fabel findet sich in Leonard Cresswell Inglebys Wilde-Biographie, p. 220 ff. zwang ich mir lange Advokatenbriefe ab und sah mich genötigt, mich unter den Schutz eben der Dinge zu begeben, gegen die ich mich von jeher verwahrt hatte. Clibborn und Atkins Clibborn und Atkins waren Belastungszeugen im Wilde-Prozeß. waren wundervoll in ihrem niederträchtigen Kriege gegen das Leben. Sie zu bewirten war ein erstaunliches Wagestück; der ältere Dumas, Cellini, Benvenuto Cellini (1500-1571) wird von Wilde in den »Intentions« (p. 100) »der größte Spitzbube der Renaissance« genannt. (Vgl. »The Soul of Man«, p. 323 f. und »Impressions of America« by Oscar Wilde, Keystone Press, 1906).
Francisco Goya (1746-1828), neben Velasquez und Murillo der größte Maler Spaniens und vielleicht die problematischste Gestalt der gesamten Kunstgeschichte, an bizarrer Phantasie unerreicht.
Goya, Edgar Allan Poe, Edgar Allan Poe (1809-1849), von Wilde als der bedeutendste amerikanische Dichter verehrt (vgl. »Impressions of America« p. 13). Baudelaire würden genau dasselbe getan haben. Abscheulich ist mir die Erinnerung an endlose Besuche, die ich dem Rechtsanwalt Humphreys Rechtsanwalt Humphreys vertrat Wilde in seinem Beleidigungsprozeß gegen Lord Queensberry. machte: in dem gräßlich blendenden Licht eines kahlen Zimmers saß ich da mit ernsthaftem Gesicht und redete einem glatzköpfigen Herrn ernsthafte Lügen vor, bis ich wirklich vor Langweile ächzte und gähnte. Da befand ich mich so recht im Mittelpunkt von Philistäa, von allem entfernt, was schön, glänzend, wunderbar, kühn ist. Ich war als Vorkämpfer der Ehrbarkeit, der Sittenstrenge im Leben und der Moral in der Kunst aufgetreten. Voilà où menent les mauvais chemins ... aber ich kann derer dankbar gedenken, die durch maßlose Güte, grenzenlose Ergebenheit, heitere Freude am Schenken mir meine schwarze Last erleichtert, mich immer wieder besucht, mir schöne, teilnehmende Briefe geschrieben, meine Angelegenheiten für mich besorgt, für mein künftiges Leben Vorkehrungen getroffen und zu mir gehalten haben, der Verleumdung, Stichelei, dem offnen Hohn, ja selbst Beleidigungen zum Trotz. Ich verdanke ihnen alles. Sogar die Bücher in meiner Zelle hat Robbie von seinem Taschengelde bezahlt; aus derselben Quelle sollen mir, wenn ich entlassen werde, Kleider zukommen. Ich schäme mich nicht, zu nehmen, was in herzlicher Liebe geschenkt wird; ich bin stolz darauf. Ja wahrhaftig, ich denke an meine Freunde, an More Adey, More Adey (geb. 1858), der erste englische Übersetzer von Ibsens »Brand«; früher unter dem Pseudonym William Wilson schriftstellerisch tätig, jetzt Mitinhaber der Carfax Gallery in London. Robbie, Robert Sherard, Robert Harborough Sherard (geb. 1861), ein Urenkel William Wordsworths, bekannter englischer Journalist und Schriftsteller, einer der ältesten Freunde Wildes, dessen Biograph er geworden ist. Seinen beiden Büchern – »Oscar Wilde: The Story of an Unhappy Friendship« (London 1902) und »The Life of Oscar Wilde« (London 1906) – verdanken wir die wichtigsten Aufschlüsse über den Dichter. Sherard, der ›vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat‹, der mit Zola und Daudet befreundet war – vgl. seine interessanten Lebenserinnerungen »Twenty Years in Paris« (London 1903) – ist auch mit eignen Romanen, wie »Jacob Niemand« »After the Fault« u. a., erfolgreich gewesen. Frank Harris, Frank Harris (geb. 1856), damals Herausgeber der »Saturday Review«, jetzt von »Vanity Fair«, Verfasser von »The Man William Shakespeare« (1898) und eines Dramas »Mr. and Mrs. Daventry« (1900), zu dem ihm Wilde den Stoff geliefert haben soll. Ihm ist »An Ideal Husband« in schmeichelhaften Ausdrücken gewidmet. Arthur Clifton, Arthur Clifton (geb. 1863), Familienfreund, Mitinhaber der Carfax Gallery in London. und daran, was sie mir durch ihre Hilfe, Liebe und Teilnahme gewesen sind. Ich denke an jeden einzelnen Menschen, der gut zu mir war in meinem Gefängnisleben, bis herab zu dem Wärter, der mir ›Guten Morgen‹ und ›Gute Nacht‹ wünscht (keine seiner vorgeschriebenen Pflichten), bis herab zu den gemeinen Schutzmännern, die in ihrer vertraulichen, rauhen Art mich zu trösten suchten, als ich zum Konkursgerichtshof und zurück im Zustand schrecklicher Seelennot fuhr – bis herab zu dem armen Dieb, der mich erkannte, als wir im Gefängnishof zu Wandsworth die Runde machten, und mir mit der heiseren Kerker stimme, die man von langem, unfreiwilligem Schweigen bekommt, die Worte zuflüsterte: »Sie tun mir leid; es trifft einen Ihresgleichen härter als unsereinen.« Diese Episode hat Wilde auch André Gide erzählt (L'Ermitage, p. 423; Hugo von Hofmannsthal, »Sebastian Melmoth«, Prosaschriften II, 88); in etwas andrer Form bei Sherard (»Story of an Unhappy Friendship«, p. 236).

Ein guter Freund von mir, Wer der gute Freund war, ist nicht sicher zu ermitteln; wahrscheinlich Robert Sherard. der sich in zehn Jahren bewährt hat, besuchte mich unlängst und sagte mir, er glaube von all dem, was gegen mich vorgebracht werde, kein einziges Wort; er gab mir zu verstehn, daß er von meiner Unschuld überzeugt sei und mich für das Opfer eines abscheulichen Komplotts halte. Ich brach in Tränen aus, als er so zu mir sprach, und sagte ihm, viele Punkte der Anklage, Daß Wilde die Sünden andrer auf sich genommen, hat er auch später noch versichert: »Fünf der Anklagepunkte bezogen sich auf Dinge, mit denen ich ganz und gar nichts zu tun hatte. Eine gewisse Grundlage war für einen Punkt da« (Sherard, »Life«, p. 368). die mir schließlich zur Last gelegt wurden, seien völlig unwahr und mit empörender Tücke auf mich übertragen worden, mein Leben jedoch sei voll perverser Freuden und absonderlicher Leidenschaften gewesen, und wenn er sich nicht mit dieser Tatsache abfinde und sie sich deutlich vergegenwärtige, dann könne ich unmöglich länger sein Freund sein oder je wieder in seiner Gesellschaft weilen. Es war ein fürchterlicher Schlag für ihn; aber wir sind noch befreundet, und ich habe seine Freundschaft: nicht unter falschen Vorspiegelungen erschlichen. Ich habe Dir gesagt: die Wahrheit sprechen ist etwas Peinliches; Lügen sagen müssen ist viel schlimmer.

