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Camilla allein.
Wenn nicht ein unglückliches Verhängniß die schönsten Anscheinungen zunichte macht, so wird diese Stunde das Ende der Widerwärtigkeiten des Porrettischen Hauses und der Anfang neuer glücklicher Zeiten seyn. – Ich sehe den Pater Marescotti; er kommt zu gelegner Zeit.
Der Pater Marescotti. Camilla.
P. Marescotti. Wie befindet sich Ihre junge Gräfin, Camilla?
Camilla. Ihre Besserung übertrifft unsere Hoffnung. Die Wiederkunft des Chevaliers hat die Wirkung gethan, die ich allezeit vermuthet hatte. Warum mußte man doch so lange zögern, ein Mittel zu ergreifen, das der jungen Dame und ihren Verwandten so viel Trübsale erspart hätte! Sie ist, seitdem sie Herrn Grandison gesehen, ganz verändert. Ihr Gesicht heitert sich wieder auf, und in ihren Begriffen und Reden findet sich immer mehr Zusammenhang. Sie erinnert sich wieder des Vergangenen und nimmt Antheil am Gegenwärtigen. Es ist wahr, sie ist noch immer dunkel und nieder geschlagen. Zuweilen scheint sie in ihre alte Schwermuth zurück zu fallen; sie sucht die Einsamkeit; sie spricht oft mit sich selbst oder mit einem Abwesenden, der (wie es scheint) ihrem Herzen allezeit gegenwärtig ist. Aber diese Anstöße ihrer ehemaligen Krankheit dauern nicht lange; und wir hoffen, daß sie ihre völlige Gesundheit erhalten haben werde, ehe sie noch die Gemahlin des Herrn Grandison ist.
P. Marescotti. Dank sey der wohlthätigen Macht, die mit unsichtbaren Händen an unserm Glücke arbeitet und sich oft dessen, was wir für die größten Uebel halten, als Mittel zu ihren wohlthätigen Absichten bedient! – Aber ich besorge, die Familie sey zu voreilig, sich der Hoffnung zu überlassen, die sie von dem Chevalier gefaßt hat. Er ist ein hartnäckiger Mann.
Camilla. Ein großer Theil ihrer Hoffnung beruht auf Ihnen, ehrwürdiger Herr! Gehen Sie in den Garten! Seine Eminenz, der Bischof, und Herr Grandison erwarten Sie daselbst. Sie sollen den letzten Versuch machen, den Verstand des Chevaliers zu besiegen. Sollte es mißlingen, so wird sein Herz, welches großmüthig und zärtlich ist, einer Probe ausgesetzt werden, der es nicht wird widerstehen können.
P. Marescotti. Der Himmel gebe, daß der Ausgang unsern Wünschen gleich sey. (Geht ab.)
Camilla. Belvedere.
Camilla. Mich dünkt, ich sehe den Grafen von Belvedere kommen. – Ja, – er ist es, den sein böses Gestirn hieher führt, sein Unglück zu erfahren.
Belvedere. Ich höre seltsame Neuigkeiten. Das ganze Haus ist in Bewegung, und Einer flüstert dem Andern ins Ohr, die Gräfin Clementina werde in Kurzem mit Herrn Grandison vermählt werden. Wenn dieß wahr ist, so ist mein Unglück gewiß. – Aber, beim Himmel! ich will nicht allein unglücklich seyn!
Camilla. Wie sehr beklage ich Sie, gnädiger Herr! Ihre Verdienste sind eines bessern Schicksals würdig. Aber wollen Sie mit dem Verhängniß streiten? Es ist in dieser ganzen Sache etwas Fatales, eine wunderbare Verwicklung von Umständen, die von einer unsichtbaren Hand herrührt und (wie es scheint) von ihr allein wird entwickelt werden. Sie können Niemand anklagen, wenn Sie gerecht seyn wollen. Euer Gnaden verzeihen, daß ich so freimüthig spreche.
Belvedere. Sie haben nicht nöthig, Camilla, mich an etwas zu erinnern, woran mich mein Herz zu meiner Qual nur allzu oft erinnert – Das Leben wird mir zu einer unerträglichen Bürde – O, warum ist es nicht erlaubt? – Doch ich werde bald wissen, was erlaubt ist! Die Markgräfin hat mir eine Unterredung bewilligt, und ich bin hier, die Entscheidung meines Schicksals zu vernehmen.
Camilla. Hier ist sie, gnädiger Herr! Ich entferne mich. (Sie geht ab.)
Die Markgräfin. Belvedere.
Belvedere. Verzeihen Sie, gnädige Frau! – Mein Unglück macht mich ungestüm. – Der Himmel wolle, daß die Verzweiflung mich nicht verwegen mache!
Die Markgräfin. Die Unterredung, die ich Ihnen zugestanden habe, Herr Graf, soll Ihnen ein zureichender Beweis meiner Freundschaft seyn.
