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Der »Vorklang« gehört nicht eigentlich zur Handlung des »Romans« – der minder beschauliche Leser kann also sogleich mit dem Briefwechsel selbst auf S. 25 beginnen.
Wer aber das ganze Buch gelesen hat, wird überrascht sein, wie in diesen um zehn Jahre älteren Tagebuchblättern nicht nur das Milieu der Heldin des Romans anschaulich wird, auch manche Einzelheiten des späteren Geschehens und Erlebens schon vorausklingen, sondern vor allem, wie die Eigenart Franziska von Altenhausens hier bereits deutlich vor Augen tritt. Anderseits kommt das erstaunliche geistige Wachstum, das sie im Verkehr mit dem Freunde erlebt hat, durch dieses Gegenüber des Briefwechsels und Vorklangs erst voll zur Geltung.
So wird diese Ouvertüre, die zunächst in das folgende Drama einführen soll, in ihrer vollen Bedeutung für das Ganze vielleicht erst von dem recht verstanden und gewürdigt werden, der das Drama bereits kennt und dann den Vorklang zum anderen Male auf sich wirken läßt.
Aus Franziska von Altenhausens Tagebuch auf Norderney 1888
Norderney, 25. 7. Also vier Wochen muß ich – mit meinen 20 Jahren – nun mal wieder so tun, als ob ich wer weiß wie sicher und selbstbewußt wäre!
Todmüde von der langen, heißen Fahrt kam ich gestern hier an. Herr Rudolf empfing mich auf der Landungsbrücke, nannte mich »gnädigste Comtesse« und führte mich mit zierlichen Worten in die Villa. Ein altes schrumpfeliges Fräulein mit schwarzem Spitzentuch, über die Ohren gebunden, begrüßte mich knicksend, ich wurde eine enge Treppe hinaufgeführt, und dann standen die beiden alten Leute und verbeugten sich und frugen, ob mir mein Zimmer gefiele.
Gefällt's mir? So recht noch nicht, aber ich glaube, es kommt noch. Klein ist's und altmodisch, mit gehäkelten Deckchen auf Tischen und Sofa, auf dem 5 bunte Rückenkissen paradieren, Spiegel, in dem man sich nicht sehen kann, Waschtisch, an dem man sich nicht waschen kann, weil er zu klein ist. Aber der Balkon ist schön und bietet eine herrliche Aussicht auf mein Meer.
Heute morgen bin ich langsam die Strandmauer hinuntergegangen und habe kurze Zeit der Kurmusik zugehört – ich wurde melancholisch, als ich die Leute alle zu Zweien und Dreien gehen sah, und verlegen, wenn man mich ankuckte, deshalb kroch ich wieder in meine stille Klause und las in meinem Goethe.
Nachmittags habe ich am Meer gelegen und den herzigen Kindern zugesehen. Das große Meer und die kleinen Kinder passen zusammen! Eins schmückt das andere. Steht da so'n kleiner blaugestreifter Dreikäsehoch mit goldigen Locken, die ihm über die himmelblauen Augen fallen, und wirft mit gewaltigem Sichhaben Steinchen ins Meer – dann plätschern die Wellen vor Freude und möchten seine Füßchen küssen. Und das klimperkleine Ding im roten Häubchen und türkischen Hängekleidchen sieht wie eine schöne Wasserpflanze aus, die ans Land geworfen ist und nicht lange Urlaub hat, die Wellen wollen's wieder haben – patsch! tritt's schon mit den kleinen Füßen hinein. »Du ungezogenes Ding!« schreit die Bonne und reißt's am kleinen Arm – ach, pfui die großen Menschen!
