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Diese Erzählungen sind von einer ganz andern Art als die berühmten Contes de la Fontaine oder die Schäfererzählungen unsres Rost, der den Franzosen sowohl in der naiven Anmuth als in der Leichtfertigkeit erreicht, wo nicht übertroffen hat. Beide waren unserm Dichter damals noch unbekannt, und er kannte zu den seinigen keine andern Muster als diejenigen, welche Thomson seinen Jahrszeiten eingeflochten hat.
Sie wurden im Mai des Jahrs 1752 aufgesetzt. Das damalige Alter des Verfassers ist eigentlich dasjenige, worin empfindungsvolle Seelen von einer gewissen Schwärmerei, die den Gefühllosen so unverständlich und den Weltleuten so albern vorkommt, am stärksten hingerissen werden; worin die ganze Natur uns mit zärtlichen Sympathien erfüllt, und eine Liebe, wie Petrarch für seine Laura fühlte, die ganze Schöpfung in unsern Augen verklärt, und allem, was uns umgibt, ihren Geist und ihre Wonne mitzutheilen scheint. Der Platonismus, der in diesen Stücken herrschet, war so wenig, als derjenige, der in Petrarca's Liedern glüht, die Frucht einer kalten studirten Nachahmung, sondern eine natürliche Folge der Gemüthsstimmung, worin sich der Verfasser damals befand. 262 Diejenigen, die eine Ninon Lenclos der Johanna Gray, die Courtisane de Smyrne einer Clementina von Porretta, oder die Bacchantinnen des La Fage den Madonnen Raphaels vorziehn, sagen damit weiter nichts anders, als daß jene ihrem Geschmack und ihren Neigungen angemessener sind als diese; welches ihnen nicht wohl abgestritten werden kann. Sie haben sogar Recht, wenn sie versichern, daß solche Geschöpfe einer bezauberten Einbildungskraft, wie zum Beispiel die meisten Personen in diesen Erzählungen sind, den Begriffen und dem Geschmack nicht nur des großen Haufens, sondern selbst der feinern Art von Weltleuten, gar nicht gemäß sind. Aber darin haben sie Unrecht, wenn sie behaupten, daß es zu dergleichen Gemälden keine Originale in der Natur gebe; oder wenn sie diese Schwärmerei, deren oben gedacht worden, und die Empfindungsart, die Bilder, die Entzückungen, die eine natürliche Frucht derselben sind, für lächerlich, oder so schlechterdings für das Werk einer affectirten Sonderlichkeit ausgeben. Sie sollten begreifen können, daß es wirklich Leute geben kann, die, vermöge ihrer Individualbeschaffenheit, von gewissen Gegenständen anders gerührt werden als sie; und daß diejenigen, die von ihnen Schwärmer genennt werden, wenigstens eben so natürlich und aufrichtig zu Werke gehen, wenn sie platonisiren, als die Chaulieus, die Pierons und die Bernis, wenn sie epikurisiren. Kurz, sie sollten wenigstens so billig seyn zu bedenken, daß derjenige, der von dem Bilde der Tugend entzückt wird, so wenig dafür kann, als ein anderer, der von einer schönen Cirkassierin auf gut Türkisch bezaubert wird; oder ein dritter, der in ungleichen Zeiten beiderlei Arten von Entzückung erfährt.
Vermuthlich werden strenge Sittenlehrer in dieser Erklärung allzu viel Blödigkeit und Nachgeben ahnden; mich 263 dünkt aber, man habe in den Zeiten, worin wir leben, schon vieles gewonnen, wenn man für dasjenige, was man ehemals Tugend nannte, nur Toleranz erhalten kann.
