Ernst Wichert
Der Schaktarp
Ernst Wichert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Herbst brachte viel Sturm und Regen. Das Wasser in den Flußläufen staute auf und trat über die Ufer; alle Gräben waren zum Überfließen voll, und die schwarzbraune Moorerde hatte sich so mit Feuchtigkeit durchzogen, daß man keinen Fuß darauf setzen konnte, ohne tief einzusinken. Die Häuschen der Zeitpächter standen wie auf einer langen Reihe von Inseln, und der Weg am Ufer entlang war nur durch die Weiden kenntlich, die mit ihren grauen Stämmen und zerzausten Kronen aus dem Flusse hervorragten; die Kähne erschienen wie mitten im Flusse festgebunden. Manchmal sah man aus den kleinen Fenstern den Strom auf weite Strecken wie mit frischem Heu überschüttet. Die Gestelle, auf denen das Heu bis zum Winter lagern sollte, waren umgerissen, und von den Wiesen wurde es nun unaufhaltsam ins Haff geschwemmt. Es war schon tollkühn zu nennen, daß Jurgeitis und seine Tochter Else sich auf kleinem Boote hinauswagten, einen Teil für sich zu bergen. Die schwere Mühe brachte nur geringen Gewinn, und dafür wollte kein anderer das Leben wagen.

Überall war die Sorge wegen der Kartoffelernte groß. Plötzlich aber schlug das Wetter um, und es kamen noch die schönsten Tage mit tiefblauem Himmel und warmem Sonnenschein. Rasch floß das Wasser wieder ab, trocknete die Erdkruste. Nun blitzten die Hacken und Spaten rings um den Rand des Moosbruches! Tausende von Händen waren beschäftigt, die blanken Kartoffeln mit den feinen Schalen auszuwählen, in Säcke zu schütten und abzukarren. Jurgeitis war der Eiligsten und Fleißigsten einer. Da er fürchtete, daß wegen seiner Strafgelder Beschlag auf die Ernte gelegt werden könnte, mietete er gleich einen größeren Kahn und fuhr mit seiner Ausbeute, soviel er nicht selbst davon für den Winter brauchte, nach der Stadt zum Markt. Wo er das gelöste Geld verwahrte, wußte nicht einmal Else. So reichlich hatte das Land noch in keinem Jahre seiner Pachtzeit Frucht getragen.

Aber er konnte dessen nicht froh werden. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, daß er im nächsten Frühjahr abziehen und einem glücklicheren Bewerber seinen Acker ausantworten müsse. Manchmal meinte er wohl, der Fischmeister fürchte ihn und werde seine Drohung nicht wahrmachen. Das aber war ein Trost, der immer nur für kurze Zeit aufrichtete und bald wieder der finstersten Stimmung Raum gab. Wer den Mann täglich und genauer beobachtete wie Else, mußte erschreckt sein über sein verstörtes Wesen. Er ging mit gesenktem Kopf umher, murmelte unverständliche Worte vor sich hin und sprach selbst nachts im Schlafe. Manchmal ballte er die Faust und drohte in die Luft hinein oder knirschte mit den Zähnen.

Dann kam nach Martini der Bietungstermin für die Zeitpächter im Moosbruch. Der Förster hatte ihn abzuhalten, aber Grünbaum war dabei.

»Du kommst ganz umsonst«, rief er Jurgeitis zu, »was ich gesagt habe, dabei bleibt's.«

»Mein Gebot ist so gut wie das der andern«, antwortete der Litauer verbissen.

»Auf dem Papier freilich«, gab der Fischmeister zu, »aber glaube mir, nicht die Feder voll Tinte ist's wert, mit der dein Name ins Protokoll geschrieben wird. Und wenn du sie alle überbietest, die Pacht bekommst du doch nicht.«

»So geht's nicht mit Gerechtigkeit zu!« brauste Jurgeitis auf. »Aber über dir sind noch höhere Herren, und der liebe Gott wird dem armen Manne helfen.«

»Den rufe lieber nicht an«, riet Grünbaum. »Du hast dich allzuoft gegen ihn versündigt. Tu übrigens, was du nicht lassen kannst; ich will mit dir nicht streiten.«

Jurgeitis bot mit auf sein Land und gab acht darauf, daß er im Protokoll nicht vergessen wurde. Der Pachtzins schnellte in die Höhe, aber er hielt aus und hatte das letzte Wort. »Nun ist's doch richtig, Herr Kapitän?« fragte er, an den Tisch tretend. Es klang fast wie eine Bitte.

Statt der Antwort machte Grünbaum am Rande des Papieres bei seinem Meistgebot ein Zeichen.

Der Zuschlag wurde ihm nicht erteilt. Jurgeitis reiste nach Königsberg, um mit dem Herrn Regierungsrat zu sprechen; dort hieß es, man könnte keine »Flußpiraten« zu Zeitpächtern brauchen. Er beschwerte sich über Grünbaum. Der sei ein pflichttreuer Beamter, hieß es, und kenne seine Leute.

Nun saß er fast täglich stundenlang in der Schenke am Moor und trank Branntwein, bis er seiner Sinne nicht mehr mächtig war. Die Alte mußte ihn dann abholen und nach seinem Hause führen, wo er lärmte und tobte und die lästerlichsten Flüche gegen den Fischmeister ausstieß. Selbst Else konnte ihn nicht beruhigen. Sprach sie ihm, wenn er ausgeschlafen hatte, freundlich zu, so sagte er:

»Der Teufel ist auch an deinem Unglück schuld! Meinst du, daß der Endrik noch an dich denkt? Er hat ihm so lange zugesetzt mit seinen Lügenreden, bis er dich verlassen hat. Bis zu Weihnachten wird's nicht dauern, dann ist er mit seiner Mutter wieder ausgesöhnt und tut, was sie will oder was ihr der Fischmeister einbläst. Dem ist's nicht genug, daß er mich zum Bettler macht; er hat auch einen Haß gegen dich. Weil er dir den Endrik nicht gönnt, deshalb bekommst du ihn nicht.«

Else wußte darauf nicht zu antworten; das Herz war ihr auch ohne seine Stachelreden schwer genug.

