Ernst Wichert
Der Väter Sünden
Ernst Wichert

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Graf Wilfried trug die kleidsame Uniform seines Reiterregiments. Er hatte die hohe und schlanke Figur seines Vaters, aber nicht dessen Gesicht. Die Ähnlichkeit mit einem Pastell seiner früh verstorbenen Mutter war unverkennbar. Dasselbe schmale, etwas nervöse Gesicht, mit hoher Stirn, scharfer, sehr zierlich geformter Nase, schmalen Lippen und langem Kinn, durchaus wohlgebildet und wenn nicht schön, doch ganz eigen anmutend, besonders durch einen Zug von liebenswürdiger Schwärmerei in den dunklen Augen, die aber auch feurig leuchten konnten, sobald ihn etwas freudig bewegte, wie jetzt offenbar die Begrüßung des alten Herrn, der ihn zärtlich liebte und ihn nun mit Fragen bestürmte, weshalb er sich mehrere Wochen lang nicht habe sehen lassen. Die dritte Schwadron, bei welcher der junge Premier stand, war freilich schon seit dem Frühjahr nach einer kleinen Stadt versetzt worden, aber bei der Entfernung von nur wenigen Eisenbahnstunden hatte er anfangs häufig einen kurzen Urlaub zum Besuch Berlins ausgenutzt, wo im Familienhause seine Zimmer stets bereit standen. So lange war er noch nie ausgeblieben.

»Ich fürchtete schon, du hättest im Dienst einen Unfall erlitten,« sagte Graf Wedigo, ihm die Schulter streichelnd, »oder wärst krank geworden. Und warum kamst du nicht gleich gestern, oder begrüßtest mich wenigstens nicht im Klub, wo du mich doch nach dem Theater zu finden wußtest? Muß einen merkwürdigen Grund gehabt haben – hi, hi, hi – was?«

Wilfried vermied eine bestimmte Antwort, auf die wohl auch nicht gerechnet war, und begnügte sich mit allgemeinen Entschuldigungen, die etwas hinterhältig klangen. »Willst du frühstücken?« fragte Bruno. Er versicherte, schon irgendwo gegessen zu haben. »Aber ein Glas Sekt –?« Auch das lehnte er ab.

Nun erst betrachtete ihn der alte Graf aufmerksamer. »Du siehst nicht recht frisch aus, mein Junge,« bemerkte er. »Ist dir etwas Verdrießliches begegnet?« Da Wilfried schweigend den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Kann mir ja denken: die kleine Stadt – kein Umgang außer mit Kameraden, kein Leben, kein Theater – alles zu nahe aufeinander, das Kasino schließlich eine recht öde Unterhaltung ... Kann mir's denken, mein lieber Junge, für einen, wie du bist, deines Vaters Sohn – hm, hm ...«

Er hüstelte den Schluß fort, da er Bruno spöttisch lächeln sah. »Und überhaupt,« lenkte er ein, »es fehlt der weite Horizont, die freie Bewegung – man fühlt sich wie eingeschnürt. Habe auch einmal so etwas durchlebt, hielt's aber nicht aus, nahm meinen Abschied damals. Jeder hält's nicht aus.«

»Die Stadt ist nicht so klein, Papa,« sagte Wilfried, »man könnte sich's eine Weile darin ganz wohl sein lassen, besonders wenn man sich ausgetobt hat, übermüdet vom Vergnügen ist. Wer nicht deine Nerven hat, Papa –«

»Meine Nerven – ha, ha, ha! meine Nerven!« rief Graf Wedigo lachend und mit der zitternden Hand das Glas suchend. »Hast du einmal eine Violine gesehen, deren Steg umgefallen ist? Versuche, darauf zu spielen. Ah! es ist ein Elend, wenn man erst die Entdeckung macht, daß man überhaupt Nerven hat. Dann wird geschroben, geschroben – bis eben eines schönen Tages der Steg umfällt. Ha, ha, ha! wenn man die Sechzig hinter sich hat – oder nahe vor sich – ich weiß nicht einmal ... Es ist gleichgültig, ganz gleichgültig. Wenn der Steg umgefallen ist, ganz gleichgültig. Aber du mit deinen sechsundzwanzig – du bist hoffentlich noch in der glücklichen Lage, von deinen Nerven nichts zu wissen, mein Junge. Das einzige, was dich abspannt und stumpf macht, ist die Langeweile – hoffentlich – hi, hi, hi! Es giebt nichts Unerträglicheres in der Jugend; und im Alter ... ja, da auch, aber man wird geduldig – muß.«

