Christoph Martin Wieland
Nachlaß des Diogenes von Sinope
Christoph Martin Wieland

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Der eine ist Arrian, ein Mann, den seine persönlichen Verdienste unter dem Kaiser Hadrian zur Statthalterschaft von Kappadocien beförderten, und der, was noch mehr als dieß ist, ein Schüler und Freund des weisen Epiktet, und in der That der Xenofon dieses zweyten Sokrates war. Ich schreibe nicht gern ab: Leser, welche die Quellen selbst besuchen können, mögen das zwey und zwanzigste und vier und zwanzigste Kapitel des dritten Buches seines Epiktet nachlesen, um zu sehen, was für ein großes und sogar liebenswürdiges Bild er von unserm Filosofen macht. Sie werden finden, daß er in dem ersten der angezogenen Kapitel – worin er von dem ächten Cynismus handelt, und denselben gegen die Vorwürfe, welche von den Sitten einiger After-Cyniker hergenommen zu werden pflegen, ausführlich rechtfertigt – an verschiedenen Stellen deutlich zu erkennen giebt, daß Diogenes ein solcher Mann gewesen sey, wie der den wahren Cyniker schildert; – und daß er in andern, wo er sich über den eigenen Karakter des Diogenes umständlicher ausbreitet, ihm eben diese Liebe zur Unabhängigkeit, eben diese Freymüthigkeit und Stärke der Seele, eben diese Güte des Herzens, eben diese Gesinnungen eines Menschenfreundes und Weltbürgers zuschreibt,Αγε, Διογενης δ' ουκ εφιλει ουδενα; ος ουτως ημερος ην και φιλανθρωπος, etc. – δια τουτο πασα γη πατρις ην εκεινω μονω, εξαιρετος δ' ουδεμια, etc. Arrian. L. III. c. 24. p. m. 382 durch welche er sich in seinem gegenwärtigen Nachlaß, bey aller seiner Singularität und Launenhaftigkeit, unsrer Zuneigung bemächtigt. Und gesetzt auch, wie wir gern gestehen, daß ihn Arrian nur von der schönen Seite gemahlt hätte: so bleibt doch immer so viel gewiß, daß er in dem wirklichen historischen Karakter des Diogenes den Grund dazu gefunden haben mußte; denn man wählt keinen Thersites zum Urbilde, wenn man einen schönen Mann mahlen will.

Die zweyte Autorität, welche ich den Verleumdern unsers Weisen entgegen stelle, ist der Filosof Demonax, dessen Karakter uns Lucian (ein sehr glaubwürdiger Mann, wenn er Gutes von jemand sagt, denn das begegnet ihm selten genug) in einer eignen Abhandlung mit Xenofontischem Geist und Plutarchischer Naivität geschildert hat. Wenn dieser weise Mann gleich kein Sektenstifter noch ein großer Verehrer metafysischer Spekulazionen war, so wird doch niemand, der gelesen hat was uns Lucian von ihm erzählt, in Abrede seyn, daß er das günstige Urtheil verdiene, das dieser scharfe und mißtrauische Beurtheiler des moralischen Werths der menschlichen Dinge von ihm fällt. Ist aber das Ansehen dieses Demonax festgesetzt, so muß auch sein Urtheil von Diogenes Gewicht genug haben, alle die elenden Mährchen und Gassenanekdoten zu überwiegen, auf welche die abschätzige Meinung, die man gemeiniglich von ihm hegt, gegründet ist. Lucian führet etliche Züge an, welche die ungemeine Hochachtung des Demonax für den Diogenes beweisen. Wir begnügen uns zwey davon abzuschreiben. Die Rede war einst von den alten Filosofen, und welcher unter ihnen am meisten Hochachtung verdiene. Ich meines Orts, sagte Demonax, ich verehre den Sokrates, bewundere den Diogenes, und liebe den Aristippus. Und da man ihm zu Olympia eine Bildsäule aufrichten lassen wollte, lehnte er diese Ehre aus dem Grunde ab: »Damit es ihren Vorfahren nicht zur Schande gereiche, weder dem Sokrates noch dem Diogenes Bildsäulen gesetzt zu haben

Wenn gegen solche Zeugnisse noch immer der Einwurf übrig bleibt: man könne doch, ohne die ganze Autorität des Alterthums wider sich zu haben, nicht läugnen, daß Diogenes überhaupt unter seinen Zeitgenossen in schlechtem Ansehen gestanden und vielmehr für einen närrischen Sonderling als für einen weisen Mann gehalten worden sey; so können wir dies zugeben, ohne daß er das geringste von der Achtung verlieren soll, die uns das günstige Urtheil der kleinen Zahl für ihn gegeben hat. Was für einen Begriff müßten wir uns von Sokrates selbs machen, wenn wir ihn nach demjenigen, den Aristofanes in seinen Wolken auf die Schaubühne brachte, oder nach der Anklage des Anytus und nach dem Endurtheil seiner Richter beurtheilen wollten. Man müßte wenig Kenntniß der Welt haben, wenn man nicht wüßte, daß etliche wenige Züge von Sonderbarkeit und Abweichung von den gewöhnlichen Formen des sittlichen Betragens hinlänglich sind, den vortrefflichsten Mann in ein falsches Licht zu stellen. Wir haben an dem berühmten Hans Jakob Rousseau in Genf (einem Manne, der vielleicht im Grunde nicht halb so sonderbar ist als er scheint) ein Beyspiel, welches diesen Satz ungemein erläutert. Und in den vorliegenden Aufsätzen werden wie den Diogenes selbst über diesen Gegenstand an mehr als Einem Orte so gut räsonnieren hören, daß schwerlich jemanden, der sich nicht zum Gesetz gemacht hat nur seine eigene Meinung gelten zu lassen, ein unaufgelöster Zweifel übrig bleiben wird.