Eines Morgens, als er noch schlief, fuhr sie zu Kahn über den Fluß und denselben auswärts bis zu des Fischmeisters Haus. Dort legte sie an und ging hinein, fragte aber nicht nach ihm, sondern nach dem Fräulein. Julie hörte sie freundlich an, da sie ihr nur ihres Vaters Not klagte. Sie möchte sich für ihn verwenden, bat Else, damit er nicht ganz verzweifeln dürfe. »Man rühmt dein gutes Herz«, sagte sie, »und vielen hast du schon aus Trübsal geholfen, wenn du für sie bei deinem Vater gesprochen hast, daß er sie nicht so hart behandeln und ihnen ein Versehen verzeihen oder eine Strafe schenken möge.«

»Es kann nichts helfen«, erwiderte Julie, »mein Vater ist gegen Jurgeitis gar zu sehr aufgebracht. Warum hat er's auch so arg getrieben und zuletzt noch den jungen Endromeit verführt! Das vergißt ihm mein Vater nicht.«

Else streichelte ihren Arm. »Und du zürnst mir wohl auch des Endrik wegen, daß du dich nicht erbitten lassen willst? Aber ich kann doch nicht dafür, daß er mir nachgegangen ist.«

Julie lachte. »Jetzt könnt' ich ihn vielleicht haben, wenn ich wollte. Er soll ganz zahm geworden sein und seiner Mutter aus der Hand essen.«

Else schluckte die bittere Pille hinunter. »Gib deinem Vater ein gutes Wort«, bat sie nochmals, »Gott wird dir's lohnen.«

»Ich will's versuchen«, sagte das Fräulein mitleidig, »aber meine Bitten gelten beim Vater nicht viel, das weiß ich am besten. Es wäre sonst manches anders.«

Sie seufzte dabei und ging hinaus.

Schon nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Else hörte die Stimme des Fischmeisters im Nebenzimmer: »Dummes Zeug. Ich kann doch nicht gegen mich selbst berichten. Ich hab's ihm vorausgesagt, er hat nicht darauf geachtet, dreimal, nicht einmal. Das Gesetz existiert für das Volk nicht. Wenn es sie aber schließlich doch am Kragen hat, gibt's ein groß Lamento. Der Mann ist nicht zu halten; das Mädchen soll auswärts dienen gehen.«

Else brauchte nichts mehr zu wiesen. Sie dankte mit Tränen in den Augen und fuhr über den Fluß zurück.

»Wo warst du?« fragte Jurgeitis.

»Es ist uns nicht zu helfen, Vater«, antwortete sie, »wir müssen vom Moosbruch fort.«

»Ich für mein Teil nicht lebendig«, rief er. »Wenn ein Hund bellt, das schreckt mich nicht; wenn er mich anfällt, schlag' ich ihm auf die Schnauze. Der dort, ich will lieber Hungers sterben, als ihm noch ein gutes Wort geben. Wer weiß, wer früher aus seinem Hause muß, er oder ich?«

Dabei verzerrte sich sein Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. Die letzten Worte wiederholte er immer wieder, zuletzt vor sich hinmurmelnd, während er den Inhalt seiner Branntweinflasche gegen das Fensterlicht prüfte.

*

Der Winter brach herein, gleich mit strengem Frost. Viele Fischer wurden von ihm auf dem Haff überrascht und kamen in große Not. Über Nacht gefror das Wasser eine Meile weit hinaus am Ufer entlang. Das Eis war zu stark, um von den Kähnen durchbrochen werden zu können, und zu schwach, um Menschen zu tragen. Da bewährte sich des Fischmeisters ganze Tüchtigkeit. Vom Lande aus versuchte er, eine Rinne durch das Eis schlagen zu lassen. Da man auf diese Weise zu langsam vorwärts kam, eilte er nach der Stadt und ruhte nicht, bis man ihm das dort liegende Dampfboot zur Verfügung stellte. Mit Hilfe desselben gelang es ihm, ins offene Wasser vorzudringen und mehrere der Fischer, die dort noch kreuzten, in Sicherheit zu bringen. Einige waren aber bereits tief im Eise eingefroren; es mußte ein neuer Versuch gemacht werden, ihnen vom Lande aus nahe zu kommen. Mit leichten Booten, Handschlitten und langen Stangen begab man sich unter Führung des braven Kapitäns auf das unsichere Eis. Wo dasselbe zuletzt ganz unhaltbar wurde, schlug man mit Äxten ein. So gewann man freie Fahrt zu den Kähnen und rettete die Menschen, die achtundvierzig Stunden lang ohne Lebensmittel auf ihren offenen Fahrzeugen dem scharfen Froste ausgesetzt gewesen waren. Dank wollte der Fischmeister von keinem annehmen.

»Es ist ja meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit«, sagte er lachend und die erstarrten Hände reibend.

Noch einmal riß der Weststurm das Eis auf, trieb es in die Strommündung hinein und schob es an den Ufern zusammen. Erst im Januar wurde die Decke fest, so daß die Winterfischerei in Zug kommen konnte. Nun wurde es auch auf den Flüssen lebendig; in langen Reihen fuhren Schlitten mit hellem Schellengeläute das Heu von den weiten Wiesenflächen der Niederung ab, teils tiefer in das Land hinein, teils über das Haff nach der Stadt. In der Schenke am Moor war täglich vom Morgen bis zum Abend ein lustiges Treiben; da stampften die Fuhrleute in ihren Schafpelzen sich die Füße warm, saßen am großen Kachelofen und forderten Glas auf Glas. Jurgeitis war oft unter ihnen, trank mit jedem neuen Gast und sang litauische Schelmenlieder oder schimpfte zur Belustigung des rohen Volkes auf die Fischereiaufseher, Förster und Wiesenpächter. Zuletzt seiner Sinne kaum noch mächtig, tanzte er, mit dem vollen Glase in der Hand, auf der Diele umher, jauchzte laut auf, schnitt Grimassen und rief:

»Den Fischmeister soll der Teufel holen – tralala! Dem Grünbaum müssen alle Blätter abfallen – ju–u–ih! Wasser muß der Kapitän saufen – heidi! Ich laß ihn schwimmen – schwimmen – schwimmen mit den Fischen – juchhe! Wartet ab, bis das Eis aufgeht, da wird er ans Land kommen – hi, hi, hi! juchhe!«

Er ist im Kopfe verrückt, hieß es allgemein.

