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XVI.

Nachgiebig, aber stark sei, wo es gilt;
Nur daß du bleibest, was du bleiben sollst:
Dein eigen und dein Ich auf Tod und Leben.

F. Pecci.

Und der Himmel hatte ein Einsehen, es regnete am andern Tage in Strömen; ich konnte kaum bis zum Schloß durch, so rieselte und strömte das Wasser auf dem durchweichten Boden.

»Wie bleibt es nun mit unserm Gang?« fragte mich Dr. Mai, »natürlich schieben wir ihn auf?«

»Gewiß, Herr Doktor, wozu sollen Sie auch bei solch einem Wetter nach X.? Mit mir ist's etwas andres – ich muß, da ich nun schon nach Petersburg geschrieben, wann ich dort einzutreffen gedenke. Das Kleid kann ich doch nicht hier lassen, es muß fertig werden.« –

»Ich gebe Ihnen meinen geschlossenen Wagen,« fiel der Geheimrat ein.

O, du guter Geheimrat, dachte ich, diesmal warst du allzu gut.

»Also, wann darf ich Sie abholen, Fräulein?«

»Um zehn Uhr.« – Er war immer bis gegen zwölf Uhr mit seinen Doktorgangen beschäftigt, und jetzt war es bereits nach neun Uhr.

»So mache ich mich also frei, Herr Geheimrat, Sie haben doch nichts dagegen?« sagte sofort der Doktor.

»Gewiß nicht!«

»Also – – in einer Stunde auf Wiedersehen!«

Ich suchte Dr. Tonderns Blick, er schaute finster in den Regen hinein. Mir war, als sollte ich gehängt werden. Diese zitternde Angst zu beschreiben, ist gar nicht möglich. Mir sanken die Arme wohl zehnmal am Leibe herunter, ehe ich mit dem Ankleiden fertig wurde. Du Thörin, sagte ich mir dann, nachdem du ihn gestern so rauh angefahren und ihm so viele Male gezeigt, daß du nicht mit ihm fahren wolltest, wird er schweigen.

Wohl kam auch eine böse Stimme, die da sagte: Und wäre dies nicht die beste Lösung? Er ist ein wohlhabender Mann, ist die genügende Zahl von Jahren älter als du, was willst du noch? – Hast du nicht genugsam erprobt, wie schwer das Leben für ein alleinstehendes Mädchen ist, an wie viele Steine ihr Fuß stößt, und willst du in diesem entscheidenden Augenblicke nicht erwägen, ob es dir auch möglich sein wird, deinen einsamen, mühseligen Weg unbeschützt und allein zurückzulegen bis ans Ende? – – Achtest du nicht schon diesen Mann und wäre es denn so schwer, ihn lieb zu gewinnen?

Ja, hast du ihn nicht schon jetzt lieb? – das war der Haken, an dem sich dieser ganze Trugschluß verfing – und die mir von meinen teuren Eltern überkommene Ehrlichkeit sprach laut und sicher: »Nein!« – du liebst den andern, dem du gestattet, dich beim Tanz ans Herz zu drücken, dem du deine Hand sekundenlang, mehr, als gebührlich, überlassen, dessen liebenden Blick du erwidert, den du angeschaut, wie das Weib nur den Mann ansehen darf, den es liebt, dem es mit Leib und Seele angehören will.

Wie ständest du vor ihm, vor dir selbst da, wenn du ... Nein! nein! Und auch Dr. Mai hat ein volles, ganzes Glück verdient; er hat viel Schweres im Leben durchgemacht, ist davon schon verbittert und einseitig geworden. – Könntest du das Herz haben, diesem ehrlichen Manne das anzuthun? – Nein! und tausendmal nein!

»Der Herr Doktor fährt schon vor! Fräulein Maria, kommen Sie rasch!«

Und ich kam, wir stiegen ein. Er war blaß wie ein Tuch. Draußen regnete es in Strömen. Ich blickte ihn scheu von der Seite an; er wandte sich ab und blickte zum Wagenfenster hinaus.