Bey allem dem gestehe ich doch gern, daß der Diogenes, der in diesen Aufsätzen spricht, mir selbst ein ziemlich idealischer Diogenes zu seyn scheint: es sey nun, daß ihn der Lateinische Übersetzer wirklich aus dem Arabischen, und der Arabische aus einem Griechischen Original gedolmetscht habe, oder daß einer von den vorgeblichen Übersetzern selbst der Urheber dieses Werkchens sey. Die Verschönerung einiger Züge fällt in die Augen; und, um alle mögliche Aufrichtigkeit gegen den Leser zu gebrauchen, kann und soll ich ihm nicht verhalten, daß auch ich, eben so wohl als die beiden Übersetzer, meine Vorgänger, vielleicht eben so viel aus Nothwendigkeit als aus Vorsatz, mehr Antheil daran habe, wenn dieses kleine Werk der Urschrift ziemlich unähnlich seyn sollte, als mit der Treue bestehen kann, die man ordentlicher Weise von einem Dolmetscher fordert. Ohne Umschweife, ich besorge, sie habe beynahe das nehmliche Schicksal gehabt, welches die Geschichte des Schaumlöffels, nach der Erzählung seines Französischen Herausgebers, betroffen haben soll. Es ist mehr als zu wahrscheinlich, daß der erste Arabische Übersetzer, gesetzt auch, daß er alle mögliche Geschicklichkeit gehabt habe, doch in der unendlichen Verschiedenheit seiner Sprache von der Griechischen eine unüberwindliche Schwierigkeit gefunden, ein Werk von dieser sonderbaren Art gut zu übersetzen. Es wird also vermuthlich von ihm geheißen haben: Ex Graecis bonis fecit Arabicas non bonas. Ich denke, es sey dem Lateinischen Dolmetscher nicht besser gegangen. Die Wahrheit zu sagen, seiner Schreibart nach muß er ein armer Stümper gewesen seyn; ungeachtet er, als ein Magister noster auf einer neu angehenden Universität (wie Salamanka damahls war) in der Vorrede die Backen ziemlich aufzublasen scheint.

Er scheint, nach Art unsrer meisten neuern Übersetzer, weder die Sprache, aus welcher, noch die, in welche er übersetzt hat, am allerwenigsten aber den Geist seiner Urkunde recht verstanden zu haben.

Man merkt an unzähligen Orten, daß da vermuthlich ein feiner Gedanke, oder eine glückliche Wendung, oder irgend eine andere seines gleichen unsichtbare Schönheit unter seinen plumpen Händen verloren gegangen seyn müsse; an vielen Stellen ist er sogar gänzlich unverständlich, ohne sich das mindeste darum zu bekümmern, was seine Leser dazu sagen würden. Vermuthlich hat er sich nicht vorgestellt, daß er Leser haben würde, oder (wie ein ehmaliger Französischer Übersetzer der Musarion) nur für sich und seine guten Freunde, und nicht für das Publikum – schlecht übersetzt. Dem sey wie ihm wolle, so viel ist gewiß, daß ich der Welt das elendeste Geschenk, das sich denken läßt, gemacht haben würde, wenn ich mich durch die Ehre, der Herausgeber einer alten Lateinischen Handschrift zu seyn, hätte verleiten lassen, die seinige, so wie sie war, abdrucken zu lassen.

Ich gab mir also, weil doch dieser Diogenes so viel zu verdienen schien, lieber die Mühe, ihn ganz umzuschmelzen, und, nach meinem besten Können und Wissen, so Deutsch reden zu lassen, wie ich mir einbildete, daß ihn wenigstens ein erträglicher Griechischer Sofist aus Alcifrons Zeiten möchte haben Griechisch reden lassen.

Zusatz.

Dieses kleine Werk erschien im Jahre 1770 zum ersten Mahle unter dem Titel Dialogen des Diogenes. Man hat das Wort Dialogen hauptsächlich deßwegen unschicklich gefunden, weil die eigentlichen Gespräche nur den wenigsten Theil des Ganzen ausmachen; als welches meistens aus zufälligen Träumereyen, Selbstgesprächen, Anekdoten, dialogisierten Erzählungen und Aufsätzen, worin Diogenes bloß aus Manier oder Laune abwesende oder eingebildete Personen apostrofiert, zusammen gesetzt ist. Der Herausgeber, der jenem Tadel nichts erhebliches entgegen zu setzen hatte, fand also für gut, bey gegenwärtiger Ausgabe von der letzten Hand den Titel der alten Lateinischen Handschrift, Diogenis Sinopensis Reliqua beyzubehalten; ein Titel, wozu dieses Werkchen ein desto größeres Recht hat, weil in der That (da die unächten Briefe, die dem Diogenes angedichtet worden sind, nicht in Betrachtung kommen) außer demselben sonst nichts von diesem berühmten Cyniker übrig ist.

Der ehmahlige Griechische Titel Σωκρατης μαινομενος (Socrates delirans, ein aberwitzig gewordener Sokrates) ist aus dem zweyfachen Grunde weggeblieben, erstlich weil er Griechisch ist, und dann weil dieser halb ehrenvolle halb spöttische Spitznahme, welchen Plato dem Diogenes gegeben haben soll, auf den Diogenes, der sich uns in diesen Blättern darstellt, ganz und gar nicht zu passen scheint. Dieser ist zwar ein Sonderling, aber ein so gutherziger, frohsinniger und (mit Erlaubniß zu sagen) so vernünftiger Sonderling als es jemahls einen gegeben haben mag; und gewiß, wer nicht Alexander ist, könnte sich schwerlich etwas besseres zu seyn wünschen als ein solcher Diogenes.


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