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Des Grafen Wedigo Stimmung hatte sich indessen schon sehr gemildert. Es war ganz unwahrscheinlich, daß Wilfried seinen Eigensinn aufgab. Er gestand sich immer wieder, daß Paula ungewöhnlich schön und reizend sei. Dachte er sich in seine eigene Jugend zurück, so wurden ihm auch die unsinnigsten Entschlüsse seines Sohnes begreiflich. Ein solches Weib zu gewinnen, hätte er kein Hindernis für unbezwinglich gehalten. Wilfried war so weit nicht anders geartet als er. Dieser Tollheit konnte er Rechnung tragen. Es bedurfte in der That wahrscheinlich nur noch eines schwachen Ansturms auf seine Gutmütigkeit, und diese Schwiegertochter war ihm trotz allem genehm. Er liebte Wilfried und wollte aufrichtig sein Glück.
Was Bruno ihm über das Ergebnis seiner Nachforschungen berichtete, erregte in sehr auffallender Weise seine Teilnahme. Der Referendar faßte die Thatsachen, wie er sie für festgestellt hielt, knapp zusammen und sagte: »Diese Antonie Girod, die im Taufschein steht und seit Jahren ganz ehrsam an den Tischler Bilsfeld verheiratet ist, ist wirklich nicht die Mutter Paulas. Darüber bleibt mir kein Zweifel. Wer ihre Mutter ist, weiß ich nicht. Jedenfalls gehörte sie aber einem höheren Stande an, war vermutlich eine junge Dame aus der guten Gesellschaft. Sie ist von einem verheirateten Manne ins Unglück gebracht worden, und ich nehme an, daß es die Frau dieses Mannes selbst – eine Gräfin – war, die sich ihrer annahm und für sie handelte. Was diese, jedenfalls ungewöhnlich edelmütige Frau that, erklärt sich mir nur völlig, wenn ich eben voraussetze, daß sie auch für sich selbst ein starkes Interesse hatte, über das Geschehene einen undurchdringlichen Schleier zu breiten. Denn sie scheute nicht vor einer strafbaren That zurück. Im Hause der Küsterin in Neu-Pforten wurde das Kind geboren, und es gelang, jede Spur der wirklichen Mutter dadurch zu verwischen, daß ein armes Mädchen, durch Geld gewonnen, sich bei der Behörde für sie ausgab. Wir könnten uns dabei beruhigen, wenn der Tischler Bilsfeld traitabler wäre. Jetzt weiß ich nicht, wie weiter operieren, ohne viel Staub – und vielleicht ohne Erfolg – aufzuwirbeln.«
Nun erst, da er geendet hatte, sah er dem Alten ins Gesicht und war überrascht, es geisterhaft bleich, die Augen starr und wie in unbestimmte Ferne gerichtet, den Unterkiefer mit herabhängendem Kinn wie aus dem Gelenk gelöst zu bemerken. »Was ist dir, Vater?« fragte er erschreckt.
Graf Wedigo schüttelte sich gewaltsam aus seiner Betäubung. »Nichts, nichts, nichts,« stotterte er. »Was soll, mein Junge? Du sagtest, ein verheirateter Mann – und eine Gräfin – und ein armes Mädchen, das sich – erkaufen ließ – durch Vermittelung des Küsters – vor achtzehn Jahren etwa ... So etwas soll wirklich einmal passiert sein – einem Bekannten von mir – ich erinnere mich, davon gehört zu haben – einem Bekannten ...«
»Wenn du mir den Namen nennen könntest –«
»Nein, nein! Den Namen – hab ich vergessen. Und wenn ich ihn wüßte – es darf da nicht weiter geforscht werden – darf nicht, auf keinen Fall. Hörst du, Bruno – darf nicht!«
Ihm war sehr unwohl geworden. Jakob mußte ihm helfen, sich auf ein Sofa zu legen, und stärkende Tropfen herbeiholen. Er klagte über Frost und wurde in wollene Decken gehüllt, ohne sich doch ermuntern zu können. »Kalt, kalt, kalt – bis ans Herz hinan – eiskalt.«
Seitdem verließ ihn nicht mehr eine quälende Unruhe. Er hatte keinen Schlaf in der Nacht, und alle Toilettenkünste waren vergebens. Er fiel zusammen und schlürfte gebückt, die zitternde Hand auf der Krücke des Stockes, durch die Zimmer. Jedes Geräusch, selbst lautes Sprechen, verursachte seinem Kopfe Pein. Brunos etwas scharfe Stimme konnte er nicht im Nebenzimmer hören, ohne beängstigend erregt zu werden. Auch ihn sah er selten, Gäste gar nicht. Stundenlang lag er auf dem Bett und starrte vor sich hin. Die Sache mochte ihm sehr verdrießlich sein, aber aus den bekannten Umständen heraus konnte Bruno sich doch diesen merkwürdig schnellen Verfall nicht erklären.
Eines Tages meldete sich Bilsfeld im Palais. Er wurde zum Grafen Bruno geführt. »Nun? haben Sie sich besonnen?« fragte dieser ihn.
Der Tischler schüttelte mürrisch den Kopf. »Nein, ich gehe weiter,« antwortete er.
»Sie handeln sehr thöricht.«
»Das sieht jeder auf seine Weise an, Herr Graf. Für mich muß da alles glatt sein. Zumal ... Ich habe mich in Neu-Pforten erkundigt, meine Frau sagt wirklich über sich die volle Wahrheit. Das alte Weib, die Küsterin, will nicht mit der Sprache heraus, aber sie wird vor Gericht nicht einen falschen Eid leisten wollen. Für fremder Leute Kinder, die sie jetzt weiter nichts angehen!«
»Sie wollten – ?«
»Ja, die Sache muß in Ordnung kommen, soweit meine Frau beteiligt war. Ich hab auch den Namen des Justizrats erfahren, von dem das Wegegeld gezahlt ist. Seine Frau sagt, nach seinem Tode hätte ein Assessor die Akten durchgesehen und alles Wichtige eingesiegelt ans Obergericht zur Aufbewahrung geschickt. Den Assessor hab ich auch ausgekundschaftet. Er meint einen Umschlag gesehen zu haben, in dem Quittungen über die Zahlungen lagen. Ich bin dann natürlich auch beim Obergericht gewesen. Aber es hieß da, die Akten könnten mir nicht so ohne weiteres vorgelegt werden; ich müßte erst mein Interesse nachweisen, wie sie's nennen. Und das werde ohne Prozeß nicht geschehen können. Da hab ich mir denn gedacht, Sie könnten mir durch Ihren Einfluß vielleicht einfacher dazu verhelfen und sich selbst zugleich Gewißheit schaffen. Das Fräulein hat doch gewiß ein Interesse, zu erfahren, wer die Mutter ist.«
Bruno glaubte ohne Zustimmung seines Vaters nichts zusagen oder unternehmen zu dürfen. Aber so vorsichtig er auch mit ihm sprach, der alte Herr war gleich wieder in hochgradiger Erregung und erklärte mit allen Zeichen seelischer Beängstigung, es solle nichts weiter geschehen, das Dunkel zu lüften. Weshalb nur nicht? Und auszuweichen war doch gar nicht möglich. Bruno wurde der kranke Mann immer unverständlicher. Nur mit Mühe brachte er es dahin, daß Bilsfeld sich noch kurze Zeit zu gedulden versprach, Zu seiner größten Überraschung fuhr Graf Wedigo bald darauf, so schwach er war, wieder nach der Garnisonstadt seines Sohnes. Das erfuhr er erst in letzter Stunde, auch daß Wilfried sein Besuch gar nicht gemeldet sei.
In der That begab sich der Graf nach seiner Ankunft sogleich vom Bahnhof nach der Villa der Frau Konsul.