Belvedere. Wenn nicht diese Achtung, deren Euer Gnaden mich würdigen, mir noch einen Strahl von Hoffnung übrig ließe, so weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre! – Haben Sie Mitleiden mit mir, gnädige Frau! – Himmel! wie unglücklich bin ich, daß ich dasjenige als eine Gnade erflehen muß, was die bitterste Kränkung des menschlichen Stolzes ist! – Ehemals, gnädige Frau, hielten Sie mich der Ehre nicht unwürdig, mit Ihrem Hause verbunden zu werden. Ich bin mir nicht bewußt, etwas gethan zu haben, das eine Aenderung Ihrer guten Meinung von mir erfordert hätte. – Doch, was sage ich? die Rede ist nicht von meinen Verdiensten. Ich habe deren nicht genug, um darauf zu trotzen, und ich könnte niemals genug haben, um des Besitzes einer Clementina würdig zu seyn. Auf Ihre Güte, gnädige Markgräfin, auf Ihre Freundschaft, auf Ihr Mitleiden gründet sich alle meine Hoffnung. Ich liebe Ihre Clementina, liebe sie bis zur Anbetung. Umsonst habe ich versucht, eine Leidenschaft zu besiegen, die eine so englische Vortrefflichkeit zum Gegenstand hat; ich kann ihr bezauberndes Bild nicht aus meiner Seele reißen. Ich kann nicht ohne Ihre Tochter leben, gnädige Frau, es ist unmöglich! Der Tag, der ihre Hand einem Andern geben wird, wird der letzte meines Lebens seyn – Sehen Sie dieß nicht als die eitle Drohung eines Liebhabers an. Ich kenne mein eigenes Herz. Es hat nie geliebt, ehe es die göttliche Clementina kannte. Aber seit diesem Augenblick ist sie mir mehr als Alles. Das Glück, wie verschwenderisch es auch gegen mich gewesen ist, hat nichts für mich gethan, wenn es mir diejenige versagt, für die ich, wenn sie in einer Hütte geboren wäre, einen Thron verlassen wollte, um Armuth und Niedrigkeit mit ihr zu theilen und in ihren Armen das Glück der Könige zu verachten! – So ist mein Herz, gnädige Frau! So ist meine Liebe! Sie ist mit meiner Seele verwebt. Das Schicksal meiner Liebe wird das Schicksal meines Lebens seyn.
Die Markgräfin. Ich bedaure Sie von Herzen, lieber Graf! – Aber was ist unfruchtbares Mitleiden? Wollte der Himmel, daß ich mehr für Sie thun könnte! Sagen Sie – sagen Sie mir, was verlangen Sie von meiner Freundschaft? was kann ich für Sie thun?
Belvedere. Alles, gnädige Frau, Alles! Mein Glück ist in Ihren Händen. Sie können mir Clementinen geben. Grandison hat sich gegen mich erklärt. Er hat keine Ansprüche. Sie sind in Absicht seiner gänzlich frei. Die theure Clementina hat niemals einen Abscheu gegen mich bezeigt. Ihr Vorurtheil für einen Andern wird den erhabnen Beweggründen der Ehre und Religion Platz machen. Sie hat ein gütiges und edles Herz. Wenn die zärtlichste Liebe, die tiefste Ehrerbietung, die lebhafteste Dankbarkeit, wenn alle nur ersinnliche Achtung und die Unveränderlichkeit dieser Gesinnungen ein großmüthiges Herz rühren können, so darf ich nicht verzweifeln, das ihrige endlich zu gewinnen. Lassen Sie sich erbitten, gnädige Frau – Reden Sie für mich; unterstützen Sie die Bemühungen des Generals; geben Sie mir Clementinen, und ich werde Ihnen mehr schuldig seyn, als derjenigen, die mir das Leben gegeben hat.
Die Markgräfin. Hören Sie mich nun auch, mein lieber Graf! Setzen Sie sich in meine Verfassung, und alsdann sagen Sie mir, was ich thun soll. So parteiisch die Liebe Sie machen muß, so will ich es doch auf Ihren Ausspruch ankommen lassen – Meine Tochter – liebt – den Chevalier Grandison. Warum soll ich verschweigen, was ich nicht verbergen kann? – Sie ist bis zu diesem fatalen Zeitpunkt die Freude meines Lebens gewesen. Ihre Aufführung war so rein, so untadelig, als ihre Seele. Sogar ihre Neigung für diesen allzu liebenswürdigen Fremden verdient keinen Tadel. Ihr ganzes Verbrechen war, daß sie nicht gefühllos war; so wie man Grandison keinen andern Vorwurf machen kann, als daß er alle Vorzüge in sich vereiniget, die einen Mann einer Krone würdig machen könnten – Sie wissen das Uebrige. Ach Belvedere! Aber Sie wissen nicht, mit welcher Tugend, mit welcher Größe der Seele dieses allzu unglückliche Geschöpf einer Leidenschaft entgegen gekämpft hat, die bei andern Umständen ihr Ruhm gewesen wäre! – Es war ein Unglück für Sie, daß sie die Flamme so lange verbarg, die ihr schweigendes Herz verzehrte. Noch unglücklicher waren die Maßregeln, die man nahm, selbige zu er sticken. Ich mag, ich kann nicht an die entsetzlichen Folgen zurückdenken, worein uns ein allzu großer Eifer für die Ehre der Familie und die geheimen Absichten einiger Glieder derselben stürzten, und die endlich durch die völlige Verfinsterung des