Christoph Martin Wieland
Sympathien
Christoph Martin Wieland

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14.

Schon oft hat meine Seele, o J***, im Verborgenen geseufzt, daß die Religion, die einzige Glückseligkeit des unsterblichen Menschen, so wenig wahren Nutzen auf unserm Erdboden bringt! Wir nennen uns vernünftige Geschöpfe; wir glauben einen Gott, der sich uns mit unaussprechlicher Güte geoffenbaret hat; wir glauben, daß die Quelle aller Seligkeiten uns so nahe sey, als unser eignes Wesen; wir glauben, daß ein nach Gott gebildeter, unsterblicher Geist in dieser Hütte von Staub wohne; wir glauben eine entscheidende Ewigkeit: – und doch schlafen wir und verträumen 56 die kostbare Zeit, die Zeit, die uns so lieb seyn sollte, als unser Leben. Uneingedenk der Ewigkeit sehen wir dieses Leben für unsern Endzweck an. Und was für ein Leben? Eine Kette von äußerlichen und selbstgemachten Plagen; eine Kette von Sünden, die wir oft mit prächtigen Namen schminken und zu Tugenden adeln wollen. Denn, obgleich die Menschen einen Gott glauben, ist doch die Erde ein Schauplatz der Ungerechtigkeit; ein Feld, wo sie mit ihren Leidenschaften gegen die göttlichen Gesetze ausziehen und gleich den gefabelten Riesen einen unsinnigen Krieg mit dem Allmächtigen wagen. Ach, J***, wie wäre das möglich, wenn jene großen Wahrheiten geglaubt würden! Nein, es ist ein bloser Schall, es sind Worte ohne Kraft und Leben, was die Bethörten Glauben nennen! Der Erlöser wird keinen Glauben finden, wenn er bald, allzubald für die Elenden, die über ihr Elend frohlocken, als Richter wieder kommen wird. Die Religion, unser Ruhm, unsre Stärke, unser Trost, unsre Hoffnung, unser Alles, ist für den größten Theil des menschlichen Geschlechts ein Name, wie Ehre oder Tugend. Blinde Leidenschaften, schändliche Irrthümer, die ihren anarchischen Scepter über alle Reiche des Erdbodens ausstrecken, diese sind unsre Götter, diesen opfert der Mensch und überläßt dem Himmel die Ehre, seinen Schöpfer anzubeten.

Schaudert nicht dein Herz, du frommer Menschenfreund, vor diesem beweinenswürdigen Gedanken? Dringt nicht eine Thräne in dein Auge? Empfindest du nicht, wie ich, eine sehnsuchtsvolle Begierde, – o, dieß ist noch zu wenig! einen glühenden Eifer, eher alle deine Kräfte zu verzehren, als zu leiden, daß deine Brüder ungestört, ungewarnet, unerweckt in dieser tödtlichen Trunkenheit forttaumeln, bis sie 57 unvermerkt und plötzlich in die Ewigkeit hinabstürzen, wo sie zu spät erwachen werden? Ja, du empfindest ihn, diesen heiligen Eifer, und ich bin stolz, daß ich dir nachempfinden kann, obgleich schwächere Kräfte meine Bestrebung hemmen und mir wenig mehr als Wünsche übrig lassen; Wünsche und Betrachtungen über die Quellen dieses Elends, welchem abzuhelfen Geister von deiner Stärke berufen sind.