Er erschreckte sie nicht wenig durch sein verfallenes und verstörtes Aussehen. Kaum erhielt er sich auf den Füßen. Als er Jakob, der ihn führte, hinausschickte, nahm sie selbst seinen Arm und leitete ihn bis zum nächsten Sessel. »Eine geheime Angst treibt mich zu Ihnen,« sagte er in winselndem Tone. »Ich höre, daß mein Sohn – nach wie vor – in Ihrem Hause – mit Ihrem Pflegetöchterchen ... Hm, hm! Es beweist ja eine höchst ehrenwerte Gesinnung, daß er so fest – an seinem gegebenen Wort hält – unzweifelhaft. Aber glauben Sie mir, verehrte Frau – es wird nichts Gutes, es kann nichts Gutes werden. Da ist nicht nur – der Unterschied des Standes. Ich spreche davon gar nicht. Und ich bin weit entfernt, in Abrede zu stellen, daß so ein ausgesetztes Kind – deshalb noch nichts von seinem Menschenwert – einbüßt und nicht durch Pflege und Erziehung – ganz so hoch gestellt werden kann wie irgend ein durch die Sorge seiner Eltern beglücktes. Aber wir ändern doch die Welt nicht. Es giebt so tief eingewurzelte Vorurteile, daß es – dem einzelnen nie gelingen wird, ohne schwerste Einbuße seiner gesellschaftlichen Stellung seinen Widerspruch siegreich zu behaupten. Es ist das schöne Vorrecht – der Jugend, an die Übermacht solcher feindlicher Gewalten nicht zu glauben. Wir aber haben Erfahrung, verehrteste Frau, und die Pflicht, zum Besten zu raten. Sie lieben Paula, wie ich meinen Sohn liebe. Ich bitte, ich beschwöre Sie, thun Sie einem Beginnen Einhalt, das nach kurzem Freudenrausch beiden eine lange Trübsal bringen wird.«
Er hatte sich warm gesprochen, und die Zunge gehorchte nun besser seinem Willen. Die Frau Konsul unterbrach ihn nicht; die Hände im Schoß gefaltet, saß sie ihm gegenüber und hielt die Augen gesenkt. Nun er sich verbeugte und ihren Arm streichelte, seufzte sie. »Ich habe mit Ihrem Herrn Sohn wiederholt sehr ernst gesprochen – gleich nach Ihrer Abreise damals und dann wieder nach seiner Rückkehr von der kleinen Reise mit seinem Bruder. Er ist allen Vorstellungen unzugänglich. Paula habe ich alles gesagt, was in solchem Falle eine besorgte Mutter warnend vorbringen kann. Es darf mich aber nicht wundern, daß sie dem Geliebten mehr vertraut als der Frau, die sie – wenn auch in guter Meinung – hintergangen hat.«
Dem alten Manne traten die Angsttropfen auf die Stirn. »Aber bedenken Sie, bedenken Sie,« stöhnte er, »was für Unheil ... Man weiß ja nicht, wer die Mutter war – welche Fügung des Schicksals ... Ich kann nur von allgemeinen Befürchtungen sprechen – aber es giebt doch Möglichkeiten ... Stellen Sie sich vor, daß Paula durch ihre Mutter in engeren Beziehungen, als das Gesetz ... Mein Gott! es ist ja sehr unwahrscheinlich, aber es giebt doch Möglichkeiten ... Und besser man entzieht ihnen ganz den Boden.«
Die Frau Konsul verstand ihn offenbar gar nicht. Ehe sie aber etwas entgegnen konnte, trat Paula ein, eilte auf den Grafen zu und sank vor ihm nieder, Sie faßte seine Hände und drückte die glühenden Lippen darauf. »Sie sind wiedergekommen, Herr Graf,« rief sie, »nachdem Sie alles wissen. Das kann mir nur Gutes bedeuten. O, heben Sie mich auf an Ihr Herz, so unwürdig ich sein mag, werfen Sie gegen Ihren Zorn die grenzenlose Liebe in die Wagschale, die Wilfried und mich zusammenschließt, nennen Sie mich Tochter, gestatten Sie, daß ich Sie Vater ...«
Ein paar heiße Träne fielen auf ihre Stirn. Sie blickte rasch auf und legte die Arme um seine Schultern. »O mein Kind – mein liebes Kind,« lallte er, »wie gern wollte ich ...« Er nahm ihren Kopf in seine Hände und sah ihr in die dunklen Augen, aus denen jetzt ein Strom zärtlicher Bitte zu ihm hinüberflutete. »Diese Augen,« schrie er auf, »diese Augen! Ja – es sind ihre Augen – ich erkenne sie ... Barmherziger Himmel – ihre Augen!«
Er sank gegen die Stuhllehne zurück, todbleich, ächzend vor Schmerz. Die Frau Konsul eilte herbei und stützte ihn. In ihrem Arm fiel er in eine tiefe Ohnmacht, aus der er erst erwachte, als Paula seine Stirn mit kölnischem Wasser benetzte.
Er schien die Sprache verloren zu haben. Mit Hilfe der Dienerschaft wurde er auf eine Chaiselongue gelegt, mit Tüchern bedeckt. Er lag da mit verschobener Perücke und halbgeschlossenen Augen, ein rechtes Jammerbild. Die Frau Konsul hatte sogleich nach Wilfried geschickt. Als er kam, war sein Vater so weit ermuntert, daß er ihm leise die Hand drücken konnte. Es war Wilfried unbegreiflich, was ihn veranlaßt hatte, zuerst hierher zu gehen; auf seine besorgten Fragen blieb die Antwort aus. Nur die Augen des Alten hafteten zärtlich auf seinem Gesicht und schlossen sich erst, als Wilfried Paula umfaßte und sie ihren schönen Kopf an seine Schulter lehnte.