Verstandes meines armen Kindes und die gänzliche Zerstörung der Ruhe unsers Hauses ihren Gipfel erreichten. Die Verzweiflung nöthigte uns zuletzt zu einem Mittel, welches die Klugheit lange zuvor hätte eingeben sollen. Wir baten den Chevalier, uns zu besuchen. Wäre er weniger großmüthig, so wäre dieß die Gelegenheit gewesen, sich wegen der Begegnung zu rächen, die er vor seiner letzten Abreise aus Italien von uns erduldet hatte. Aber er willfahrte uns auf die verbindlichste Art. Er eilte zu uns herüber, und seine Ankunft that eine Wirkung, die uns nun völlig überzeugen muß, wie nothwendig er zu der Glückseligkeit und selbst zu dem Leben unsers Kindes sey. Er muß nicht mehr von ihr getrennt werden, wenn wir sie nicht auf ewig verlieren sollen. Dieser einzige Beweggrund wäre genug, die Aufopferung aller unserer Bedenklichkeiten zu fordern, wenn auch unsere Dankbarkeit nicht verpflichtet wäre. Aber, sagen Sie mir, Belvedere, mit welcher Stirn sollten wir dem Erretter unsers Sohns, dem Manne, der uns unsere Clementine wieder gegeben hat, einem Manne, der durch die großmüthigste und schönste Aufführung in einer langen Reihe der schwierigsten Umstände sich als einen echten und uneigennützigen Freund unsers Hauses bewiesen hat, mit welcher Stirn sollten wir einem solchen Mann ins Gesicht sehen, wenn wir fähig wären, uns anders gegen ihn zu beweisen, als er von uns zu erwarten berechtigt ist? Es ist kein Zweifel, daß er Clementinen hoch achtet und eine Verbindung mit uns gehörig zu schätzen weiß. Unsere Pflicht vereiniget sich mit der Nothwendigkeit, wir müssen weichen. – Aber das ist noch nicht Alles, Herr Graf! Wir haben eine Hoffnung, deren Erfüllung uns in eine neue Verbindlichkeit, gerecht gegen Grandison zu seyn, setzen und zu gleicher Zeit den Schritt, den wir thun müssen, vor den Augen der Welt rechtfertigen wird. Es ist unnöthig, Ihnen dieß deutlicher zu erklären. Urtheilen Sie nun, werther Belvedere; setzen Sie sich in unsere Umstände, sagen Sie mir, was Sie an unserer Stelle thun würden.
(Belvedere steht in einer trostlosen Stellung, er schweigt, er seufzt und heftet seine Augen unbeweglich bald auf den Himmel, bald auf den Boden.)
Die Markgräfin. Reden Sie, Belvedere! sagen Sie mir, was können, was sollen wir thun?
Belvedere (fährt, nachdem er eine Zeit lang stumm und unbeweglich gestanden, auf und sagt mit einer Veränderung des Gesichts, die sich zu seiner Rede schickt). Ja, Clementina! ich will mich deiner würdig zeigen. Ich will beweisen, daß ich dich mehr als mich selbst liebe. Wenn ich unglücklich seyn muß, so will ich doch den Trost haben, daß ich ein besseres Glück verdient hätte. Ich will dich ohne Hoffnung lieben, ich will mich selbst aus deinen Augen verbannen; du wirst glücklich seyn, und ich werde in dem Vergnügen, dich zu lieben, und in dem Gedanken, daß du glücklich bist, eine Linderung finden, die den kurzen Ueberrest meines Lebens erträglich machen wird.
Die Markgräfin. Dieser Entschluß ist Ihrer würdig, Belvedere! Entfernen Sie sich eine Zeit lang; aber überlassen Sie der Zeit nicht Alles. Sie ist zwar vermögend, die heftigsten Schmerzen zu stillen; aber wo bleibt die Macht der Tugend, die wir in glücklichen Umständen so hoch erheben, wenn sie nicht vermögend ist, der Zeit zuvorzukommen und uns diese wahre Größe der Seele zu geben, die sich mit gesetztem Muthe dem Sturm der Leidenschaften und den Anfällen des Schicksals entgegen stellt?
Laura. Die Vorigen.
Laura. Gnädige Frau, der Markgraf ersucht Sie um Ihre Gegenwart. Er ist in dem Zimmer des Barons.
Belvedere. Ich entferne mich, gnädige Frau. Ich will mich bemühen, mein Unglück wie ein Mann zu ertragen. Ich will noch mehr thun. Der General soll mich (wenn's möglich ist) nicht mehr in Bologna antreffen. Seine feurige Freundschaft für mich würde, wenn er mich gesehen hätte, Ihre Unruhe vergrößern, ohne mir helfen zu können.
Die Markgräfin allein.
Der arme Mann! – ich beklage ihn! Wir hätten ihn, und er uns glücklich machen können. O, warum mußte doch Grandison nach Italien kommen? Warum mußte er der Freund meines Sohnes werden? Warum mußte er es seyn, der ihn aus den Händen der Meuchelmörder errettete? Warum mußte ihn Clementina sehen? – Aber wie schweife ich aus! Wen klage ich an? – O himmlische Macht, ich verehre dein Schicksal und schweige! Möchte doch deine Güte so viele Leiden mit einem Ausgang belohnen, der eben so sehr zu deiner Ehre als zu unserer Glückseligkeit gereichte! (Sie geht ab.)
Der Schauplatz verwandelt sich in Jeronymo's Zimmer.
Der Markgraf. Jeronymo.