Irre ich mich, oder ist es wahr, was mich eine ernste Erwägung der Sache glauben macht, daß die Schuld auf denen liege, die entweder das Amt von der Natur und Vorsehung empfangen haben oder, ohne einen solchen Beruf, es sich selbst anmaßen, die Lehrer der Menschen zu seyn? Durchlauf einmal das unzählbare Heer der Menschen, die sich zu dieser Classe rechnen, und zähle die Wenigen, die, von einem edeln, heiligen Eifer für das Beste der moralischen Welt getrieben, ihre Gabe dazu anwenden, die Kunst, zu leben, die Wahrheit, welche glücklich macht, das Christenthum, welches die höchste Weisheit ist, mit Muth und Nachdruck zu lehren? Welch eine kleine Zahl gegen die aufgedunsenen Geister, die mit großer Bestrebung große Kindereien zuwege bringen. Doch immerhin mögen diese falsch berühmten Weisen durch die Gegenstände und die Art ihrer Beschäftigung beweisen, daß sie sich selbst zu nichts Besserm tauglich fühlen: aber womit sollen wir die Saumseligkeit derjenigen entschuldigen, die den höchsten Beruf und, wie man fordern kann, die größte Geschicklichkeit haben, den Wahrheiten, die uns glücklich machen, den Zugang zu dem menschlichen Herzen zu verschaffen? Doch was sage ich? Ein großer Theil derselben ist nur allzu geschäftig; aber ihre Arbeit ist schlimmer als Müßiggang. Das Wahre verliert unter ihren Händen allen Reiz, es verschwindet in ihren Zusätzen 58 und die göttliche Weisheit wird auf ihren ungeweihten Lippen zu Thorheit. Laß mich eine große Wahrheit, obgleich nicht zum erstenmal, von neuem predigen: »Die meisten Moralisten und Lehrer der Religion haben der Tugend und dem Christenthum mehr geschadet, als das ganze Geschmeiß der Spötter und Zweifler.« Diese sind erklärte Feinde, jene sind es heimlich, ja oft, ohne es selbst zu wissen. Sie gleichen hierin unsern Sophisten, die immer mit dem hochtönenden Wort Wahrheit klappern, ob es ihnen gleich bei ihren müßigen Speculationen nicht besser ansteht, als vor Zeiten den Jüngern des Kerinthus oder MarcionKerinthus oder Marcion – Den Ersten scheint der Evangelist Johannes noch gekannt zu haben, der zweite lebte in der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus. Beide gehören der Religionspartei der Gnostiker an, deren Hauptstreben in einer Vereinigung der zoroastrischen und christlichen Religion bestand, wobei die Phantasie meist ganz zügellos, besonders in Schöpfung einer Geisterwelt und deren Handlungen, wirkte, weßhalb es kein Wunder war, daß man unter dem Namen der Gnostiker – wie Henke sagt – die seltsamsten Geschlechter von Fanatikern, metaphysischen und moralischen Adepten, Traumdeutern, Beschwörern und Geistersehern, verrückten Theosophen, Astrologen und Gauklern zusammenfaßte. Die beiden Genannten waren keineswegs die schlimmsten darunter. Wieland dachte wohl zunächst an die Vorschrift für die Marcioniten, sich der Fleischspeisen, des Weines und des Ehestandes zu enthalten, um mit der Materie so wenig als möglich gemein zu haben, was andere Parteien, vielleicht auch nicht ganz unparteiisch, ihnen nicht nachrühmen wollten., die Geistigkeit der Engel zu affectiren, da sie sich inzwischen in allen Gräueln der heidnischen Unreinigkeiten herum wälzten.

O, wie selten finden wir richtigen Verstand mit herzgewinnender Beredsamkeit gepaart, um uns die Wahrheit in ihrer echten Gestalt entgegen zu führen und sie so sichtbar zu machen, daß sich auch der Wildeste nicht erwehren kann, von ihr gerührt zu werden! Wie selten ist ein J***, dessen Herz empfindet, was sein erleuchteter Geist denkt; dessen Schriften von den edelsten Empfindungen überfließen; der uns die Religion, welche insgemein zu einer sauren Pflicht gemacht wird, als ein Paradies der Seelen, als eine Quelle von Freuden und von Hoffnungen, die alle Freuden übertreffen, als eine Uebung in der Vollkommenheit und eine Mutter jeder Tugend anpreiset; der uns empfinden macht, daß, die tiefste und zärtlichste Achtung für Gott zu hegen, ein englisches Vorrecht und eine englische Seligkeit ist; der uns den Christen so schildert, daß der Mensch nach keiner höhern Ehre streben kann, als ein Christ zu werden, und die Hoffnungen des Christen so reizend, daß sie auch den grimmigsten Schmerz und die bitterste Todesqual lächeln 59 machen können! – Laß mich es noch einmal sagen, mein ehrwürdiger Freund, wie selten ist ein solcher Geist! Und wie gerecht ist das Verlangen der Seelen, die durch ihn erleuchtet, gestärkt, erquickt worden, daß er nie aufhöre, mit so glücklichen Gaben ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu seyn! O, wie geschäftig sind die kleinen Geister, die, gleich Ramsays feindseligen GestirnenWenn hier nicht der schottische Baronet Andreas Michael von Ramsay gemeint ist, dessen Voyages de Cyrus (die Reisen des Cyrus, Basel 1779) zuerst im J. 1730 erschienen – ein für ihre Zeit merkwürdiges und noch jetzt interessantes Werk –; so weiß ich nicht, welchen Ramsay Wieland gemeint haben möchte. Mir scheint, daß er aus dem zweiten Buche des genannten Werkes die Stelle im Sinne hatte, wo Zoroaster dem Cyrus die Beschaffenheit von der Sphäre Ahrimans berichtet, zu welcher die sieben Planeten gehören, von Geistern bewohnt, die auf jedem Planeten eine eigenthümliche verdorbene Natur haben, die aber sämmtlich feindselig gegen Ormuzd sind., nur dienen, den Glanz der Wahrheit zu verdunkeln, wie geschäftig sind sie, Alles um sich her in Verwirrung zu setzen! Sollen die Kinder des Lichts sich von diesen Nachtvögeln in Eifer und Thätigkeit übertreffen lassen? Ferne, ferne sey es von uns, daß wir jemals träge werden an der Beförderung des großen Werks zu arbeiten, worin wir höhere Geister zu Mitarbeitern haben! – oder daß die erleuchteten Liebhaber der Wahrheit weniger zu ihrer Ausbreitung thun sollten, als Feindselige oder Unverständige zu ihrem Schaden!