Noch früh am Tag, wenn die Schenke sich geleert hatte, warf Jurgeitis sich aufs Bett und schlief fest bis Mitternacht. Dann aber stand er auf, rumorte ohne Licht in der Stube herum, unter seinem Handwerkszeug, schlug den Pelzkragen hoch auf und ging hinaus; selbst Else wußte nicht, wohin. Erst nach Stunden pflegte er zurückzukehren, vor Kälte an allen Gliedern zitternd. Einmal hatte er sich so verspätet, daß das Morgenlicht schon durch die befrorenen Fensterscheiben in die Stube dämmerte. Da sah Else, daß er eine Säge unter seinem Pelz hervorzog und in die Ecke stellte. Er geht in den Wald nach Holz, dachte sie und beruhigte sich dabei. Fragen wollte sie nicht, um nicht Mitwisserin seines heimlichen Tuns zu sein.

Er ging aber nicht in den Wald nach Holz, sondern schlich in den dunklen Nächten quer über den Fluß, am Ufergebüsch hin, bis zu des Fischmeisters Haus. Es ruhte auf Pfählen und stand jetzt wie auf dem Eise. Auf den Knien konnte man unter das Haus kriechen, wenn man das dichte Strauchwerk zur Seite bog.

Das tat Jurgeitis, und dann, halb liegend, halb kniend, setzte er seine Säge an den nächsten Pfahl und machte in der Mitte einen Kreisschnitt, möglichst tief in das Holz hinein, immer mit kurzen Stößen vordringend. Die Arbeit war schwer und ermüdend. Wegen des Druckes von oben saß die Säge oft fest und konnte nur mühsam wieder in Gang gebracht werden. In mancher Nacht gelang ihm ein einziger Schnitt von rechts oder links. Bei Mondhelle wagte er sich überhaupt nicht hinaus. Aber so langsam sich das tolle Werk förderte, seine Hartnäckigkeit ließ nicht ab davon. Nach Monaten hatte er auf diese Weise sämtliche Stützpfähle unter den Rosten angesägt.

Und noch lustiger klang es, wenn er in der Schenke jubelte: »Der Kapitän muß Wasser saufen – heidi! Mit seinem ganzen Schiff muß er schwimmen zum Memeler Tief hinaus – juchhe! – schwimmen mit den Fischen.«

Grünbaum hatte einen gesunden Schlaf; es weckte ihn so bald nichts auf. Julie aber, die vielleicht auch zuzeiten aus einem besonderen Grunde wachsam auf jedes Geräusch draußen horchte, behauptete wiederholt, es lasse sich in der Nacht öfter ein Ton vernehmen, als ob jemand Holz säge.

»Dummes Zeug!« schalt sie der Alte aus. »Ich wünschte, es sägte uns einer unser Holz klein; aber das liegt fest auf dem Stapel und rührt sich nicht, bis ich es selbst herunterhole. Das hast du von deiner Mutter – die hörte auch immer allerhand Spuk. Es ist der Wind, der um das Haus streicht und die scharfen Eissplitter durch das kahle Strauchwerk jagt. Wer wird in der Nacht Holz sägen? Dummes Zeug!«

Jurgeitis wieder glaubte das eine oder das andere Mal, daß der Fischmeister ihm auf den Hacken sei. Er hörte deutlich den Schnee knirschen wie unter dem vorsichtigen Fußtritte eines Menschen. Es war ihm auch, als bewegte sich ein Schatten an der Pfahlreihe entlang, und als ob die Hintertür am Hause leise auf- und zugemacht wurde. Er hielt dann mit seiner Arbeit ein, bis alles wieder stillgeworden war, oder gab sie für diese Nacht auch ganz auf. Einmal, schon gegen Morgen, knarrte wieder die Tür. Er hörte jemand die kleine Treppe hinabsteigen, sah eine Gestalt um die Ecke des Stalles huschen und dann im Graben sich nach dem Walde zu entfernen. Das schwache Schneelicht ließ die Umrisse nicht genauer erkennen, aber Grünbaum war es nicht. Der Vorfall ereignete sich nochmals ebenso etwa eine Woche später. Und dann ein drittes Mal, als er ungewöhnlich früh an seine Arbeitsstätte gelangt war, bemerkte er die vorsichtige Annäherung derselben Gestalt aus der Richtung vom Walde her. Er schlich bis an die vorderste Pfahlreihe heran, konnte jedoch das unter der litauischen Mütze versteckte Gesicht nicht erkennen; aber oben öffnete sich wieder die Tür, nachdem leise angeklopft war, und eine weibliche Stimme sprach etwas im Flüsterton, was er nicht verstand.

Im Hause war eine Magd. Jurgeitis kannte sie aber als eine alte Person, die schwerlich noch mit solchen Heimlichkeiten umging. Er meinte dann auch auf der richtigen Fährte zu sein, als er zu Else lachend sagte: »Dem Herrn Kapitän könnt' ich's jetzt heimgeben. Er hat dich und Endrik unter der Weide auf dem Kirchhof belauscht und ein großes Hallo davon gemacht . . . Das Fräulein treibt's schlimmer, hi, hi, hi! Läßt ihren Schatz nachts ins Haus –.«

»Wie weißt du, Vater –« fiel Else mit Vorwurf ein.

