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Frau General Trenkler empfing im Salon neben dem Eßzimmer. Martha kam eben herein, als draußen schon die ersten Gäste schellten. Leonore unterwarf eben den Tisch noch einer letzten Prüfung. Jetzt kam sie zurück und sah Martha.
»Aber, Kind, was fängst du denn da an? So willst du in Gesellschaft gehen? Hast du denn keine ordentliche Toilette? Du siehst ja aus, als kämst du zu einem Kaffeekränzchen von Backfischen.«
Martha schaute an sich hinunter. Sie hatte doch ihr duftigstes Kleid angelegt. Ganz weiß mit Heckenrosen. Und als sie sich im Spiegel beschaut hatte, war sie mit sich selbst zufrieden gewesen und hatte sich über ihre frische Schönheit gefreut. Und nun dieser Empfang. Es würgte ihr im Halse, und sie hätte am liebsten geweint vor Wut und Enttäuschung.
»Wenn du mich nicht in Ruhe läßt, reise ich morgen wieder ab. Ich habe es sowieso dick. – Pfui, wie kannst du dich so vor deinen Bruder hinstellen!«
»Martha, ich glaube, es ist gut, wenn du dich etwas mäßigst. Auch ich finde es höchst unschicklich, daß du wie ein Institutsmädel in Gesellschaft gehst.«
Der Lohndiener öffnete die Tür und meldete: »Fräulein Reiber und Herr Oberleutnant Reiber.« Frau Trenkler erhob sich und setzte ihre liebenswürdigste Miene auf. Richard kam aus dem Nebenzimmer gestürzt und streifte mit einem spöttischen Blick Martha.
Gegenseitiges Begrüßen und Vorstellen Marthas. Otto und Richard schüttelten sich kräftig und lange die Hände.
Als Oberleutnant Reiber Martha die Hand küßte, ging ihr eine heiße Welle durch den Körper. Wo hatte sie den Herrn doch schon gesehen? Ach, in ihren Mädchenträumen! Ja, so war er, ganz so! Herrlicher, stattlicher Wuchs, blondes Haar, blaue Augen; nicht zu martialisch, mit einem Zug feiner Vergeistigung! Es kribbelte und brannte in ihrem Hirn, und sie ließ ihr Auge eine Weile auf ihm ruhen, als er die anderen begrüßte.
Jetzt hatte Leonore ihren Blick gesehen und sie verstanden. Sie lächelte kaum merklich, aber spöttisch, und wandte sich mit aufdringlicher Vertraulichkeit, die die alte Bekanntschaft markieren sollte, an den Oberleutnant. Der nahm aber wenig Notiz von ihr und zog Richard mit sich in die Fensternische.
Maria Reiber gesellte sich zu Martha und fragte sie, ob sie sich in den paar Stunden schon mehr eingelebt habe, und Martha erzählte ihr von dem Besuch in Leonorens Atelier, daß sie aber vieles noch nicht verstehe. Dabei blickte sie Maria mit strahlenden Augen an. Sie sah in ihr den Bruder. Als die Tante und Leonore einem neueintretenden Gast entgegengingen, schaute sie auf den kleinen Halsausschnitt Marias und fragte zutraulich:
»Sagen Sie, Fräulein, kann ich denn so wie ich bin nicht in Gesellschaft gehen? Ich habe deswegen schon einen Streit mit Tante und Leonore gehabt.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Sie kennen ja die Sitten. Ich für meinen Teil deute sie nur an, und bis jetzt hat man mir den Kopf noch nicht abgerissen.«
Die Neueingetretene war Käthe Zeisig. Sie drehte und wendete sich vor den Damen und Herren und tat, als sei sie die Hauptperson. Man sah, daß sie ihre glitzernde Toilette und ihre vermeintlichen Reize bewundern lassen wollte.
Absichtlich hielt sie sich eine Weile bei den Frauen auf und tat, als bemerke sie Richard nicht. Dann begrüßte sie ihn mit kalter Verneigung, aber ihre Augen brannten wie loderndes Feuer.
Otto Reiber begrüßte sie kurz und wandte sich ostentativ Martha zu und behandelte sie mit auszeichnender Liebenswürdigkeit. Man konnte deutlich sehen, wie er Gefallen an ihrer ungekünstelten Natürlichkeit fand.
Leonore trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und biß sich auf die Lippen. – Hoppla, fängst du so an! – Und da hat Mutter noch die Eselei begangen, das grüne Ding mit dem Oberleutnant zusammenzubestimmen, nur damit meine und ihre Absicht nicht zu batzig heraustreten soll. Na, warte, ich sitze ja an der anderen Seite Ottos! – Sie ließ verstohlen ihre Blicke über ihre eigene Gestalt gleiten und fand, daß sie doch nicht ganz ohne Reize war, und darauf baute sie bei Otto auf. Auch ihr Geist würde in der Unterhaltung leicht über den simplen Backfisch obsiegen.
Neue Gäste unterbrachen ihre Siegesträume.
Tante Hofrat Therese Laubig, eine entfernte Kusine der Frau General, trat ein und hinter ihr Herr Dr. Kuno Sander und Frau.
Das alte Tantchen, eine kleine, schmächtige Figur, in einfacher, schwarzer Seidenrobe und glattgescheiteltem weißem Haar, hob bei der Begrüßung die Hornlorgnette und schaute jeden prüfend an.
»Ach, das ist die kleine Martha. Grüß Gott, Kind! Wie gefällt es dir denn in München?« Und sie umarmte das Mädchen und küßte es auf beide Wangen. »Gott segne deinen Eingang und Ausgang. Komm mich bald auch einmal besuchen. Leonore kann dir ja den Weg zeigen. Ach, ist das schön, wenn man noch so ein frisches junges Mädchen ist!«
Ihre Stimme zitterte etwas, und sie blies nach jedem halben Satz die Luft durch die Nase. Martha meinte, das mache sich überaus komisch.
Indem Tante Laubig weiter zu Richard ging, der mit seinen Blicken Käthe verschlang und in seiner intimen Unterhaltung die alte Dame nicht bemerken wollte, wurde Martha Herrn und Frau Dr. Sander vorgestellt. Die beiden trennten sich aber gleich wieder von ihr. Sie schienen nicht ganz bei der Sache zu sein und jemanden zu suchen.
»Dreieckige Ehe, gnädiges Fräulein,« sagte Otto Reiber halblaut zu Martha. »Werden bald sehen.«
Martha schaute ihn erstaunt an und ließ den Blick fragend zu Maria hinübergleiten. Da wurde ihr auch schon Herr Ingenieur Dr. Heinrich Knopp vorgestellt, den der Oberleutnant sehr kühl und förmlich behandelte.
»Na, da ist ja auch schon die andere. Haben gnädiges Fräulein schon die Wahlverwandtschaften gelesen? Ähnliches Techtelmechtel ist auch hier.«
»Fräulein Ada Lob, Fräulein Martha Halden, meine liebe Kusine.« Und weiter ging's.
»Machen Sie mal heute abend die Augen auf, gnädiges Fräulein, und Sie werden allerlei sehen. Bagage das! Die Lob ist Philosophin und Sander Philosoph; das wird schon mal zum Krach kommen.«
Frau General überschaute flüchtig die Gruppen der Gäste. Es waren noch nicht alle da. Sorbings fehlten noch. Die kamen aber auch immer zuletzt. Die hausbackene Frau konnte sich nie von den Kindern losmachen. Und man mußte sie doch einladen. Alte Verpflichtungen, na ja.
Da kamen sie endlich. Er, Rechtsanwalt Dr. Sorbing, mit einem höchst unmodernen schwarzen Vollbart, und sie, Frau Elisabeth, eine mittlere, unscheinbare Figur in blauseidenem Kleid mit kleinstem Ausschnitt. Sie kamen noch Arm in Arm durch die Türe. Frau Sorbing schüttelte Martha frisch die Hand, als kannte sie sie schon lange Zeit, und das Mädchen fühlte sich unwillkürlich zu der Frau mit dem offenen, jugendlichen Sinn hingezogen.
Nun ging man zu Tisch. Martha war glücklich, von Otto Reiber geführt zu werden, und als er sie fragte: »Roten oder Weißen?«, sagte sie wie aus innerer Notwendigkeit: »Roten.« Er sprach ihr so schön von den Reizen ihrer Heimat, die er von Reisen her kannte. Sie brauchte sich gar nicht sonderliche Mühe zu geben, geistreich zu erscheinen. Die Unterhaltung floß frisch und natürlich voran. Leonore zur Linken Ottos, eigentlich Dr. Sorbing zugeteilt, horchte wie ein Schießhund auf die Unterhaltung zu ihrer Rechten und versuchte immer wieder sich hineinzudrängen. Aber sie wurde jedesmal von Otto kurz abgespeist. Das ließ in Martha das Glücksgefühl über den alleinigen Besitz ihres Tischherrn von Minute zu Minute wachsen.
Richard sorgte gut für Käthe, die dem Wein reichlich zusprach und immer übermütiger und in ihren Kokettierkünsten immer frecher wurde. Des Leutnants Augen flackerten immer glühender. Otto beobachtete ihn scharf, indem er mit Martha sprach und ängstlich bemüht war, daß sie das Paar nicht gewahrte. Er hatte eine tiefe und warme Sympathie für das Mädchen gefaßt.
Bis jetzt hatte Dr. Knopp Frau Sander unterhalten, wie es seine Pflicht war, und Dr. Sander seine Tischdame, die Philosophin.
Da kam der Sekt und man wurde intimer. Zwischen den Paaren stand die Wahrheit auf. Richard legte seinen Arm auf die Stuhllehne Käthes, Frau Elisabeth Sorbing erzählte begeistert von ihren Kindern, Dr. Sander machte intimere Scherze mit Ada Lob, und Frau Sander erwiderte die heißen Blicke Dr. Knopps.
Endlich hob man die Tafel auf. Martha erhob sich mit glühendem Kopf und machte in ihrer Verwirrung das Kreuzzeichen zum gewohnten Tischgebet. Das sah Käthe Zeisig und lachte. Sofort schlug Otto Reiber auch ein Kreuz und blieb einen Augenblick stehen. Da faßte sich Käthe zusammen, denn sie wollte doch nicht mit dem Oberleutnant anbinden. Martha warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er aber tat ganz selbstverständlich und führte sie in den Salon, wo der Kaffee serviert wurde, und stellte sich mit ihr in eine Fensternische.
Käthe ging gleich auf den Flügel zu und schlug einen übermütigen Operettenwalzer an. Richard lehnte sich auf den Deckel und schaute ihr ins Gesicht.
Tantchen Hofrat drückte sich in eine Sofaecke und kaute an ihren falschen Zähnen. Frau Edeltraud setzte sich neben sie und tuschelte vertraulich mit ihr. Die anderen saßen und standen so zusammen, wie sie bei Tisch gesessen hatten.
Leonore blätterte in einem Stoß Noten herum, war aber anscheinend durchaus nicht bei der Sache; denn sie nahm dasselbe Heft vier-, fünfmal in die Hand und legte es wieder weg.
Maria Reiber ging zu ihrem Bruder und Martha hinüber. »Nun erzählen Sie uns etwas von ihren Streichen aus dem Institut. Sie haben doch sicher viele Streiche ausgeführt.«
Martha lachte und erzählte lebhaft, wie sie eine Lehrerin nachgemacht hatten, die alle A wie ein O sprach, wie sie nachts im Schlafsaal mit Pflaumenkernen geworfen und im Institutsgarten das Fallobst genascht hatten, und ähnliche Backfischstreiche.
Als Käthe ihren Walzer beendigt hatte, standen Dr. Sorbing und Frau auf und verabschiedeten sich. Sie mußten nach Hause wegen des Kleinsten; auf das Mädchen sei kein Verlaß. Frau Elisabeth war wieder sehr liebenswürdig gegen Martha und lud sie ein, sie recht bald einmal zu besuchen, und ihre Kinder zu sehen, sie hätte sicher Freude an Kindern.