Es war während meines letzten Prozesses, ich saß auf der Sünderbank und lauschte Lockwoods Sir Frank Lockwood war der Vertreter der Anklagebehörde in dem letzten Prozeß gegen Wilde (22.-25. Mai 1895); er sprach mit besondrer Erbitterung. niederschmetternder Anklage; sie hörte sich an wie eine Stelle aus Tacitus, ein Vers aus Dante, eine von Savonarolas Girolamo Savonarola (1452-98), Dominikanermönch, wetterte gegen die Sittenlosigkeit der Medici und die Verderbtheit des römischen Hofes. Nachdem ihn das Volk zuerst vergöttert, wurde er als Ketzer gefangen genommen und erdrosselt. Brandreden wider die römischen Päpste. Auch packte der Ekel bei dem, was mein Ohr vernahm. Da plötzlich fuhr's mir durch den Kopf: ›Wie großartig wär' es, wenn ich all das selbst über mich aussagte!‹ Sofort leuchtete mir ein: das, was von einem Menschen gesagt wird, ist nichts; es kommt darauf an, wer es sagt. Der höchste Augenblick eines Menschen – daran hege ich nicht den mindesten Zweifel – ist der, wenn er im Staube niederkniet, sich an die Brust schlägt und alle Sünden seines Lebens bekennt.

Gefühlskräfte »Emotional forces, like the forces of the physical sphere, are limited in extent and energy«, Intentions, p. 174. sind, wie ich an einer Stelle der »Intentions« sage, in ihrer Ausdehnung und Dauer ebenso begrenzt wie die Kräfte körperlicher Energie. Der kleine Becher, der ein gewisses Quantum fassen soll, kann so viel aufnehmen und nicht mehr, wenn auch alle Purpurfässer Burgunds bis zum Rande mit Wein gefüllt sind und die Kelterer bis an die Knie in der Traubenlese der gerölligen Weinberge Spaniens stehn. Kein Irrtum ist weiter verbreitet als der, daß Menschen, welche große Tragödien verursachen oder veranlassen, die der tragischen Stimmung entsprechenden Gefühle teilen; kein Irrtum verhängnisvoller, als das von ihnen zu erwarten. Der Märtyrer in seinem »Flammenhemd« »Like a pale martyr in his shirt of flame«: Alexander Smith (1830-67), »A Life Drama«. erschaut vielleicht das Antlitz Gottes, aber dem, der die Reisigbündel aufschichtet oder das Holz lockert, damit der Wind hindurchblasen kann, bedeutet die ganze Szene nicht mehr als dem Metzger, wenn er einen Ochsen schlachtet, dem Köhler im Walde, wenn er einen Baum fällt, oder einem, der das Gras mit der Sense mäht, wenn eine Blume umsinkt. Große Leidenschaften sind für große Seelen, und große Ereignisse können nur von denen erkannt werden, die auf gleicher Höhe mit ihnen stehn. Wir glauben, wir könnten unsre Gefühle umsonst haben. Wir können es nicht. Auch die edelsten, opferfreudigsten Gefühle müssen bezahlt werden. Seltsamerweise macht sie gerade das edel. Das Verstandes- und Gemütsleben gewöhnlicher Menschen ist etwas sehr Verächtliches. Ebenso wie sie ihre Ideen aus einer Art Gedankenleihbibliothek beziehn – dem Zeitgeist, Wilde führt das Wort ›Zeitgeist‹ in deutscher Sprache an. Es kommt schon in der Vorrede zu Matthew Arnolds »Literature and Dogma« (1873) vor. der keine Seele hat – und sie am Ende jeder Woche beschmutzt zurückschicken, versuchen sie immer, ihre Gefühle auf Kredit zu bekommen, oder weigern sich, die Rechnung zu bezahlen, wenn sie ihnen ins Haus geschickt wird. Wir müssen aus dieser Lebensauffassung herauskommen; sobald wir für ein Gefühl zu zahlen haben, kennen wir seinen Wert und sind durch solche Kenntnis besser daran. Bedenke, daß der sentimentale Mensch immer ein Zyniker im Herzen ist. Ja, Sentimentalität ist nur der Sonn- und Feiertagszynismus. Und so entzückend der Zynismus von seiner intellektuellen Seite ist, jetzt, wo er das Faß mit dem Klub vertauscht hat, Der Zynismus »has left the tub for the club«, will sagen: ist vom Fasse des Diogenes, der den Alten als radikalster Vertreter der zynischen Philosophie galt, in die Klubs gelangt. Der Reim läßt sich im Deutschen nicht ohne Beeinträchtigung des Sinnes wiedergeben. kann er niemals mehr sein als die vollendete Philosophie für einen Menschen, der keine Seele besitzt. Der Zynismus hat seinen sozialen Wert; und für den Künstler sind alle Ausdrucksformen interessant, aber an und für sich ist er ein armseliges Ding, denn dem echten Zyniker wird nie etwas offenbart.

