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Es ist ein schwieriges Unternehmen, sich nach dreißig und etlichen Jahren den Gemütszustand jenes bestürzten und zornigen Menschentieres wieder vorzustellen, das im Hyde Park umherlief, während seine Frau, vielleicht ebenso bestürzt und verwirrt über sich und ihn und die Welt, sich zum Abschied von dem armen, kleinen Heim rüstete, das die Leidenschaften und die Zwistigkeiten von eineinhalb Jahren beherbergt hatte. Keine Zärtlichkeit, kein Mitleid war in meinem Gemüt. Nichts anderes erfüllte mich als Wut. Und dabei glaube ich, daß diese Wut selbst damals sich nicht gegen Clara richtete. Das, wogegen ich wütete, hatte zwar die körperliche Erscheinung Claras, zeigte ihre entzückende Gestalt; in Wirklichkeit aber wütete ich gegen die Leidenschaft in mir, gegen die Sehnsucht, die Begierde nach ihr, gegen die Wollust, die Wonne und die Beglückung, die sie mir schenken konnte. Sie war mir zur glühenden Notwendigkeit geworden, und ich hatte sie verloren.

Ich entsinne mich nicht, daß in dem Sturm der Gefühle irgend etwas aufgetaucht wäre, was man als Liebe bezeichnen könnte. In den meisten, ich glaube in neunundneunzig Prozent aller Liebesangelegenheiten ist, meiner Ansicht nach, nichts von Liebe zu finden. In mir tobte Haß, Haß, wilder, zorniger Haß zuckte bei dem Gedanken an Claras gewandtes Lügen in meinem Gemüt auf, dem roten Feuerscheine vergleichbar, der zuweilen in fernen Gewitterwolken aufleuchtet und wieder verschwindet. Es war kein persönlicher Haß. Die Lage war mir verhaßt und die Rolle, die sie darin spielte. Aber selbst damals schon wußte ich, daß sie gleich mir ein Opfer unbezähmbarer Triebe der Menschennatur war.

Heute erscheint mir an dem Gemütszustand, in dem sich der junge Mr. William Clissold an einem Aprilnachmittage des Jahres 1891 im Hyde Park befand, vor allem seine verletzte Eitelkeit und sein verwundetes Selbstgefühl bemerkenswert. Indem ich hier sitze und von jener fernen Zeit berichte, wird mir aufs neue bewußt, welch tiefgehende geistige Wirkung die Frau auf den Mann hat, dem sie sich hingibt. Sie wird die Erhalterin seiner Selbstachtung; an ihren Wert klammert sich seine Eitelkeit; sie kann ihn über alle Maßen demütigen. Jede Liebesangelegenheit schmeichelt dem Selbstbewußtsein des Mannes. An jenem Abend wollte ich vor allem eines: den Anschein vermeiden, daß ich der Zurückgestoßene sei; ›ich brauche sie nicht mehr, ich will sie nie mehr berühren‹, sagte ich mir immer wieder vor.

Welch ein unglaubliches Geschöpf jener dreiundzwanzigjährige Jüngling dem heutigen neunundfünfzigjährigen Ich doch dünkt! Ich staune über seine Beschränktheit, seine Heftigkeit. Es ist möglich, daß dieses Erstaunen überheblich ist, daß ich ihm heute noch weit ähnlicher bin, als ich glauben möchte.

Ich hatte den brennenden Wunsch, Clara zu belügen und ihr mitzuteilen, daß auch ich untreu gewesen sei. Es erfüllte mich mit Scham und Zorn, daß ich ihr treu geblieben war, mich mit ihr allein zufrieden gegeben hatte. Es wäre mir so viel wohler gewesen, wenn ich ihr hätte schreiben können: ›Geh deines Weges. Auch ich liebe eine andere!‹ Ihr Gleiches mit Gleichem zu vergelten, schien mir von größter Wichtigkeit, während ich im Hyde Park umherlief. Ihr Gleiches mit Gleichem zu vergelten und sie dadurch für immer aus meinem Leben zu streichen; und ihr zu beweisen, daß ich durchaus nicht bedauernswert sei.

Eine Zeit lang dachte ich sehr wenig an meine Wissenschaft, meinen Unterricht und die neue Stellung, die ich im Herbst antreten sollte. Ich begab mich auf die Suche nach geschlechtlichen Abenteuern; und mit den in meiner Ehe erworbenen Kenntnissen gelang es mir bald, mich durch verschiedene flüchtige Liebesbeziehungen zu zerstreuen und meine Gedanken von meinem Scheidungsprozesse abzulenken. Liebesabenteuer zu haben, ist keine Kunst, solange sich wirkliche Liebe nicht mit einmischt und es einem um Aufrichtigkeit nicht zu tun ist. Ich konnte unterhaltend und liebenswürdig sein und verstand es, Zärtlichkeiten so lange zu vermeiden, bis sie erwünscht waren. Bald konnte ich meine ›Erfolge‹ zählen, hatte die tröstliche Gewißheit, daß ich begehrenswert war. All diese kleinen Abenteuer hatten, so will mir heute scheinen, nicht das Geringste mit Liebe zu schaffen. In den Zwischenzeiten fühlte ich mich über alle Maßen unglücklich.