»Fräulein Marie,« begann er plötzlich, »ich habe Sie oft gekränkt, ich bin ein rauher Mann; aber ich meine es nicht so schlecht ... Marie, wenn Sie wüßten ...«

Weiter ließ ich ihn nicht sprechen. – Es war ja richtig, er war in all den letzten Wochen oft rauh gegen mich gewesen, ohne daß ich es sonderlich empfunden, da ich zu glücklich hierzu war.

Nun konzentrierte ich seine Worte auf diesen Punkt. »Ach, reden wir nicht weiter davon, Herr Doktor, das ist alles vergeben und vergessen, ich bin Ihnen ja auch so viel Dank schuldig,« sagte ich rasch.

Jetzt schwiegen wir beide einige Zeit. – Ich sah, daß sich ihm neue Worte auf die Lippen drängen wollten – – und rasch stand in mir der Vorsatz fest ihm diese Worte und meine unvermeidliche Antwort darauf zu ersparen.

»Übermorgen reise ich nun endlich heim,« sagte ich, »nach allem, was ich hier in Deutschland durchgemacht, und sehe all die Meinigen wieder. Mein liebes Livland, wie freue ich mich auf dich!«

»Wie denken Sie sich Ihre nächste Zukunft?« fragte er gepreßt.

»O, wunderschön!« war meine Antwort. »Nachdem ich in Petersburg die nötigen Schritte gethan, gehe ich auf einige Wochen nach T. zu meinem Onkel und dann zu meinen livländischen Verwandten unweit Riga, wo ich das Ende der Sommerferien verleben will.«

So plauderte ich fort, bis der Wagen vor der Thür meiner Näherin hielt.

»Kutscher,« sagte der Doktor, »nun fahren Sie in den ›Bären‹. Und wir,« wandte er sich an mich, »erledigen unsre Angelegenheiten. Nach etwa dreiviertel Stunden komme ich Ihnen wieder bis hierher entgegen, Fräulein Marie!«

»Gut, Herr Doktor!«

In strömendem Regen kam er mir richtig entgegen, die dunkeln, lockigen, vollen Haare waren gekürzt, der Havelock flatterte im Winde.

»Verzeihung, Herr Doktor, komme ich zu spät?«

»Nein, ich bin auch erst soeben fertig geworden. Darf ich Sie bitten, ein Glas Wein mit mir zu trinken?«

»Gewiß, sehr gern, Herr Doktor.«

Während der ganzen Rückfahrt stand mein Mund keine Sekunde still. – Dann und wann sah es aus, als wollte er mich mit Gewalt unterbrechen; aber ›der Unterrichtsminister, Petersburg, Warschau, Berlin‹ flossen bunt durcheinander gewürfelt unaufhaltsam von meinen Lippen, so lange, bis wir wieder in Helbingen angekommen waren.

»Adieu!« sagte der Doktor kurz und reichte mir nicht die Hand, nach der ich doch die meine ausstreckte.

Ich sprang erlöst die Treppe hinan.

»Da sie über Berlin reisen, Maria,« – sagte der Geheimrat, »will ich Ihnen die Adresse einer Familie Lanz geben, deren siebzehnjährige Tochter Martha im vergangenen Jahre bei mir geheilt wurde.«

»Ich danke Ihnen, lieber Herr Geheimrat,« sagte ich sogleich.

»Morgen ist der letzte Kegelsonntag, Maria, wollen wir da nicht vernünftig sein?«

Ach! dachte ich – gebt mir Frieden!

Und der Kegelsonntag kam. – – Soll ich gehen? fragte ich mich. – Ja, hier hätte ich doch keine Ruhe, – zum letzten Mal, es sei.

In mir hatte sich wieder der Trotz breit gemacht über Dr. Tonderns Zurechtweisung. So hatte ich denn gar kein Auge für meine Ärzte, desto mehr für den jungen Lieutenant von Brinken, und er ging mit den seinen auch nicht sparsam um. – Seine Mutter war zum Besuch gekommen. Ich sprach ausschließlich mit ihr und ihrem Sohne.

Dr. Tondern ging mehrmals an unsrer Gruppe vorüber. In jeder Bewegung gab sich seine Ungeduld und Unzufriedenheit mit mir kund.