(Der Markgraf sitzt in einiger Entfernung von Jeronymo, in einer kummervollen Stellung. Sie schweigen eine Zeit lang; endlich sagt)
Der Markgraf. Mir wird bange, mein Sohn! Ich besorge, sie werden den Chevalier nicht überreden. Er ist ein stolzer Mann und ein hartnäckiger Protestant. – O, wozu hat mich dieses Kind gebracht, das der Liebling meines Herzens war! – Armselige Vorzüge! Was ist Adel der Geburt? Was ist hoher Stand? Was ist Reichthum? Was sind alle diese Gunstbezeugungen des Glücks, von denen wir uns in freudigen Tagen dünken lassen, daß sie uns über das Los der Sterblichkeit erheben? Können sie uns vor Sorgen und Schmerzen, vor den bittersten Kränkungen unsers Stolzes, vor der schimpflichsten Erniedrigung bewahren? – Beklage mich, mein Sohn! beklage deinen Vater, der dahin gebracht ist, den Mann, der an dem Unglück seines Hauses Schuld ist, um dasjenige als eine Gunst zu bitten, was sich ehemals Fürsten Italiens für eine Ehre geschätzt hätten. Arme, erniedrigte Clementina! – Ich habe Mühe, diese Vorstellungen mit Gelassenheit zu ertragen.
Jeronymo. Erlauben Sie mir, gnädiger Herr, Sie zu erinnern, daß Sie selbst von der Unschuld und dem untadelhaften Betragen meines Freundes überzeugt sind. Ich gestehe, unser Unglück wäre unerträglich, wenn der Mann, der die unschuldige Gelegenheit dazu ist, nicht Grandison wäre. Aber seine Verdienste, sein Charakter rechtfertigen Alles; die Liebe meiner Schwester hört auf, eine Schwachheit zu seyn, und Alles, was die Familie für ihn thun kann, ist Gerechtigkeit.
Der Markgraf. Die Freundschaft führt dich zu weit, mein Sohn! Du kannst ihn nicht so sehr erheben, ohne zu vergessen – doch, ich muß es ja selbst vergessen! – Meine Betrachtungen verwirren mich! Es ist hart, sich von einer gewohnten Größe so herab gesetzt zu sehn! – Aber mein Entschluß ist genommen: Ich will nicht ungerecht, nicht undankbar seyn!
Die Markgräfin. Die Vorigen.
Die Markgräfin. Grandison ist noch nicht da? Ich besorge –
Jeronymo. Und ich habe alle meine Hoffnung auf die Zärtlichkeit seines Herzens gesetzt. Aber, wenn sie fehl schlagen sollte, so erinnern Sie sich, ich beschwöre Sie bei Ihrer Liebe zu Clementinen und mir, an das, was Sie mir versprochen haben.
Die Vorigen. Grandison. Der Bischof. Pater Marescotti.
(Diese Drei kommen mit einander herein, Jeder mit einer Miene, die, auf eine seinem Charakter gemäßen Weise, Verwirrung und Betrübniß ausdrückt.)
Der Bischof (zu Jeronymo). Ach, Jeronymo!
Jeronymo. Ich lese Alles in Ihrem Gesicht – Es ist genug!
Der Markgraf. Setzen Sie sich, wenn es Ihnen gefällt, Chevalier! Ich muß mit Ihnen von einer Sache sprechen, von der die Ruhe meines übrigen Lebens abhängt. Sie sind unser Freund, ein edler, bewährter Freund. Ich sehe Sie nach Allem, was seit zwei Jahren unter uns vorgegangen ist, für ein Mitglied unserer Familie an, gegen welches ich mich ohne Bedenklichkeit frei und offenherzig erklären darf.
Grandison. Sie erweisen mir viel Ehre, gnädiger Herr! ich bin im Innersten der Seele bekümmert, daß ich –
Der Markgraf. Hören Sie mich zuerst, Herr Grandison, und fragen Sie alsdann Ihr Herz, was Sie thun können. – Sie haben meine Umstände gesehen, als Sie zuerst in mein Haus kamen. Ich war glücklich, das Haupt einer Familie, die sich einiges Ansehens rühmen kann, der Vater von Kindern, die mein Stolz und mein Vergnügen waren. Clementina war das Kleinod unter denselben. Sie haben sie in der Blüthe gesehen, in vollem Glanze der Schönheit, der Jugend und der unbefleckten Ehre. Alle übrige Vortheile, die wir dem Glück zu danken haben, zogen uns weniger Achtung und weniger Mißgunst zu, als der Vorzug (so nannte es die Welt), Clementinen in unserer Familie zu haben. Wir lebten in der süßesten Eintracht; wir liebten einander; wir waren Eines in dem Andern glücklich. Wir kannten keinen Kummer, unsere Tage flossen in heitern Freuden dahin, und unsere Aussichten übertrafen unsere Wünsche. So fanden Sie uns, Chevalier, da Sie zum ersten Mal zu uns kamen! – Und wie haben Sie uns gefunden, da Sie sich erbitten lassen, uns zum dritten Mal zu besuchen? – Es sey fern von mir, Ihnen Vorwürfe zu machen. Unsere Bekanntschaft fing sich mit Wohlthaten von Ihrer Seite an. Sie verpflichteten uns, ehe Sie uns kannten. Sie sind in gedoppeltem Verstande der Erretter meines Sohns gewesen. Sie erretteten sein Leben und seine Sitten. Sie haben so unter uns gehandelt, wie nur Grandison handeln konnte. Nein, ich kann Ihnen keine Schuld geben! ich kann weder ungerecht noch undankbar seyn! Ich will nur Ihr Mitleiden erwecken.