»O ja, sehr, ich habe mir immer einen kleinen Bruder gewünscht.«
»Aber, Fräulein, warum nicht einen großen?«
»Weil man von einem großen Bruder immer als dummes Gänschen behandelt wird, wie meine Freundinnen klagen; einen kleinen Bruder aber kann man bemuttern, und das ist schön.«
Die Röte, die ihr dabei ins Gesicht stieg, stand ihr so gut, daß Otto beinahe das Gefühl mit dem Verstand durchging.
Leonore hatte ein Mittel gefunden, Otto Reiber von Martha loszureißen. Sie drehte sich vom Klavier um und klatschte in die Hände.
»Wer von den Herren erfreut uns jetzt mit einem kleinen musikalischen Vortrag? Eine Dame hat angefangen, jetzt dürfen die Herren sich nicht blamieren.«
Sie wußte, daß keiner der Herren außer Otto Reiber musikalisch war und daß der Oberleutnant sich nicht zierte. Ihre Berechnung war richtig. Otto ließ seine Schwester mit Martha stehen und setzte sich an den Flügel. So, nun hatte Leonore ihn bei sich und würde ihn nach dem Vortrag nicht loslassen.
Ein schelmisches Lächeln huschte über Ottos Gesicht, dann wurde es plötzlich ernst. Er schlug ein paar Akkorde an und sang Schuberts »Kreuzzug«.
Als er die ersten Worte gesungen, wurde es ringsum still. Martha trank die Töne durstig in sich hinein. Maria Reiber beobachtete sie still und sinnend. Das Mädchen sehnte sich nach Liebe und glaubte sie in ihrem Bruder zu finden. Sie studierte das Gesicht und die Augen Marthas. Das Auge hing an dem Sänger und verlor sich ganz in ihn. Martha ließ sich von ihrem schwärmenden Gefühl ganz hinnehmen und war sich in ihrer Seligkeit gar nicht bewußt, was sie tat.
Das war der älteren Studentin eine interessante Beobachtung. Sie freute sich halb über Martha, wie sie so offen und unbefangen sich gehen ließ, halb bemitleidete sie ihr Gefühl. Auch sie hatte vor Jahren ihren Backfischschwarm gehabt, und es fiel ihr heute noch schwer, ihn zu bereuen. Es war ein duftiger Frühlingstraum gewesen, bis sie die Mutter eines Tages in aller Ruhe und Liebe mit Ernst auf das Natürliche, aber auch Charakterverderbende dieses Schwarmes aufmerksam gemacht hatte.
Ach ja, auch heute noch, wo sie sich doch eigentlich ganz der Wissenschaft hingegeben hatte, konnte sie manchmal schwärmen, sehnte sie sich nach Liebe, träumte sie von einem runden, weichen Kinderärmchen, das sich ihr um den Hals legte.
Welche Rolle spielte die Sehnsucht nach Liebe im Leben der anwesenden Frauen! Martha erwachte unbewußt zum Mädchen in ihrem unschuldigen Schwarm für Otto; Leonore suchte Liebe und fand sie nicht; Käthe war ganz Weibchen, sie hatte sich längst an den Liebesdrang verloren, der sie früher oder später ganz ins Verderben reißen würde; Frau Sander hatte, trotzdem sie in der Ehe lebte, ihren Liebesdrang noch nicht gezügelt, ihr Fall war nur eine Frage der Zeit; Ada Lob log sich und anderen vor, daß sie über die Liebessehnsucht hinaus sei und nur der Wissenschaft lebe; Frau Sorbing war im stillen, glücklichen Besitz reiner Liebe, sie ging ganz auf in ihrem Gatten und ihren Kindern, außer ihnen kannte sie nichts auf der Welt, und sie, Maria, selbst? Ach, sie mußte nur zu gut, wie schwer es ist, auf alle Liebe zu verzichten, und wie sich doch immer wieder die Liebessehnsucht im Herzen Bahn bricht, so daß sie manchmal über sich selbst lachen, auch oft weinen mußte. Sie wurde ernst und traurig; und nun träumte auch sie wie Martha, während ihr Bruder sein Leiblied vortrug, das er so gerne, um des Gegensatzes willen, in eine übermütige Gesellschaft hineinsang:
»Ein Münich steht in seiner Zell'
Am Fenstergitter grau,
Viel Rittersleut' in Waffen hell,
Die reiten durch die Au.
Sie singen Lieder frommer Art
In schönem, ernstem Chor,
Inmitten fliegt, von Seide zart,
Die Kreuzesfahn' empor, die Kreuzesfahn' empor.
Sie steigen an dem Seegestad
Das hohe Schiff hinan,
Es läuft hinweg auf grünem Pfad,
Ist bald nur wie ein Schwan.«
Nun wurde die Anfangsmelodie zur Begleitung, und indem der Sänger seinen Text weitersang, führte die Begleitung den Zuhörer mit den Kreuzfahrern vom Strand hinaus auf die See. Martha sah die Segel sich im Sonnenglanze blähen und wie weiße Schwäne in die blaue Ferne schweben. Dabei wurde ihr so weh und so warm zugleich. Sie hätte am liebsten Otto umarmt und unter Tränen geküßt.
»Der Münich sieht am Fenster noch,
Schaut ihnen nach hinaus:
›Ich bin wie ihr ein Pilger doch
Und bleib ich gleich zu Haus.
Des Lebens Fahrt durch Wellentrug
Und heißen Wüstensand,
Es ist ja auch ein Kreuzeszug
In das gelobte Land,
In das gelobte Land‹.« – –
Das Lied der Kreuzfahrer verklang in der Begleitung leise, leise wie in den Wolken verschwimmend. Otto Reiber ließ die Hände noch einen Augenblick auf den Tasten ruhen, drehte sich dann mit einem Ruck herum und stand auf. Das war aber gegen den Plan Leonorens.
»Aber, Herr Oberleutnant, jetzt müssen Sie mir zu einem ungarischen Tanz von Brahms die Noten umwenden.«
Sie schob schnell das schon geöffnete Heft auf das Notenpult und setzte sich auf den Klavierstuhl.
»Gerne werde ich Ihnen den Dienst tun, gnädiges Fräulein.«
Otto hatte mit seinem Lied Leonore ein schweigsames Publikum verschafft. Alle waren nachdenklich geworden. Nur Käthe zeigte ihr fades Lächeln und spielte hinter dem arabischen Rauchtischchen mit Richards Hand. Die alte Frau Hofrat rief mit ihrer zitternden Stimme zu Otto hinüber:
»Es war schön von Ihnen, Herr Oberleutnant, daß Sie uns etwas vom Himmel gesungen haben.«
Das war der guten Dame ernst gemeint, und deshalb wagte auch keiner eine spöttische Bemerkung. Nur Richard flüsterte Käthe zu: »Mein Himmel ist bei dir,« und Dr. Knopp blickte Frau Sander vielsagend in die Augen. Tante Therese schaute gerade mit ihrem Lorgnon zum Flügel hinüber, wer da jetzt spielte, und streifte mit einem Blick Dr. Knopp und Frau Sander. Das Paar gefiel ihr nicht.
»Sag einmal, Edeltraud, hältst du eine Freundschaft, eine reine Freundschaft, zwischen einem Mann und einer Frau auf die Dauer für möglich?«
»Du meinst, daß sie gute Kameraden sind, ohne jede Nebenabsicht?«
Die beiden Damen hatten etwas lauter gesprochen, als sie vielleicht gewollt hatten. Ada Lob hatte sie verstanden und lauschte hinüber.
Otto hatte gerade Leonore das Blatt gewendet und sah, daß das Stück auf der folgenden Seite unten rechts schloß. Sofort zog er sich leise zurück und setzte sich an den Tisch zu Frau Trenkler. Leonore wandte einen Augenblick den Kopf und sagte ein paar Worte, die er aber nicht mehr hörte. Die Frau General biß die Lippen ungeduldig und rückte mit den Füßen hin und her.
Nun, jetzt saß er ja wenigstens bei der Mutter, und Leonore konnte ohne aufzufallen zu ihr und somit in seine Nähe kommen. So ganz schlau war der Oberleutnant doch noch nicht; vielleicht hatte er es vermeiden wollen, wieder zu Martha zu gehen, und so war er in ihre Schlingen geraten. Aber die schreckliche Tante Hofrat hielt zäh an ihrem Thema fest. Sie beäugte die Umstehenden durch ihr Glas und wiederholte ihre Frage ein wenig herausfordernd laut.
»Nun, was meinst du, Edeltraud, hältst du eine Freundschaft oder Kameradschaft, wie du es nennst, zwischen einem Mann und einer Frau für möglich?«
»Was meinst du damit, Tante?« warf Leonore, die gerade vom Flügel herkam, mit spitzem Ton dazwischen und spielte nervös mit dem gestickten Tischläufer. Sie kannte die alte Frau Hofrat und wußte, daß eine solche Frage fast immer der Anfang einer Skandalgeschichte war.
»Was denkst du, Leonore?« mischte sich Ada Lob dazwischen, »Frau Hofrat will nur eine interessante psychologische Frage anschneiden. Sie spricht natürlich nur in thesi, will sagen so im allgemeinen.« Ada sprach mit hochrotem Gesicht sehr akzentuiert.
»Gewiß, gewiß, liebes Fräulein; wir Alten beobachten allerdings bei der heutigen Jugend so allerlei. Aus den Tatsachen möchten wir uns dann gerne eine Theorie bilden.«
Maria Reiber kam auch auf den Tisch zu und lehnte sich hinter Frau Trenkler an eine Konsole. Martha folgte ihr, nur Otto Reiber im Auge.
»Wenn ihr ehrwürdigen, frommen Damen euch eure Theorien bildet, geschieht es nur zu oft, daß ihr Leute, die bis dahin sich gar nichts Böses gedacht haben, aneinander klatscht. So habt ihr schon manches hübsche Skandälchen zuwege gebracht.«
»Edeltraud, ich finde, deine Tochter ist eigentlich ungezogen. Aber lassen wir uns nicht in der Erörterung unserer Frage stören.«
Ada Lob legte ihre Arme auf den Tisch und sagte in selbstverständlichem Ton: »Ich sehe nicht ein, weshalb eine Freundschaft zwischen Mann und Frau, und ich sage ausdrücklich, auch zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau, unmöglich sein soll. Die höchsten und edelsten Freundschaften werden ja durch gleiche geistige Interessen geknüpft, und der Geist steht über dem Geschlecht.«
»Sie haben recht, gnädiges Fräulein, soweit die Theorie in Frage kommt, aber in der Praxis – –? Ich weiß, daß in den Kreisen der Gebildeten vielfach diese Theorie vertreten wird. Ibsen hat da vieles auf dem Gewissen. In der Praxis geht man aber bedeutend weiter als die erklügelten Bühnenmenschen Ibsens.«
»Ganz meine Ansicht, Herr Oberleutnant. Und sagen wir es gleich gerade heraus: Das Ende ist immer die Sünde. Nehmen wir nur zum Beispiel den Fall Her –«
»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, Frau Hofrat, wir wollten ja nur bei der Theorie bleiben und Namen aus dem Spiel lassen.«
»Ich wollte eben nur einen allgemein bekannten Fall anführen, um die Theorie besser zu beleuchten.
»Wenn der Fall allgemein bekannt ist, kann ihn sich ja jeder denken. Auf jeden Fall kommen wir dann nicht in den Ruf, einen allerliebsten kleinen Klatsch angezettelt zu haben.«
Das sagte er so bestimmt, aber auch so liebenswürdig, daß Frau Hofrat lachen mußte.
