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(1919)
Franta Zlin, ein dreißigjähriger verheirateter Mann, Goldarbeiter von Beruf, hatte als Offiziersdiener eines österreichischen Generals im Herbst 1914 die erste Schlacht bei Rawaruska mitgemacht.
Der General fiel. Er hatte die letzten Reserven seiner Division nachmittags halb drei auf freiem Felde aus dem Eisenbahnzug auswaggoniert. Abends sah er von seinen Truppen alles verloren. Pferd und Mann versanken im Sumpf (selbst Pferde hatten einen menschlichen Schrei, vor dem alles erdröhnte), Kolonnen flohen über den Eisenbahndamm, das einzig Feste im morastigen, modrigen Gelände. Regen und Finsternis überall. Nirgends der Feind zu sehen. Nur seine schweren Granaten schlugen immer wieder mitten hinein in den Sumpf, wo sich die Massen vorwärts drängten.
Der General hatte abends gegen halb neun den Diener Franta Zlin und seinen Stabschef holen lassen. Während er noch mit dem Offizier sprach und sonderbare Blicke nach dem Diener warf, zog er seinen Revolver und, mit den Fingern an den Rillen des Griffes spielend, schoß er sich mitten im Gespräch aus unmittelbarer Nähe in den Kopf, so daß Stücke der Ladung – Steinchen oder heißes Wasser, wie es Franta schien, – auf den Diener und den Adjutanten spritzten. Franta stampfte schreiend davon, lief laufenden Soldaten nach, sah zurückgewandten Blicks (er hatte »seinen« General sehr liebgewonnen) auch den Stabschef zusammenkrachen und etwas Blinkendes auch dessen Hand entsinken.
Franta war nicht darauf bedacht, aus seinem noch im Eisenbahnwagen liegenden Tornister Eßwaren und seine Decke zu holen, sondern rannte ohne Rast die ganze Nacht hindurch. Er schabte an seinem Gewand, wollte schnell die Gehirnreste beseitigen. Es regnete in Strömen, schwerste Feuchtigkeit behinderte ihn. Je weiter er kam, desto schrecklicher die Verwirrung, man war mitten unter den Russen. Von beiden Seiten, selbst von der Erde empor, vom Himmel herab regnete es Feuer und dröhnten Geschosse. Nirgends ein bekanntes Gesicht, nirgends Ruhe. Die Straßen waren vollgestopft mit endlosen Kolonnen, Pferde stießen vergebens gegen Wagenwände vor, sanken in die Knie, zusammengepreßt von den Nachdrängenden. Kutscher in ruthenischer Bauernkleidung rannten ihnen wütend an die Kehle, fetzten mit Peitschen ihnen in die großen Augen, schleiften die müden Tiere in Straßengräben, alles in höchster Eile, denn Kutscher, Offiziere, Soldaten, alles wollte den Geschoßwolken und den niedrig, langsam fliegenden, Eierbomben abwerfenden Fliegern entkommen. Aber jeder war durch die Masse gebannt, jeder durch den nächsten furchtbar verkerkert.
Nach zweitägiger Wanderung fühlte Franta sich in einem Zustand solcher Erschöpfung, wie wenn er mit seiner Frau sechsmal zusammengekommen wäre. Er lachte, wachend und bewußtlos, dachte flimmernd wie in hitziger Glut an seine Mascha zurück, legte sich (nun waren alle Sorgen glücklich ausgelöscht) unter einen Wagen, der wie ein Stein in einer Kolonne stand, bemerkte noch eben vor dem Einschlafen, wie ein Reitpferd neben ihm stallte. Doch dachte er nicht mehr daran, dem schweren, fast weißen Urinstrahl auszuweichen. – Völlig hin fiel er in Schlaf. Ein furchtbarer Schmerz erweckte ihn: das Rad des Wagens, endlich sich weiterbewegend, riß an den Enden seines Mantels und fing schon an, das Fleisch seiner linken Lende mit einzurollen. Ein mit aller Kraft geführter Riß machte ihn frei. Später erst bemerkte er Blut und böse Schmerzen bei jedem Schritt. Doch überwand er alles und verließ diese Kolonne nicht mehr.
Am 13. November war er in Krakau.