Grandison. Mein Mitleiden, gnädiger Herr! Ist's möglich, daß Ihnen das Herz Ihres Grandison noch unbekannt seyn kann! Wer bedarf mehr Mitleiden, als derjenige, der sich, ohne daß ihm sein Herz Vorwürfe machen kann, als die fatale Ursache so vieler Trübsale ansehen muß, die er, wenn's möglich wäre, gern mit Darbietung seines Lebens von Ihnen abgewendet hätte?
Der Markgraf. O Grandison! Grandison! Sie wissen nicht, was für Qualen das Herz eines Vaters fähig ist! Aber ich will Ihrer Zärtlichkeit schonen. Sie sehen eine Familie vor sich, die erst seit Ihrer Ankunft wieder zu leben anfängt. Vollenden Sie Ihr Werk; es ist Ihrer würdig! Geben Sie uns eine Glückseligkeit wieder, die Sie allein uns geben können. Wir haben Verbindlichkeiten gegen Sie, die alle unsere Dankbarkeit übersteigen. Sie können Clementinen unter Ihren eigenen Bedingungen von uns fordern. Aber Sie sind zu großmüthig, Chevalier, als daß Sie uns nichts aufopfern sollten, da wir geneigt sind, Alles für Sie zu thun. Ueberwinden Sie Ihren Stolz, entsagen Sie den Vorurtheilen Ihrer Erziehung, werden Sie ein Katholik, und Sie sollen in Clementinen und mit Clementinen einen Schatz bekommen, der Ihrer würdig ist. Was ich ehemals aus Nothwendigkeit gethan hätte, will ich jetzt aus Bewunderung für Ihre Tugend thun. Theurer Grandison, lassen Sie sich erbitten! Ich will stolz darauf seyn, Sie meinen Sohn zu nennen! Sie sollen mir lieber seyn, als diejenigen, die das Leben von mir empfangen haben! Sie werden meine Clementina glücklich machen, Sie werden uns Alle glücklich machen, und Sie werden es selbst seyn!
Grandison (mit Wehmuth). Gnädiger Herr –
Der Markgraf. Ich getraue mir nicht Ihre Antwort zu erwarten. Bedenken Sie sich, Chevalier, bedenken Sie sich! (Er geht ab.)
Die Vorigen.
Jeronymo. Ist's möglich. Grandison! Sie können Clementinen lieben und so unerbittlich seyn?
Grandison. Und auch Sie, mein Freund? auch Sie durchbohren mein Herz!
Jeronymo. Liebster Grandison! ich weiß, daß die Einwendungen, die Sie wider unsere Religion haben, nicht unumstößlich seyn können.
P. Marescotti. Gewiß sind sie es nicht. Es ist unmöglich, die Gründe umzustoßen, die Se. Eminenz der Bischof und ich dem Chevalier vorgelegt haben.
Grandison. Sie glauben dieß, Herr Pater Marescotti! Die Ueberzeugung ist etwas, das nicht von unserm Willen abhängt. Lassen Sie uns, ich bitte Sie, nicht weiter davon sprechen.
Jeronymo. O Grandison, was für eine Glückseligkeit opfern Sie Ihren Bedenklichkeiten auf! Sie wissen nicht, nein, Sie wissen nicht, was Sie aufopfern. Sie verhärten sich gegen Alles, was das unempfindlichste Herz zerschmelzen könnte. – (Mit einer Lebhaftigkeit, worin Ungeduld und Unwillen merklich ist.) Und müssen wir denn Alle vergeblich flehen?
Grandison. Kann mein Jeronymo gegen seinen Grandison ungerecht seyn? Wenn es möglich wäre, daß meine Seele in einem Entschluß wankend gemacht würde, der die Folge der unveränderlichsten Ueberzeugung ist, so müßte ich der verworfenste unter den Menschen seyn, wenn ich gestattete, daß so verehrungswürdige Personen, als diese vor mir, sich herab ließen, mich zu bitten.
Die Markgräfin. Sagen Sie nichts von Herablassung, Chevalier! Was wollte ich nicht thun, Sie zu erbitten! – Sie haben keine Mutter mehr, Grandison! Mit welcher Entzückung, mit welchem Stolze wollte ich Sie als meinen Sohn umarmen, wenn Sie es auf diejenige Art seyn wollten, die uns allein glücklich machen kann!
Grandison. Verehrungswürdigste Dame! lassen Sie mich zu Ihren Füßen um Ihr Mitleiden flehen. Hören Sie auf, mich durch eine Großmuth, eine Gütigkeit zu ängstigen, die meine Seele zur Verzweiflung treibt, weil ich sie nicht nach Ihren Wünschen verdienen kann. Bedenken Sie, gnädige Frau, was Sie von mir fordern. Es ist nicht in meiner Gewalt, Ihre Wünsche zu erfüllen. Glauben Sie mir, da Sie mich fähig sehen, in diesem Augenblick Alles zu verleugnen, was meinem Herzen am theuersten ist. Hätte ich Kronen, hätte ich alle Schätze der Welt, und ich müßte sie für Clementinen geben, ich würde sie für Staub achten. Mein Gewissen ist das Einzige, was ich nicht aufopfern kann. Fordern Sie (diesen einzigen Punkt ausgenommen), was Sie wollen; ich bin bereit, jede andere Bedingung einzugehen.