Er duckte sich und tat, als ob er horchte. »Knistert's da nicht im Schnee – schleicht's da nicht heran – trappt es nicht die Treppe herauf? Horch! Es klopft an der Tür, dahinter wartet jemand . . . Schnell auf und hinein – husch, husch, husch! Der Fischmeister schläft bis zum Morgen – der hat einen festen Schlaf.« Er sprang auf und ballte die Faust. »Meinetwegen mag er schlafen – ich werd' ihn nicht wecken, ich nicht! Wenn's ihn hinterher toll macht, um so besser. Juchhei! Ich gönn's ihm von Herzen.« Er stampfte wie zum Tanz auf und schwenkte die Arme durch die Luft.

»Wer war's, Vater?« fragte Else. Sie traute ihm nicht recht.

Er kniff das eine Auge zu und blinzelte sie mit dem andern listig an. »Ja, wer war's? Er wird nicht so dumm sein, sich ins Gesicht sehen zu lassen. Soll ich ihn festhalten, daß er mich niederschlägt? Die Nacht ist dunkel; es sieht einer aus wie der andere. Das Fräulein wird ihren Schatz schon an der Stimme erkennen. Was geht's dich an? Der Endrik wird's ja nicht sein, hi, hi, hi! Der Endrik nicht.«

An den hätte sie zuletzt gedacht. Da ihr Vater aber nun seinen Namen nannte, ging's ihr doch ganz kalt durch. Auf dem Moosbruch hatte Endrik sich gar nicht mehr blicken lassen, und nicht einmal einen Gruß hatte er ihr geschickt, wozu doch alle Tage Gelegenheit gewesen wäre. War sie wirklich ganz vergessen?

Das Herz war ihr recht schwer. Wenn sie an dem kleinen Fenster saß und Netze strickte oder Garn spann und soviel Zeit hatte, in sich hineinzugrübeln, dachte sie oft genug, daß es für sie wohl am besten sei, in die weite Welt hinauszugehen und bei fremden Leuten Dienst zu tun. Dann wäre der Endrik ihrer ledig, und sie selbst hätte ihn freigegeben und könnte sich einbilden, hätte sie es nicht getan, er würde sie nicht verlassen haben. Aber ihr Vater! Durfte sie jetzt von ihm gehen? Sie sah ja doch, wie kläglich es um ihn stand. Bei recht gesundem Verstand war er nicht mehr, auch wenn er einmal völlig ausnüchterte. Wenn er im Frühjahr die Hütte auf dem Moosbruch abbrechen sollte, wer weiß, was er dann in seiner Wildheit tun könnte! Nein, in dieser schweren Zeit durfte ihm die Tochter nicht fehlen.

*

Der Februar ging vorüber und der halbe März. Dann kam Sonnenschein, dann nochmals scharfer Frost, dann in ganz plötzlichem Umschlage Sturm und Regen bei lauer Luft. In den Wäldern und auf den Wiesen schmolzen die gewaltigen Schneemassen, die Eindecke auf den Strömen und Kanälen wurde unsicher und brach doch nicht. Weithin an den Uferrändern entlang stand darauf das Wasser, überstaute das flache Land, Wiesen, Äcker und Wege. Über der ganzen Gegend lagerte ein gelbgrauer Nebel, der nur schattenhaft die nächsten Häuser und Bäume erkennen ließ. Nicht zu Fuß, nicht zu Wagen, nicht zu Kahn konnte man von der Stelle; alles Feste und Flüssige schien sich wieder zu vermischen und die Erde ein weicher Brei zu werden, der sich in Nebel aufzulösen strebte.

Man hat dort einen eigenen Namen für diesen entsetzlichen Zustand, der oft Wochen andauert, mit unheimlicher Gewalt jede Bewegung hindert. alles Leben zu vernichten droht und die Menschen in ihrer Abgeschlossenheit und Hilflosigkeit zum Tode traurig stimmt. Der »Schaktarp« heißt er, und man denkt sich ihn nun wie ein Gespenst, das heranschreitet und sich riesengroß über die ganze Niederung legt, jedem die Brust bedrückt und das Atmen erschwert. Der Schaktarp kommt, sagt man, und der Schaktarp geht oder zieht ab, oft über Nacht, wie er kam. Schnee und Eis sind dann langsam aufgezehrt, in Dunst verwandelt. Die Nebelwand hebt sich, und die Sonne, die lange wie eine trübe Ampel durch dieselbe sichtbar wurde, beginnt nun, mit ihren wärmeren Strahlen das Erdreich zu trocknen.

In diesem Jahr hatte der Schaktarp, so lange er auf sich warten ließ, doch jeden überrascht. Man meinte, der späte Frost, der eine Eisdecke über die andere gelegt hatte, werde eine Weile anhalten. Am Abend war man noch tief im Winter, und am Morgen darauf rieselten die Bächlein von allen Dächern, trat der Fuß in unergründliche Pfützen von Schneewasser. Das gespenstische Ungeheuer schien diesmal mit rasender Eile einholen zu wollen, was es solange versäumt. Bei völliger Windstille und lauwarmer Luft verdichtete sich der Nebel schon am dritten Tage so stark, daß man nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Else brannte bei ihrer Arbeit eine Lampe. Jurgeitis, der nicht einmal bis zur Schenke am Moor gelangen konnte, um seine Flasche neu zu füllen, schien von allerhand spukhaften Gestalten verfolgt zu werden. Unruhig griff er dies und das an, sprach mit sich selbst, weinte und lachte, sang geistliche Lieder und las aus der litauischen Bibel laut vor. »Herr, hilf!« rief er oft dazwischen.

Plötzlich ein neuer, überraschender Witterungswechsel.