Da Wilfried hierauf keine Antwort gab und nur ein leeres Glas mit dem Finger umzirkelte, so stockte die Unterhaltung. Bruno konnte glauben, daß man auf seine Entfernung warte, und packte denn auch seine Schriftsachen zusammen. »Du bleibst also fest,« sagte er zu seinem Vater, »und ich handle danach. Sonst nichts von Wichtigkeit.« Seinem Bruder nickte er zu. »Wir sehen einander wohl beim Diner.« Darauf verließ er das Zimmer.

»Bruno ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann,« sagte Graf Wedigo spitz lächelnd und gleich darauf den Mundwinkel schief ziehend. »Fast zu scharf, zu berechnend für einen Mann seines Standes. Ich weiß wohl, wo er's her hat. In der Familie deiner Mutter waren einige vorzügliche Rechner. Es ist wunderlich, wie sich solche Eigenschaften vererben – solche und andere. Manchmal über ein paar Generationen hin! Man spricht viel davon, aber man weiß nichts Rechtes.«

Wilfried hörte schwerlich zu. Sein Blick hatte etwas nach innen Gewandtes, und nach einer Minute sagte er ganz außer Zusammenhang und offenbar durch einen mühsam erkämpften Entschluß geleitet: »Was ich dir noch mitteilen wollte, Papa – ich bin verlobt.«

Der alte Herr rückte auf seinem Stuhl zurück, öffnete die grauen Augen so groß, als die etwas abgesunkenen Lider dies erlauben wollten, und bewegte die schmalen Lippen wie zum Sprechen, ohne einen Laut vorzubringen. »Du bist – verlobt, Wilfried?« stammelte er endlich, noch immer ganz Verwunderung über diese überraschende Neuigkeit. »Aber wie ist das möglich – ? Wie ist das ... Ich habe doch nicht zu bemerken Gelegenheit gehabt ... Erstaunlich!«

»Ich bin verlobt, Papa,« wiederholte der Offizier nun ruhiger. »Nimm dieses Ereignis gütigst als eine vollendete Thatsache.«

»Ja, aber ... Wenn ich dir gratulieren soll – Ich habe wirklich keine Ahnung, mein lieber Junge – keine Ahnung.«

»Es hat sich ganz schnell so gemacht, Papa – dort in der neuen Garnison.«

»Dort? Immer erstaunlicher. Wer wohnt denn dort oder in der Umgegend? Ich will hoffen, daß nicht eine Tochter deines Regimentskommandeurs ... In dieser Familie ist manches vorgefallen. Der Bruder des Obersten hat eine reiche Jüdin geheiratet, und der älteste Sohn mußte wegen Ehrenschulden, wenn ich nicht irre, seinen Abschied nehmen.«

»Das würde mich vielleicht nicht abgeschreckt haben,« antwortete Wilfried, »wenn eins der schönen und liebenswürdigen Fräulein mir eine Leidenschaft eingeflößt hätte. Aber du kannst insoweit ruhig sein. Ich wünschte, überhaupt. Aber, was ich dir mitzuteilen habe ... Ich kenne ja deine Ansichten in diesem Punkt und teilte sie bis vor kurzem. Mit einem Wort: das Mädchen, dem ich mich versprochen habe, ist – bürgerlich, die Tochter einer verwitweten Frau Konsul Bergmann.«

Der Alte wurde völlig blau im Gesicht und schien ersticken zu wollen, so daß Wilfried eilig aufsprang und ihm ein Glas Wasser eingoß.