Schließlich blieb er dicht an meiner Seite stehen und rief Dr. Mai.

»Kollege!« sagte er, »sehen Sie, bitte, nach oben!«

»Nun!« fragte Dr. Mai, als er herangekommen und seinem Geheiß gefolgt.

»Sehen Sie dort etwas?« fragte Dr. Tondern aufs neue.

»Nein!«

»Ich auch nicht! – wir haben, wie es scheint, ein gleiches Schicksal.«

»Der reine Student,« sagte ich und zuckte die Achseln. Dann sprach ich mit dem Lieutenant, bis an ihn die Reihe kam, zu kegeln.

Da stellte sich Dr. Tondern vor mich hin! »Mein Fräulein,« sagte er, »dürfte ich mir von Ihnen eine Audienz erbitten?«

»Nein!« rief ich hart.

»Hier, auf mein schuldiges Haupt, sollen Sie die ganze Schale Ihres Zornes ausgießen dürfen,« fügte er hinzu und beugte sein liebes, blondes Haupt tief vor mir.

Ein wilder Schmerz zuckte durch meine Seele ... tausend Stimmen riefen: jetzt, jetzt brauchst du nur › ja‹ zu sagen, um – wenn auch nur Minuten – so doch selige, ewige Minuten zu erleben, Minuten, in denen du mehr leben wirst, als sonst in Jahrzehnten. – Hast du nicht Frau Brandt versprochen, ›Nein!‹ zu sagen? rief es dann wieder höhnend. –

Ich wandte mich von ihm ab und schlüpfte durch die übrigen hindurch bis ans Fenster, wo sofort der Lieutenant wieder an mich herantrat; doch plötzlich drängte sich die hohe Gestalt des jungen Doktors zwischen uns, trennte den schmächtigen Leutnant vollkommen von mir und schnitt mir das begonnene Wort vom Munde. –

»Noch einmal bitte ich Sie, Fräulein, um eine Unterredung vor Ihrer Abreise. Wann und wo kann sie stattfinden? Ich habe Ihnen etwas Ernstes zu sagen.«

Das ›Ernste‹ werden wohl wieder weise Lehren sein, rief mir meine Starrköpfigkeit zu und:

»Nie kann sie stattfinden!« kam es von meinen Lippen; aber mein Herz hörte auf zu schlagen.

Jetzt trat er hart mit dem Fuß auf und sagte: »Nun, dann soll es mir auch einerlei sein!« drehte sich dann auf dem Absatz um, lachte auf und fing an zu pfeifen – er war außer sich. –

Mir wollten Thränen in die Augen treten, aber ich schluckte sie tapfer hinunter.

Jetzt betrug er sich wie ein Schulbube: Ich stellte mich ans Fenster – er dicht daneben. Ich setzte mich an den Tisch. –

»Mein Fräulein, Sie werden wohl gestatten, daß ich Ihnen gegenüber Platz nehme?«

Ich erhob mich – er auch. – Ich setzte mich weiter auf einen Stuhl – er daneben. Ich ergriff ein Glas – er desgleichen.

Jetzt kam glücklicherweise ein rettendes Lachen von mir und der Trotz fiel auch von ihm ab.

»Geben Sie mir Ihre Adresse, Fräulein!«

»Wozu?«

»Ich brauche sie – ich muß Ihnen ja auch noch meine Photographie schicken.«

»Das ist wahr! Also bitte um Papier und Bleistift.« Ich erhielt beides und schrieb ihm die Adresse auf.

