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Erst im Jahre 1907 oder 1908 konnte ich mir sagen, ich hätte durchgesetzt, was ich mir vorgenommen. Ich war in den Romerschen Unternehmungen ein unentbehrlicher Mitarbeiter geworden und konnte mich als einen reichen Mann bezeichnen. Es würde eine lange und ermüdende Geschichte werden, wenn ich von all den geschickten kleinen Manövern, den listigen Zügen und Gegenzügen erzählen wollte, die unternommen wurden, ehe meine Direktoren zu begreifen begannen, daß mein Wissen und Können ordentlich bezahlt werden müßten. Crest tat, was er konnte, um meine Aufnahme in den Verwaltungsrat der Firma zu hintertreiben; er brachte es dahin, daß ich mit einer deutsch-amerikanischen Gruppe zu verhandeln begann. Er wollte nicht verstehen, was ich dem Unternehmen bedeutete. Seine ererbte Lebensauffassung war wider mich. Bis auf den heutigen Tag behandelt er mich sozusagen provisorisch als Gleichberechtigten, als ob ihm seine soziale Überlegenheit irgendwo abhanden gekommen wäre, sein Diener sie aber jederzeit in der Halle oder im Wintergarten wieder finden und ihm zurückbringen könnte. Lady Muriel jedoch fragt mich mit der ihrem Geschlechte eigenen Anpassungsfähigkeit heute bereits wegen der drohenden Liebesangelegenheiten ihrer Enkelkinder um Rat.
Innerhalb von vier Jahren war ich Leiter eines unserer Zweigunternehmen, der sonderbaren, kleinen, aber einträglichen »Clissold Mineral Paint Company«, aber erst nach zehn Jahren angestrengter Arbeit wurde ich Direktor der Muttergesellschaft. Dieses Geschäft war interessant, aber oft und oft auch unerträglich und langweilig. Mitunter widerstand ich nur mit Mühe der Versuchung, den ganzen Kram hinzuwerfen und auszuspringen. Die Zeit zwischen meinem fünfundzwanzigsten und meinem fünfundvierzigsten Lebensjahr verging mir, als wäre sie nichts gewesen. Meine wissenschaftliche Karriere setzte ich mit ganz schönem Erfolge fort; ich veröffentlichte eine Reihe recht achtbarer Arbeiten, verlor jedoch stetig an gedanklicher Frische und Ursprünglichkeit.
Im Jahre 1907 machte ich einen Versuch, mich wieder in stärkerem Maße der Wissenschaft zu widmen. Ich richtete mir ein Privatlaboratorium ein. Es war wundervoll ausgestattet, hatte aber von allem Anfang an einen Anstrich der Liebhaberei. Julian hatte ein ganz ähnliches. Es war so hübsch wie eine elegante Reisetasche, so prunkvoll und fein wie der Toilettetisch einer Lebedame. Es wies wirklich alles auf, was das Herz nur von einem Laboratorium verlangen kann, aber das Herz selbst war nicht dabei. Julian hatte sogar einen Assistenten, einen Studenten aus London, eine Art intellektuellen Lakai, der ihm seine Forschungen in Ordnung hielt und zurecht legte, wann immer es ihm beliebte, sich ihnen zuzuwenden. So weit brachte ich es nicht. Ich las, um auf dem Laufenden zu bleiben. Doch mit der wunderbaren Freude an der Wissenschaft war es vorbei.
Ich glaube nicht, daß ich mehr als dreihundert Stunden in meinem Privatlaboratorium verbracht habe, seit es vor achtzehn Jahren eingerichtet worden ist. Und die Hälfte dieser Zeit verwendete ich auf Studien, die der Herstellung von Kriegsmaterial dienten und keinen wissenschaftlichen Wert besaßen. Ich empfinde es als affektiert, wenn ich mich in mein Laboratorium einschließe. Ich bin auf wissenschaftlichem Gebiet kein Führer mehr und es fehlt mir auch an der besonderen Energie, die notwendig wäre, um mich wieder auf eine bedeutende Höhe zu bringen.