Maria sagte zu Martha: »Das hat er wieder mal fein gemacht. Du glaubst nicht, was hier in München in kleinen, abgegrenzten Kreisen, und besonders in unseren kleinen Städten geklatscht wird. Ich könnte dir Städtchen nennen, die nach außen wie ein Juwel aussehen, und drinnen hat sich die Lieblosigkeit und Feindschaft und Haß eingenistet nur durch den abscheulichen Klatsch. Und dabei sind es meistens gerade die sonst frommen Damen, die keinen besseren Leckerbissen kennen, als so ein recht saftiges Geratsche und Getratsche.«
Ada nahm das Thema wieder auf: »Ich finde, daß sich gerade die Gebildeten über die eingebildeten Vorurteile hinwegsetzen sollten. Wenn zwei Menschen sich verstehen, dann sollten sie eben dieses Sichverstehen zu ihrem geistigen Fortschritt und zur gegenseitigen Vervollkommnung ausnutzen, ohne jeden Hintergedanken von Liebe und Ehe und dergleichen.«
»Aber, gnädiges Fräulein, sehen Sie denn nicht, daß Sie das Vorhandensein von Hintergedanken, wie Sie so schön sagen, gerade dadurch beweisen, daß Sie sie ausmerzen und fernhalten wollen? Gewiß, wenn gerade das Weib sich frühzeitig zu einer Persönlichkeit erzöge, daß es Herr seiner Launen und unbewußten Liebe würde, und wenn der junge Mann sich frühzeitig beherrschen lernte, dann wäre – verzeihen Sie die Mißgeburt meines Gedankens – eine solche Freundschaft auch noch unmöglich, wenigstens auf die Dauer nicht zu wagen, wenn eine Ehe aus irgend einem Grunde unmöglich wäre. Deshalb ist es meine feste Überzeugung, die mir gerade beim Militär von Tag zu Tag wächst, daß es in unserer Jugenderziehung an der Stärkung des Charakters fehlt, bei den jungen Männern und besonders – Verzeihung, meine Damen! – bei den jungen Mädchen. Wenn Deutschland einmal zugrunde geht, dann geht es an den Frauen zugrunde, die jetzt heranwachsen. Der Himmel gebe uns bald einen Krieg, der uns zur Besinnung bringt.«
Martha fand sich vor Staunen nicht zurecht. Von solchen Ideen und Problemen hatte sie noch nie gehört. Was war doch Otto Reiber für ein Mann. Mit welcher Kraft und Entschiedenheit trug er seine Ideen vor, gleichgültig, ob er einem, der anderer Ansicht war, wehe tat oder nicht.
Die Philosophin fühlte sich besiegt, wenigstens wußte sie nichts mehr zu erwidern. Deshalb lenkte sie das Gespräch auf einen anderen Gegenstand, wo sie sich sattelfest glaubte.
»Ich meine, Herr Oberleutnant, wenn die Philosophie Kants und besonders seine moralischen Ideen von der Pflicht einmal ganz und gar den deutschen Geist durchdrungen haben, dann wird es um unser Volk und besonders um unser kraftvolles Deutschtum besser bestellt sein.«
»Ach, bleiben Sie mir fort mit Kant, liebes Fräulein,« winkte die Frau Hofrat ab, »das ist eine Philosophie, die Gott entthront hat und uns in der ganzen Welt lächerlich macht.«
Ada lächelte mitleidig. Otto Reiber meinte:
»Hol der Teufel alle Philosophie; ich verstehe nichts davon. Was Sie da sagen, gnädiges Fräulein, klingt sehr schön, und Kant mag auch nicht so dumm gewesen sein, aber wenn ich mich nicht von einem Herrgott in Raison nehmen lasse, dann pfeif ich den Kuckuck auf tausend kategorische Imperative. Und wenn ich mit meinem Verstand nicht an den Herrgott heranreichen, sondern nur so ein duseliges Gefühl von einem Gott und einer überirdischen Welt haben soll, dann ist für mich die ganze Welt ein großes Narrenhaus.«
»Ja, Herr Oberleutnant, Sie müssen sich auch bemühen, sich auf Kants Standpunkt zu stellen und ihn zu verstehen suchen. Sie scheinen nur zu sehr vom gewöhnlichen Menschenverstand auszugehen. Wir philosophieren doch, um tiefer in die Geheimnisse des Weltgeschehens einzudringen und nicht bei der naiven Anschauung eines Bauern stehenzubleiben.«
»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, da komme ich mit meinem Kommißschädel nicht mehr mit. Eine Philosophie, die mir im alltäglichen Leben nicht dient, kann ich nicht gebrauchen. Ich bin ein Mensch wie alle anderen. Wenn mir mein Herrgott nicht die Kandare anlegt, schlage ich halt aus; soll ich mir sie selber anlegen, oder will man mir aufbinden, daß irgend ein unpersönlicher Schemen, der mich den Teufel schert, sie mir anlegt, dann werfe ich sie ab und lebe mich aus, wie man heute so schön sagt. Aber ich möchte mal sehen, wie man mit einer solchen Philosophie zum Beispiel in den Krieg zieht.«
Damit erhob und verabschiedete er sich mit der Entschuldigung, er müsse morgen früh schon um sechs Uhr auf dem Exerzierplatz sein, nachher habe er allerdings frei und werde gegen Mittag Richard besuchen.
Als er Martha die Hand reichte, schlug sie voll die Augen zu ihm auf und drückte seine Hand fester, als es gerade nötig war. Marias Hand schüttelte sie geradezu und dachte dabei an den Bruder. Unwillkürlich ging sie ein paar Schritte hinter ihnen her und gab Maria vor der Türe nochmals die Hand.
Auf der Straße sagte Otto zu Maria: »Du, die Kleine da oben schwärmt für mich. Das mußt du ihr austreiben. Ein ganz prächtiges Ding, aber ein Mädel, das zu sehr schwärmt, geht auf die Dauer in die Rüben.« – –
Wie einmal der Anfang des Abschiednehmens gemacht war, brachen nacheinander alle Gäste auf. Tante Hofrats Wagen meldete sich zuerst. Käthe Zeisig ließ sich zuletzt von Richard an den Wagen führen. In ihrer Sektlaune ließ sie sich völlig gehen und hing sich ganz an den jungen Offizier.
In den Räumen hing nun ein schaler Wein- und Zigarettendunst. Das Mädchen öffnete das Fenster, und die kühle Nachtluft verscheuchte mit einem Schlage all den glitzernden Schein, der sich aus dem Gesehenen und Gehörten in Marthas Phantasie gebildet hatte.
Sie gab Tante Edeltraud den Gutenachtkuß und wollte Leonore die Hand reichen.
»Du bist eine ganz unverschämte Intrigantin. Weißt du denn nicht, daß es sich für ein junges Mädchen gar nicht paßt, einen Herrn den ganzen Abend so festzuhalten. Du hast dich ja geradezu an Otto Reiber hingeworfen. Der muß einen netten Begriff von dir bekommen haben, und wir legen eine schöne Ehre mit dir ein. Das sind die Institutsmädel! Ich habe es immer gesagt: Doch wehe, wenn sie losgelassen!«
»Bitte, Leonore, Iaß deine Wut nicht wieder am Institut aus. Ich wüßte nicht, was ich heute abend Ungehöriges getan, hätte. Gute Nacht!«
Damit drehte sie sich um und ging. Die Türe schlug sie hinter sich zu. Gut, das kann auch der Wind getan haben. Auf jeden Fall läßt sie sich solche Anrempelungen nicht gefallen. Da kommt Richard die Treppe herauf. Sie sehen, umarmen und der Widerstrebenden einen Kuß auf den Mund brennen, ist eins.
»Was fällt dir ein! Du bist ja betrunken!«
»Na, Kindchen, ich darf dir doch einen Gutenachtkuß geben; ich bin dir noch manchen schuldig von früher, weißt du, wo du so sterblich in mich verliebt warst.«
Martha versuchte, sich von seiner Hand loszureißen.
»Pah, tu nur nicht so, du bist doch nicht viel anders als die Käthe Zeisig.«
Damit wollte er sie um die Hüfte fassen. Sie schlug ihn mit der Faust auf den Arm, lief in ihr Zimmer und drehte den Schlüssel herum. Sie lauschte. Auf dem Gang regte sich nichts. Dafür aber im Salon ein heftiger Wortwechsel, – Türenschlagen, dann Stille.
Martha riß das Fenster auf und ließ sich von der kalten, rauhen Nachtluft anwehen. Ihr Herz schlug hörbar, ihre Brust wogte. Erst allmählich fand sie sich zu sich selbst zurück.
War das die Welt und das Leben, das sie kennen lernen sollte? Sie warf sich an den Tisch und weinte. Aber da war es ihr, als fühlte sie einen Händedruck, als schaute sie ein frisches, männliches Gesicht mit strahlenden Augen an. Sie trocknete die Tränen, richtete sich auf und atmete tief und weit.
Nun war er fort, aber im Geiste fühlte sie ihn neben sich stehen. Ja, zu ihm konnte sie Vertrauen haben, an ihn konnte sie sich anlehnen, wenn sie schwach wurde. O Seligkeit, o Seligkeit! – War das die Liebe? – O wie schön, wie süß war sie dann!
Wann würde sie ihn wiedersehen, wann? Wenigstens seine Schwester und durch Maria ihn – ihn, das Ideal! Am liebsten hätte sie ihr Glück hinausgesungen in jubelnden Kadenzen. Sie warf sich in den Schwall ihrer Gefühle wie in ein sonniges Bad und ließ sich von ihren Wellen tragen und umschmeicheln, ganz willenlos hingegeben.
Sie hatte im Institut wohl einmal für eine Mitschülerin oder eine Lehrerin geschwärmt, aber eine solche Urgewalt der Liebe war noch nie über sie gekommen. Immer tiefer wollte sie darin untertauchen, Ausdruck und Gegenbilder ihrer Lust suchen.
Sie griff zu einem Stoß von Heften einer Salonfamilienzeitschrift, der auf einem Bücherständer neben ihrem Schreibtisch lag. Da mußte etwas drin sein, was ihrer Stimmung entsprach, ihr Worte und Bilder lieh. Hastig blätterte sie. Reizende Bilder! Wie hatte sie die früher doch nie verstanden? Jauchzende, schmachtende Liebe und immer wieder Liebe. Sie begann eine Novelle zu lesen. Liebeslust in Maienpracht. Und aus Liebe gingen die beiden jungen Menschen in den Tod. Vereint in den Tod. Gruselig, aber so süß!
Da berührte etwas in kurzem, weichem Anprall ihre Schläfe. Ein Nachtfalter. Er umschwärmte die Lampe. Andere kamen dazu. Martha horchte auf. Wie still war es ringsum! Richtig, die Elektrische fuhr nicht mehr, und in den Häusern waren die Lichter erloschen. Sie erschrak. Wenn jetzt wer aus dem Dunklen hinter einem Fenster sie beobachtete! Schnell schloß sie ihr Fenster und zog die Gardinen vor. Hu, schon ein Uhr! Nun aber schnell ins Bett! Erst noch das Abendgebet und ein Vaterunser, Zwei, drei, fünf für ihn! O, es betete sich so schön für ihn! Sie knipste das Licht aus und legte sich nieder und reckte die Arme, als wollte sie etwas ergreifen oder umfassen – ja, jetzt verstand sie Leonorens Capribild – und jubelte und betete und träumte wieder von einer grenzenlosen Seligkeit.
Martha wurde von dem Gerassel und Geläute der Straßenbahn geweckt. O, schon beinahe acht Uhr! Schon Zwei Stunden war er auf dem Exerzierplatz. Wenn sie ihn da sehen könnte!
Schnell machte sie Toilette und dann hinaus, zur Kirche. Auf der Straße senkte sie mehr als sonst die Augen. Sie wollte in der Phantasie ganz mit ihm allein sein, ganz ihm gehören. Wann und wo hatte sie doch schon einmal erzählen hören, daß sich zwei junge Menschen zum ersten Male sahen und gleich ganz davon durchdrungen waren, daß sie zueinander gehörten?
In der heiligen Messe betete sie fast nur für ihn, und daß der liebe Gott ihn wieder recht bald zu ihr führen möchte.
Als die heilige Kommunion ausgeteilt wurde, wollte auch sie gehen – sie war ja so fromm und andächtig gestimmt –, aber im letzten Augenblick fiel ihr ein, sie könnte vielleicht nach Mitternacht noch etwas getrunken haben. Das stimmte sie etwas traurig, und sie betete, als die Kirche sich leerte, noch eine Weile vor dem Bilde der »Immerwährenden Hilfe«.
Zu Hause angekommen, fand sie auf ihrem Zimmer das Frühstück bereit. Das Mädchen sagte, sie könne unmöglich so lange warten, bis die Damen zum Frühstück kämen. Dann zog sie ihr Tagebuch aus der Schublade und trug vom gestrigen und heutigen Tage nur ein mit Buchstaben, die die ganze Seite füllten:
»Otto«.