 

Von künstlerischem Gesichtspunkt aus kenne ich in der gesamten dramatischen Literatur nichts Unvergleichlicheres, in der Feinheit der Beobachtung Anregenderes als die Art, wie Shakespeare Rosenkranz und Güldenstern Über Rosenkranz und Güldenstern hat Wilde (Reviews, p. 19) gesagt, er habe nie einen Unterschied zwischen beiden zu machen vermocht, und es seien die einzigen Charaktere, die Shakespeare nicht individualisieren wollte (vgl. auch Reviews, p.148). zeichnet. Sie sind Hamlets Universitätsfreunde; sind seine Gefährten gewesen. Sie bringen Erinnerungen an gemeinsam verlebte frohe Tage mit. In dem Augenblick, da sie Hamlet im Stücke begegnen, taumelt er unter der Last einer Bürde, die für einen Menschen seiner Gemütsart unerträglich ist. Der Tote ist gewaffnet aus dem Grabe auferstanden, um ihm eine Mission aufzuerlegen, die zu groß und gleichzeitig zu niedrig für ihn ist. Er ist ein Träumer und soll handeln. Er hat die Veranlagung eines Dichters, und man verlangt von ihm, er solle mit der gewöhnlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ringen, mit dem Leben in seiner praktischen Gestalt, von dem er nichts weiß, nicht mit dem Leben in seinem idealen Wesen, von dem er so viel weiß. Er hat keine Ahnung, was er tun soll, und sein Wahnsinn besteht darin, Wahnsinn zu heucheln. Brutus Brutus in Shakespeares »Julius Caesar«. benutzte die Schwermut als Mantel, das Schwert seiner Absicht, den Dolch seines Wissens darunter zu verbergen; aber Hamlets Tollheit ist lediglich eine Maske für seine Schwäche. Im Grimassenschneiden und Witzereißen erblickt er eine Gelegenheit zum Aufschub. Er spielt beständig mit der Tat, wie ein Künstler mit einer Theorie spielt. Er macht sich zum Späher seiner eignen Handlungen, und wenn er seinen eignen Worten lauscht, weiß er, es sind nur »Worte, Worte, Worte«. Hamlet II, 2. Statt einen Versuch zu wagen, der Held seiner eignen Geschichte zu werden, bemüht er sich, der Zuschauer seiner eignen Tragödie zu sein. Er glaubt an nichts, sich selbst mitgerechnet, und doch nützt ihm sein Zweifeln nicht, da es nicht dem Skeptizismus, sondern einem zwiespältigen Willen entspringt.

Von alledem begreifen Güldenstern und Rosenkranz nichts. Sie verbeugen sich und schmunzeln und lächeln, und was der eine sagt, echot der andre mit widerlichem Tonfall. Als schließlich, mit Hilfe des Spiels im Spiele und der Marionetten in ihrem Getändel, Hamlet den König in der »Schlinge seines Gewissens« » ... Das Schauspiel sei die Schlinge,
In die den König sein Gewissen bringe«,