Der eben noch bleischwer lastende Nebel kam in eine wogende Bewegung, als ob er von oben her stoßweise niedergedrückt würde, auswiche und wieder zurückströmte. Wenige Minuten darauf heulte der Sturm über die weite Fläche hin, die kahlen Bäume beugend und die Strohdächer zausend. Die Luft kühlte sich im Moment ab; die Dunstmasse erstarrte zu seinen Eisspitzen und prasselnden Hagelkörnern. Das offene Wasser über den Wiesen und Äckern schlug Wellen, wie ein breiter See; mit donnerartigem Krachen barst die Eisdecke auf dem Fluß, wie von einem riesigen Nacken gehoben. Durch die Spalten quoll die strömende Flut und riß sie weiter auf; das Grundeis drückte dagegen, nahm die losgelösten Schollen auf seinen Rücken und stemmte mit verstärkter Wucht gegen die noch widerstandskräftige Mauer. Endlich, nach stundenlangem Kampf, hatte die mächtige Strömung sich mitten im Fluß eine Rinne geöffnet. Vom Sturme aufgehalten, ergoß er sich zu beiden Seiten über die Eisfelder und weithin über das mit Schollen bedeckte Land. Zurückgeschwemmt und von rechts und links übereinandergeschoben, stopften sie schnell wieder die schmale Wasserstraße. Nur kurze Zeit. Dann krachte, knackte, prasselte, knallte es von neuem. Nun war die ganze Eisschicht an den Rändern gelöst, schnellte einen Fuß hoch auf, zersplitterte und wälzte sich mit den Wogen vorwärts.

Else blickte durch das Fenster, das grauenhafte Naturschauspiel mit ängstlicher Spannung beobachtend. Hinter ihr stand Jurgeitis, die Hand gegen den Pfosten gestützt, den Kopf vorgebeugt, unbeweglich auf einen bestimmten Punkt schrägüber am jenseitigen Ufer hinstarrend.

»Es ist gut, Vater«, sagte Else, »daß wir unsern Kahn im Graben hinter dem Hause in Sicherheit gebracht haben. Dort treibt ein anderer zwischen den Eisschollen – sie reißen ihn im Kreisel herum – packen ihn wie mit Zangen – zerdrücken ihn – stoßen ihn hinunter – sieh nur, sieh!«

Jurgeitis schien sie gar nicht zu hören. Er starrte mit fieberhafter Erwartung immer auf den Gegenstand drüben hin. »Nun – nun! Nein, noch nicht – wieder vorbei! Ah – das, das kann helfen – ein Ruck, noch ein Ruck! Faßt ihn, packt ihn, hebt ihn – noch ein Ruck! Hurra – so war's gut! Hurra!«

Seine Brust keuchte, und der Fensterpfosten zitterte unter dem Drucke seiner Hand. Else wandte den Kopf nach ihm um. In diesem Augenblick aber bewegte sich drüben in der Ferne eine dunkle Masse. Da stand des Fischmeisters Haus . . . Ohne Zweifel – es bewegte sich, schwankte, wurde von den ringsum gelagerten Eisschollen seitwärts geschoben.

»Vater, was ist das!« schrie sie auf. »Das Haus bricht zusammen – barmherziger Gott! – Das feste Haus!«

Er schlug eine helle Lache auf. »Das feste Haus – ja, ja! Des Kapitäns Haus steht auf hölzernen Pfählen – ha, ha, ha! – fußdick, fest eingerammt. Noch ein Ruck – da – bauz! Nieder mit dem Satan, nieder, nieder!«

Das Haus senkte sich, aber nur wenig. Es schien auf den Eisschollen festzusitzen. Keine Minute lang. Dann hob es sich wieder mit diesen, schwankte wie ein Schiff, erhielt einen Stoß, einen Gegenstoß und drehte sich halb um sich selbst. Eben brach der Sturm von neuem los, legte sich mit voller Wucht dagegen, riß es mitsamt den Schollen vom Ufer ab und warf es mitten auf den Strom, mit dem es nun forttrieb. Es war eine wundersame Erscheinung, das Haus so heranschwimmen zu sehen, von den Eismassen getragen. Aber sie trugen nicht lange die überschwere Last. Eine Scholle nach der anderen bröckelte ab, der hintere Giebel senkte sich, dann der vordere; das Haus legte sich auf die Seite, richtete sich noch einmal auf, und nun, mitten im breiten Strome, gerade gegenüber der Kate des Jurgeitis, sank es plötzlich in die sich rings aufbäumenden Schollen hinein, stieß krachend auf den Grund, wurde noch eine kurze Strecke geschleift und saß dann fest. Else hatte die Hände über die Augen gedeckt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Als sie wieder aufblickte, stand das Haus bis über die Hälfte der Wände im Wasser. Die Wellen schlugen in die Fenster hinein. Mächtige Eisblöcke jagten unaufhörlich vorüber, stießen an, schoben sich dahinter zusammen, lösten sich wieder mit Gekrache und rissen große Stücke der Holzverkleidung mit sich fort.

Keine Stunde konnte dem Anschein nach der erschütterte Bau dem wütenden Angriff der sturmgepeitschten Wogen standhalten. Hatten die Bewohner sich rechtzeitig retten können? Aber wie hätten sie die Gefahr ahnen sollen? So schweren Eisgängen hat das Haus schon oft genug getrotzt. Und da öffnete sich auch oben im Giebel ein Fenster – der Arm schien es gegen den Sturm nur mit Mühe halten zu können. Der Kopf des Kapitäns erschien. Schrie er etwas hinaus, so waren die Worte jedenfalls nicht verständlich. Nun winkte er mit einem Tuche – der Wind riß es ihm aus der Hand. Von hinten her wurde ihm ein anderes gereicht. Er winkte und winkte, aber niemand schien es bemerken zu wollen. Ein Hagelschauer rasselte ihm entgegen; er mußte das Fenster schließen; wahrscheinlich waren ihm die Hände ganz erstarrt.