Zwischen 1908, dem Jahr, da Sirrie Evans starb, und dem Ausbruch des Krieges erlebte ich mehrere Phasen starker Depressionen. Darüber will ich später mehr erzählen. Ich war unzufrieden mit dem Leben und fand keine Ruhe. Was immer ich tat, ich wünschte alsbald etwas anderes zu tun; wo immer ich war, ich wünschte, woanders zu sein. Meine geschäftliche Betätigung gab mir Gelegenheit, zu reisen; ich besuchte Rußland und Indien und verbrachte fast ein ganzes Jahr in Sibirien. Nirgends aber konnte ich der Ruhelosigkeit meines Geistes entgehen, der Überzeugung entrinnen, daß irgend etwas in meinem Leben nicht in Ordnung sei.
Dann kamen die tiefen Aufregungen des Krieges; eine Zeit lang hatte es den Anschein, als ob es zu einer wirklichen Umgestaltung des Daseins kommen sollte. Diese Periode habe ich in meinem Bericht über Dickon bereits geschildert. Wie erwähnt, kam alsbald eine böse Enttäuschung. Ich durchlebte eine neuerliche Phase tiefer Verzweiflung und Ruhelosigkeit. Sie wurde durch eine eigenartige, aber mein Leben nicht erfüllende Leidenschaft verschärft, unter der ich unsäglich litt. Ich fühlte, daß ich mir ein klares einigendes Lebensziel stecken mußte, wenn ich nicht überhaupt zugrunde gehen sollte. Das Verlangen nach einem solchen gewann die Oberhand über das Wirrsal meiner sonstigen Wünsche und führte mich schließlich hieher in die Provence, in dieses friedliche, sonnige Zimmer, in welchem ich meine ganze Kraft an eine bestimmte Aufgabe zu wenden mich bemühe, ehe es Zeit für mich wird, aus dem Dasein zu scheiden.
Ich habe seit vorigem November – mit drei kurzen Unterbrechungen – andauernd an diesem Buche gearbeitet. Nun ist es Juni. Noch einmal weise ich voll Dankbarkeit auf die wunderbare und beruhigende Schönheit dieses Landes hin. Im April entfaltete sich die herrlichste Blütenpracht; der große Judasbaum blühte über und über, und eine Menge kleiner und mittelgroßer Judasbäume, die ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte, blühte mit ihm. Bald darauf waren die Fliederbüsche von duftenden Dolden bedeckt; viele Sorten von Iris baten erfolgreich um Aufmerksamkeit; und die Rosenstöcke, die hier zwar fast immer blühen, nahmen ihre Aufgabe mit einem Male sehr ernst und vollbrachten Wunderbares. Das war unser Frühling nach einem nassen, windigen März, der unsere Küche unter Wasser gesetzt hatte. Nun sind unsere Tage von warmem Sonnenscheine erfüllt, und meine gewöhnliche Kleidung ist ein Pyjama. Die Nächte sind zauberhaft; Duft durchströmt sie. Diese Woche sind sie von Mondeslicht getränkt und von Glühwürmchen durchschwärmt, die in der Dunkelheit aufleuchten, wenn sie über die bleichen Rosen und Lilien und die stillen Büsche und Zweige hinwegfliegen.
Hier sitze ich friedlich und blicke in den stillen Mondschein, der hell und klar ist wie Silber; ein unsichtbarer Gazeschleier an meinem offenen Fenster schützt mich vor Fliegen und Stechmücken; hier kann ich bis in die Morgenstunden über meine Papiere gebeugt verweilen und nachdenken. Seit elf Uhr habe ich hier, ohne eine Zeile zu schreiben, gesessen, und nun ist es bald eins. Hier kann ich das ganze Getriebe der Romer- und Steinhartschen Unternehmungen in seinem Verhältnis zur großen Welt übersehen. Über eine Zeitspanne von fünfunddreißig Jahren hinweg blicke ich heute darauf zurück. An dem Abend des einsamen Sinnens am Edenbridge Square, den ich dem Leser geschildert habe, lagen meine Abenteuer mit Romer und Steinhart noch vor mir; nunmehr will ich ein Gegenstück zu jenem Bilde zu zeichnen versuchen. Raum, Zeit und der Drang des Lebens haben ihren Wert für mich verändert. Ich kann unser riesenhaftes Unternehmen heute weit besser überblicken, kann meine Mitarbeit als typisch für jenen Wandel der Größenverhältnisse erkennen, der die wesentlichste Tatsache der zeitgenössischen Geschichte ist. Ich kann sehen, wie stark sich in uns die charakteristischen Merkmale des zeitgenössischen Lebens, Hartnäckigkeit des Willens nämlich und verspätete Selbsterkenntnis, offenbaren.