Sie hatte sich eine starke, steile Schrift angequält, – zwar hatte es Mühe gekostet, sie aus den naiven Kinderzügen zu entwickeln, – und nun saß sie vor dem einen vielsagenden Wort und träumte sich zurecht, wie nun ein neues Leben aufgehen würde, so ähnlich wie sie es gestern abend in der Novelle gelesen hatte, und wie ihr Charakter mit dem neuen Leben wachsen würde.
Eigentlich, – das fühlte sie zu deutlich, – waren die steilen Schriftzüge recht nichtssagend, eine Heuchelei, sie sollten andern einen Charakter, eine Persönlichkeit vortäuschen.
Die Riesenbuchstaben waren getrocknet, und Martha klappte das Buch zu. Was sollte sie anfangen? Etwas lesen! Die Novelle gestern abend war doch gar zu schön. Also noch eine!
Warum hatte man im Institut alle diese Sachen ferngehalten? Bisher hatte sie gar nicht gewußt, daß es so Schönes gab. Und sie las und las. Da standen ja auch recht geistreiche und wissenschaftliche Aufsätze. Halt, da war ja auch einer über den Mann mit dem komischen Namen: Friedrich Nietzsche! Doch interessant! Ja, jetzt ging ihr ein Licht auf über den Mann und das Buch mit dem feierlichen Titel »Also sprach Zarathustra.«
Aber war das auch nichts Böses? Nein, sie konnte nichts finden. Der Aufsatz war ja auch von einem Universitätsprofessor geschrieben. Und vorne in dem Heft stand eine Arbeit über die Madonnen Filippo Lippis mit vielen schönen Bildern, und hinten in den Zeitbetrachtungen war ein Porträt Kardinal Rampollas. Zwar ein Bild mochte ihr nicht gefallen, aber das war ja Kunst, und die Zeitschrift war auch offenbar nicht für Kinder. Gestern morgen hatte sie ja auch noch nicht Leonorens Bild verstanden, und gestern abend lebte sie es schon mit.
Ob er wohl heute morgen kommen würde, Richard zu besuchen?
Richard! Wie war er gestern abend abscheulich gewesen. Aber der andere! Wie nett, wie reizend! Wenn er kommt, muß ich ihn sehen.
Halt, Geräusch auf dem Gang! Nein, das kann er noch nicht sein, es ist erst zehn Uhr. Aber Tante wird aufgestanden sein.
Sie geht hinaus, sie zu begrüßen. Tante und Leonore sitzen beim Kaffee. Martha gibt sich unbefangen und natürlich. Die Tante grüßt freundlich und küßt sie. Leonore brummt hinter der Zeitung: »'n Tag.«
»Ich höre, daß du heute morgen wieder in der Kirche warst. Wenn du nächstens abends wieder so lange aufbleibst, schläfst du dich morgens aus. Ich bin für deine Gesundheit verantwortlich. Sonntags kannst und sollst du deine Pflicht tun, aber an Werktagen in die Messe zu gehen, ist zuviel. Das überlasse nur Tante Therese und ähnlichen alten Damen, die sonst keine Verpflichtungen mehr haben. Übrigens paßt dein Kirchenlaufen gar nicht zu deinem Benehmen von gestern abend. Ich muß auch mit Leonore sagen, daß du dich Herrn Oberleutnant Reiber an den Hals geworfen hast. Ich konnte dir gestern abend nichts sagen, aber Leonore hat dir das Unschickliche deines Betragens doch deutlich genug zu verstehen gegeben –«
»Aber, Tante, ich habe doch gar nichts getan, Herr Leutnant war doch selbst – –«
»Haha, du wirst unterhaltlich, Kind,« lachte Leonore laut auf. »Du bildest dir vielleicht gar ein, der Herr Leutnant sei von deiner liebenswürdigen Persönlichkeit entzückt gewesen. Na, da bist du aber auf dem Holzwege. Leutnants sind pikantere Mädels gewohnt als simple Backfische, der du doch schließlich einer bist trotz deines langen Kleides.«
»Bist du bald fertig, Leonore?« Martha setzte sich und lachte ihrerseits natürlich fröhlich auf. »Wenn du so weiter redest, muß ich noch meinen, du seiest eifersüchtig.«
»Pah, was du dir einbildest! Mich lassen alle Herren und besonders dieser Oberleutnant kalt. Ich lebe meiner Kunst, und das ist eine Liebe und eine Ehe, die alle anderen an geistiger Würde unendlich übersteigt. Aber davon hast du in deinem ungebildeten Verstand keinen Begriff.«
»Nein, Leonore, ich wollte dir ja nicht wehe tun. Bitte, seien wir wieder lieb zueinander.«
»Ach, keine Sentimentalitäten. Die liebe ich nicht. Unterschiebe mir lieber nächstens nicht mehr solche Dummheiten. Wenn du etwas nachdenkst, kommst du schon von selbst dahinter, daß ich mit Leutnant Reiber schon tausendmal hatte verlobt sein können, wenn ich gewollt hätte. Er verkehrt doch schon seit ungefähr vierzehn Jahren in unserem Haus, schon als er noch auf dem Gymnasium war und Papa noch lebte.«
»Leonore, ich will dir etwas sagen...«
»Aber bitte nicht wieder eine Frechheit!«
»Nein, – erwartest du denn eine auf das, was du eben sagtest? – Nein, ich wollte dir nur sagen, daß ich dein Bild allmählich doch nicht mehr für so ganz dumm halte.«
»Das ist ja eine sehr große Ehre für mich. Aber jetzt glaube ich doch, daß du verliebt bist.«
»Wer ist in wen verliebt?«
Das war Richard. Er hatte unbemerkt die Türe geöffnet und die letzten Worte Leonorens gehört. Nun ging er auf die Mutter zu und küßte ihre Hand. Dann zupfte er Leonore am Ohrläppchen und erhielt dafür einen Klaps in den Nacken. Zu Martha beugte er sich nieder und küßte sie unversehens.
»Richard, wenn du nicht artig bist, sag ich's.«
»Aha, fängst du schon so an?« trumpfte Leonore auf. »Ihr macht noch Martha ganz verrückt.«
Martha stand auf und ging hinaus.
Frau Edeltraud sagte ernst und vorwurfsvoll: »Ihr scheint es durchaus darauf abzusehen, das arme Mädchen durcheinanderzubringen. Wenn ihr ihm noch länger von Verliebtheit vorredet, dann müßt ihr euch nicht wundern, wenn es schließlich verliebt ist.« – –
Auf ihrem Zimmer griff Martha zu einem Roman und begann zu lesen. Aber sie war mit ihrem Geist anderswo. Deshalb mußte sie immer wieder eine oder zwei Seiten zurückblättern, weil sie den Zusammenhang verloren hatte. Sie lauschte und lauschte nach der elektrischen Klingel.
Da schellt es. Das kann er sein. Sie springt auf, greift zum Hut und schlendert den Gang entlang, als wolle sie ausgehen. Ach, es war nur der Laufjunge irgend eines Geschäftes. Beschämt ging sie wieder aufs Zimmer. Jetzt muß er doch bald kommen! Wieder schellte es. Der Briefbote. Und nach einer Weile wieder. Diesmal klopfte schon ihr Herz hörbar. Schnell stürzte sie den Hut auf den Kopf und sprang hinaus. Im Gang sagte sie dem Mädchen mit möglichst unbefangenklingender Stimme:
»Ich gehe nur ein wenig spazieren; ich bin bald wieder hier.«
Und schon stand sie in der Türe Otto gegenüber.
Sie tat erschrocken und erstaunt.
»Ah, gnädiges Fräulein wollen einen Spaziergang machen. Das tut gut nach einem solchen Abend wie gestern. – Empfehle mich, gnädiges Fräulein.«
Sie reichte dem Leutnant die Hand, die dieser leicht an die Lippen führte.
Jetzt mußte sie auch die Komödie zu Ende führen und die Treppe hinuntergehen. Aber sie war selig, besonders weil sie gebetet hatte, daß sie heute Otto treffen möchte und der liebe Gott ihr Gebet erhört hatte. Da mußte ihre Liebe doch etwas Ideales und Heiliges sein. Wenn sie nur gewußt hätte, wo die Reibers wohnten, dann hätte sie gleich Maria besucht und so vielleicht Otto nachher noch einmal getroffen. Aber sie konnte ja in eine Konditorei gehen und das Adreßbuch verlangen.
Hei, wie sie kühn geworden war! Sollte sie es wirklich? Sie ging aufs Geratewohl los und fand auch bald eine Konditorei. Was sollte sie essen? Einen Mohrenkopf, ihre Lieblingsleckerei. Sie bestellte gleich eine Tasse Kaffee und das Adreßbuch. Da stand eine ganze Reihe Reiber. Die konnten alle nicht die gesuchte Adresse sein. Aha, da! Otto Reiber, Oberst a. D., Giselastr. Das mußte Marias Vater sein.
Sie schlang hastig die beiden Mohrenköpfe hinunter und fragte das Fräulein nach der Giselastraße. Die Elektrische brachte sie bald ans Ziel. Maria war zu Hause.
»Ei, das ist aber nett von Ihnen, Fräulein, daß Sie mich besuchen.«
»Ja, ich wollte nur eben einmal sehen, wo Sie wohnen. Gestern habe ich bei Leonore ein Malerinnenatelier gesehen, heute möchte ich ein Studentinnenstübchen bewundern.«
»O, hier ist nicht viel zu bewundern. Hier stehen Bücher und Kollegienhefte, da sind einige Präparate und ein Schädel.«
»Hu, ist das gruselig! Lassen Sie mich einmal so einen Schädel sehen.«
»Aber hören Sie mal, Fräulein Martha, wir wollen das langweilige ›Sie‹ fahren lassen. Das hört sich unter jungen Mädchen doch zu drollig an. Sagen wir ›Du‹. Bitte, ja!« Und sie hielt Martha die Hand hin. Lachend schlug Martha ein.
»Ich danke dir, Maria, das ist eine große Ehre für mich grünes Ding und – eine sehr große Freude. Ich komme dir viel näher, und das macht mich so glücklich.«
»Gelt, du hast dich gestern ganz sterblich in meinen Bruder verguckt?«
»Wa–as? Ich?« Und sie errötete bis unter den Kragen ihrer Bluse.
»Nicht schwärmen, Mädel, nicht schwärmen! Ich hab's wohl gesehen; du hast ja Otto mit deinen Augen förmlich verschlungen. Man konnte dir ja die Verliebtheit auf hundert Kilometer ansehen.«
»Nein, – da muß ich mich wahrhaftig setzen, daß ich nicht umfalle, – dein Bruder ist aber auch ein gar zu reizender Kerl, – wollte sagen, ein sehr netter und gebildeter Herr!«
»Na, da haben wir's ja. Du bist noch, – verzeihe mir die Offenheit, – ein toller Backfisch, der gleich mit vollen Segeln aufs Ganze geht. Siehst du zum erstenmal einen Leutnant und bist gleich bis über die Ohren in ihn verschossen.«
»Maria, du bist schrecklich! Red nicht so laut! Wenn er das hörte!« Martha wollte herausbekommen, ob Otto schon wieder heimgekehrt sei.
»Nein, er ist nicht zu Hause; er macht, glaube ich, Besuch bei Richard.«
»O, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich nicht ausgegangen; dann hatte ich ihn vielleicht getroffen!«
Martha lachte unbändig. Sie nahm den Hut vom Kopf und warf ihn auf das Sofa. Durch das übertriebene Benehmen wollte sie halb ihre Verlegenheit verbergen, halb ihrer verliebten Freude Luft machen.