* * *

»Sie haben Unrecht gethan,« sagte am nächsten Morgen Hannchen zu mir. »Warum waren Sie so eigensinnig, Sie können sich Ihr Glück verscherzen. – Ida hat alles gehört und hat es mir erzählt. Warum haben Sie dem Herrn Doktor keine Stunde bestimmt, in der er Sie sehen und sprechen kann, das hat er nicht um Sie verdient. Vergessen Sie auch nicht, Fräulein Maria, daß der Geheimrat ihn hochschätzt und ihn unterstützen wird, wenn er es braucht. – Seien Sie nicht leichtsinnig, noch ist es Zeit!«

»Aber was ist jetzt noch zu thun? morgen früh reise ich ja.«

»Schreiben Sie ihm ein lustiges Zettelchen, wie früher, und bestimmen Sie ihm, wann er kommen kann. Im Salon sind Sie ungestört.«

»Er will mir nach Rußland schreiben.«

»Ist das mit einer mündlichen Aussprache zu vergleichen?«

»So werde ich also schreiben.«

»Ja, seien Sie vernünftig, schreiben Sie!«

Jetzt kamen die Doktoren zur Visite. Beide jungen Ärzte hielten sich mir fern; nur der Geheimrat war wie sonst. Ich wollte Dr. Tondern gern einen freundlichen Blick senden, aber er sah mich nicht an.

Plötzlich trat der Portier ein und meldete einen Arzt aus H., der unsre Doktoren zu sprechen wünschte. Sie eilten rasch hinunter in den Hof. – Unter den frischbelaubten Linden sah ich sie lange stehen und mit dem fremden Doktor sprechen, sah Dr. Tonderns hohe, schöne, mir so teure Gestalt zum letzten Mal.

* * *

Neulich fand ich ein Gedicht, das ausdrückt, was ich später, viel später empfunden, all die Zeit hindurch, in der ich nicht hätte davon schreiben können, wie heute – wo drei lange Jahre darüber hingegangen sind. Das Lied lautet:

»Hätt' ich's gewußt, daß mir zum letzten Male
Im maienfrischen Grün,
So männlich schön, im goldnen Morgenstrahle
Dein liebes Bild erschien!
Ich hätt' mich weinend in das Gras gestrecket
Und deines Fußes Spur
Geküßt in Leid, bis Abendtau bedecket
Die mondbeglänzte Flur.
Hätt' ich's gewußt!«

Ja, hätt' ich's gewußt, was später kommen sollte, ich hätte nicht so kurz, so hart jenen Zettel abgefaßt, als ich's that:

»Sollten Sie einen weniger bösen Charakter haben als ich, so könnte Ihnen die gestern abgeschlagene Audienz heute bewilligt werden. Doch wie? wo? warum? müssen Sie selbst wissen; ich weiß es nämlich nicht.

Achtungsvoll
M. P.«

Während die Ärzte ihre Gänge durch die Abteilungen machten, brachte Anna diese couvertierte Karte in seine Wohnung, und ich ging in das für mich bereitete Bad.

Als ich zurückkehrte, eilte mir Fräulein Hannchen entgegen: »Wo waren Sie so lange?« sagte sie vorwurfsvoll, »der Herr Dr. Tondern war hier und hat nach Ihnen gefragt.«

»Das thut mir leid!« erwiderte ich. »Nach dem Essen muß ich noch nach X., hab mir einen Plaidriemen und noch einige Kleinigkeiten für die Reise zu kaufen.«

»Nun, daß Sie dies nicht thun, dafür werde ich sorgen, – Herrmann soll Ihnen alles kaufen und Sie bleiben hübsch daheim. Was soll ich denn sagen, wenn der Herr Doktor noch einmal umsonst daherkommt. Nach dem Essen sollen Sie in den Garten gehen, ich werde die übrigen Patienten zurückhalten, damit Sie ungestört sind.«

»Ein Rendezvous unter Dr. Mai's Fenstern, die nach dem Garten hinausgehen. – Nimmermehr! wenn er mich sehen will, kann er hierher kommen. – – Übrigens, was will er eigentlich?«

»Fräulein Maria! wissen Sie das wirklich nicht?«

»Er ist jünger als ich.«

»Das thut nichts, Sie passen gut zu einander, und der Geheimrat hat sie alle beide lieb.«

»Gut, Fräulein Hannchen, ich bleibe; aber der Doktor muß zu mir kommen. Jetzt bin ich keine gehorsame Patientin mehr.«

»So warten Sie im Salon, wir gehen Nachmittag alle in den Garten.«

»Und wenn er nicht kommt?«

»Er wird kommen!«


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