»Ich wußte,« sagte er, »daß ich dich erschrecken würde. Aber was sollte ich thun? Ein Brief hätte wahrscheinlich noch üblere Wirkungen gehabt – ich trage ihn seit zwei Tagen in der Tasche, konnte mich aber nicht entschließen, ihn abzusenden. Und so schrecklich, Papa, ist die Sache am Ende doch nicht. Wenn du meine Paula kennen würdest –«

»Eine Bürgerliche!« stöhnte der Graf. Er zog aus der Westentasche ein Riechfläschchen und benutzte es mit lautem Schnaufen. »Eine Bürgerliche – eh, eh, eh! Ich will mich nicht echauffieren – es ist ja unmöglich. In unserer Familie noch nicht vorgekommen ... Unsinn, Unsinn! Wahrhaftig, es ist kein Grund, sich zu echauffieren. Aber einen schlechten Spaß muß ich's doch nennen, mein lieber Junge, den du dir da mit dem alten Papa erlaubst...« Er bemühte sich zu lachen und sah Wilfried forschend von der Seite an. Da dieser ganz ernst blieb und die Lippe biß, wurde er doch wieder stutzig. »Es ist ja Unsinn,« murmelte er bedenklicher. »Eine Bürgerliche! Wenn da auch wahrscheinlich großer Reichtum ... Pah! er kann dich nicht gelockt haben. Also Unsinn.«

»Ich weiß nicht, ob die Frau Konsul reich ist,« entgegnete Wilfried. »Recht wohlhabend gewiß – aber es kommt darauf nicht an. Auch wenn Paula ganz arm wäre –«

Nun erhob sich Graf Wedigo so unvorsichtig hastig von seinem Stuhl, daß er gleich wieder mit einem schmerzlichen Aufschrei zusammenknickte. Er ächzte dann eine Weile leise und drückte die Hand in den Rücken. »Aber das sind ja – Thorheiten – die gar nicht – zu dir passen,« winselte er. »Sich ernstlich – in so etwas – zu verlieben – eh, eh!«

Wilfried nahm seine Hand. »Es ist schwer, mit dir über dergleichen zu sprechen, Papa,« sagte er. »Ich kann es durchaus verstehen, daß du kein Verhältnis dazu findest. Ich selbst, wenn ich in mich zurückkönnte, wie ich noch vor einigen Monaten war, würde mich wahrscheinlich auslachen oder noch weniger glimpflich mit mir umgehen. Aber ich kann nicht – ich bin ein anderer geworden, durch und durch ein anderer. Die Liebe eines engelschönen und engelreinen Mädchens hat mich verwandelt. Das ist in deinen Augen eine lächerliche Vorstellung, und ich weiß keine Worte zu finden, die dich von dem heiligen Ernst meiner Neigung zu überzeugen vermöchten. Nur die Thatsache kann ich dir entgegenbringen, daß ich verlobt bin und fest entschlossen, Paula zu meinem Weibe zu machen. Nichts wird mich davon abbringen, auch dein Zorn nicht. Aber es würde mich sehr traurig stimmen, dich erzürnt zu wissen und gegen deinen ausgesprochenen Willen handeln zu müssen, mein guter Papa, und so habe ich die herzliche Bitte anzuschließen: glaube mir, daß ich meiner ganz sicher bin, und füge dich freundlich in das Unabänderliche.«

Der alte Graf hatte die beiden Arme auf die Seitenlehnen des Sessels gestützt und hing mit dem Oberkörper darin. Der schwere Kopf senkte sich mit dem Kinn auf die Brust – ein mit Farbe bemalter Totenkopf mit aufgesetzter Perücke. »Was ist das – was ist das – was ist das?« murmelte er. »Mein ältester Sohn – mein Besitznachfolger im Familiengut – meine Hoffnung, mein Stolz ... Unmöglich, unmöglich!«