Hamlet, Schluß des zweiten Aufzugs.
fängt und den Unhold in seiner Angst vom Throne jagt, da sehn Güldenstern und Rosenkranz in seinem Betragen höchstens eine ziemlich peinliche Verletzung der Hofetikette. So weit ist es ihnen nur gegeben, »das Schauspiel des Lebens mit eignen Empfindungen zu betrachten«. Sie sind in der Nähe seines Geheimnisses und wissen nichts davon. Und es hätte auch keinen Zweck, sie einzuweihn. Sie sind die kleinen Becher, die so viel fassen und nicht mehr. Gegen Ende wird angedeutet, daß sie bei einem hinterlistigen Anschlag, den sie gegeneinander planen, abgefaßt werden und einen gewaltsamen, plötzlichen Tod gefunden haben oder finden werden. Von Rosenkranz' und Güldensterns Ende erzählt Hamlet dem Freunde Horatio. Aber ein tragisches Ende solcher Art, wenn Hamlets Humor ihm auch einen Anstrich von komödienhafter Überraschung und Gerechtigkeit gibt, kommt Burschen ihres Schlags wirklich nicht zu. Sie sterben nie. Hamlet V, 2. Horatio, der, um »Hamlet und seine Sache den Unbefriedigten zu erklären«,

»sich noch verbannet von der Seligkeit
und in der herben Welt mit Mühe atmet« ebenda.

– Horatio stirbt, wenn auch nicht vor den Zuhörern, und hinterläßt keinen Bruder. Güldenstern und Rosenkranz jedoch sind unsterblich wie Angelo Angelo ist der schurkische Statthalter in Shakespeares »Maß für Maß«. und Tartüff und sollten mit ihnen in einer Reihe stehn. Sie sind der Beitrag des modernen Lebens zum antiken Freundschaftsideal. Wer künftig ein neues Buch »De amicitia« Cicero schrieb ein Werk »Laelius« oder »De amicitia«, worin er das freundschaftliche Verhältnis zwischen Scipio und Laelius feiert. schreibt, muß ihnen eine Nische anweisen und sie in ciceronianischer Prosa preisen. Sie sind stehende Typen für alle Zeiten. Sie schelten, hieße es an der richtigen Würdigung fehlen lassen. Sie sind einfach nicht an ihrem Platze: das ist das Ganze. Seelengröße ist nicht ansteckend. Erhabne Gedanken und erhabne Gefühle stehn eben von Haus aus allein da.

Ich werde, wenn alles mit mir gut geht, gegen Ende Mai frei kommen Wilde hat das Gefängnis in Reading Mittwoch, 19. Mai 1897 verlassen. Er fuhr mit seinen Freunden nach Erledigung der Formalitäten sofort nach Frankreich, blieb einige Zeit in Dieppe und mietete dann in dem kleinen Küstenplatz Le petit Berneval nordöstlich von Dieppe ein Häuschen. Fortan hieß er Sebastian Melmoth. und hoffe dann, mit Robbie und More Adey sogleich nach einem kleinen Platz an der See ins Ausland zu fahren.

Das Meer, sagt Euripides in einer seiner Iphigenien, spült die Flecken und Wunden der Welt hinweg. »δάλασσα χλύζει πάντα τάνδρώπων χαχά«, Iphigenie in Tauris, v. 1193.

Ich hoffe, mindestens einen Monat mit meinen Freunden zu verbringen und in ihrer gesunden, liebevollen Gesellschaft Frieden und Gleichgewicht, ein weniger geängstigtes Herz und eine sanftere Stimmung zu gewinnen; und dann, wenn ich dazu imstande bin, will ich durch Robbie Anstalten treffen lassen zu einem Aufenthalt in einer ruhigen Stadt des Auslands, wie Brügge, dessen graue Häuser, grüne Kanäle, kühle, stille Wege vor Jahren einen Zauber für mich hatten. Ich habe ein eigentümliches Verlangen nach den großen, einfachen Urdingen, wie dem Meer, das mir ebenso wie die Erde eine Mutter ist. Mir will es scheinen, als sähen wir alle die Natur zu viel an und lebten zu wenig mit ihr. Ich erblicke viel gesunden Verstand in der Haltung der Griechen gegenüber der Natur. Sie schwatzten nie von Sonnenuntergängen, erörterten nie die Frage, ob die Schatten auf dem Grase wirklich violett seien oder nicht. Aber sie erkannten, daß das Meer für den Schwimmer und der Sand für die Füße des Wettläufers da sei. Sie liebten die Bäume um der Schatten willen, die sie werfen, und den Wald um seines Schweigens willen zur Mittagszeit. Der Winzer im Weinberg kränzte sein Haar mit Efeu, um die Sonnenstrahlen abzuwehren, wenn er sich über die jungen Schößlinge neigte, und für den Künstler und den Athleten – die beiden Typen, die uns Hellas geschenkt hat – flochten sie die Blätter des bittern Lorbeers und der wilden Petersilie, die sonst dem Menschen nichts getaugt hätten, zum Kranze.