»Der Fischmeister muß schwimmen!« schrie der Litauer. »Es hilft ihm nichts, er muß schwimmen! Aber ans Ufer kommt er nicht – das Eis schlägt ihm den Hirnschädel ein – er muß ersaufen wie ein Hund! Heißa, ersaufen!«

Nun wurden an der dem Sturm abgewandten Seite Dachpfannen ausgehoben und hinabgeworfen. Durch das Loch kroch Grünbaum, schaute nach allen Seiten aus, legte die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund und winkte mit den Armen. »Ja, winke nur«, rief Jurgeitis, »winke nur! Es sehen dich viele, aber es holt dich keiner hinüber ans Ufer. Du mußt Wasser schlucken! Wer wagt sein Leben für so einen Teufel? Winke nur, winke! Es kann kein Kahn hinaus vom Moosbruch. Du hast genug die Menschen gequält; es ist aus mit deiner Macht und Herrlichkeit, aus – aus – aus!«

Ein krachender Ton ließ sich vom Fluß her vernehmen; das Haus mußte von unten her durch das Grundeis einen neuen Stoß erhalten haben, der das Gefüge der Balken lockerte. Am Giebelfenster wurde eine weibliche Gestalt sichtbar, die verzweifelt die Hände rang. »Und ich wag's doch!« sagte Else plötzlich entschlossen. Sie griff nach dem Ruder, das in der Ecke stand.

Jurgeitis legte rasch seine Hand auf ihren Arm. »Bist du toll?« schrie er sie an. »Was willst du tun?«

»Es ist Christenpflicht, Vater.«

»Christenpflicht? Was weiß er von Christenpflicht gegen uns Litauer? Er ist ein Deutscher, er ist ein Herr, er ist ein Beamter –«

»Vater, sein Leben ist in Gefahr. Und das Fräulein – und die alte Magd . . .«

Jurgeitis versuchte, ihr das Ruder zu entreißen. »Du sollst nicht! Mag sie doch ersaufen, die ganze Höllenbrut mit dem Teufel! Arm und elend hat er mich gemacht – ohne Erbarmen jagt er mich jetzt vom Moosbruch! Wenn ich an seiner Tür bettle, wird er mich mit dem Fuß fortstoßen – das ist Gottes Strafgericht.«

Else hielt die Ruderstange mit starker Hand fest. »Gottes Strafgericht, Vater? Hast du nicht dazu geholfen, in den langen Winternächten?« Es kam ihr plötzlich die Ahnung, was sein Ausbleiben bei Nacht bedeutete.

»So ist's meine Rache!« rief er, und aus seinen Augen loderte wildes Feuer. »Meine Rache! Für all das Unrecht will ich mich rächen. Wenn ich ein Bettler bin, er soll es nicht mit ansehen – er soll mich nicht höhnen. In den Grund mit ihm! Die Pfähle habe ich durchgesägt, das war meine letzte Arbeit! An die will ich denken, wenn ich mich durchs Land bettle, wenn ich irgendwo am Zaun liegenbleibe und sterbe. Ich sage dir, du bleibst! Ich lasse dich nicht fort!«

»Und ich gehe doch!« entschied Else. »Soll ich deine Seele mit solcher Sünde beladen lassen? Willst du drei Menschenleben auf dem Gewissen haben? Halte mich nicht – ich muß!«

Sie rangen miteinander. Else war die Stärkere; sie entwand ihm das Ruder und eilte damit hinaus.

Oft tief einsinkend in das schlammige Moorland, gelangte sie zum Graben. Sie sprang in den Kahn und schob ihn mit der Stange durch das noch nicht überall flüssige Schneewasser bis zum Fluß. Hier begann der Kampf mit den zusammengeschobenen und treibenden Eisschollen, mit Sturm und Wogendrang. Wie eine Nußschale tanzte der Kahn auf dem schäumenden Wasser; wie ein Aal wand er sich durch die schmalen, sich in jedem Augenblick verändernden Fahrstraßen. Bald trieb ihn Else mit kräftigen Ruderstößen vorwärts, daß die Wellen vorn hoch aufspritzten, bald stieß sie die andringenden Schollen mit der Stange, oder auch mit dem Fuß übertretend, zur Seite. Manchmal wurde sie eine Strecke mitgerissen, oder es schien, als ob ein Eisberg über sie hinwegrollen wolle, dem wegen der sperrenden Massen nicht zu entrinnen war; aber ihre Kraft und Geschicklichkeit fand immer wieder einen Ausweg. In der Nähe des gesunkenen Hauses zeigte sich die Strömung am stärksten. Vergebens kämpfte sie minutenlang gegen sie an; immer neue Eisschollen sperrten den Zugang. Und schon fühlte sie ihren Arm matter werden. Da hörte sie vom Giebelfenster her den Notschrei der geängstigten Frauen. Grünbaum lehnte sich hinaus, eine aufgewundene Leine in der Hand haltend, zum Werfen bereit. Das gab ihr frischen Mut. Mit äußerster Kraftanstrengung stemmte sie sich gegen das Ruder; einen Augenblick war das Wasser vor ihr eisfrei – den benutzte sie, die Spitze des Kahnes scharf gegen das Haus zu kehren. Er schwankte heftig, nun mit der vollen Breitseite gegen den Strom gewendet – aber da fiel auch die Leine wohlgezielt über sie hin. Sie warf das Ruder weg, ergriff sie und zog sich ans Fenster heran.

»Gott sei gelobt!« rief der Fischmeister. »Du bist ein kreuzbraves Mädchen, Else – das soll dir nicht vergessen sein! Nun vorwärts! Erst dies in Sicherheit.«

Er warf seine Rechnungsbücher und Skripturen, die er bereits für alle Fälle zwischen kurzen Bretterstücken »zum Schwimmen« zusammengebunden hatte, in den auf und ab tanzenden Kahn hinab. »Nun die alte Person!«

Die Magd beeilte sich in ihrer Todesangst, diesem Befehl nachzukommen, hielt sich am Fensterpfeiler fest und ließ sich ins Boot fallen, als dasselbe ihre Füße berührte. »Jetzt Julie!« rief Grünbaum.