Jetzt scheint der Mond ganz voll und rotgolden auf meinen Balkon. »Feuerwerk heut Abend!« schrie der Ausrufer, als wir unser Ragout vom Kalbshirn!!! aßen – ja, drei oder vier Raketen sind geflogen, haben auch getan, als ob sie knallten, aber dann war's vorbei, und der Mond und ich lachten über so viel Lärm um Nichts. Er will noch weit reisen, wie ich glaube, und ich gehe ins Traumland, notabene wenn ich schlafen kann! Vielleicht läßt das liebe Meer, wie am Tage, so auch in der Nacht mir keine Ruhe, und ich muß in meinem Bette Boot fahren anstatt schlafen zu dürfen.
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27.7. Heute hat's mit Sonne angefangen und mit Regenströmen geendet. Bis 6 hielt ich's zu Hause aus, dann band ich ein tüchtiges Tuch um und ging nach der Brücke. Der Wind war so stark, daß man kaum vorwärts kommen konnte, aber dann war's schön. Keine Menschen! und dafür eine große Welle nach der anderen, die an mir vorbeizog. Ich habe solch ein Gefühl des Verstehens mit dem Meere. Da ist mir nichts fremd und unheimlich, nichts klein und verächtlich – etwas Liebes, Bekanntes redet zu mir und nimmt mir das Gefühl des Alleinseins, das ich unter den Menschen so leicht habe.
Bei Tisch sitze ich neben einem dicken Amtsrichter oder so was, der sehr gern Aal ißt und mir versprach, ich solle seine Kinder kennen lernen. Er meint gewiß, daß ich einsam bin, weil ich so allein in meinem Zelte liege, und will mir einen Trost mit seinen Kinderchen geben – der Gute! So machen's die Leute. Jeder will uns auf seine Façon selig machen und bedenkt nicht, daß er da in seinem Nächsten ein fremdes Uhrwerk vor sich hat, in dessen geheimnisvollen Betrieb er vielleicht störend eingreift. Bis jetzt habe ich mich noch nicht einen Augenblick einsam gefühlt.
Heute Abend rauscht das Meer laute Grüße zu mir herauf. Es macht mich müde und läßt mich besser schlafen als in unserem stillen Dorfe. Es ist lächerlich, wie derb mein Meer mit seinen Freunden umgeht – nichts Gekünsteltes mag es leiden, es ist schon das Beste, man tut ihm seinen Willen, wie ich's mache. Ich trage jetzt einen runden roten weichen Filzhut, den ich, je nachdem der Wind bläst, bald rechts, bald links niederklappe, dazu mein graues Tuchkleid und, wenn es kalt wird oder regnet, ein buntgestreiftes Plaid – von meiner lieben Großmama stammt es und leuchtet in schönen bunten Streifen auf scharlach Grund. Dicht über das Haar, unter den Filz, einen weißen Schleier gebunden – so gefalle ich scheinbar dem Meer, denn es verweht mir kein Härchen mehr, während ich vorher ganz zerzaust wurde.
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28.7. Ich habe heute doch einige Mal den Mund auftun müssen. Vor meinem Zelt gab's viel Lärm von Müttern und Kindern; die Väter schaufelten mit großem Getue einen Sandwall gegen das Meer, und eine gute dicke Frankfurterin schämte sich vor mir wegen ihres zweijährigen Schreijungen – ich habe sie getröstet. So ein Kindchen, das mit den kleinen Füßen in die große Welt laufen muß, findet auf Schritt und Tritt Hindernisse und Unbequemlichkeiten, die wir gar nicht mal ahnen – was Wunder, daß es da weint?! Die dicke Frankfurterin war dann gut zu mir und ist mit Mann und Kindern mit mir im Segelboot gefahren. Die lieben Leutchen waren freilich so ein bischen anders – aber mein Meer war schön, grünblau, ein ganz leiser Wind ließ das Boot traumhaft geräuschlos und unmerklich dahin gleiten. Auge und Herz füllen sich mit wunderbaren Bildern.
Nach dem Abendbrot ging ich noch ein halbes Stündchen in mein Zelt. Die Kinder waren in ihre Bettchen gekrochen, das Meer schlief, die unzähligen Boote lagen bewegungslos auf dem glatten Spiegel, ein weißes Dampfschiff hatte Lichtchen aufgehißt, vom Etablissement drangen weiche Walzertöne zu mir herüber, und ich lag in mein Plaid gewickelt und wünschte meine liebsten Menschen herbei.