Die Markgräfin. Stehen Sie auf, Chevalier! Ich sehe, daß es vergeblich wäre, einen Mann, wie Sie, erbitten zu wollen. Stehen Sie auf! – Und so ist denn unser Verhängniß, ohne Rettung elend zu bleiben? So kann Clementina nicht die Ihrige seyn?
Grandison (etwas heftig). Nein! – Niemals, niemals ist ein Mensch in einem grausamern Zustande gewesen, als ich. Ich hoffte, nicht verdient zu haben – Vergeben Sie mir, gnädige Frau! Aber warum wollen Sie doch nicht bedenken, wie ungleich die Bedingungen sind, die Sie mir auflegen, und diejenigen, die ich vorschlage? Sie bieten mir mit Ihrer Clementina eine Glückseligkeit an, die meine kühnsten Hoffnungen übersteigt, und nehmen mir Alles wieder, da Sie die Aufopferung meiner Ehre und meines Gewissens fordern. Es thut mir leid (erlauben Sie mir, es zu sagen), daß man geglaubt hat, die unschätzbare Clementina werde durch die Reichthümer, die man mir mit ihr verspricht, einen höhern Werth in meinen Augen erhalten. Ich bin weit über diese Art von Versuchung hinweg gesetzt. Die Vorsehung hat mir Vermögen gegeben, Andere glücklich zu machen; ich bin zufrieden. Clementina allein ist, nachdem ich zu einem so stolzen Wunsch aufgemuntert worden bin, der Gegenstand meiner Wünsche. Geben Sie mir Clementinen und lassen Sie mir meine Religion, so wie ich ihr die ihrige lassen werde, und ich werde der glücklichste unter allen Sterblichen seyn. Ich würde die Vorschläge, die ich Sr. Eminenz, dem Bischofe, gemacht habe, nicht gemacht haben, wenn ich nicht von ihrer Billigkeit überzeugt wäre; und ich bin genöthigt, Ihnen zu sagen, daß dasjenige, wozu ich mich erbiete, mehr ist, als ich thun wollte, die Erbin eines Königreichs zu erhalten.
Der Bischof. Es wäre ungerecht, dem Chevalier Vorwürfe zu machen. Es ist sein Unglück und das unsrige, daß seine Irrthümer so tief in seine Seele eingewurzelt sind. Ich sehe, wir werden diesen Punkt aufgeben müssen, obgleich unsere Ehre, unsere Ruhe und unsere Sicherheit für Clementinens Seele an demselben hängt.
Grandison. Ich hoffe, gnädiger Herr, meine Ehre sey zureichend, Sie gegen Alles sicher zu stellen, was Sie wegen der Gräfin Clementina befürchten. Sie soll, wenn sie die Meinige ist, eben so frei und ungestört in der Ausübung ihrer Religion seyn, als sie in dem väterlichen Haus gewesen ist. Die gleiche Gesinnung, welche mir verbeut, wider meine Ueberzeugung zu handeln, verbeut mir, Andere in der ihrigen zu beunruhigen.
Camilla. Die Vorigen.
Camilla. Die Gräfin Clementina bezeigt ein Verlangen, den Herrn Grandison zu sprechen, sie ist einige Stunden lang sehr trübsinnig gewesen. Ihr Herz schien beklemmt, sie gab keine Acht auf meine Fragen; aber ihre Gesichtszüge verriethen, daß ihre Seele in einer großen Bewegung war. Sie schloß sich endlich in ihr Cabinet ein. Ich hörte sie seufzen. Ich näherte mich unbemerkt und sah durch die Thür, daß sie auf ihren Knieen lag und ihr Gesicht zwischen ihren ausgebreiteten Armen auf einen Lehnstuhl verbarg. Endlich hob sie die Augen auf, sah einige Minuten unbeweglich gen Himmel und schien zu lauschen, als ob sie eine Stimme hörte. Hernach stand sie auf, kam mit einer feierlichen Heiterkeit in ihrem Gesichte heraus und befahl mir, den Chevalier zu suchen. Ich sagte ihr, daß er bei ihrem Bruder, dem Baron, sey. So will ich selbst zu ihm gehen, war ihre Antwort. Ich eilte ihr also zuvor, zu sehen, ob Herr Grandison noch hier sey.
Die Markgräfin. Sie erwartet ohne Zweifel, den Chevalier bei ihrem Bruder allein zu finden. Wir wollen uns entfernen.
P. Marescotti. Mir ahnet etwas von dem, was sie mit ihm sprechen will. Vielleicht bedient sich die Gnade dieses Mittels – O Chevalier, der Himmel sendet einen Engel zu Ihnen!
(Die Markgräfin, Pater Marescotti, der Bischof und Camilla gehen ab.)
Grandison. Jeronymo. Clementina.
Grandison. Sie kommt. Wie sehr gleicht sie wirklich einem sichtbar gewordenen Engel, der in göttlichen Geschäften zu den Sterblichen kommt! O Himmel, gib mir in diesem Augenblick deine Stärke, da ich fühle, daß mich die meinige verläßt!