»Martha, wenn du nicht ein so goldenes Mädel wärst, würde ich dir das nicht sagen, was ich dir jetzt sage: Meinst du, ich sei in deinem Alter nicht verliebt gewesen? Ha, ha, es ist zu drollig, wenn ich daran denke. Aber das war kein Leutnant. Da konnte ich nicht ran, Papa hielt mich da ängstlich fern. Aber zuerst war's ein Primaner und dann ein junger Jurist und dann machte ich Schluß, denn sie kamen schon bald mit einer anderen gelaufen. Aber ich habe nicht die gekränkte Leberwurst gespielt und bin nicht an gebrochenem Herzen gestorben. Ich hatte ja die ganze Geschichte meiner eigenen Dummheit zuzuschreiben.«
»Ach, red nicht so, Maria, wie eine alte Tante. Ich denke mir, meine gute Babette zu Hause würde mir auch so moralisch kommen. Meine Liebe ist echt und wahr, vom lieben Gott geschickt. Wenn ich Otto nicht lieben darf, dann ist für mich überhaupt alle Liebe aus. Und dann bin ich übrigens auch kein Backfisch mehr.«
»Aber jetzt hast du geradeso geredet wie ein Backfisch. Wenn ich es nicht sonst wüßte, daß du einer bist, so hättest du dich jetzt verraten.«
»Maria, ich werde dir ernstlich böse.«
»O nein, das wirst du nicht. Du bist ja hierhergekommen, um womöglich Otto zu treffen.«
»Maria!«
»Nur ruhig! So hätte ich es wahrscheinlich in deiner Lage auch gemacht.«
»Nun, daß du es weißt: Ich habe Otto schon getroffen an der Türe bei Tante, als ich herausging.«
»Da sehen wir es ja. Du läßt dich von deinem Schwarm ganz und gar nehmen. Das verstehe ich für das erstemal und für den ersten Tag. Aber du mußt sehen, daß du dich wenigstens ein bißchen in die Gewalt bekommst.«
»Fällt mir gar nicht ein. Das Leben geht mir jetzt erst auf.«
»Hab ich auch gemeint, damals. Aber meinst du, diese erste Liebe wäre deine letzte? Dann bist du schief gewickelt. Wenn du jetzt deine Gefühle mit dem Verstand durchgehen läßt, wirst du sie nie mehr in die Gewalt bekommen. Du wirst so ein süßes, kleines Mädel, wie sie zu Tausenden auf der Straße herumlaufen, den Mund voll Pralinés und den Kopf voll Liebesgedusel, heute den und morgen den, – so eine Käthe Zeisig.«
»Ist dir das ernst, Maria? – Dann geh ich. Weißt du, so eine bin ich denn doch nicht. Ich habe heute morgen schon in der heiligen Messe viel für Otto gebetet und hätte auch die heilige Kommunion für ihn aufgeopfert, wenn ich nicht gemeint hätte, heute nach zwölf Uhr noch Wasser getrunken zu haben. So, nun weißt du, wie es um meine Liebe steht.«
»Ja, jetzt weiß ich es. Du kommst noch frisch aus dem Institut, und die Frömmigkeit liegt dir noch im Blut. Sie ist dir noch eine süße Leidenschaft, mehr eine wonnige Befriedigung als ein erkämpfter Besitz und ein Opfer. Ich wünsche dir, daß es so bleibt, aber dein Schwarm wird dem bald ein Ende machen. – Du willst gehen. Nichts für ungut. Wir wollen Freundinnen sein, ich bin älter als du. Als Freundinnen dürfen wir uns doch die Wahrheit sagen. Ich hab es getan, jetzt darfst du es auch tun.«
»Ja, ich tu's: Maria, du bist eklig. – Leb wohl; wenn ich noch mal eine Moralpredigt nötig habe, komme ich wieder.«
»Behüt dich Gott, liebe Schwägerin!«
Da lachte Martha wieder. Die Mädchen schüttelten sich die Hand, und Martha ging.
Auf der Straße schaute sie auf ihre Armbanduhr. Schon zwölf! Da konnte er bald kommen. Er mußte ihr begegnen. Es war ihr doch etwas wirr im Kopf. Aber Maria war eben zu pedantisch, ganz so wie die gute alte Mère Hyazintha im Institut.
Die Aufregung wollte sie voranpeitschen; immer wieder mußte sie sich zum Langsamgehen zwingen, um die Möglichkeit einer Begegnung mit ihm zu erhöhen. Jetzt bog sie um die Ecke der Giselastraße. Sollte sie auf dem rechten oder linken Fußsteig der breiten Allee zum Siegestor hingehen, oder in der Mitte? Auf der rechten Seite würde er sicher von der Theresienstraße her kommen. Also ging sie rechts. Langsam, recht langsam promenierend.
O weh, da kam er, aber auf der anderen Seite! Ihr Herz schlug hörbar, und sie fühlte, wie sie rot wurde. Jetzt würde er sie nicht sehen! Was anfangen? Langsam, wie von ungefähr, ging sie in die Mitte der Allee. Er kam immer näher. Er mußte sie bemerken. Ratsch – spannte sie ihren Sonnenschirm auf. Das weiße Ding mußte seine Blicke auf sie lenken. Ha – er sieht sie, – grüßt! Leicht neigt sie ihren Kopf, einen Augenblick bereit, ihm halb entgegen zu gehen. Sie ist entzückt, möchte jubeln. Aber er geht weiter. Was hat er? Warum redet er sie nicht an? Dummes Zeug, das kann er ja gar nicht! Paßt sich ja gar nicht! – Und doch, sie ist enttäuscht, wie verwirrt. Sie hatte sich ein unbestimmtes, sonniges Glück erträumt, sie war ganz in ihrem Schwarm aufgegangen. Nun kam die Ernüchterung. – Wie lange mußte sie nun auf eine Begegnung hoffen? – –
Am Nachmittag ging Leonore gleich nach dem Essen wieder in ihr Atelier. Sie wollte das Licht möglichst ausnutzen. Tante Edeltraud hielt ein Mittagsschläfchen bis vier Uhr und ging dann irgendwohin zu Bekannten zum Tee. Richard schlief auch und ging dann aus. Martha war froh, allein zu sein. So konnte sie lesen, lesen von der Liebe und ihrem Glück. Sie fing den heute morgen begonnenen Roman von neuem an. Da war der Atlant der Gegenstand der Sehnsucht aller großen Seelen. Ein einsamer Mann ging auf den Spuren eines einsamen Weibes. Sie las und las, und ihre Pulse kochten. Und sie fühlte, wie in ihrer Seele, in ihrem ganzen Wesen etwas Neues, Großes, aufkeimte und wuchs und blühte. Ja, jetzt wurde sie erst Mensch, aus dem Kind ein Mädchen eine Jungfrau, die sich ganz in den großen, heiligen Beruf zur Liebe wirft.
Wie lebensecht war das alles geschildert, ohne Schleier und Schönfärberei. Zwar manches verstand sie noch nicht. Warum war das Endziel der Liebe immer die Ehe? Warum sich nicht lieben, nur immer lieben und sich aneinander freuen ohne Ende? Warum schlossen denn auch die Romane und Novellen alle mit dem Tag der Hochzeit? Und wenn in einem Roman von einer Ehe die Rede war, dann gingen die Gatten immer auseinander. Sie war eine leidvolle, unverstandene Frau und Er ein Rohling, der sie mit einer Verführerin betrog, oder Sie verstand den Gatten nicht, den sie schließlich in staunenswertem Heroismus einer kongenialen Frau abtrat. War das Leben so und warum war es so?
Als Martha am Abend zu Bett ging – sie hatte noch bis elf Uhr gelesen –, fiel ihr das Abendgebet schwer. Tausend Bilder tanzten durch ihre Phantasie, und in ihrer Seele war eine kalte Leere. Ihr Kopf war heiß. Ehe sie sich niederlegte, trat sie noch einmal vor den Spiegel. Sie hatte soviel von »Frauenschönheit« in entzückenden Farben gelesen. Nur einen Augenblick wollte sie sich selbst prüfend betrachten, ob sie auch schön wäre. Ihr Auge flammte, und sie drehte sich einmal rechts und einmal links.
Ja, sie war schön! Daß sie das noch nie gesehen und gefühlt hatte! Sie hätte aufschreien mögen vor Freude und Lust. Noch einen Blick in den Spiegel, und dann warf sie sich auf ihr Lager.
In der Nacht träumte sie wirr und wachte oft auf. Am Morgen beim Aufstehen kehrten ihr die letzten Gedanken des Abends wieder. Bei der Toilette fragte sie den Spiegel wieder nach ihrer Schönheit. Wenn doch recht bald ein Ball käme oder sonst ein Fest! Aber da mußte sie wohl bis zum Winter warten. Nein, nicht so wie Käthe Zeisig und Leonore wollte sie gehen, das war zu arg. Doch ein wenig, so wie Maria Reiber und Frau Sorbing. O welche Lust, hübsch zu sein und sich bewundern zu lassen! Alles natürlich für Otto. Nein, nicht für die anderen, nur für ihn!
Während der heiligen Messe war sie sehr zerstreut. Deswegen ging sie nicht zur heiligen Kommunion. Morgen war Sonntag; da könnte sie ja heute beichten. Am besten jetzt gleich. Ein Beichtstuhl war besetzt. Sie ging hinüber.
Ja, was war denn nun los? Wann hatte sie zum letztenmal gebeichtet? Lag da nicht ein halbes Jahr dazwischen? Nein, am letzten Samstag noch zu Hause. Was war denn vorgekommen? Zerstreuungen im Gebet und bei der heiligen Messe, – ein wenig ungezogen gegen Papa – mit Leonore gezankt, – das Bild Leonorens gesehen, aber keine Freude dran gehabt, – einmal, zweimal gelogen, – und gestern abend und heute morgen eitel gewesen, – und die Liebe? War denn daran etwas Böses? Sie wollte doch einmal fragen. Ja, und wegen des Bildes wollte sie sich doch auch erkundigen. Sie betete das Reuegebet und ging in den Beichtstuhl.
Nach zwei Minuten kam sie wieder heraus. Sie verrichtete die Danksagung, betete die Buße und drei Vaterunser, daß Gott ihre Liebe behüte.
Nach dem Frühstück schrieb sie einige Briefe. Einen an den Vater, einen an Mère Ludowika, ihre Musiklehrerin aus dem Institut, und zwei an Freundinnen.
Um zehn Uhr kam Tante Edeltraud und Leonore: »Kind, wir müssen mit dir ausgehen, damit wir dir ordentliche Toilette besorgen; denn so wie Donnerstag kannst du nicht mehr bei Einladungen erscheinen.«
Martha erschrak. Sie dachte einen Augenblick an ihre Eitelkeit von gestern abend und heute morgen. War das auch alles recht, jetzt nach der Beichte? – Ach was! Fort mit den Grillen! Was Maria Reiber tut, darf ich auch. Und alle tun's doch. Und darf ich mich nicht freuen, wenn ich hübsch bin?
Tante Edeltraud führte Martha in eines der ersten Häuser. Vorläufig wollte man einmal ein Theaterkleid und zwei Ballroben bestellen. Das Mädchen war von jedem der vorgelegten Muster entzückt, und die Wahl fiel ihr schwer. Schließlich entschieden Tante Edeltraud und Leonore für sie, und sie gab sich zufrieden.
»Nur möchte ich hier oben etwas mehr...«
»Aber, gnädiges Fräulein!«
Martha wurde rot. Sie dachte an Käthe Zeisig und die Blicke, mit denen die Herren sie fixiert hatten.
»Nein, ich bestehe darauf.«
»Aber, gnädiges Fräulein, wir verderben die ganze Robe. Wir können das einfach nicht ändern.«
»Dann muß ich leider verzichten. Komm, Tante!«
»Gnädiges Fräulein, wir werden versuchen, was sich machen läßt; Sie werden zufrieden sein.«
»Ich bestehe also darauf. Sonst nehme ich das Kleid nicht an.«
Als man nach Hause kam, lag im Briefkasten eine Balleinladung für den nächsten Donnerstag abend ins Kasino der Schweren Reiter, anläßlich eines ehrenvollen Kommandos des Herrn Rittmeisters von Brandenstein nach Berlin. Brandenstein war in der Münchener Gesellschaft als leidenschaftlicher und äußerst fertiger Tänzer bekannt; deshalb hatte das Offizierkorps wohl den Ball ihm zu Ehren veranstaltet. Tante Edeltraud ging sofort ans Telephon und befahl dringend Marthas Robe bis Dienstag nachmittag zum Anprobieren.«
»Zu dienen, gnädige Frau, Dienstag nachmittag bitten wir Sie zur Probe.
