Christoph Martin Wieland
Koxkox und Kikequetzel
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22.

Die Liebe (sagt der weise Tlantlaquakapatli) ist unstreitig der beste und wohlthätigste unter allen unsern Trieben, so wie er der süßeste ist; – er redet von der Liebe in der weitläufigsten Bedeutung dieses Wortes. Sie ist die wahre Seele des Menschen, welche alle seine Empfindungen entwickelt, alle seine Fähigkeiten in Bewegung setzt. Ohne die Liebe des Schönen, ohne die sympathetischen Neigungen, ohne die Liebe des Vergnügens überhaupt, würde der natürliche Mensch nichts zu thun haben, als zu essen, zu schlafen und sein Geschlecht zu vermehren, wie jedes andere Thier; er würde der König der Affen seyn, – und selbst dieser Vorzug würde ihm von den stärkern und muthigern PongosPongo, der Name einer Affenart, die noch mehr Menschenähnliches hat, als der Orang-Utang; der africanische Waldmensch, Simia Troglodytes. streitig gemacht werden.

Nicht bloß die Noth, auch die Liebe ist die Mutter der Künste. Der Mensch, der die unentbehrlichsten Bedürfnisse des Lebens, Speise und Trank, eine Höhle und eine Gesellin hat, wird darauf bedacht seyn, wie er diese Güter auf die 300 bequemste und angenehmste Weise genießen möge. Die Natur selbst fordert ihn gleichsam dazu auf, und bietet ihm die Mittel dazu entgegen.

Mexico ist eines von den Ländern, über welche die Natur ihr ganzes Füllhorn ausgegossen und seinen Bewohnern wenig mehr übrig gelassen zu haben scheint, als ihre Gaben zu genießen. Die Witterung ist so gemäßigt, daß Kleider in diesem Lande nicht unter die unentbehrlichen Dinge gehören. Eine unzählige Mannigfaltigkeit von angenehmen und nahrhaften Früchten, welche zu allen Jahreszeiten freiwillig hervorkommen, ersparte oder erleichterte wenigstens den ersten Einwohnern die Sorge für ihre Erhaltung so sehr, daß selbst in den folgenden Zeiten, da sich ihre Nachkommen unendlich vermehrt hatten, nur die leichteste Anbauung nöthig war, um eine gedoppelte, öfters dreifache Ernte zu erhalten.

Bei allen diesen besondern Vortheilen wiesen doch zufällige Umstände und Bedürfnisse oder wenigstens die Begierde, gemächlicher und angenehmer zu leben, den ersten Bewohnern ihre Geschäfte an. Sie bauten sich Hütten; sie pflanzten Obst- und Gemüsegärten; ein Zufall entdeckte ihnen den Gebrauch der Baumwolle und die Kunst, sie zu spinnen und zu Decken und Gewändern zu verarbeiten.

Tlantlaquakapatli schreibt die erste Erfindung dieser und aller andern Künste der Mexicaner dem sinnreichen Koxkox und der zärtlichen Kikequetzel zu. Wenn wir ihm glauben, so erfand jener auch die Flöte, und diese die Kunst, aus den bunten Federn des Kolibri und des Sensütl Kleidungsstücke und andere feine Arbeiten zu verfertigen; eine Kunst, welche 301 von ihren Nachkommen auf einen so hohen Grad von Vollkommenheit getrieben wurde, daß AcostaAcosta – Verfasser der Histoire naturelle et morale des Indes occidentales. Par. 1696. und andre Geschichtschreiber uns Wunderdinge davon erzählen. Die Begierde, ihre natürlichen Reizungen durch einen künstlichen Putz zu erheben, ist (nach der Meinung unsers Philosophen) bei den Schönen ein Naturtrieb, dessen Wirkung sich auch unter den wildesten Völkerschaften äußert. Blumen, schöne Federn, schimmernde Steine scheinen ihnen zu keinem andern Endzweck da zu seyn. Eine Schöne, sagt er, putzt sich unstreitig desto lieber und desto sorgfältiger, wenn sie einem Manne dadurch zu gefallen hoffen kann; aber auch, wenn sie keine andere Gesellschaft hätte, als ihr eigenes Bild in einem klaren Brunnen, würde sie sich – für ihre eigenen Augen putzen.

Auch vom Gesang und vom Tanze war die schöne Kikequetzel die Erfinderin. Jenen lernte sie dem Vogel Sensütl ab, dem die Mexicaner seines lebhaften und tonreichen Gesangs wegen einen Namen gegeben haben, der fünf hundert Stimmen bedeutet; diesen wurde sie – wenn Koxkox an einem schönen Abend die Lieder dieses musikalischen Vogels auf seiner Flöte nachahmte oder ihre eigenen begleitete – von der Natur selbst gelehrt.

Welch ein glückliches Paar! ruft Tlantlaquakapatli aus, bei einem Leben, das ein Gewebe von Unschuld, Liebe und Vergnügen war! Wie glücklich, wenn ich sie mir unter dem süß duftenden Schatten selbstgepflanzter Lauben, von ihren leichten Geschäften ausruhend, denke – ihn sein braunes Gesicht an ihren Busen gelehnt, beide mit elterlicher Wollust 302 den fröhlichen Spielen ihrer Kinder zusehend, die in den anmuthigsten Gruppen ein mannigfaltiges Bild der schönen Natur und der süßesten Unschuld darstellten! – Ich gesteh' es, setzt er hinzu, daß ich die Gemälde, die mir meine Phantasie von diesen glücklichen Menschen macht, bis zur Schwachheit liebe: und wenn ich mich diesem reizenden Traum eine Weile überlassen habe und dann meine Augen aufhebe und die Urbilder dazu unter den Menschen um mich her suche und – nicht finde; so kann ich mich nicht erwehren, in meinem ersten Unmuth auf unsere Verfassung, Gesetze und Polizei und (wenn ich der Sache länger nachgedacht habe) auf die Natur selbst ungehalten zu werden, welche uns so gemacht hat, daß ein so beneidenswürdiger Zustand nur in einer einzelnen kleinen Familie möglich war.



 << zurück weiter >>