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»Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!« rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.«
Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.«
»Wo warst du gestern?«
»Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen Gasthof.«
»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund, warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie in ihrer Entwicklung stehen.«
»Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.«
»Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker streute.
»Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie gefunden hatte.«
»Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.«
»Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.«
»Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?«
»Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.«
»Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.«
»Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«, sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte.
»Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord.
Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.«
»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern konnte.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir Angst macht. Ich hasse ihn.«
»Warum?« fragte der jüngere müde.
»Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.«
Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?«
Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das Leitmotiv seiner Kunst seist.«
»Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden ist?« »Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war sein Hauptfehler.«
»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte.
»Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.«
»Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.«
»Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei nicht mehr berühmt gewesen.«
Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen.
»Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest du tun sollen.«
»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert – aus Hamlet, glaube ich – wie heißen sie? –
›Gleich dem Bildnis eines Grams,
ein Antlitz ohne Herz.‹
Ja, so sah es aus.«
Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel fallen.
Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«, wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.«
Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen Augen zu ihm hinüber. »Übrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause, »was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und – wie heißt die Stelle doch? – seine eigene Seele verlöre?«
Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?«
»Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.«
»Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.«
»Bist du dessen ganz sicher, Dorian?«
»Ganz sicher.«
»Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.«
»Ich bin nicht derselbe, Harry.«
»Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken Hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst – ich sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.«
Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube, wenn du es müßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. Du lachst. Lache nicht!«
»Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Notturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen – der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen. »Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.«
»Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir gehört habe.«
»Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.«
»Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du und ich, wir werden immer Freunde sein.«
»Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.«
»Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady Branksome mit. Sie ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.«
»Muß ich wirklich kommen, Harry?«
»Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.«
»Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht, Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hatte er noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging.