Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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Christoph Martin Wieland

Nachlaß des Diogenes von Sinope.

Aus einer alten Handschrift.


Vorbericht des Herausgebers.

Geschrieben im Jahre 1769.

Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, in einer gewissen Abtey B..... Ordens in S.. Bekanntschaft zu machen, welche, Dank sey dem Genius des zwölften und dreyzehnten Jahrhunderts, der sie dotiert, und dem ökonomischen Geiste, der sie bisher verwaltet hat, reicht genug ist, siebzig bis achtzig wohl genährte Erdensöhne in einem durch verjährte Vorurtheile ehrwürdig gemachten Müßiggang, und in tiefer Sorglosigkeit über alles, was außerhalb ihrer Gerichte und Gebiete vorgeht, zu unterhalten.Zur Steuer der Wahrheit können wir nicht verhehlen, daß seit den 25 Jahren, da alles hier gesagte historische Wahrheit war, auch in dem Reichsstifte, wovon die Rede ist, (so wie in S. überhaupt) die Gestalt der Sachen sich so mächtig geändert hat, das es dem inquisitivsten Reisenden unmöglich seyn würde, das ehmalige Urbild von dem hier aufgestellten Gemählde ausfündig zu machen.

Vermöge einer wohl hergebrachten Gewohnheit hat das Kloster einen Bücherschatz, welcher sich mehr durch Weitläufigkeit als gute Einrichtung empfiehlt. Von neuen Büchern werden höchstens nur eine gewisse Art von Kanonisten, Asceten und Ordensgeschichtschreibern angeschafft. Von allen andern, besonders von den Werken des Genies, ist die Rede nicht. Diesen letztern wird der Zutritt gar nicht gestattet: und wofern sich eines derselben durch irgend einen unglücklichen Zufall in so heterogene Gesellschaft verirren sollte; so hat der Pater Bibliothekar nichts angelegners, als sich sogleich in einem besondern Schrank, der allen seines gleichen zum Gefängnis bestimmt ist, einzuschließen, und zu mehrere Sicherheit in Ketten schmieden zu lassen. Zum Gebrauch, den diese würdigen Männer von ihrer Bibliothek machen, haben sie auch in der That keine guten Bücher, und, wenn wir die Wahrheit sagen sollen, überhaupt keine Bücher vonnöthen; welches denn vermuthlich der Grund ist, warum die Vermehrung derselben in ihren Augen unter die überflüssigen Ausgaben gehört, welche ein Abt, der den Ruhm eines guten Haushalters hinterlassen will, dem Kloster ersparen muß. In der That vermuthe ich, daß bloß eine Art von Gefälligkeit gegen die Motten, welche man in ihrem unfürdenklichen Besitze zu stören Bedenken trägt, oder vielleicht die Furcht, daß sie sich, wenn sie daraus vertrieben würden, ihres Schadens auf eine unsern guten Mönchen weniger gleichgültige Art erhohlen möchten, der Beweggrund ist, warum man die so genannte Bibliothek immer ungefähr in demjenigen Stande, worin man sie gefunden hat, den Nachkommen zu hinterlassen sucht.

Dem sey wie ihm wolle, das unbegreifliche Schicksal wollte, daß ich in dieser nehmlichen Bibliothek etwas fand, was ich am wenigsten da gesucht hätte, und was in der That so außerordentlich scheint, daß ich besorge, meine ganze Erzählung dadurch verdächtig zu machen, – einen vernünftigen und wissensbegierigen Bibliothekar. Um die Sache einiger Maßen begreiflich zu machen, muß ich sagen, daß er dem Anschein nach kaum dreyßig Jahre haben mochte. Meine Freude über diesen Fund war, wie billig, außerordentlich; wir wurden in wenigen Minuten gute Freunde, und ich fand, daß der wackere Pater das Recht, seine Gefangenen so oft er wollte von ihren Ketten los zu schließen und sich mit ihnen in seinen Nebenstunden zu unterhalten, ziemlich wohl zu benutzen wußte. Er war noch nicht was man eigentlich einen aufgehellten Kopf nennen kann; aber es fing doch wirklich an in seinem Kopfe Tag zu werden, und ich machte mir gute Hoffnung, bey einem zweyten Besuch im Kloster einen beträchtlichen Theil desselben schon beleuchtet zu finden. Aber ich fand mich in meiner Erwartung sehr betrogen. Seine Obern, was sie auch sonst seyn mochten, waren doch nicht so dumm, daß sie nicht etwas von demjenigen wahrgenommen haben sollten, was diesen Mann in meinen profanen Augen schätzbar machte. Man erschrak darüber. Seit sieben oder acht Jahrhunderten hatte sich der Fall nicht ein einziges Mahl begeben, daß ein Mönch dieses Klosters hätte klüger seyn wollen als seine Mitbrüder. Was für Folgen konnte eine solche Neuerung haben! Man übersah sie beym ersten Blick, man erschrak davor, und glaubte nicht schnell genug eilen zu können, einem so großen Übel vorzubauen. Mit Einem Worte, der ehrliche .. wurde plötzlich zu einem andern Amte befördert, und der Pater Küchenmeister wurde – Bibliothekar.