Martha glühte. Sie hatte Glück. Offenbar war die Einladung Richards wegen erfolgt, der Freunde im Offizierkorps der Münchener Schweren Reiter hatte. Ob wohl Otto auch geladen ist? O sicher, das kann ja nicht anders sein. Sie sah sich schon im Geiste im Kreise der glänzenden Damen und Herren – als eine der Glänzendsten. Wieder stand sie vor dem Spiegel. Ja, sie war schön, und sie würde bewundert werden.
Beim Mittagessen verkündete Richard ihr: »Mädel, heute nachmittag gehst du mit auf den Tennisplatz. Ich will mit dir Furore machen. Donnerwetter, die Münchener Kameraden sollen sehen, was für ein allerliebstes Schneckerl ich zur Kusine habe.«
»Du wirst wieder fad, Richard. Ich geh nicht mit; ich kenne da ja niemanden. Oder gehst du auch mit, Leonore?«
»Ich habe heute keine Zeit, muß noch arbeiten.«
»Du wirst bald die Göttin auf dem Tennisplatz sein. Da brauchst du neben dir keine andere mehr zu haben. Aber beruhige dich, Maria Reiber kommt auch, die kennst du ja, wie ich meine.«
Richard legte auf jedes der letzten Worte einen besonderen Akzent und sah Martha von der Seite mit einem herausfordernden Lächeln an.
»O ja, ich habe sie ja letzten Donnerstag hier gesehen und sie schon am Morgen vorher durch Leonore kennen gelernt.«
»Kommt denn Otto Reiber auch?« fragte Leonore so nebenbei und mit der selbstverständlichsten Miene.
»Der wird doch seine Schwester nicht allein herumlaufen lassen. In dem Punkte ist der Alte malefizmäßig streng. Wundert mich überhaupt, daß er sie gehen läßt. Aber er wird wohl denken, daß das Mädel jetzt in der Vorbereitungszeit auf sein Examen auch ein bißchen Bewegung und frische Luft nötig hat.«
Um drei Uhr zog Richard in luftigem, weißem Tennisanzug mit Martha, die ein Waschkleid ihrer Backfischzeit aus dem hintersten Winkel ihres Schrankes herausgezogen hatte, los.
»Donnerwetter, Martha, du bist zum Küssen nett. Weißt du, die Zeisig ist doch schon arg abgeleckt. Du bist so frisch und appetitlich zum Anbeißen.«
»Geh weg, Richard! Wenn du so weiter sprichst, dreh ich um und geh wieder nach Haus.«
»Na, wenn man dich sieht, kann man ja von nichts anderem sprechen als von dir. Donnerwetter, weißt du, wenn man sonst ein schönes Weib sieht, muß man immer so um sie herumschleichen wie ein Kater mit erhobenem Schwanz und muß verteufelt tugendhaft tun. Aber wir kennen uns doch schon von Kindesbeinen an. Da darf ich dir doch sagen, wie mir ums Herz ist. Verdammt noch mal! In Landshut geh ich das ganze Jahr in Sack und Asche, rackere mich im Dienst ab und wenn man sich mal an einem frischen Mädel erlaben möchte, findet man keins. – Aber Kind, du machst ja ein entsetzliches Gesicht! Sind dir die Schuhe zu eng? Hast du dir den Fuß vertreten oder hast du Migräne?«
»Nein, nichts von dem! Du sprichst so schreckliches Zeug. Pfui, schäme dich!«
»Na, du kennst unsere Herrenwelt noch nicht, – wie sagte doch die Käthe? – du Unschuldchen. Ich rede wenigstens frisch von der Leber weg, was ich denke, die anderen drechseln nur feine Phrasen, die euch Mädel in die Nase steigen, sie denken aber genau dasselbe. – Na, da erzähl mir mal was aus dem Institut. Für welche Mère hast du denn geschwärmt? Hatte sie blaue oder schwarze Augen? Hast du auch das Ruban bleu bekommen oder gehörtest du zu den schlechten Kindern, die nie diese hehre Auszeichnung tragen dürfen. Du bist doch wohl Marienkind gewesen?«
»Das bin ich noch.«
»Ach, wie reizend, was Sie nicht sagen, gnädiges Fräulein! Und dabei verliebt bis über die allerliebsten kleinen Öhrchen!«
»Du bist wüst, Richard. Über solche Dinge spottet man nicht. Und wer hat dir gesagt, daß ich ...«
»Daß du verliebt bist, ganz sterblich verliebt in meinen lieben alten Freund Otto Reiber – na, das haben doch deine Augen genug gesagt am Donnerstag abend. Ich wette, Tante Therese rutscht seitdem in allen Kirchen auf den Knien herum und betet für deine lasterhafte Seele.«
»Aber ich bitt dich, Richard, ist das wahr? Hat die Frau Hofrat davon gesprochen?«
»Und ob! – Na, jetzt hast du dich ja verraten! – Heute morgen wollte sie Mutter besuchen, und da sie mich allein zu Hause fand, schenkte sie mir die Ehre und das Vergnügen, mich ein Stündchen zu unterhalten. Sie sprach natürlich von der Verdorbenheit und dem Leichtsinn unserer jungen Mädchen im allgemeinen und deiner Verliebtheit im besonderen.«
»Das ist nicht wahr, Richard!«
»Auf Ehre! Für diese Wahrheit stirbt der Christ!«
»Pfui, was sagst du da?«
»Mit jedem, der das Gegenteil sagt, schieße ich mich, Flachbahngeschütz, drei Meter Distanz.«
Martha wurde nachdenklich, dann reckte sie ihr Köpfchen in die Höhe: »Jetzt erst recht.«
»Na, Mädel, laß dir darüber keine Runzeln in dein hübsches Gesichtchen wachsen. – Wir sind am Ziel. Merk dir eins: Ich werde heute drei, vier Partien mit dir spielen, nur um die Käthe zu ärgern. Nachher laß ich dich dann schon auf Otto los.«
Martha wußte nicht, ob sie böse sein oder vor Freude auflachen sollte.
»Übrigens schau mal. Dahinten ist Käthe schon und ärgert die anderen Damen durch ihre verfluchten Posen. Schau mal, der Timpe frißt sie mit seinen Augen. – Timpe, paß auf, das gibt eine Schießerei!«
Martha schlug Richard mit dem Tennisschläger auf den Arm. Es kochte in ihr auf vor Wut. Aber sie konnte nichts mehr sagen, da sie der Gruppe schon zu nahe gekommen waren.
Allgemeines Vorstellen und Begrüßen der Bekannten. Otto war noch nicht da. Käthe faßte Marthas Hand:
»Ach, wie reizend sind Sie in Ihrem Backfischkleidchen! Sie werden uns heute alle ausstechen. Das ist etwas recht Pikantes für unsere Herren, so wie die ersten Radieschen im Frühjahr.«
»Da kommt Oberleutnant Reiber mit Schwester! Hurra, jetzt sind wir vollzählig. Nun kann's losgehen.«
Richard glückte es wirklich, mit Martha zusammenzukommen und Käthe zu Otto Reiber hinzuschmuggeln. Käthe hatte aber gemerkt, daß Richard sie ärgern wollte, und spielte geradezu ausgelassen mit Otto, um Richard zu reizen und zu locken. Martha war verwirrt und fehlte die meisten Bälle. Richards Kopf glühte, er paßte auch nicht auf und sah mehr zu Käthe hinüber, als ihm gut war. Schon nach der ersten Partie warf er den Schläger hin und schalt Martha:
»Nein, mit dir ist aber auch gar nichts anzufangen. Du mußt dich erst wieder einmal einspielen. Otto, willst du es nicht einmal mit meinem Kusinchen versuchen?«
Und Otto versuchte es, und Martha war selig. Sie sprang vor innerer Lust und ahnte nicht, wie die Blicke der Herren, die auf der Bank am Gebüschrand ausruhten, fast mehr auf ihren ungesuchten Reizen ruhten, als auf den Aufdringlichkeiten Käthes.
»Herr Kamerad, schauen Sie mal die Kleine! Rassiges Mädel. Möchte die in dem Kostüm der Zeisig sehen.«
»Merken Sie nicht, daß sie total in Otto Reiber verschossen ist. Kerl scheint aber keine Ahnung zu haben.«
»Ist die Kleine gut katholisch?« Dabei machte der Frager die Gebärde des Geldzählens.
»Ja, ich glaube, sie bringt ein nettes Sümmchen mit. Ihr alter Herr ist, wie ich höre, Großfabrikant in Mülhausen, sie die einzige Tochter, überhaupt die Einzige.«
»Da muß man sich mal ranpürschen. Kommt ja Donnerstag auf unseren Ball Brandenstein zu Ehren. Ganz exquisites Wild,« – dabei küßte er seine Fingerspitzen – »hat noch kein haut goût wie die Zeisig, wird's aber bald kriegen; die alte Trenkler und ihre Leonore sind ja nicht so.«
»Na, die Leonore! Ist zum Zahnreißen kriegen. Haben Kamerad schon bemerkt, wie sie zu jedem Ball mehr an Zeug spart?«
»Ist eine alte Geschichte! Junge Weiber, wenn sie hübsch sind, gehen mit ihrem Gesichtchen auf den Fang. Junge Weiber, wenn sie häßlich sind, und ältliche Damen müssen durch andere Sachen wirken.«
»Herr Kamerad, kaufen Sie sich einen Zylinder und schreiben Sie ein Buch über Frauenpsychologie; Sie reden ja weiser als Ben Akiba.«
Von den Türmen der Stadt her schlug es sieben Uhr. Da kam Maria von dem Platz her, wo sie gespielt hatte, und klatschte in die Hände.
»Holla, Otto, wollen wir nicht nach Hause gehen? Ich habe heute abend noch viel zu arbeiten.«
»Gewiß, ich komme gleich. Noch ein paar Bälle.«
»O Maria, laß uns noch eine Partie! Bitte, ja,« flehte Martha. Sie hätte so fortspielen mögen in alle Ewigkeit.
»Nein, Kind, ich muß unbedingt gehen. Es wird auch Zeit für dich, sonst kommen die Nachteulen und fressen dich.«
»Pah, Maria, bist du grausam. Nicht, Herr Oberleutnant, Ihr Fräulein Schwester studiert sich noch zu Tode.«
»Muß leider auch gehen, gnädiges Fräulein, habe auch noch zu studieren. Bin an der Vorbereitung für die Kriegsakademie.«
»Was ist denn das Gruseliges?«
»Ja, denken Sie sich, ich will noch mal auf die Schule gehen und dazu muß ich mich noch vorbereiten, um wenigstens das Abc für diese Schule zu wissen.«
Richard hatte Käthe verstohlen zugewinkt, und sie waren in den Park hinein verschwunden. Otto schaute sich um, aber nirgends waren sie mehr zu sehen.
»Dann bist du so freundlich, Maria, und begleitest das gnädige Fräulein nach Hause. Von der Theresienstraße gehst du dann wohl allein heim. Das bist du ja von der Universität aus gewöhnt. Ich muß sehen, daß ich Richard noch einmal treffe.«
Martha war enttäuscht. Sie hatte sich schon auf den Abendspaziergang mit Otto gefreut. War sie bis jetzt ganz Übermut gewesen, so wollte sie nun ganz Hingabe sein.
Wie männlich schön sich der Oberleutnant auch in dem Tennisanzug machte! Und wie seine Kraft und Geschmeidigkeit beim Spiel hervorgetreten war. Das war ein Mann, an den man sich anlehnen konnte, mit dem durchs Leben zu gehen eine Lust war.
Aber nun lagen ihre Hände zum Abschied ineinander. Martha hielt die seine einen Augenblick fest und drückte sie ein wenig. Auge ruhte in Auge. Dann ging sie mit Maria zur Stadt zurück. Aber in all ihre Seligkeit pochte eine Unruhe hinein. Sie hatte die Auseinandersetzung mit Maria vergessen; ganz andere Gedanken drängten sich zur Aussprache.