Und was kann ein Geist, wie der deinige, thun, das ihm selbst mehr Zufriedenheit geben könnte, als unsterbliche Seelen von den Blendwerken ihrer Meinungen und Leidenschaften zu entzaubern und sie ihren Bestimmungen zuzuführen? sie mit einer süßen Gewalt zu nöthigen, daß sie das liebenswürdigste Wesen – wie matt ist dieser Ausdruck! – das Wesen, welches allen andern ihre Schönheit, ihre Güte, ihre Vortrefflichkeit gibt, lieben und aus Liebe sich nach ihm bilden! Welch eine entzückende Vorstellung muß es dir seyn, so viele Seelen, die du nicht kennst, weil Raum und Zeit sie noch von dir entfernen, dir zu verpflichten und von denen, die jetzt noch ungeboren sind, gesegnet zu werden! noch nützlich zu seyn, wenn dein Leib längst vermodert ist, und dein vollendeter Geist in höhern Sphären wallet! Gibt es für einen Menschenfreund einen süßeren Gedanken? Ich 60 weiß, daß diese Empfindungen mit den deinigen übereinstimmen. Kleinen Seelen sind sie lächerlich. Die Erfahrung lehrt uns, wie fruchtlos es ist, solche Insecten durch großmüthige Beweggründe in eine nützliche Geschäftigkeit setzen zu wollen.

Sollen wir aber darum müde werden und den Thoren das Feld einräumen? Sollen wir schweigen, damit sie ungestört lärmen können? Sollen wir ruhig zusehen, daß die schönsten Gaben der Natur geschändet werden? Soll der Witz, dieser buntscheckige Thor, immer über die Vernunft triumphiren, und nur derjenige lächerlich seyn, der die Rechte der Wahrheit und Tugend behauptet? – Nein! so feig sind wir nicht, die gute Sache zu verlassen, aus Furcht zu verstummen oder aus Ueberdruß einzuschlummern. Je weniger deren sind, die mit uns zu gleichem Zweck arbeiten, je weniger wir Früchte von unserer Arbeit sehen, desto mehr ist es nöthig, daß wir alle unsere Kräfte in Bewegung setzen. Je mehr die Thorheit Eroberung macht, desto nöthiger ist's, daß die Vernunft ihre ganze Macht aufbiete. Der Feind alles Guten wird durch Erfahrung immer klüger. Da er sah, daß die erklärten und erbitterten Feinde der Tugend und des christlichen Glaubens nur dazu dienen, den Triumph derselben herrlicher zu machen; so hat er sich klüglich entschlossen, auf einem leichtern und verdecktern Wege zu seinem Zweck zu kommen. Er verwandelt sich bald in den Bacchus, bald in den Cupido, bald in einen unflätigen Satyr und begeistert die witzigen Jünglinge unserer Zeit, uns scherzend und singend um den Geschmack der Tugend zu bringen, die lüsternen Triebe der ausgearteten Natur mit einem Schein von Sittlichkeiten zu schmücken und einer Sittenlehre, die epikurische Theologie voraussetzt, die Reizungen der Trägheit 61 und Wollust zu leihen. Je einnehmender diese Verführer sind, desto mehr ist es nöthig, daß solche Geister, die, wie du, das Geheimniß, zu gefallen und das Herz zu rühren, wissen, die ungeschminkte und ungeborgte Schönheit der Tugend und die höhern Reizungen der göttlichen Wahrheit anpreisen; daß sie den Mißbrauch des Witzes durch den rechten Gebrauch desselben wieder gut machen, und die Grazien, die allzulange Sklavinnen der wollüstigen Göttin gewesen sind, wieder in ihr gehöriges Amt, als Aufwärterinnen der Weisheit, einsetzen.

 


 


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