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2.8. Ganz stille Tage liegen hinter mir, die als unbeschriebenes Blatt verwehen mögen. Heiße, heiße Sonne. Der Strand am Vormittag in Glut getaucht. Ich liege in meinem Zelt, studiere Kinder und große Leute, freue mich über das kleine Comteßchen hier unten im Haus, das so goldige Locken hat und seine Puppe so liebt, ärgere mich über die Diakonissin, die bei der Gräfin ist und den Kindern immer mit dem »Bösen Mann« droht, amüsiere mich über ein kleines weißes Bürschchen, das wie ein Naturforscher stundenlang am Strande Muscheln und Seetiere sucht, moquiere mich über zwei Schlapse, die à la Newfoundländer mit einer jungen Dame verkehren, choquiere mich über ein Mädchen, das alle Kleider à la Höschen aufgesteckt hat, und spediere mich nach solch ereignisreichem Tage in mein Bett. »Keine Freude gehabt und Niemand Liebes erwiesen – arme Seele, mit Recht nennst du verloren den Tag« – der Spruch hängt zu Hause über meinem Bett. Hier gilt er nicht. Denn, wenn mein Leben auch recht still und einsam ist – mein Meer legt doch immer wieder für mich ein anderes Gewand an und singt mir täglich und stündlich eine neue Weise.
Nelken stehen vor mir – liebe Blumen des Glücks.
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4.8. Abends gibt es immer ganz lustige Unterhaltung. Der gute Amtsrichter schließt mich, wie ich fürchte, immer mehr in sein dickes Herz. Einmal habe ich schon erklärt, daß ich sehr gern allein wäre, heute lehnte ich seine Aufforderung zum Segeln zweimal hintereinander ab, aber er ist unverdrossen liebenswürdig. Was doch bei Männern ein bischen Äußeres tut! Dann ist noch ein Professor da, der immer gelehrte Vorträge hält – natürlich fanden sich die »großen Geister« wieder! Erst kuckte er immer an der Nase herunter, wenn er mich ansah, zuletzt machte er längere Kaffeestunden und redete mich beim Abendbrot immer über die ganze Tafel herunter an – ein sehr gelehrter Mann, der das Dozieren nur etwas zu gründlich treibt, aber recht klug dabei. Morgen reist er mit Frau und drei reizenden Kindern ab. Friede seiner Asche! Zu der Abendtafel gehört noch ein Herr von Brambach mit zarter, nervöser Frau – mir die angenehmsten aus der Gesellschaft. Wir sitzen uns gegenüber und reden öfters ein Wörtchen. Der dicke Amtsrichter macht trockene Witze dazwischen, der Professor doziert, alle befleißigen sich eifrig des Käsestudiums – kurz und gut: es geht gemütlich zu. Ich mache aber meistens, daß ich wieder ins Freie komme.
Mittags habe ich einen Maler mit Frau und Kind zu Nachbarn – angenehme, stille Menschen mit vielerlei Interessen; große Liebe für Musik, Rosegger-Verehrer – es klingen kleine Glocken der Sympathie durch unsere Unterhaltung, »natürlich« besonders wieder mit ihm. Ich glaube wirklich, daß ich ein Mann habe werden sollen, denn es ist wunderlich, wie ich mich immer besser mit Herren verstehe als mit meinem eigenen Geschlecht.