Man hätte keine glücklichere Wahl treffen können; er war die beste, dümmste, und mit sich selbst und ihrer Dummheit vergnügteste Seele von der Welt. Außer seinem Brevier und Marx Rumpels Kochbuche hatte er in seinem Leben nichts gelesen; auch konnt' er nicht begreifen, wie es Leute geben könne, die sich mit dem unnützen Bücherlesen die Augen verderben mögen. Weil man doch von allem gern eine Ursache angiebt, so half er sich damit, daß er behauptete, die Wissensbegierde und die daher rührende Liebe zum Bücherlesen sey weder mehr noch weniger als einer von den subtilen Fallstricken, wodurch der leidige Satan die Seelen in seine Gewalt zu ziehen suche. Unwissenheit war, seiner Meinung nach, der wahre Stand jener seligen Einfalt und Armuth an Geiste, welchen die herrlichste Belohnung in jener Welt versprochen ist; und er pflegte zu sagen, daß ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr, als ein Gelehrter in das Himmelreich eingehen könnte. Kurz, man hätte vielleicht die Hälfte von Europa durchsuchen können, ohne noch einen Bibliothekar, wie dieser war, anzutreffen.

Meine angeborne Neigung zu allen Leuten, die in ihrer Art ungemein sind, machte, daß ich gar bald mit dem neuen Bibliothekar eben so gut bekannt war als mit seinem Vorfahrer. Ich schmählte auf den Febronius, und lobte das alberne Buch des Herrn von ...; mehr brauchte es nicht, mich bey ihm in die beste Meinung von der Welt zu setzen. Ich hatte aber, die Wahrheit zu sagen, noch eine andere Absicht, ohne welche ich vielleicht so gefällig nicht gewesen wäre. Es standen ein paar Schränke voll Handschriften in der Bibliothek, unter denen, der Sage nach, einige rare Stücke seyn sollten. Ich konnte mir vorstellen, was ich ungefähr zu erwarten haben möchte; allein ich wollte doch sehen. Ich machte den P. Bibliothekar, der in der That ein sehr gutherziges Geschöpf war, so gefällig, daß er mir seine Schränke aufschloß. Ich fand was ich mir eingebildet hatte, schön geschriebene Gebetbücher, Legenden, magre Kroniken von Erschaffung der Welt an, Quaestiones metaphysicales de principio individuationis, de formalitatibus etc. Commentarios in libros sententiarum, in parva Naturalia Aristotelis, Abbreviationes Decretorum, und hundert andre dergleichen Leckerbissen, welche mich nicht sehr lüstern machten, mehr als die Titel davon zu entziffern. Ich war im Begriff alles weitere Suchen aufzugeben, als mich das moderige Aussehen eines dünnen Kodex in Quartformat, oder vielmehr der nehmliche Instinkt, welchen Sokrates seinen Genius zu nennen pflegte, auf eine beynahe bloß maschinenmäßige Art antrieb, ihn hervor zu ziehen, um zu sehen was es seyn möchte. Das Buch hatte weder Anfang noch Ende; aber der Nahme Diogenes, und einige andre, die ich nicht darin gesucht hätte, machten mich, ungeachtet des schlechten Lateins, aufmerksam. Ich überlas eines oder zwey von den kleinsten Kapiteln, und war nun vollkommen überzeugt, daß ich vermuthlich auf die beste unter allen diesen Handschriften gestoßen sey.

Da ich mir Gewalt genug anthat, um dem ohnehin wenig auf mich Acht gebenden Kerkermeister dieses litterarischen Gefängnisses nicht merken zu lassen, wie wichtig mir dieser Fund war, so kostete mir es wenig Mühe, die Erlaubniß von ihm zu erhalten, es auf etliche Tage zum Durchlesen mitzunehmen. Und nun weiß der geneigte Leser so gut als ich selbst, sie ich zu der alten Handschrift gekommen bin, davon ich ihm hiermit eine Art von Übersetzung vorlege.