Es dünkte mich notwendig, vor Claras Augen mit meinen Erfolgen zu protzen; und da ich mich weigerte, die Rolle des ›armen, guten Billy‹ in dem Drama zu spielen, so lag auch ihr daran, mir zu zeigen, daß sie mit Weston glücklich sei. Eines unter meinen drei oder vier Abenteuern hatte etwas größere Bedeutung erlangt. Die Heldin dieser Geschichte war ein Mädchen namens Jones, ein Modell, ein goldhaariges, lächelndes, unmoralisches Geschöpf, das Trilby genannt wurde. Ich hatte sie bei einer Ateliergesellschaft kennengelernt. Sie war blond und hübsch und auffallender als Clara; sie kannte sie und war ihr feindlich gesinnt. Ich wußte es einzurichten, daß ich mit Trilby gesehen wurde und wir sogar einige Male mit Weston und Clara zusammentrafen, wobei wir alle vier die Komödie höflicher Liebenswürdigkeit spielten.

Clara und ich waren emsig bemüht, jedermann aus unserem kleinen Kreis zu verstehen zu geben, daß das, was wir taten, edel und würdig sei, ja geradezu vorbildlich. Wir erzählten, daß wir uns getrennt hätten, weil wir einander nicht liebten, nicht so liebten, wie es für ein Zusammenleben erforderlich sei; daß wir jedoch die größte Achtung und Freundschaft für einander hegten. Unsere Ehe sei ein Irrtum gewesen. Ein angenehmer Irrtum, der nicht lange gedauert habe. Zu Weston fühle sie sich durch eine alte Leidenschaft hingezogen. Von dem zu erwartenden Kinde sagten wir wenig oder gar nichts. Und über die Zweifel, die wir betreffs seines Ursprungs hegten, schwiegen wir erst recht. Wenige Leute, so dachten wir, würden sich die Mühe nehmen, unsere Mitteilungen an Hand eines Kalenders nachzuprüfen. Bei all dem Gerede war mein Herz des Hasses gegen Clara voll.

Wir wollten die Welt glauben machen, daß alles in Ordnung und wir beide zufrieden seien. Dabei ließen wir unglücklicherweise außer Acht, daß es einen wichtigen gesetzlichen Funktionär gab, der in jenem victorianischen Zeitalter ›The Queen's Praetor‹, der Proctor der Königin, genannt wurde. Er hat die Aufgabe, Scheidungsprozesse während der sechsmonatlichen Frist, die das Gesetz zwischen dem bedingten Urteil und dem endgültigen Richterspruche vorschreibt, zu überprüfen. Bis zum heutigen Tage duldet das englische Gesetz keine Scheidung unter gegenseitiger Einwilligung. Seine Auffassung von der Ehe ist orthodox-christlich; seine Haltung gegen die Scheidung ist eine strafende. Es nimmt an, daß eine Partei beleidigt worden ist und die andere keinerlei Schuld trägt – eine muß im ›Sündenpfuhl‹ waten, die andere hingegen in fleckenloser Reinheit dastehen. Diese will die Ehe weiterführen, jene hat dies unmöglich gemacht. Der die Scheidung Beantragende muß bis zum Ende des Prozesses im Zustande keuscher Trauer verharren und die Hand zur Versöhnung ausstrecken. Der Praetor der Königin hat darauf zu sehen, daß das geschieht. Wenn der Kläger reich ist, dann reist er ins Ausland und kann mit Hilfe einiger einfacher, aber kostspieliger Vorsichtsmaßregeln jene Vorschrift umgehen; im Hinblicke auf die Interessen des Staatshaushaltes darf ihn der Proctor des Königs dann nicht mehr verfolgen. Wenn er jedoch arm ist, dann spüren recht unangenehme Leute seinem Lebenswandel nach. So war es in meinem Falle.

Ich hatte die Scheidung beantragt. Das vorläufige Scheidungsurteil wurde gefällt. Bis zum endgültigen Richterspruche lebte Clara ›in Sünde‹; während dieses Amphibienzustandes gebar sie eine Tochter, die nach dem Gesetze die meine war. Daraufhin mischte sich der Proctor der Königin ein, und das endgültige Scheidungsurteil wurde nicht gefällt. Ich war schon im Laboratorium in Downs-Peabody – zwei Monate arbeitete ich bereits dort –, als mir ein Telegramm zur Kenntnis brachte, daß unser beider sündiger Lebenswandel aufgedeckt worden sei; da wir hiemit bewiesen hätten, daß wir beide die Scheidung wollten, sei Clara immer noch meine Frau und werde es bis an unser Lebensende bleiben.


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