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6.8. Wie heiß es ist, davon macht sich keiner eine Vorstellung, der in einem großen, kühlen Hause lebt. Das Meer liegt wie eine Glasscheibe, auf der die großen und kleinen Boote festgeleimt sind. Vor meinem Zelt fand ich heute die Kinder Schwarzenfels, später die Gräfin selbst. Sie ist eine schöne brünette Frau mit großen grauen Augen, prachtvollem Teint, stattlicher Figur – eine auffallende Erscheinung. Wir haben dann stundenlang nebeneinander gesessen, bis Herr von Brambach mich zum Segeln aufforderte; es war nur wenig Wind, aber doch frischere Luft als am Strand. Abends saß ich bis gegen 11 Uhr mit der Gräfin auf meinem Balkon. Man erlebt viel! Ist's zu glauben, daß diese Frau, der ich eben erst auf ihren Wunsch gezwungenerweise einen Besuch gemacht hatte, mir beim zweiten Sehen ganz offenherzig ihre ganze Ehetragödie erzählte?! Die Gräfin ist früher Sängerin gewesen, sehr gefeiert, sehr voller Illusionen. Oh, dieses Gespräch über Liebe, Ehe und Männer!
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7.8. Noch heißer! Die Menschen schleichen wie die vergifteten Fliegen, langsam, müde, apathisch, häßlich! Am späten Abend bin ich mit der Gräfin noch eine Stunde gerudert. Es war ganz still, sehr schwül, Wetterleuchten in der Ferne, auch nicht das kleinste Wölkchen am Horizont, ein orangefarbener, ins Schwarzblaue übergehender Ton auf dem Wasser, Norderney mit seinen unzähligen Lichtern wie ein Märchenbild vor uns – ein Chopin-Nocturne oder ein Lenausches Gedicht voll Poesie, Sehnsucht, Leidenschaft: Stille vor dem Sturm.
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8.8. Wie gerädert wacht man auf – unerträgliche Schwüle im Zimmer, das Meer und der Himmel bleifarben, kein Lüftchen regt sich. Da – plötzlich geht's wie leises Ahnen durch die Luft, die Wellen wachen auf, erst langsam, träge, wie ein Kind, das man aus dem Schlafe weckt, dann immer schneller und fröhlicher, bis endlich das Meer in seiner alten vollen Schönheit vor den wie neugeborenen Menschen liegt und sein Triumphlied jauchzt. Wir sind dann zwei Stunden gesegelt, der Amtsrichter mit Frau, Herr von Brambach und ich. »Wartet, ich will euch zeigen, was es heißt, nach langem Schlafen wie ein übermütiges Kind frisch gestärkt zu allen Torheiten aufzuwachen!« rauschen die Wellen, und dann schäumen sie am Boot in die Höhe, legen es ganz zur Seite, lassen es schaukeln und wiegen, und klatsch! da hat die Amtsrichterin einen Sprühregen abbekommen. Die Herren sehen ganz lächerlich aus, Brambach hat ein wie in Tränen gebadetes Gesicht, mein Hut weint rote Tropfen. Und alles lacht und fühlt neues Leben in den Gliedern, bei jedem Atemzug, bei jedem warmen, weichen Wellengruße.
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10.8. Nach Tisch kam die Baronin zu mir und bat mich, abends mit der Gräfin zu ihnen zu kommen. Ich freue mich, daß ich's tat, denn Brambachs haben einen entzückenden Kakadu, der »Küßchen« giebt, und die Gräfin sang so schön, wie nur eine gottbegnadete Künstlerin singen kann. Das Lied aus Carmen »Die Liebe von Zigeunern stammt«, das sie sich selbst begleitete mit allen Gesten einer Carmen, war hinreißend – ich glaube aber: für die Baronin etwas zu schön. Sie liebt »die Uhr« und seufzte leise, daß die Gräfin den italienischen Liedern den Vorzug gab und besonders Tosti sang. Wir bekamen warmen Champagner und gingen um 12 Uhr zu Haus.