Ich nenne sie eine alte Handschrift, ungefähr aus eben dem Grunde, womit der Antiquar, dessen Lady Worthley in ihrem dreyzehnten Briefe gedenkt, ihren Einwurf gegen das Alterthum der Münzen in dem damahligen kaiserlichen Kabinet ablehnte: Sie sind alt genug, sagte er; denn so viel ich weiß, sind sie diese vierzig Jahre her immer da gewesen. So viel getraue ich mir zu behaupten, daß sie wenigstens nicht viel jünger ist als einige Übersetzungen von Aristotelischen Büchern aus dem Arabischen. Denn so viel ich aus dem noch übrigen Bruchstücke der Vorrede ersehen konnte, giebt der Verfasser vor, dieses Werkchen aus einer Arabischen Handschrift, die er in der Bibliothek zu Fetz gefunden und abgeschrieben habe, in so gutes Latein, als man damahls zu Salamanka zu lernen pflegte, gedolmetscht zu haben.

Da ich fand, daß ein beträchtlicher Theil dieser Handschrift aus Gesprächen des Diogenes mit sich selbst und mit andern bestehe, so erinnerte ich mich aus dem Diogenes Laertius, daß Diogenes von Sinope, genannt der Hund, unter andern auch Dialogen geschrieben haben sollte. Und nun brauchte ich nichts weiter als von den Regeln der Verwandlung des Möglichen ins Wirkliche einen kleinen Gebrauch zu machen, um mir einzubilden, daß diese Dialogen ohne Zweifel unter den Griechischen Handschriften gewesen seyen, welche der berühmte Kalif Al-Mamon zu Bagdad mit großen Kosten zusammen suchen und ins Arabische übersetzen ließ; daß ein Exemplar dieser Arabischen Übersetzung in der Folge in die prächtige Bibliothek gekommen sey, welche unter der Regierung des Maurischen Sultans Al-Mansur errichtet worden seyn soll; und daß dieses Exemplar vielleicht das nehmliche gewesen, aus welchem mein Ungenannter seine Übersetzung verfertiget habe.

Wenn ich ein Liebhaber von Dissertazionen über Dinge, die man nicht wissen kann, wäre, sollt' es mir eben nicht schwer fallen, mir selbst eine Menge Einwürfe gegen diese Hypothese zu machen. Der beträchtlichste würde indessen doch immer derjenige seyn, der von dem Karakter, welchen Diogenes in diesen Dialogen und übrigen Aufsätzen behauptet, hergenommen werden kann.

Es ist nehmlich der gewöhnlich Begriff, den man sich, den Nachrichten des Diogenes Laertius und dem Athenäus zu Folge, von unserm Diogenes von Sinope zu machen pflegt, von demjenigen, den wir aus diesem Werke von ihm bekommen, nicht weniger verschieden, als die Komödie von dem Possenspiel, der ironische Sokrates von dem zügellosen Aristofanes, der Harlekin des Marivaux von dem Hanswurst des alten Wiener Theaters, und ein launiger, aber feiner und wohl gesitteter Spötter der menschlichen Thorheiten von einem schmutzigen und ungeschliffenen Misanthropen unterschieden ist.

Wenn dem unkritischen Kompilator der Lebensbeschreibungen der Filosofen, und dem waschhaften Grammatiker, der in seinem Gelehrten-Gastmahle den alten Weisen so viele ungereimte Geschichtchen anheftet, zu glauben wäre, so müßte Diogenes der Cyniker der verachtenswürdigste, tolleste, unfläthigste und unerträglichste Kerl gewesen seyn, der jemahls die menschliche Gestalt verunziert hätte; und es wäre solchen Falls nichts unbegreiflicher, als wie eben dieser hündische Mensch so vernünftige Dinge, als die Alten von ihm melden, hätte sagen und thun können, und woher die Hochachtung gekommen seyn sollte, welche selbst die Weisesten unter ihnen für ihn geheget habe.

Aber zum Glücke für sein Andenken verdienen die vorbemeldeten Schriftsteller, welche uns ein so häßliches Bild von diesem Schüler und Nachfolger des Sokratischen Antisthenes machen, nicht Glauben genug, um die Gründe zu entkräften, womit die bessere Meinung unterstützt ist, welche einige neuere Gelehrte von ihm gefaßt haben. Wer diese Sache umständlich erörtert lesen will, kann seine Wissensbegierde in demjenigen, was Heumann und Brucker hierüber geschrieben haben, befriedigen. Uns genüget hier dem schwachen Ansehen jener beiden alten Griechen (deren anderweitiger Werth uns sonst ganz wohl bekannt ist) das ungleich größere Gewicht zweyer weiser Männer des Griechischen Alterthums entgegen zu setzen, welche uns einen ganz andern Begriff von unserm Diogenes geben.


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