Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.
Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.
Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,« pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.«
Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht hatte.
»Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und mich amüsieren.« Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.
Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.«
Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.
Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen, Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.
»Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.«
»Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es gewiß.«
»Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen – genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London weg ist.«
»Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame. »Ich kann es wirklich nicht verstehen.«
»Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.«
»Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals dekolletierte.«
»Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.«
»Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian.
»Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin. »Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?«
»Doch, Lady Narborough.«
»Ich glaube kein Wort davon.«
»Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.«
»Ist das wahr, Herr Gray?«
»Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.«
»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist trop de zêle.«
» Trop d'audace sagte ich ihr«, entgegnete Dorian.
»Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.«
»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.
Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.«
»Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.«
»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.
Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.«
»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem Stuhl vor.
»Ich hoffe«, sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in Mode zu kommen.«
»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.«
»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame.
»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.«
»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.«
»Fin de siècle«, flüsterte Lord Henry.
»Fin du globe«, entgegnete die Gastgeberin.
»Ich wollte, es wäre fin du globe«, sagte Dorian mit einem Seufzer. »Das Leben ist eine große Enttäuschung.«
»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, »sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein – Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?«
»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit einer Verbeugung.
»Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.«
»Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian.
»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.«
»Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!« rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht liebt.«
»Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes Beisammensein werden.«
»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande zu bringen?«
»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.«
»Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.«
»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut wie ein Festessen.«
Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.
»Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.«
Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär – ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist – tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse – gesunder englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend – wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.
Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und blickte zu Dorian hin.
»Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.«
»Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.«
»Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.«
»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.«
»Wird Monmouth auch da sein?«
»Oh, gewiß, Harry!«
»Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.«
»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian.
»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?«
»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.«
»Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.«
»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.«
»Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du gleich nach Hause gegangen?«
Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.«
»Warst du noch im Klub?«
»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe ... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du ihn ja fragen.«
Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du bist heute abend nicht du selber.«
»Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause gehn.«
»Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin kommt.«
»Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war ihm furchtbar.
Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil Hallmards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig.
Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als war er ein Etwas, das fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.
Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß die Türen des Schlankes und ging in sein Schlafzimmer.
Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er.
»Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie rasch fahren.«
»Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu.