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[Vorwort]

Walt Whitman ist der erste und der größte Dichter Amerikas und einer der bedeutendsten, von denen die Welt vernommen hat. Reckenhaft steht er über dem amerikanischen Kontinent, breitbrustig und sonnverbrannt, das weiße Haupt hoch über die höchsten Gipfel erhoben, mit den Füßen fest der Erde verhaftet. Sein Blick durchdringt die Staaten von Meer zu Meer, sein Ohr hört jeden Vogelruf, aus der Druckerschwärze wittert er den Maiwind der fernen Prärie, die tastende Hand bringt ihm entzückende Botschaften. Sein Herz ist erfüllt von Liebe zu jeder Kreatur und die Brust geschwellt vor Lust und Freude an dieser Welt. Seinem Geiste ist die Geschichte der Menschheit gegenwärtig, das Gemüt an den Mythen der großen Menschheitslehrer erbaut, klar geordnet dem Verstande das Wissen der Zeit.

Aus hingebender Versenkung in die Vergangenheit verheißt er dem Menschengeschlecht eine paradiesische Zukunft. Voll Ehrfurcht gegen die alten Idole entwirft er der Menschheit ein neues. In die Wissenschaft vom Stoff schmilzt er die Forderungen der Seele.

Ein neues Menschengeschlecht verkündet er. Die Männer athletisch, anmutig die Frauen, Leiber und Seelen harmonisch gesteigert, dem Gesetz des Lebens sich fügend wie Pflanze und Tier, erleuchtet, wissend um das göttlich Unsterbliche in jedem Menschenbruder. An diesen Menschen glaubt er mit leidenschaftlicher Liebe, ihm verheißt er: nicht den Himmel, aber das Paradies auf Erden. Er glaubt an das ewige Leben und die Unsterblichkeit; Tag und Nacht, Winter und Frühling bezeugen ihm, daß der Tod das Leben vorwärtsleitet, nicht beendet.

Für kommende Geschlechter singt er das Lied vom neuen Menschen, mächtig, schön, unvergänglich für alle Zeit. Seine Sprache ist sanft und durchdringend wie nächtliches Flüstern und machtvoll gebietend wie der Ruf des Kapitäns auf stürmischer See.

Seine Liebe schmelzend wie der Märzwind und erfreuend wie die Frühlingssonne. Er liebt ohne Bedingung und liebt auch im Verbrecher den Bruder und den Abglanz seines Menschenbildes. Er liebt am Strom des Lebens die Ufer Tugend und Laster, den sandigen dunklen Grund ebenso wie den blitzenden Wasserspiegel, denn alle Teile gehören zum Ganzen. Er liebt die Frauen und die Schönheit, aber seine Liebe ist von der Art, die die alten Frauen, die gesegneten Mütter am schönsten findet.

Er preist den Feuerrausch der Zeugung kühner und freier als je ein Dichter zuvor; aber er hebt die Lust in den Rang göttlicher Schöpferkraft, fordert von den Männern zuchtvolle Reinheit und von den Weibern unbefleckte Keuschheit. Über die Schönheit des Leibes, Gefäß der göttlichen Seele, jauchzt er, spricht auch den Leib heilig und schilt die Toren, die ihr Schönstes besudeln. Er sieht mit Staunen die Wunder der Natur, aber das größte Wunder ist ihm, daß es einen gemeinen und ungläubigen Menschen gibt. Den in kameradschaftlicher Liebe verbundenen Bürgern erhebt er den Sinn zum Wohle des Ganzen, verlacht die Armen, die da Gold und Geld raffen und verschenkt die echten Reichtümer des Lebens.

Die Freiheit ist ihm das höchste Gut, und er liebt die Demokratie, die Hüterin von Freiheit und Recht. Gegen die Machthaber im Staate rät er zu Trotz und Aufsässigkeit, damit deren Ohren offen bleiben für die Meinung des Bürgers. Er mahnt, auf dem Recht der persönlichen Freiheit mit Eifersucht zu beharren; denn hinter einem Augenblick des Verzichts harre die lange Sklaverei.

So singt er uns den Sang Amerikas und packt uns mit zärtlichen Melodien oder gewaltigen Liedern. An Gehalt sind seine Gesänge so übervoll, daß sie die Formen der Verse sprengen und in mächtigen freien Rhythmen strömen. Sie sind so köstlich wie die unvermischten Gaben der Natur. Sie schenken Gesundheit dem durch Süßigkeit und Genußgift geschwächten Geschmack.

*

Walt Whitman wurde 1820 auf der Insel Long Island, die New York vorgelagert ist, geboren. In Brooklyn ging er zur Schule. Er war intelligent und las viele Bücher. Nach der Schulzeit wurde er Schreiber in einer Anwaltskanzlei, Schullehrer, Setzer, Berichterstatter und Redakteur einer Brooklyner Zeitung, dann ging er einige Jahre als Journalist in die Mittel- und Südstaaten. Später rief ihn der Vater nach Hause zurück, damit er das väterliche Geschäft übernehme. Er erlernte deshalb das Zimmermannshandwerk, wurde Baumeister, baute Arbeiterhäuser und wurde vermögend. Dann brach der Krieg gegen die Südstaaten aus, und er war drei Jahre bei der Truppe als Sanitäter. Als der Krieg beendet war, war seine Gesundheit geknickt und sein Vermögen weg. Wegen seiner Verdienste im Kriege wurde er vom Staatsdepartement als Schreiber eingestellt. Als sein Chef, ein frommer Methodist, die »Grashalme« las, flog er aus dem Amt. Er lebte dann in bitterer Not. Die »Grashalme« aber fanden ihre Leser; und er wurde bekannt. Das Staatsdepartement stellte ihn, durch Vermittlung einflußreicher Freunde, in einer anderen Abteilung wieder an und bezahlte ihn gut. Nun traf den 54jährigen ein Schlaganfall, daß er das Amt aufgeben mußte, und wieder erlebte er eine Zeit der Armut und Not. Die »Grashalme« aber erlebten neue und erweiterte Auflagen und begannen ihn berühmt zu machen. Er zog sich aufs Land zurück und verbrachte einen besonnten Lebensabend. Im Jahre 1892 verschied er 72jährig.

W. Schlösser


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