O ihr Sittenlehrer und Sittenrichter! wann wird euch endlich die Erfahrung lehren, daß ihr durch alle eure Verweise, Bescheltungen und Zuchtruthen die Welt nicht verbessern werdet? Schildert die Tugend mit der Begeisterung, die ihr Anschauen erweckt; redet von ihr mit der Wahrheit, mit der Wärme, die das Kennzeichen eines gerührten Herzens ist; übet das aus, was ihr so schön zu sagen wißt, und beweiset an euch selbst, daß der tugendhafteste Mensch der glücklichste ist: so habt ihr gethan, was Confucius und Sokrates thaten, und mehr soll niemand von euch fordern. 264
Diese Erzählungen erschienen anfangs unter dem Titel: Moralische Erzählungen, wiewohl sie (wie der Augenschein lehrt) nichts weniger als Nachahmungen der Contes moraux des berühmten Marmontel sind, welche der junge Dichter damals noch nicht kannte. Man hat aber dieses Beiwort schon in der Ausgabe von 1770 weggelassen, weil es den eigenen Charakter derselben nicht bezeichnet und sie weder von den spätern Erzählungen und Mährchen des Verfassers selbst, noch von den meisten Compositionen andrer Dichter, die in dieses Fach gehören, gehörig unterscheidet; denn in gewissem Sinne kann man sogar die Erzählungen des Bocaccio und die Mährchen der Dame D'Aulnoy moralisch nennen. Eher möchte sich das Beiwort empfindsam (sentimental Tales) für sie geschickt haben, wenn (außerdem, daß dieses Wort durch einen zu häufigen Mißbrauch eine Art von Zweideutigkeit bekommen hat) ein solcher Titel ihnen nicht ein gewisses air de prétention gegeben hätte, das ihre kunstlose Einfalt und Unschuld gerade so kleiden würde, wie ein Hofgala-Kleid ein ehrliches Landmädchen oder eine Geßner'sche Schäferin. Man muß sich zur Empfindsamkeit, eben so wenig als zur Grazie, durch einen Aushängeschild anheischig machen.
265 Man hat es also bei der allgemeinen Benennung bewenden lassen, und dieß um so mehr, da schwerlich jemand, der sie lesen wird, verlegen seyn kann, das, was sie von allen andern Erzählungen unterscheidet, auszufinden, und da gerade das, was ihren Werth ausmacht, auch den Grund enthält, warum es sehr schwer seyn dürfte, ihre specifische Differenz durch ein einziges Beiwort auszudrücken.
Der Verfasser gesteht übrigens, daß er sich nicht erwähren kann, vor andern Producten seiner Jugend diese Erzählungen mit einer gewissen Vorliebe anzusehen, weil er sich der glücklichen Gemüthsstimmung, in welcher sie aus seiner Seele hervorgingen, in der jetzigen Epoche seines Lebens nicht ohne Rührung und Vergnügen erinnern kann. Er hat es sich auch daher nicht versagen wollen, sie von den verschiedenen Jugendfehlern, die ihnen noch häufig anklebten, so viel ihm möglich war, zu befreien; und er hofft, daß ihm diese Bemühung wenigstens bei den beiden letzten (Serena und Selim) geglückt sey, die ihm derselben vorzüglich werth zu seyn schienen.
Geschrieben am 16 Junius 1797.
[Man hat für gut befunden, alle bei gegenwärtiger Ausgabe beträchtlich veränderten oder gänzlich umgearbeiteten Stellen mit einfachen › ‹ vor den übrigen auszuzeichnen.] 266
Die Muse die in dichterischen Träumen Mich oft zurück in jene Zeiten führt, Da die Natur auf Hügeln und in Thälern Noch ungestört in schöner Einfalt wirkte; Zeigt mir die Glücklichen in ihrer Unschuld, Von Kunst noch unverfälscht, frei von den Trieben Und Vorurtheilen, die den spätern Menschen Die Menschlichkeit mit ihren Freuden raubten. Da spielen in der anmuthsvollen Wildniß Bald hör' ich unter kühlen Sommergrotten O goldne Zeit! dich hat die Liebe selbst |