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15.8. Etwas in den Augen der Meinen gewiß sehr Ungezogenes habe ich getan – ich bin zu einem Kaufmann gegangen, der Velocipede hat, und habe den ersten Lernversuch gemacht. Es ist herrlich, man fühlt sich so frei und meint, daß man das Fliegen lernen könnte. Zur Erholung ruhte ich dann etwas und hatte dabei den lieben Traum, daß Alfred neben meiner Chaiselongue saß und bat, ich möge ihm erlauben, meine Hand zu halten, was ich ebenso gehorsam und freudig erlaubte, wie ich's in Wirklichkeit nicht tun würde; er küßte sie dann und wir erzählten uns was Schönes, zuletzt half er mir gar beim Radfahren.
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16.8. Mein guter dicker Amtsrichter hat seine letzte Segelfahrt mit mir gemacht. Wir sind zwei Stunden nach Langeoog zu gekreuzt; der alte Frerksen – ein achtzigjähriger Bootsmann mit scharfgeschnittenem Gesicht und den hellblauen Augen, die nur noch das Meer zu sehen scheinen, dagegen für Erde und Menschen den Blick verloren – saß selbst am Steuer. Schmeichelnd strich der Wind über Haar und Gesicht, und die Wellen hoben uns leise in ihren Armen empor, zeigten uns die volle Schönheit ihres bläulichgrünen Gewandes und ließen Silberkämme leuchten. O diese Luft und dieses Reine, Unberührte des Meeres, das keinen Herrn anerkennt und selbst dem Wind nur ungern erlaubt, ab und an ein Wörtchen drein zu reden! Er kann schon recht böse darüber hinfahren, dann lachen und kichern die Wellen mir über den alten Gesellen, und erst wenn er gar zu zudringlich wird, lehnen sie sich in ihrer vollen Macht und Schönheit gegen ihn auf. Bis zu ihren Herzen ist noch Niemand gedrungen. Das verschleierte Bild von Sais! Was ihre innerste Tiefe birgt – das sehen lebende Augen nicht. Ich glaube, das Meer und die Seele reiner, großer Menschen sind sich gleich – beide einsam und beide undurchdringlich.
Abends waren wir bei Brambachs – wir, d. h. die Gräfin und ich; sie geht nur, wenn ich gehe. Die Frau ist wirklich eine Künstlerin von Gottes Gnaden! Wie ihre Stimme zu schmeicheln und locken, zu weinen, zu bitten versteht, wie sie den »Erlkönig« sang! Und wie sie mir gestern wieder aus ihrem Leben erzählte – solch echtes Künstlerblut und dabei eine so vornehm denkende, alles Enge, Kleinliche verschmähende Natur! Und diese Frau an einen Mann gefesselt, der die Künstler geringschätzt, die Frauen verachtet und in all seinem Denken und Fühlen sich in dem engen Kreise des Althergebrachten bewegt – diese Beiden an eine Kette gefesselt, jeder reibt sich an ihr wund und hat doch nicht die Kraft, sie zu zerreißen!
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17.8. Heute waren wir im Kurtheater. Schrecklich spielende Frauen in Kattunfetzen (knallponceau!!). Warum nur die Frauen im Elend stets so viel häßlicher und elender werden als die Männer? – sind wohl eigentlich Nippes, die nur bei der größten Sorgfalt unbeschädigt bleiben. Ach wie viel zerbrochene Nippes gibt's dann überall! – Man gab ein dummes Lustspiel; die Zimmerwände auf der Bühne wackelten bei jedem Schritt, der Vorhang ließ sich nicht ziehen, und dazu eine heiße, schreckliche Luft im engen Saal. Trotzdem habe ich bis zu Tränen gelacht und mich über die Baronin geärgert, die alles schlecht fand. Weshalb nicht jedes nehmen, wie es ist?! Erbsen sind keine Ananas, und Norderney ist nicht Hamburg oder Berlin. Ich hasse den Geist, der stets verneint.
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19.8. Husten und Medizin ist die Überschrift des Tages. Als versüßender Bonbon wurde mir von der Malersfrau Gottfried Keller's »Sinngedicht« geschickt.
»Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?
Küß eine weiße Galatee – sie wird errötend lachen.«
– das ist der Text zu der Geschichte, die in wunderbar klarer, einfacher Sprache aufgebaut ist und erzählt wird, als ob ein großer schöner Strom an unseren Augen vorüberfließt und abwechselnd warmes Sonnengold und feine zarte Schattentöne auf seinen Wellen trägt.
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21.8. Ganz still im Zimmer gelebt und nachmittags einige Sünden abgebüßt, indem ich mit dem alten Fräulein von Reuter das Septett von Beethoven spielen mußte. So ohne Verständnis habe ich's noch nie gehört, ich litt bitterlich. Aber sie ist ältlich und einsam, und ich werde wieder an meinem Musikheiligen sündigen, wenn es ihr Freude macht. Nur ein Sandkörnchen Glück am Tage hinlegen dürfen – wenn man das immer könnte!
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25.8. Ich bin meinem Tagebuch untreu geworden, aber es vergeht ein Tag wie der andere. Abends sind wir meist bei Brambachs; die Gräfin bekommt ihren berühmten Norderneyschnaps, ich mein veilchenbestreutes Rückenkissen, dann wird geschwatzt, wir bewundern die schönen Zeichnungen der Baronin, die Gräfin singt, und ich mache dem Kakadu den Hof.
Zuweilen redet auch das Meer ein Machtwort. So am Dienstag, wo es im gewaltigen Groll hoch über die Brücke schlug. Da habe ich mich auf eine kleine Treppe dem Meere gegenüber gesetzt, mein großes Tuch über den Kopf gezogen und befreiend aufgeatmet in dem großen Kampf der Elemente, der in meinem Herzen nachhallte.
Gestern war ich nachmittags mit der Baronin zu Wagen am Leuchtturm. Abends saß ich auf meinem Balkon, sah, wie der Mond aufging und seine Silberstreifen über das stille Meer zog, und genoß die jetzt so seltene Einsamkeit. Leider nicht lange! – denn die Baronin kam schon wieder und hat bis nach 10 Uhr hier gesessen und geredet. Jetzt ist wahrlich wieder mal die Zeit, wo ich die Türen doppelt zuriegeln möchte, um Ruhe vor meinen Bekannten zu haben. Die »gnädige Gräfin« möchte die »gnädige Freiin« gern photographieren, die »gnädige Freiin« möchten zum Kaffee etwas hinunterkommen, die »Frau Baronin« lassen fragen, ob die Damen nicht hinüberkommen wollen? etc. pp. – brr!
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27.8. Mein letzter Tag in Norderney – und dieser letzte hatte mir wenig zu sagen. Packen, Abschiedsbesuche, gegen Abend noch einmal am Strande. Eben kommt von der Gräfin ein großer Strauß weißer Nelken, und Brambachs schickten schon einen mit meinen lieben lila Strandblüten. Nun trete ich noch einmal auf den mondbeglänzten Balkon und nehme Abschied von meinem vertrautesten Freunde: meinem Meer!
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Altenhausen, 31. 8. Als Ausklang dieser schönen Tage mein Besuch bei der Äbtissin in unserem alten Stifte, das vielleicht einmal der Ausklang meines Lebens sein wird. Das Ganze hat mir einen unbeschreiblichen Eindruck gemacht: der stille Klosterhof mit seinen mächtigen Linden und dem lustig plätschernden Steinbrunnen, der Kreuzgang mit den bunten Glasfenstern, die Kirche mit den uralten Holzschnitzereien, der Kapitelsaal mit den edlen Gobelins an den Wänden und den Bildern der früheren Äbtissinnen, überall die schönste Holztäfelung, alte Wandschränke, geheimnisvolle Wendeltreppen und kleine Treppchen, der große Klostergarten mit seinen alten hohen Bäumen, Teichen, uralten Statuen und plätschernden Brunnen – ich nahm mit dem Gefühl Abschied, daß ich Grund zum Danken habe, wenn mir für meine alten Tage diese poesievoll friedliche Heimat beschieden sein sollte.