Nach einigen Stunden hatte er sich so weit erholt, daß er in die Wohnung seines Sohnes geschafft werden konnte. Die Nacht war aber sehr schlecht und unruhig. Sein Sohn und Jakob wachten abwechselnd bei ihm. Es schien, daß er in eine schwere Krankheit verfallen wolle; aber das Fieber hatte seinen Grund in einer Überreizung der ohnedies abgespannten Nerven durch unablässiges Grübeln über ein dunkles Etwas, worauf seine Erinnerungen ein Licht zu leiten begannen, nicht in körperlichen Leiden, denen seine zähe Natur nicht hätte Widerstand leisten können. Er stand denn auch am andern Tage wieder auf und ließ sich von Jakob in gewohnter Weise ankleiden und frisieren. Wilfried hatte von den Damen über seinen Besuch in der Villa genug erfahren, um überzeugt zu sein, daß er bei ihnen habe durchsetzen wollen, was ihm bei dem Sohne aussichtslos erscheinen mußte. Die dabei unvermeidliche Aufregung erklärte ihm ausreichend die Ohnmacht.
Der Graf selbst bestätigte diese Annahme als richtig, sobald sie nach dem späten Frühstück zusammen auf dem Sofa saßen. »Es war ein letzter Versuch,« sagte er, »auf gütlichem Wege dieses Verhältnis zu lösen, das mich unsäglich ängstigt. Was hätte ich dir nicht am Ende zuliebe gethan, mein Junge! Aber – ich werfe keinen Stein, Gott soll mich behüten – so ein unglückliches Wesen, das nicht einmal seine Mutter kennt – seine Mutter! Es wird dir nicht entgangen sein, daß da etwas Geheimnisvolles verborgen ist – sicher verborgen sein sollte. Und wer weiß, ob es sich nicht doch enthüllt – und wie? Wäre Paula die Tochter jener Antoine Girod – auch damit noch ließe sich rechnen. Aber es ist eine Strafthat verübt, das Geheimnis ihrer Geburt zu bewahren – irgend etwas Furchtbares ist geschehen, das zu diesem Äußersten zwang. Mein Sohn – mein Sohn! kannst du ein Mädchen zum Altar führen wollen, das dich vielleicht – wie unschuldig immer – mit Schmach belastet? Schon ist unseligerweise ein Zipfel der Decke aufgehoben, die so lange über dem geheimen Vorgang lag. Der Tischler droht mit weiteren Recherchen. Er glaubt sie seiner Frau, seinen Kindern, seiner Ehre schuldig zu sein. Er wird sich nicht beruhigen lassen. Und schon wissen andere davon, daß gesucht wird. Wenn deine Gattin ... Nein, nein! es ist unmöglich. Wie ich dich bedauere, Wilfried – es ist und bleibt unmöglich. Paula kann dein Weib nicht werden.«
»Paula ist rein, Vater,« antwortete der Offizier leise, aber mit sicherer Stimme. »Was auch geschehen sein mag, was sich auch enthüllen sollte – es berührt sie nicht. Wie könnte es sie und mich beflecken? Ich verstehe deinen Kummer durchaus, Vater, dein Bestreben, deinen Widerstand bis zum Äußersten – und ich kann deine Gründe nicht widerlegen außer mit diesem einen: Paula ist rein, und ich liebe sie. Ich weiß, daß ich deine väterliche Zuneigung verwirke und nicht mehr das Recht haben werde, mich deinen Sohn zu nennen, wenn ich so unvernünftig handle, als es dir notwendig scheinen muß; und doch – mein Entschluß ist gefaßt: ich halte Paula Wort. Die Trauung kann in England erfolgen.«
»Und wenn ...« Der alte Mann stieß diese zwei Worte mit gewaltiger Anstrengung, den Kopf vorstreckend und die Augen weit aufreißend, heraus, um sogleich wieder matt zusammenzusinken und den Ton ächzend verhallen zu lassen. Er bewegte die Hand vor seinem Gesicht hin und her, als ob er etwas verscheuchen wollte. »Nein, nein,« murmelte er nach einer Weile, Wilfried unverständlich, »das ist eine – verrückte Vorstellung – eine ganz – verrückte ... Das nicht, das nicht.«
Es schien sich zu überzeugen, daß es jetzt vergeblich sein werde, seinen Sohn aus andere Gedanken zu bringen, und kam auf den Gegenstand nicht weiter zurück. Wilfried mußte in den Dienst. Als er nach einigen Stunden heimkehrte, war der Graf bereits abgereist.