Wir nennen uns ein Utilitätszeitalter und wissen kein einziges Ding zu nützen. Wir haben vergessen, daß Wasser reinigen, Feuer läutern kann und daß die Erde unsre Allmutter ist. Infolgedessen ist unsre Kunst vom Monde und spielt mit Schatten, während die griechische Kunst von der Sonne ist und sich unmittelbar mit den Dingen befaßt. Ich bin überzeugt, die Elemente haben läuternde Kraft, und ich will zu ihnen zurückkehren und in ihrer Gesellschaft leben.

 

Nicht umsonst und nicht vergeblich bin ich in meinem lebenslänglichen Kult der Literatur zu einem geworden, der

»Mit Laut und Silbe geizt, nicht minder als
Mit seinem Golde Midas«. »Misers of sound and syllable, no less
Than Midas of his coinage«,

John Keats, »Sonnet on the Sonnet«.

Ich darf mich vor der Vergangenheit nicht furchten; wenn mir die Menschen sagen, sie sei unabänderlich, glaube ich ihnen nicht: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ein Augenblick vor Gott, vor dem wir zu leben bemüht sein sollten. Zeit und Raum, Aufeinanderfolge und Ausdehnung sind bloß zufällige Gedankenverbindungen; die Phantasie kann sie überschreiten und sich in einer freien Sphäre idealer Existenzen bewegen. Auch die Dinge sind ihrem Wesen nach das, was uns daraus zu machen beliebt; ein Ding ist, entsprechend der Art, wie wir es anschaun. »Wo andre«, sagt Blake, »nur die Dämmerung über den Berg kommen sehn, da sehe ich die Söhne Gottes vor Freude jauchzen.« William Michael Rossetti erzählt in der Einleitung zu seiner Ausgabe der poetischen Werke William Blakes (1757-1827): »›What!‹ it will be questioned, ›when the sun rises, do you not see a disc of fire, somewhat like a guinea?‹ ›Oh no, no! I see an innumerable company of the heavenly host, crying ›Holy, holy, holy is the Lord God almighty!‹« – »The Sons of God shouting for joy« (Hiob 3 8, 7) ist ein Bild Blakes. (Vgl. Miscellanies, p. 249). Was die Welt und ich selbst als meine Zukunft auffaßte, das habe ich verloren, als ich mich in den Prozeß gegen Queensberry hetzen ließ; ich habe sie wohl schon lange vorher verloren, Vor mir liegt meine Vergangenheit. Ich habe mich dahin zu bringen, daß ich sie mit andern Augen ansehe, habe Gott dahin zu bringen. Das kann ich nicht, wenn ich sie unbeachtet lasse, geringschätzig behandle, lobe oder verleugne; es läßt sich nur erreichen, wenn ich sie als einen unvermeidlichen Teil der Entwicklung meines Lebens und Charakters hinnehme: indem ich vor allem, was ich erduldet, den Kopf neige. Wie weit ich von dem wahren Seelengleichmut entfernt bin, zeigt ganz deutlich dieser Brief mit seinen wechselvollen, unsicheren Stimmungen, seiner Verachtung und seiner Bitterkeit, seinem Streben und dem Unvermögen, dieses Streben in die Tat umzusetzen; vergiß aber nicht, in einer wie schrecklichen Schule ich an meiner Aufgabe sitze, und so unvollständig, so unvollkommen ich bin, meine Freunde haben noch viel zu gewinnen. Sie wollten bei mir die Lebensfreude und die Kunstfreude lernen. Vielleicht bin ich dazu berufen, sie etwas Wundervolleres zu lehren: die Bedeutung des Schmerzes und seine Schönheit.