»Sag mir mal, Maria, ich habe heute so viel Komisches gehört und gesehen. Sind die Männer alle so?«
»Wie meinst du das?«
»Was ich meine? Nun, das kann ich nicht so klar sagen, wie ich es fühle. Aber Richard hat auf dem Weg zum Tennisplatz so ekliges Zeug geredet, daß mir ganz bange wurde. Und dann die Käthe und die anderen Damen. Das kam mir alles so komisch vor.«
»Ja, Kind, wie meinst du denn das?«
»Das kann ich nicht sagen, aber ... ich meine ... so der Verkehr ... und so ...«
»Ach, jetzt verstehe ich. Ja, die Herren haben keine anderen Gedanken als den Flirt, und die Damen auch. Die Damen wollen gesehen werden, wollen reizen, – ach Gott, die meisten meinen es ja nicht bös, sie sind nur dumm, – sie sind von Kind auf erzogen worden, Weibchen zu sein, sich ankomplimentieren und anhimmeln zu lassen, andere Gedanken haben sie nicht, vielleicht könnte doch einmal einer auf ihre mehr oder weniger feinen Kniffe dauernd hereinfallen. Die Herren haben auch nicht ein Quentchen Selbstbeherrschung. Und je mehr die Damen sie locken und sich ihnen an den Hals werfen, um so zudringlicher werden die Herren. Das ist vielen Damen und jungen Mädchen gar nicht bewußt, viel weniger ahnen sie, in welchen Vorstellungen sie in der Phantasie der Herren leben.«
»Woher weißt du das alles so bestimmt?«
»Nun, dann höre dir einmal die Gespräche der Herren an. Wenn die Damen wüßten, wie sie beurteilt werden –! Und beobachte einmal die Blicke! Ich möchte manchmal in den Boden sinken. Meinst du denn, bei den Damen sei nicht manches geradezu beabsichtigt? Hast du die Käthe Zeisig heute gesehen? Na, die Stellungen beim Tennis! Geradezu gemein!«
»Ja, dann weiß man ja schließlich nicht mehr, was man tun soll. In allem kann ja da irgend etwas gewittert werden.«
»Ganz recht. Wir können uns eigentlich nie natürlich geben. Überall verfolgen uns die Hintergedanken: ›Das paßt sich nicht, und das ist nicht schicklich.‹ Auf der einen Seite will man uns in einen Schraubstock stecken und auf der anderen uns zu Spielzeugen und Schlimmerem der Männer erniedrigen. Was ist denn die ganze moderne Courtoisie schließlich anderes als eine Beleidigung für uns? Warum sieht man in uns immer nur das Weib und nicht den Menschen, die Persönlichkeit? Man sagt, wir hätten keinen Verstand, keine Befähigung für einen wissenschaftlichen Beruf, weil man uns nur als Puppen gebrauchen will, und – da sind wir selbst schuld. Warum lassen wir zu, daß man mit uns spielt? Warum verlangen wir nicht, daß wir als Persönlichkeiten behandelt werden? Warum dulden wir, daß viele unserer Geschlechtsgenossinnen unser ganzes Geschlecht in den Kot ziehen?«
Maria hatte sich in Aufregung hineingeredet. Ihr Kopf glühte, und sie schlug sich mit dem Rakett bei jedem Schritt das Knie. Martha ging schweigend neben ihr. Das war eine neue Gedankenwelt für sie, die sie noch nicht recht verstand. War Maria nicht etwas einseitig und hart? Übertrieb sie nicht? Maria schien ihren unbewußten Gedankengang zu ahnen.
»Ach, ich weiß, daß ich hart urteile. Aber kann man anders, wenn man heute mit offenen Augen durch die Welt geht? Und als Medizinerin erfährt man doch so manches. Will man den Körper heilen, muß man auch die Seelen kennen. Ich fühle ja in mir selbst den ewigen Widerstreit: Auch ich möchte Weib, vor allem Weib sein. Auch ich habe oft die Versuchung, den ganzen wissenschaftlichen Kram an den Nagel zu hängen und das Weib in mir einmal durchgehen zu lassen.«
»Aber sind denn alle Männer so, wie du sie schilderst?« Martha war während der letzten Worte Marias ihren eigenen Gedanken, die seit den letzten Tagen ihr ganzes Sein beherrschten, nachgegangen, – »Otto doch nicht!«
»Nein, Otto ist ein Charakter, wie ich noch keinen zweiten getroffen. Aber es gibt deren noch viele, wenn auch die Mehrzahl unserer heranwachsenden Männer in den gebildeten Ständen, einschließlich des Kaufmannsstandes, Schürzenjäger sind. Sie arbeiten tagsüber, um abends – na – – schweigen wir davon ... sonst muß ich weinen vor Wut.«
Martha reckte den Kopf in die Höhe, ihre Augen leuchteten. Otto ist ein Held. Aber die andern! Sie senkte nachdenklich die Stirne.
»Aber das will ich dir sagen, Martha, wenn du dich so in deinen Schwarm verlierst, wie du es heute nachmittag wieder getan hast, dann geht dein Charakter in die Brüche. Du meinst doch hoffentlich nicht, aus deiner Schwärmerei würde etwas! Otto geht nächstens nach Berlin auf die Kriegsakademie, du wirst hier in die Gesellschaft eingeführt. Otto war der erste junge Mann, dem du eigentlich näher begegnet bist. Du verlierst ihn aus den Augen, und bald kommt ein anderer. Du machst dir natürlich vor, der sei der Richtige, das erste Abenteuer mit Otto sei nur so ein Schwarm gewesen, und dann liegst du schon in den Armen des zweiten und nachher eines dritten. Du bist noch sehr jung; wenn dann einmal die große Stunde echter, heiliger Liebe kommt, dann ist deine Liebeskraft aufgebraucht, dann bist du ein seelenkrankes, haltloses, innerlich abgebrauchtes Weibchen, das selbst kein Glück mehr findet und erst recht einen Mann nicht mehr beglücken kann, oder – – du setzest in der Ehe den vorher jahrelang geübten Flirt fort.«
»Maria, ich rate dir, einen Schauerroman zu schreiben.«
»Spotte nur! Ich kenne mehrere solche Fälle. Und wenn du dir einmal die jungen Mädchen auf der Straße anschaust, dann wirst du auf vielen Stirnen und in vielen Augen das geschrieben stehen sehen, was ich dir eben sagte. Das ist das tiefste Elend unserer jungen Mädchen- und Frauenwelt. Man sieht ihnen an, daß sie immer daran denken, gesehen und geliebt zu werden, – das heißt das, was sie unter Geliebtwerden verstehen.«
Martha schaute sich die vorübergehenden Mädchen, die aus den Bureaus und Geschäften kamen, und die flanierenden jungen Damen an. Ja, Maria hatte doch nicht so unrecht.
Vor ihr ging ein Paar. Sie meinte den Herrn zu kennen, wenigstens von Ansehen. War das nicht der Student, der bei ihr im Hause im dritten Stock wohnte? Er hielt ein Mädchen, offenbar eine Verkäuferin, an der Hand und redete eifrig auf sie ein. Das Mädchen trug den Kopf gesenkt. Jetzt hob es ihn hoch und fiel mit dem Begleiter in einen schnelleren Schritt. Nun bogen sie aus der Ludwigstraße in die Theresienstraße ein.
Maria blieb stehen. »So, Kind, jetzt findest du den Weg allein nach Hause. Verzeih mir meine Entrüstung; aber wenn ich an diese Dinge denke, kann ich mich nicht mehr halten; das Herz ist mir zu voll.«
»Nein, ich nehme dir nichts übel. Ich will über das, was du gesagt hast, gelegentlich einmal nachdenken. Du wirst aber verstehen, daß sich jetzt noch die Eindrücke und Gedanken in meinem Kopf jagen.«
»Dann gute Nacht bis auf Wiedersehen, wohl auf dem Ball am Donnerstag, nicht?«
»Ja, das ist wahr, da werden wir uns wohl treffen.«
Martha spähte die Straße hinunter nach dem Paar. Ah, da hinten gehen sie, sie erkannte das Mädchen an der roten Bluse. Wie glücklich muß doch das Mädchen sein, wie es so mit dem Studenten gehen darf! O, könnte ich doch auch mit Otto einmal so allein spazieren gehen!
Jetzt sind die beiden am Hause angelangt. Sie gehen hinein. – Aber das paßt sich doch wohl nicht! Ah, die werden nur gute Freunde sein, so wie Ada Lob neulich sagte. Also gibt es doch so etwas!
Martha ging schneller. Jetzt war auch sie im Hause und stieg die Treppe hinauf. Oben ging die Türe und schlug zu. Da befiel sie eine Unruhe, die sich bis zur Angst steigerte. Ein dunkles Ahnen kam über sie und ein Zittern.
Hatte das Leben ihr hier den Schleier von seinen Tiefen gelüftet?
Während des Abendessens war Martha sehr einsilbig und ernst. Ihre Gedanken waren bei Käthe Zeisig, den Herren von heute nachmittag und in der Studentenbude auf der dritten Etage.
Nach dem Essen zog sie sich gleich zurück mit der Entschuldigung, sie sei vom Tennis sehr müde. Tante und Leonore erhoben keinen Einspruch; sie waren voll und ganz mit den Journalen beschäftigt, die der Laufbursche der Buchhandlung immer am Samstag nachmittag brachte.
Auf ihrem Zimmer warf sich Martha in den niedrigen Korbsessel am Fenster, legte die Hände in den Nacken und träumte auf einen Punkt der roten Tapete hin.
Die Worte Marias hatten doch Eindruck auf sie gemacht, wenn sie ihr das auch nicht hatte eingestehen wollen. Sie hatte eine unbestimmte Furcht vor sich selbst. Wenn sie nun auch so würde wie Käthe Zeisig und die anderen Damen, die sie gesehen und die Maria ihr geschildert hatte? Aber wenn man das alles so tragisch nahm, wo blieb dann schließlich alle Lebensfreude? Man lebt doch nicht mehr im Institut.
Und ihre Liebe! Ja, die war heilig und rein und ideal. An ihr würde sie festhalten, mochte Maria sagen, was sie wollte. Das stille Glück mochte sie nicht missen. Wie sollte es überhaupt möglich sein, daß sie noch an einem anderen Menschen Gefallen finden konnte? Otto war doch der idealste, den sie sich zu denken vermochte. Nein, wenn er bis zum Nordpol ginge und zehn Jahre ausbliebe, sie würde ihm treu bleiben.
Nun brannte ihr wieder der goldene Schwarm in allen Gliedern, und sie griff zum Roman, den sie begonnen hatte, und las und las.
Ja, stand da nicht eine herrliche Widerlegung aller Bedenken, die Maria ihr vorgetragen? Und dachten nicht Tausende von gebildeten Menschen so wie der liebenswürdige Dichter, der nur die Gefühle seiner Mitmenschen aussprach? Allerdings, mancher Gedanke des Dichters ging wohl etwas zu weit. Aber dafür war es ja auch Kunst – und manches verstand sie nicht. Sie las den Abschnitt, das Hohe Lied auf die Liebe noch einmal, nahm ihr Tagebuch her und schrieb ihn ab:
»Wer darf einem Menschenherzen, wenn es liebt, ein Gesetz zur Hemmung der Liebe entgegensetzen? Wer darf so frevelnd sein, den Göttern der Liebe Geduld zu predigen, – Geduld, bis Heiratsscheine, Verlobungsanzeigen und Standesamtsbewilligung, Aussteuer, Möbel und Wohnung beschafft sind? Darf die Liebe nicht aufblühen über Nacht wie Rosen und Rotdornhecken im Mai? Darf die Liebe nicht eines Abends über Zwei Menschen kommen wie ein Sonnenuntergangsfeuer über den Atlant? Wie die Wärmewolke, die im Abenddunkel alle Wollust vom Tag in die Nacht hinüberträgt?«
Wie herrlich poetisch war das gesagt! Aber den folgenden Satz verstand sie nicht, er war auch nicht poetisch, deshalb überschlug sie ihn und fuhr fort:
»Aller Triumph der Gottheit Liebe wird gebrochen, wenn die Liebe nicht heimlich, göttlich überraschend und nicht selig unerwartet zwei Menschen hinter Maienhecken und im Abendtau überraschen darf. Ahnt die Menschheit nicht, daß sie die besten Menschen aus ihrer Gesellschaft verstößt, wenn sie impulsive, göttlich feurige Menschen zu kühlen Lebensrechnern umwandeln will?«
Den letzten Satz verstand sie wieder nicht; also schrieb sie ihn auch nicht ab.