»Ich habe alle erschwerenden Umstände gewissenhaft in Rechnung gezogen,« fuhr Wilfried fort; »der erschwerendste ist mir, daß ich deine Zustimmung nicht zu erhoffen habe, kaum ein gütiges Gewährenlassen. Dem Offizierstande zu entsagen, dem ich sehr zugethan bin, wird mich diese Heirat nicht nötigen. Sie wäre für meine Person gesetzlich auch kein Grund, einmal die Fideikommißerbschaft anzutreten. Aber nach den alten Familienstatuten würde der Sohn aus der Ehe mit einer Bürgerlichen allerdings nicht erbberechtigt sein, und der Gedanke widersteht mir durchaus, ihn gleichsam gegen mich herabzusetzen und an die Vorstellung zu gewöhnen, er sei durch seine Mutter minderwertig. Ich kam daher zugleich mit der Absicht her, dir einen Verzicht auf die Familiengüter zu Gunsten meines Bruders anzubieten.«

»Wilfried!« rief der Alte, aus seinem Brüten aufschreckend, ganz entsetzt.

»Ich werde mit Bruno sprechen und zweifle nicht, daß er mir die Last abnehmen wird. Willst du auf mich übertragen, was du sicher ihm zugedacht hast, so werde ich dir allezeit dankbar sein. Aber auch ohne dies reicht wohl das von der Mutter ererbte Vermögen völlig aus, mich im Leben unabhängig zu stellen und mir sogar eine standesgemäße Haushaltung zu ermöglichen. Paula geizt nicht nach der Ehre, die Frau eines Majoratsbesitzers zu werden, und ist so bescheiden erzogen, daß sie sich auch in noch engeren Verhältnissen wohl fühlen würde.«

Der alte Herr wiegte das Kinn mit dem schweren Haupt immer tiefer in den Stehkragen hinein, vielleicht nicht einmal nachdenklich – was er hörte, überwältigte ihn im Augenblick ganz und gar –, sondern um nur irgend ein sichtliches Zeichen seiner Unzufriedenheit zu geben. Es veränderte sich das ganze Bild, das er sich von der Zukunft ausgemalt hatte, mit einem Schlage so vollständig, daß er eine Leere vor sich sah, die sich noch mit nichts füllen wollte. Zur Opposition fühlte er sich zu schwach; er mußte eine Ableitung suchen, die ihn wenigstens über die nächsten Minuten hinbringen könnte. »Aber sage mir nur – wie hat das – geschehen können –« murmelte er fast unverständlich.

»Es ist da wenig zu erzählen,« antwortete Wilfried. »Ich sah Paula auf einem Ball, ließ mich ihr vorstellen und tanzte diesen Abend nur noch mit ihr. Sie ist unbeschreiblich schön und anmutig. Da war's schon entschieden. Ich bat die Mutter – eine in der Gesellschaft hochgeachtete Dame –, in ihrem Hause meinen Besuch abstatten zu dürfen, und wurde freundlich willkommen geheißen, wie viele Kameraden vor mir. Frau Konsul Bergmann hatte einen Jourfix angesagt; ich versäumte ihn nie. Auch in anderen Häusern hatte ich Gelegenheit, Paula zu sehen, zu sprechen, endlich von meiner tiefen Neigung zu überzeugen. In alledem ist gar nichts Romantisches oder Außergewöhnliches. Das Außergewöhnliche ist allein Paulas Persönlichkeit und der bezwingende Eindruck, den sie auf einen vom Glück sehr verwöhnten und zum Leichtsinn neigenden Menschen übte.«

»Und die Mutter –?«

»Wir glaubten ihr noch aus unserer stillen Verlobung ein Geheimnis machen zu müssen, bis du dich geäußert hättest.«

»So – so – so!« preßte der Graf mit sichtlicher Anstrengung zwischen den bläulichen Lippen vor. Gleich darauf sank ihm das Haupt ganz herunter. Wilfried sprang zu und umfaßte ihn. »Mir ist – sehr – unwohl,« hörte er ihn leise sagen. Er schellte. Jakob half ihm, den alten Herrn in das Schlafzimmer zurückzuführen, wo er aufs Bett gelegt wurde und sich bald erholte, aber allein zu bleiben wünschte.


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