Clementina. Ich suchte Sie, Chevalier; ich bin erfreut, Sie hier anzutreffen. Setzen Sie sich! Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit zu Ihnen – Schließen Sie nichts daraus, daß ich Sie suche. Sie sind mein Bruder, das wissen Sie. Meine Eltern befehlen mir, Sie so zu nennen. – Es war eine Zeit – erinnern Sie sich dessen noch? – da man mir befahl, Sie in einem noch nähern Lichte zu betrachten. Ich widersetzte mich umsonst. Ich bat meine Mutter auf meinen Knieen, ich beschwor sie, mir eher den Tod zu geben. Und doch liebte ich Sie, Chevalier! – Ich erröthe nicht, es zu gestehen – Aber ich liebte meinen Gott noch mehr! Ihm, ihm wollte ich in einer heiligen Freistätte, einsam und vor dem Anblick der Welt beschützt, den Ueberrest eines traurigen Lebens widmen. Aber man hörte mich nicht. Sie wurden von Wien nach Bologna zurück gerufen. Niemand außer mir zweifelte daran, daß Sie, durch das Ihnen angebotene Glück (so nannte man es) verblendet sich das Opfer gefallen lassen würden, das man von Ihnen forderte. Ich allein zweifelte; denn ich kannte Sie. Reichthümer können eine Seele, wie die Ihrige ist, nicht verblenden. Der Adel unsers Hauses, auf den wir vielleicht zu stolz sind, konnte wenig über einen Mann vermögen, der in seinem Vaterlande nicht minder edel ist, und der (wie ich wußte) auf dieses Vaterland stolz war. Sollten also die Verdienste der armen Clementina mächtiger gewesen seyn, Sie zu rühren? Nein, Chevalier, sie waren es nicht. Ich hatte es nicht erwartet. Sie schlugen mich aus; ich vergebe es Ihnen. – Sie sehen, daß ich mich des Vergangenen noch erinnere. Dank sey dem Himmel, daß ich es wieder kann, ob mir gleich der wieder aufgehende Tag eine entsetzliche Rücksicht in die Finsternisse gibt, worin ich verirret gewesen bin. – Aber wozu sage ich Ihnen dieß Alles? – Ja, Sie sehen, daß ich über alle eigennützigen Absichten erhaben bin. Ich wollte Ihnen zeigen, daß ich einen höhern Beweggrund haben muß, weil ich Sie selbst gesucht habe. Eine himmlische Stimme befahl es mir. Konnte ich ungehorsam seyn?
Grandison. Theuerste Gräfin –
Clementina. Machen Sie mir keine Einwendungen, Chevalier! Der Himmel bedient sich oft schwacher Werkzeuge zu großen Absichten – Aus der Säuglinge Mund – Erinnern Sie sich dieser Stelle nicht? O Grandison! Diese Welt! Was ist diese Welt? Welch ein eitler, nichtiger Traum! Sehen Sie, Chevalier, sehen Sie an mir, was diese Welt ist! Es war eine Zeit, da mir von Jedermann geschmeichelt wurde, da ich bewundert wurde, da ich lauter schöne Tage sah, lauter glänzende Aussichten rings um mich her – Nun ist Alles vorbei, schon lange ist Alles vorbei, und ich beklage mich nicht. Sie sehen, daß ich heiter und gelassen bin. Aber – erinnern Sie sich dessen, was ich gesagt habe. Verschmähen Sie die Wahrheit nicht, weil sie aus dem Munde eines unschuldigen Mädchens redet, welches Sie verschmähet haben! – Es kommt eine Zeit, da diese Welt nichts in unsern Augen ist. O Grandison! Dort, dort (sie steht auf, indem sie dieses sagt, und zeigt mit ihren Augen und mit der rechten Hand gen Himmel), dort wird entschieden, was wir in dieser Welt gewesen sind. Stoßen Sie den Himmel nicht von sich! Ihre Irrthümer sind die Wolken, die ihn vor Ihren Augen verbergen. Aber Ihr Herz, Ihr Herz kann diese Wolken zerstreuen. Der Verstand irret nur, weil das Herz den Irrthum liebt. Stellen Sie sich vor, Chevalier, daß ich gestorben bin, – ich werde vor Ihnen in die Unsterblichkeit hinüber gehen – und daß ich jenseits des Grabes stehe und Ihnen rufe und Sie vermahne, Ihre Seele zu retten! – Was antworten Sie mir? – Sie schweigen, Chevalier? Sie sind traurig? Thränen laufen über Ihre Wangen? Habe ich Sie gerührt? O, möchte ich Sie gerührt haben! Mit welcher Freude wollte ich mein Leben hingeben, Ihre Seele zu retten!
Jeronymo (weinend). O Grandison, Grandison! Wenn das Sie nicht rühren kann – Ich kann es nicht aushalten.
Grandison (mit einer Miene und Geberde, die den höchsten Grad von Zärtlichkeit und Wehmuth ausdrückt). Allzurührender Engel! – Erlauben Sie – erlauben Sie, mich einen Augen blick zu entfernen. (Er eilt weg.)
Jeronymo (ruft Grandison mit einer halb erstickten Stimme nach). Wohin gehen Sie, mein Freund? O, bleiben Sie, bleiben Sie! Widerstehen Sie dem Eindruck nicht, den dieses liebenswürdige Geschöpf auf Ihr Herz gemacht hat. – Er ist fort. Namenlose Angst, mit der zärtlichsten Sehnsucht vermischt, war auf seinem Gesicht. Was muß er leiden, wenn es ihm unmöglich ist, sich zu ergeben, – auf so herzrührende Vorstellungen, aus dem Munde derjenigen, die er liebt!