Julie schien vom Schreck wie gelähmt zu sein. Sie stand zitternd da, kreidebleich im Gesicht, und ließ unruhig den Blick vom Fenster zur Tür schweifen. Ihre Lippen waren blau gefärbt, und ihre Finger zuckten, wie von einem Krampf erfaßt. Ihr Vater faßte sie beim Arm und suchte sie ans Fenster zu schieben; aber schon nach dem ersten Schritt leistete sie Widerstand. »Was zögerst du?« fragte er; »es ist keine Minute Zeit zu verlieren.«

Sie brach in Tränen aus. »Ich kann nicht fort, Vater!«

»Dummes Zeug! Beeile dich! Der Sprung in den Kahn ist nicht gefährlich; ich halte ihn an der Leine fest.«

»Nicht deshalb . . . Aber ich kann nicht – weiß Gott, ich kann nicht!«

»In drei Teufels Namen, mache mich nicht ärgerlich . . .«

Sie sank plötzlich, wie ganz gebrochen, vor ihm auf den Boden nieder und umfaßte seine Knie. »Ich kann nicht allein, Vater . . . Es ist noch einer im Hause –«

Mit einem heftigen Ruck des Körpers machte er sich von ihr frei. »Noch einer? . . . Wer?«

»Vater, ich habe mich schwer vergangen . . .«

»Wer – wer?«

»Töte mich, aber rette ihn . . . Der Jäger Edmund Görich . . .«

Grünbaum schlug sich mit der Faust gegen die Stirn und stieß einen ächzenden Laut aus. So stand er eine Sekunde lang unbeweglich, eine schreckliche Sekunde lang. Unter ihnen brodelte und gurgelte das Wasser; beim Anstoßen der Eisschollen bebte das ganze Haus, daß die Dachbalken knickten und knackten; draußen rief die Magd: »Eilt, eilt! Wir können uns so nicht lange halten!« Der Fischmeister schien mit einem Entschluß zu kämpfen und nicht mit sich einig zu werden.

Endlich sagte er mit schneidender Kälte, indem er das Mädchen beiseiteschob: »So hole ihn – wie eine Katze im Sack will ich ihn nicht ersaufen lassen. Man findet ihn ja doch, und die Schande . . .«

Julie hörte nicht mehr, was er sprach. Sie war aufgesprungen und hinausgeeilt, hatte eine Kammertür aufgerissen und hineingerufen: »Komm! Wir retten uns!«

Der schon auf den Tod gefaßte junge Mann ließ sich willig von ihrer Hand fortziehen. Beim Anblick des Alten erschrak er heftig. »Herr Fischmeister . . .« stotterte er.

»Bube!« knirschte der Kapitän, »das kostet mein Leben. Aber fort jetzt, fort! Es ist keine Zeit zum Lamentieren. Fort, sage ich!«

Er stieß ihn gegen die Schulter nach dem Fenster hin. Görich, der einsah, daß jetzt jedes Wort der Abbitte schlecht angebracht sei, sprang ins Boot hinab und half Julie, der die Kraft versagte, sich mit den Händen an dem Fensterpfeiler zu halten, indem er sie umfaßte und hinabzog.

Der Fischmeister warf einen Blick hinaus. »Das Boot ist voll!« rief er. In demselben Moment ließ er die Leine los. »Vorwärts! Ich bleibe.«

Julie schrie auf und sank ohnmächtig nieder. Schon hatte die Strömung den Kahn fortgerissen; zwischen ihn und das Haus schoben sich die Eismassen. Else versuchte es mit allem Kraftaufwand, sich ihm noch einmal zu nähern – ganz vergebens. Der Kahn war jetzt zu schwer belastet. Es konnte auch kein Zweifel sein, daß der Fischmeister sich nicht hatte retten wollen; denn an Raum für ihn fehlte es nicht. So hielt sie nun, um den Kahn nicht in die äußerste Gefahr zu bringen, auf das Land und erreichte wirklich eine Strecke stromaufwärts nach unsäglichen Mühen das Ufer, wo sie von den Leuten, die zu Fuß auf den Dämmen oder zu Kahn auf den Gräben herangeeilt waren, mit Jubelrufen empfangen wurde. Dann lief die Frage um: »Aber der Fischmeister – wo ist der Fischmeister?« Man wunderte sich auch wohl darüber, den Forstgehilfen im Boot zu sehen, fragte aber immer wieder nach dem Fischmeister.

Julie war schon auf dem Wasser zu sich gekommen, hatte aber über den Bord starrend dagesessen, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur einen Laut hören zu lassen. Auf die freundlichen Zureden Görichs schien sie gar nicht zu achten; seine Hand, mit der er sie an sich zu ziehen suchte, schob sie zurück. Nun auf dem Lande umfaßte sie Else und rief: »Rette meinen Vater! Ich will nicht leben, ich kann nicht leben, wenn er ertrinkt.«

Else hielt noch das Ruder in der Hand; sie war sehr erschöpft, und ihre Brust atmete stürmisch von der übergroßen Anstrengung. »Aber wie kann ich . . .« sagte leise, »jetzt noch gegen den Strom? Wir sind weit abgekommen . . .«

»Rette meinen Vater!« flehte Julie. »Meinetwegen ist er zurückgeblieben. O Gott, was habe ich getan? Mein ganzes Leben lang kann ich nicht mehr ruhig werden. Er straft mich fürchterlich! Else, wenn er mit dem Hause versinkt . . . es macht mich wahnsinnig. Diese Angst, die ich ausgestanden habe schon drei Tage lang! Er war in der Frostnacht gekommen und konnte am Morgen nicht mehr fort . . . ich ließ ihn nicht fort. Mein Vater wußte nichts, und erst im letzten Augenblick . . . Else, rette meinen Vater!«

Else stützte sich mit beiden Händen auf das Ruder; sie schien sich nur mühsam auf den Füßen zu halten. Mitleidig sah sie das Fräulein an, das vor ihr die Hände rang; aber ein tröstliches Wort konnte sie nicht sprechen. »Ich möchte wohl«, sagte sie mit gepreßter Stimme, »aber es ist jetzt unmöglich.«

Julie wandte sich den umstehenden Leuten zu. »Rettet meinen Vater!« bat sie, »und ich will's euch danken, wie ich kann.« Der Jäger bot Geld. Aber die Männer zuckten die Achseln. »Uns ist auch das Leben lieb«, hieß es, »man soll nicht Gott versuchen, und für den da . . .« Es war ja der verhaßte Fischmeister, für den man sich in Gefahr bringen sollte.

