Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7.

Rousseau ist nicht dieser Meinung. Er sieht den Uebergang aus dem Stande der Natur in den Stand der Policirung als eine Sache an, die von allen Seiten mit unübersteiglichen Schwierigkeiten umgeben ist. Er kann nicht begreifen, wie ein Mensch zuerst habe auf den Einfall kommen können, ein Weibchen für sich selbst zu behalten, eine Hütte für sie zurechte zu machen und der Vater von seinen Kindern zu seyn? – Oder wie etliche Menschen auf den Gedanken hätten gerathen können, Gesellschaft mit einander zu machen und anders, als nach Verfluß vieler tausend Jahre, eine so tiefsinnige Wahrheit zu ergründen, als diese ist: daß vier Arme mehr vermögen als zwei, und vier und zwanzig mehr als vier. In diesem Stücke scheint es ihm (ohne Vergleichung) wie dem berühmten Sultan Schach-Baham zu gehen, der immer über die alltäglichsten Sachen zu erstaunen pflegte und nichts so gut begreifen konnte, als was am unwahrscheinlichsten war; ein Beispiel, daß Witz und Dummheit auf ihrem äußersten Grade einerlei Wirkung thun.

Rousseau hätte vieler Bemühung des Geistes bei dieser Gelegenheit überhoben seyn können; denn wer in der Welt wird ihm die Folgen streitig machen, die er aus seiner Hypothese zieht? – Die Hypothese selbst ist es, was wir ihm geradezu wegleugnen. Ganz gewiß würde das wilde, ungesellige, 177 dumme, Eicheln fressende Thier, daß er seinen Menschen nennt, in Ewigkeit keine Sprache erfunden haben, wie die Sprache Homers und Platons ist. Wer wollte sich die Mühe geben, einen solchen Satz erst durch tiefsinnige Erörterungen zu beweisen? Das heißt die Gründe weitläufig aus einander setzen, warum, vermöge der Gesetze der Mechanik, ein Gichtbrüchiger schwerlich jemals auf dem Seile tanzen lernen wird. – Schade um alle die schönen Antithesen, die er bei dieser Gelegenheit spielen läßt!

Doch, wir wollen ihm nicht Unrecht thun: es ist sein ganzer Ernst; er sieht alle diese ungeheuren Schwierigkeiten wirklich, von denen er spricht, und sie müssen wohl gewiß entsetzlich in seinen Augen seyn, weil sie ihn beinahe dahin bringen, seine Zuflucht zu einem Deus ex machina zu nehmen. Gleichwohl würden alle diese Phantome auf einmal verschwunden seyn, wenn er nur diese zwei Sätze, die einfachsten von der Welt, weniger unnatürlich gefunden hätte:

»Daß die Menschen, aller Wahrscheinlichkeit nach, von Anfang an in Gesellschaft lebten – und von allen Seiten mit natürlichen Mitteln umgeben sind, die ihnen die Entwicklung ihrer Anlagen erleichtern helfen.«



 << zurück weiter >>