Aber, das andere, war das nicht entzückend gesagt? Sie fühlte sich zum Dichter und zu den herrlichen, freien Menschen emporgehoben und schloß das Buch, um nicht in diesem süßen Bewußtsein gestört zu werden. Nur noch verstärken wollte sie ihre Stimmung und griff zu Zarathustra und suchte das Nachtlied, das ihr noch von neulich im Ohre lag. Sie las es wieder und wieder, und die Worte waren ihr Musik, die sie umstrickte und betörte, und die einzelnen Sprüche kamen ihr vor wie Wahrheiten aus der Heiligen Schrift, wenn sie ihren Sinn auch schwer verstand. Aber schön war es doch. Und sie schlug aufs Geratewohl ein anderes Kapitel auf und las:
»Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort sagen.«
Maria, das gilt dir!
»Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eigenen Leibe Lebewohl sagen – und also stumm werden. ›Leib bin ich und Seele‹ – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: ›Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe ...‹«
Fort damit, das ist ja abscheulich! Das ist ja nicht wahr! Wir haben doch eine Seele. So was darf man ja nicht lesen!
Und sie blätterte weiter, ein anderes Kapitel zu suchen, das so schön wäre wie das Nachtlied. – Ah, das war sicher schön:
»Vor Sonnenaufgang: Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend, schaudere ich vor göttlichen Begierden.«
Könnte das nicht unter Leonorens Capribild stehen?
»In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen – das ist meine Unschuld!«
Wie herrlich! Noch einmal!
»Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst du deine Sterne. Du redest nicht: so kündest du mir deine Weisheit. Stumm über brausendem Meere bist du heut mir aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet Offenbarung zu meiner brausenden Seele.«
Wie geistreich und poetisch!
»Daß du schön zu mir kamst, verhüllt in deine Schönheit, daß du stumm zu mir sprichst, offenbar in deiner Weisheit: Oh wie erriete ich nicht alles Schamhafte deiner Seele! Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Einsamsten. Wir sind Freunde von Anbeginn: Uns ist Gram und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam. Wir reden nicht zueinander, weil wir zu vieles wissen –: wir schweigen uns an, mir lächeln uns unser Wissen zu.«
O Otto, meine Liebe!
»Bist du nicht das Licht zu meinem Feuer? Hast du nicht die Schwester-Seele zu meiner Einsicht? Zusammen lernten wir alles; zusammen lernten wir über uns und zu uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln: – – wolkenlos hinablächeln aus lichten Augen und aus meilenweiter Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen dampfen. Und wanderte ich allein: weß hungerte meine Seele in Nächten und Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht dich, auf Bergen? Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Not war's nur und ein Behelf des Unbeholfenen: – fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hineinfliegen! Und wen haßte ich mehr, als ziehende Wolken und alles, was dich befleckt? Und meinen eigenen Haß haßte ich noch, weil er dich befleckte! Den ziehenden Wolken bin ich gram, diesen schleichenden Raub-Katzen: sie nehmen dir und mir, was uns gemein ist, – das ungeheuer unbegrenzte Ja- und Amensagen. Diesen Mittlern und Mischern sind wir gram, den ziehenden Wolken: diesen Halb- und Halben, welche weder segnen lernten, noch ...«
Die Augen fielen Martha zu, sie verstand schon lange nichts mehr, sie hörte die gelesenen Worte wie aus weiter Ferne. Mit Gewalt riß sie sich zusammen und las weiter. Wo war sie doch? Ah, da:
»Diesen Halb- und Halben, welche weder segnen lernten, noch von Grund aus fluchen. Lieber will ich noch unter verschlossenem Himmel in der Tonne sitzen, lieber ohne Himmel ...«
Bums, da stieß sie mit der Nasenspitze auf das Buch. Die Augen waren ihr wieder zugefallen und der Müdigkeitsschweiß stand ihr auf der Stirne.
Nun klappte sie das Buch endgültig zu und ging zu Bett, immer noch den Rhythmus und den feierlichen Klang der Sprache in der Phantasie.
Unterdessen saß Leonore in ihrem Samstagsklub in der Türkenstraße. Allerdings im tiefsten Inkognito. Die Mutter wußte nichts davon, und in ihrem Bekanntenkreis gab es niemand, der etwas ahnte.
Es war ein gemütliches Kränzchen von geistreichen Leuten, die sich gut verstanden: Künstler, Studenten und Herren und Damen, die sich für Kunst und Wissenschaft interessierten. Man trank Grog oder Tee mit einem reichlichen Guß Rum oder Rotwein oder Sekt, je nach Belieben, und Kaffee. Die Herren kamen in Frack und Smoking, die Damen in großer Toilette. Leonore hatte ihr Kleid bei Ada Lob aufbewahrt, die im selben Hause wohnte, und ehe sie zur Gesellschaft hinüberging, zog sie sich dort um.
Herr Dr. Heinrich Knopp, von dem seine Intimen tuschelten, er gehe demnächst zur Bühne über, war der Matador, und an seine Seite im Sofa lehnte sich Frau Gertrud Sander. Trotz der großen Gesellschaft fühlten sich die beiden hier ganz unter sich. Man gönnte den Leutchen ihre Liebe und ihr Beieinandersein und kannte das Verhältnis, in dem Ada Lob zu Herrn Dr. Sander lebte.
Alle Herren und Damen standen natürlich untereinander auf du, denn man wollte sich hier ganz ungeniert und kameradschaftlich geben, so wie man wirtlich war und nicht eingeschnürt in die Fesseln der gesellschaftlichen Formen, in denen man sonst als »Herr« und »Dame« auftreten mußte.
Leonore hatte hier einen allerliebsten kleinen Flirt mit Fredi Wunsch, dem geistreichen Zeichner eines der bedeutendsten illustrierten Blätter für Kunst und Leben. Fredi war noch sehr jung und enthusiastisch mit seinem bartlosen Mädchengesicht. Er betete Leonore an und war rasend vor Glück, wenn er auch nur ihre Hand küssen durfte. Nur eine Bedingung hatte Leonore seiner Liebe gestellt: er durfte sie bei einer eventuellen Begegnung auf der Straße nicht grüßen, das könnte sie kompromittieren.
Man sprach über ästhetische, philosophische und literarische Fragen, erfand neue Techniken, verdammte alles, was die Vorfahren geleistet hatten, in Grund und Boden und stellte bei jeder Zusammenkunft neue, grundstürzende, epochemachende Theorien und Probleme auf.
Um ein Uhr war Schluß der Sitzung. Fredi durfte Leonore bis an die Ecke der Theresienstraße begleiten und ihr noch einmal die Hand küssen – mehr erlaubte sie nicht – und dann ging das Mädchen, in den Abendmantel und Schal gemummt, allein nach Hause.
Natürlich war sie auf Frau Amtsgerichtsrat Forstners literarischem Abend gewesen, der immer so entsetzlich lange dauerte, und Herr Amtsgerichtsrat hatte sie bis an die Schwelle des Hauses begleitet.
Am anderen Morgen sagte Frau Trenkler zur Tochter beim Frühstück: »Du kannst vielleicht nächstens Martha einmal zum literarischen Abend mitnehmen. Sie kann da recht viel Anregendes hören und sich bilden.«
»Ach nein, Mutter, das ist doch zu anstrengend für das Kind, und sie wird das meiste nicht verstehen. Sie muß sich hier sonst erst einleben und etwas mehr gelesen haben.«
In einer lauschigen Loge des Cafe Reimer saß unter grün beschirmter elektrischer Lampe ein vertrauliches Paar und trank Pommery: Käthe Zeisig und Richard Trenkler.
Sie saß dicht an ihn gelehnt und er führte immer wieder sein Glas an ihre Lippen; sie lachte und schaute ihn schmachtend an, und dann küßten sie sich. Ein hinter Lorbeerbäumen und Palmen verstecktes Streichorchester spielte schluchzende Weisen französischer und italienischer Herkunft und Walzer aus Lehárschen Operetten. In allen Logen saßen ähnliche Pärchen, auch offenbar solche, die eigentlich anders zusammengehörten. »So, Mädel, jetzt bring ich dich nach Haus. Ich habe nämlich keinen Zehner mehr. Gib mir noch einen Kuß und dann los.«
Er warf ihr den Abendmantel um und hüllte sich bis zur Unkenntlichkeit in einen weiten englischen Überzieher und großen Schlapphut. So stapften sie Arm in Arm hinaus.
»Donnerwetter, wenn jetzt nur eine Droschke käme! denn so kannst du doch deinem Alten nicht von dem Ball bei Semlers nach Hause kommen.«
Sie standen eine Weile und warteten. Da hallten Pferdehufe durch die Nacht, und ein einsamer Fiaker kam angerollt. Richard schob Käthe schnell hinein und schlug die Wagentüre zu.
»Gute Nacht, mein Schneckerl, schlaf gut; ich bin zu Fuß schneller zu Haus.«
Der Wagen rollte davon, Richard zog den Kragen höher und ging in die Nacht hinein, aber – nicht nach Hause.
Bei Oberstabsarzt Zeisig war noch Licht.
Käthe erschrak. Hatte der Alte und die Alte doch ihr Fortgehen bemerkt? Das gab wieder ein schönes Donnerwetter! Alle Heiligen Gottes, nun hatte sie auch den Hausschlüssel verloren oder vergessen! Sie schellte. Ein Krachen auf der Treppe. Papa selbst! Nun ging er vor ihr die Treppe hinauf. Oben führte er sie in sein Arbeitszimmer.
»Wo bist du gewesen allein?«
»Bei Oberforstrat Semler auf dem Ball.«
»So, du gehst ohne Begleitung und ohne deinen Eltern etwas zu sagen auf den Ball und kommst allein wieder nach Hause? Was denken die Leute von dir?«
»Was sie denken? Hm, daß ihr mich hier versauern lassen wollt und daß ich schließlich kein kleines Kind mehr bin. Diese ganze Woche bin ich nur einmal abends ausgewesen zu Trenklers. Ihr wolltet mich ja nicht mehr gehen lassen, da bin ich selbst auf eigene Faust gegangen. Ich lasse mich von euch nicht blamieren, daß ich auf Schritt und Tritt gegängelt werde. Wenn ihr mich so noch länger tyrannisiert, gehe ich eines Tages einfach los, merkt euch das.«
Damit wandte sie dem Vater den Rücken und schlug die Türe hinter sich zu, daß der Schlüssel klirrend ins Zimmer fiel. Daraufhin kam die Mutter im Nachtgewand herein:
»Was hast du wieder mit dem Kind? Ich hab es dir ja gesagt, du versauerst ihm das Leben. Laß ihm doch ein bißchen Jugendlust. Heute ist eben die Jugend anders als in unseren jungen Jahren. Auch Käthe wird sich bald ausgetobt haben.«
»Ich will dir etwas sagen, Barbara: wenn es jetzt nicht ein Uhr in der Nacht wäre, holte ich Käthe so wie sie ist aus ihrem Zimmer und schlüge die Reitpeitsche auf ihr in Stücke. Ich will als Vater nicht schuldig daran sein, wenn aus dem Mädel nichts wird. Bis heute hab ich dir immer nachgegeben; jetzt hört's aber auf. Gute Nacht!«
Käthe hob ihren Hund aus seinem seidenen Himmelbett und küßte ihn auf die Schnauze. Dann setzte sie ihn auf ihr Bett und machte sich zur Ruhe fertig. Als sie unter der Decke lag, kroch Bussi mit unter und legte sich auf Käthes Schulter, so daß sein Kopf neben des Mädchens Kopf herausschaute.
»So, Bussi, schlaf gut. Gelt, wir zwei verstehen uns!«