Julie kehrte zu Else zurück und griff nach dem Ruder. »Dann will ich selbst . . .«

»Das ist Tollheit! Du bringst den Kahn nicht zehn Schritte weit durch das Eis.«

»Aber es muß etwas geschehen –«

»Warte noch eine Minute – die Kräfte kehren mir schon zurück.«

»Else, gute Else, du willst es versuchen?«

»In Gottes Namen!«

Die Nachbarn mahnten ab, wollten sie zurückhalten. Aber sie war nun schon fest in ihrem Entschluß und achtete auf deren Warnungen nicht. »Was liegt auch an mir?« sagte sie zu Julie, die ihr folgte. »Du hast deinen Schatz, aber ich . . . Dachte ich's doch gleich, daß es der Jäger wäre. Wenn ich nicht wiederkomme – grüße den Endrik.«

Sie stieg in den Kahn und stieß ab.

In diesem Augenblick wurde von der rechten Seite her ein gellender Schrei vernommen. Dort stand Jurgeitis, ohne Kopfbedeckung auf einem Baumstubben in drei oder vierhundert Schritt Entfernung vom Landungsplatz. Seine bloßen Füße und Waden waren mit einer Kruste von Moorerde bedeckt. So weit hatte er sich durchgearbeitet; nun aber hemmte ihn ein breiter, offener Graben, der an den Nachbarhäusern vorbeiführte. Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte er das Boot mit den Augen verfolgt, das seine Tochter trug. Als es sich wieder dem Lande näherte, war er in die Knie gesunken und hatte die Hände zum Himmel aufgehoben. Und dann – unter den Geretteten war der Fischmeister nicht. »Er muß doch daran glauben«, murmelte er mit verbissenen Zähnen. Da geschah das ganz Unerwartete: Else begab sich noch einmal aufs Wasser. Der Schreck darüber preßte ihm den wilden Schrei aus.

Else war nicht mehr zurückzurufen. »Sie fährt in den Tod!« rief er verzweifelt! »Mein Kind – mein einziges Kind! Und ich – ich – ich! Nein! Und wenn ich selbst den Teufel da herausholen müßte, sie soll sehen, daß sie einen Vater hat – sie soll umkehren. Zweimal – das kann kein Mensch leisten! Sie soll . . . Ihr nach!«

Er lief am Graben entlang bis zum nächsten Hause und machte das dort liegende Boot flott. Der Nachbar reichte ihm ein Ruder. Bald kämpfte auch er gegen die Eisschollen, die sich wieder dichter am Ufer zusammengeschoben hatten.

Else aber war ihm weit voraus. Sie sah auch nicht hinter sich, sondern setzte links mit aller Kraft das Ruder ein, um die Strömung zu bewältigen. Ihre Arme wurden matt, aber sie dachte immer an Endrik, und das gab ihr frischen Mut. Doch dauerte es länger als eine Viertelstunde, bis sie das Haus erreichte, das sich inzwischen schon bedenklich auf die Seite gelegt hatte. Ein Brett war am Giebel ausgedrängt, und an dem hielt sie sich mit beiden Händen fest. »Herr Kapitän, Herr Kapitän!« rief sie hinauf.

Grünbaum sah durchs Fenster. »Donnerwetter! Plagt dich . . .«

»Schnell, Herr Kapitän, das Brett hält nicht lange den Gegendruck aus –«

»Aber du hörst doch, ich will nicht! So mit Schimpf und Schande . . .« Er unterbrach sich plötzlich, streckte den Arm aus und rief: »Element! Wer ist denn das dort? Gott soll mich strafen, der Jurgeitis! Er steckt im Eise fest – die Scholle schiebt sich unters Boot . . . Backbord, Backbord, dummer Kerl! Wahrhaftig, er schlägt um.« –

Mit einem mächtigen Satz durchs Fenster sprang der Kapitän in den Kahn unten, nahm dem zitternden Mädchen das Ruder aus der Hand und arbeitete sich durch die hoch aufspritzenden Wogen. Eine neue Sturmwolke brauste schwarz heran. Hinter ihnen brach das Haus zusammen.

Aber Else hörte und sah nichts davon. Sobald der Fischmeister ihres Vaters Namen genannt, hatte sie umgeschaut und mit einem Blick die Gefahr erkannt, in der er schwebte. Grundeis mußte das Boot gehoben und auf die Seite geworfen haben; es gehorchte dem Ruder nicht mehr. Und nun holte es ein breites Schollenfeld ein, stieß mit ganzer Wucht dagegen, brach die Bordplanke ein, drückte es nieder und warf den Fährmann kopfüber hinaus. Jurgeitis überschlug sich mit dem Ruder und versank in der Tiefe. Das Wrack kehrte die Spitze aufwärts und schwamm mit dem Eise, in das es eingekeilt war.

Der Fischmeister war nicht mehr fünfzig Schritt von der Stelle entfernt, als es geschah. »Dem ist nicht zu helfen«, sagte er, Atem schöpfend. Else war starr vor Entsetzen. Nach einer Weile erst brach sie in lautes Wehklagen aus.

Da tauchte etwas Dunkles neben dem Kahne auf. Grünbaum griff danach, indem er zugleich das Ruder unterstemmte. »Mein Vater!« schrie Else. Beide zogen den regungslosen Körper hinein. Kein Zweifel: Jurgeitis war ertrunken.

Am Lande wurden vergebliche Versuche angestellt, den Toten ins Leben zurückzubringen.

*


 << zurück weiter >>