(Clementina sitzt indessen, daß Jeronymo spricht, mit dem Kopf auf den Arm gestützt, in einer melancholischen Stellung. Auf einmal fährt sie zurück und ruft:)
Wo ist der Chevalier? Ist er fortgegangen, Jeronymo? Warum ging er fort? – Was habe ich gesagt? – Ach Bruder! er ist auf mich erzürnt – Ich habe ihn beleidigt. Er weinte, er sah mich mit einem Blick an – Himmel! welch ein Blick war das! Und er ging fort. Begreifst du das, lieber Bruder? Sage mir die Wahrheit: habe ich etwas gesagt, das ihn beleidigen konnte?
Jeronymo. Ihn beleidigen? Liebste Schwester, du hast nichts gesagt, du kannst nichts sagen, das ihn beleidige. Der Chevalier betet dich an, Clementina, er liebt dich wie seine Seele. Er wird bald wieder zurück kommen. Vielleicht schämte er sich, sehen zu lassen, wie sehr er gerührt war.
Clementina. Du schmeichelst mir, liebster Bruder – Oder glaubst du wirklich, daß der Chevalier mich liebt? – Aber was hälfe es ihm? Er würde unglücklich seyn, und ich wär' es gedoppelt. – Und doch ist es tröstend für mein Herz, zu denken – Weg! angenehmer Betrug! – Ich will gehen, Jeronymo! Ich getraue mir nicht, seine Wiederkunft zu erwarten. Ich will zu unsrer Mutter gehen – Nein! – ich will in den Garten gehen. Ich will allein seyn. Meine Gesellschaft verbreitet Traurigkeit über Alle, die mich sehen – O, warum kann ich nicht allein unglücklich seyn! – (Sie geht ab.)
Jeronymo. Grandison.
Jeronymo. Kommen Sie, liebster Freund; fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe mache. Mein Herz blutete für Sie, da ich sah, was es Ihnen kostete, der zaubernden Beredsamkeit dieses holdseligen Geschöpfes zu widerstehen. Ich bewunderte die Größe Ihrer Seele. Nach dieser letzten Probe, die Sie ausgehalten haben, müssen Sie keiner andern ausgesetzt werden.
Grandison. Wo ist sie, Jeronymo, wo ist die theure Heilige?
Jeronymo. Sie wollte nicht warten, bis Sie zurück gekommen wären. Vielleicht getraute sie sich nicht, sich in der stillen Größe zu erhalten, zu der sie sich emporgeschwungen hatte.
Grandison. Ich sehe sie noch vor mir; ihre reizende Stimme tönt noch in meinen Ohren – Jedes Wort, das sie aussprach, jeder gütige Blick, womit sie es begleitete, war ein feuriger Pfeil, der meine Seele durchdrang! – Ach Clementina! es ist einer andern Welt vorbehalten, uns glücklich zu machen! – Reden Sie mir nicht mehr von Hoffnung, Jeronymo! Mein Herz weissagt mir einen traurigen Ausgang –
Jeronymo. Weder Sie, noch Clementina wissen, was ich für Sie gethan habe. Verzeihen Sie mir, mein Freund, daß ich mich mit den Uebrigen vereinigte, Sie zu quälen. Ich war dazu genöthigt. So sehr ich wünschte, daß Sie in Ansehung der Religion weniger standhaft wären, so habe ich doch niemals gehofft, daß Sie es weniger seyn würden. Ich kannte Sie zu wohl! Aber eher wollte ich sterben, als zugeben, daß meine Schwester noch einmal von Ihnen getrennt würde! Es wird nicht geschehen, mein Freund! Ich habe schon Alles vorbereitet. Meine Mutter ist sehr für Sie eingenommen; es war nicht schwer, sie zu erbitten. Wir verlassen uns auf Ihre Ehre, liebster Grandison! Clementina soll unter Ihren Bedingungen die Ihrige seyn. Selbst der Pater Marescotti fängt an, sich für Sie zu erklären. Ich fürchte Niemand, als meinen Bruder, den General. Er vermag viel über meinen Vater; er fühlt das Ansehen, das ihm die Erstgeburt in der Familie gibt; er ist stolz und ungestüm; aber sein Herz ist edel. Er wird meinen Gründen und meinen Bitten nachgeben. O, wie glücklich werden wir dann Alle seyn! Wie wird meine Seele frohlocken, wenn ich eine Schwester und einen Freund vereinigt sehe, die Alles sind, was mir in der Welt am theuersten ist!
Grandison. Ach, Jeronymo! Sie hoffen – weil Sie mich lieben! aber ich besorge, Sie hoffen umsonst. Ich kann diese traurigen Ahnungen nicht unterdrücken – Meine Seele ist umwölkt – Ich muß mich entfernen.
Jeronymo. Bei Ihrer Zurückkunft, mein Freund, werden Sie sehen, daß ich nicht umsonst gehofft habe. Meine Liebe für Sie soll in dieser Zwischenzeit nicht müßig seyn. Kommen Sie nur bald zurück, Ihre Clementina von der Hand eines Bruders anzunehmen, der keiner andern Glückseligkeit mehr fähig ist, als sich an der Ihrigen zu erfreuen.