Für einen, der so modern ist wie ich, so sehr »enfant de mon siècle«, Alfred de Musset schrieb 1836 einen autobiographischen Prosaroman »La Confession d'un Enfant du Siècle«. wird es natürlich stets eine Lust sein, die Welt auch nur zu sehn. Ich zittre vor Freude, wenn ich daran denke, daß an dem Tag, an dem ich das Gefängnis verlasse, Goldregen und Flieder in den Gärten blühn, und daß ich sehn werde, wie der Wind das hangende Gold des einen ohne Rast und Ruh rütteln und das blaß-purpurne Gefieder des andern zausen wird, so daß die ganze Luft Arabien für mich sein soll. Linné Karl von Linné (ursprünglich Linnaeus, 1707-78), der berühmte schwedische Naturforscher, der die Systematik der Pflanzen feststellte. Er war 1736 in England. sank auf die Knie und weinte vor Seligkeit, als er zum erstenmal die lange Heide eines englischen Hochlands sah, das die würzigen Ginsterblüten gelb gefärbt hatten; und ich, dem Blumen ein Teil der Sehnsucht sind, ich weiß, daß Tränen meiner in den Blättern einer Rose harren. Von Jugend auf war es so mit mir. Es gibt nicht eine Farbe, die sich in dem Kelch einer Blume oder in der Rundung einer Muschel versteckt, auf die ich vermöge einer zarten Sympathie mit der Seele aller Kreatur nicht einginge. Wie Gautier bin ich stets einer von denen gewesen, »pour qui le monde visible existe«. Auch von Dorian Gray wird gesagt (Kap. 11), er sei gleich Gautier einer, »pour qui le monde visible existe«.

Immerhin weiß ich jetzt, daß hinter all dieser Schönheit, so überzeugend sie auch sein mag, ein Geist verborgen ist, von dem die bunten Formen und Gestalten nur Erscheinungsspielarten sind, und mit diesem Geist wünsche ich mich in Einklang zu bringen. Des deutlich vernehmbaren Ausdrucks der Menschen und Dinge bin ich überdrüssig geworden. Das Mystische in der Kunst, das Mystische im Leben, das Mystische in der Natur – das ist es, wonach ich suche, und in den großen Musiksymphonien, dem weihevollen Schmerz und den Tiefen des Meeres werde ich es vielleicht finden. Ja, es ist unbedingt nötig, daß ich es irgendwo finde.

Alle Prozesse sind Prozesse, bei denen es ums Leben geht, genau so wie alle Urteile Todesurteile sind; und dreimal ist mir der Prozeß gemacht worden. Das erstemal verließ ich den Gerichtssaal, um verhaftet zu werden, das zweitemal, um in das Haftlokal zurückgeführt, das drittemal, um auf zwei Jahre in eine Gefängniszelle zu gehn. Die Gesellschaft, wie wir sie eingerichtet, wird keinen Platz für mich haben, hat mir keinen zu bieten; aber die Natur, deren süßer Regen auf Gerechte und Ungerechte gleichermaßen fällt, wird Felsschluchten im Gebirge für mich haben, wo ich mich verstecken kann, und geheime Täler, in deren Schweigen ich ungestört weinen darf. Sie wird die Nacht mit Sternen behängen, daß ich, ohne zu straucheln, im Finstern außer Landes gehn kann, und den Wind meine Fußstapfen verwehn lassen, daß niemand mich zu meinem Schaden verfolgen kann. Sie wird mich in großen Wässern entsühnen und mit bittern Kräutern heilen.


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