Die Stadt war überfüllt und befand sich in fürchterlichem Wirrsal, denn sie sollte vor dem immer mehr sich nähernden Feind evakuiert werden. Franta hatte Landsleute vom Gefechtstrain des 33. Infanterieregiments getroffen und schloß sich beim Abmarsch aus der aufgegebenen Stadt ihnen an, die auf eigene Faust in der Richtung auf Ustulka zogen. Sie kamen spät abends im Regen in ein Dorf, quartierten sich in einer offenen Scheune ein. Geschützdonner und Maschinengewehrfeuer waren ununterbrochen zu hören, von morgens bis abends. Ein Korporal von der Sanität ging mit Franta in die Felder, um etwas Eßbares zu finden. Er grub mit seinem breiten Pioniersäbel, den er seine Operationshacke nannte, Kartoffeln aus dem Boden, schwere, erdtriefende Knollen, die Franta in seiner Mütze den Kameraden brachte. Sie gingen dann, während die Kartoffeln auf einem Stroh- und Getreidefeuer brieten, noch weiter auf die Jagd nach Nahrung, bis ihnen auf freiem Feld, tief in der Dämmerung, ein geschecktes Rind begegnete. Sofort lief der Korporal über die nassen Schollen dem Tier entgegen, versuchte ihm mit den Fäusten die Schultern niederzudrücken, was nicht gelang; dann mußte es Franta an den Hörnern zu Boden reißen, und der Soldat hieb mit dem sichelförmigen Griff seines Säbels dem Tier auf den krachenden Schädel, bis es nach rechts zusammensank. Er schlachtete es dann schnell und sägte große Stücke Fleisch aus den Lenden, die sich noch zuckend bewegten.
Franta, der immer ein sanfter Mansch gewesen war, konnte von dem Fleisch nichts essen. Er kehrte zu dem Kadaver zurück, der noch auf dem Felde mitten im Regen lag. Eine junge dicke Judenfrau kniete laut jammernd, Unverständliches singend und kreischend neben dem Tier. Ihr Gesicht, weiß, oval, schwer von lichtem Fleisch, erregte Unheimliches in dem Mann. Er warf sich auf sie, hörte noch, wie der Kopf der Frau auf die knarrend einsinkenden Flanken des Tieres fiel. Während der flammenden Lust würgte es ihn. Wühlend umwogte seine Hand die gewaltigen Brüste der verstummten, atemtief versteinerten Frau, und unter seinem wütenden Druck fühlte er warme Feuchtigkeit zwischen seinen Fingern rinnen. Im Krampf stemmte sich seine von Süßigkeit umflossene Zunge gegen seine Zähne, und als er nach kurzer Zeit erwachte, sah er sich auf die unter ihm zitternde Frau verströmend Tränen herabweinen, wie er sie früher nie geweint hatte.
Er half der Frau das tote Tier an den Hörnern in ihr Haus hinüberschleifen und vor den Soldaten im Stall unter der noch vom Mist des armen Tieres getränkten Streu verbergen. Dann übernachtete er in dem hochgetürmten Bett ihres heißen Zimmers, während die Frau und ihr ausgemergelter Mann auf der Erde lagen, ein kleines Kind auf Decken zwischen sich.
Am nächsten Morgen wurden die Reste des 33. Infanterie-Regiments gesammelt; nach langen, aber doch erträglichen Wanderungen kamen die Soldaten aus dem Feuer heraus und waren nach zehn Tagen bereits in den Karpathen. Franta blieb beim Train und hatte vom 1. Dezember 1914 an den Dienst, das für das Regiment bestimmte Schlachtvieh der Truppe zuzuführen.
Schöne, aber von der langen Eisenbahnfahrt sehr erschöpfte Tiere hatte Franta nun einen drei Stunden weiten Weg vom mobilen Schlachtviehdepot der vierten Armee durch das Latorczatal dem Regimentstrain zuzubringen. Oft hörte er von weitem schon die Tiere aus ihrer Umzäunung vor Hunger und Durst brüllen und sah sie dann in einem Haufen sich ihm entgegendrängen. Doch war es ihm verboten, sie zu füttern, nur tränken durfte er sie.
Der Weg stieg zuerst bergan und war mühsam. Die Tiere, die nicht vorwärts wollten, mußten mit Stöcken angetrieben werden. Aber er lernte es, mit ihnen umzugehen, führte gewöhnlich einen Ochsen an den Hörnern vor, und die andern folgten, von einer rumänischen Mannschaftsperson mit unverständlichem Zuruf und knallend widerhallender Peitsche weitergetrieben.
Am Morgen des 14. Dezember fiel Franta eine Kuh auf, die sich sehr schwer führen ließ. Sie war mit Kot und Mist wie mit einer Eisenrüstung bedeckt, und ihr Leib schleppte Furchen, die im Schnee knisterten. Frantas Hand, die das Tier sanft von rückwärts trieb, berührte das Euter: sie fuhr zurück, denn das Euter war glühend wie ein im Sommerbrand erhitzter Stein, gespannt wie Metall, und ängstlich brüllte das Tier auf.
Es strebte aus der im Wintermorgen schneestrahlenden Straße nebenher unter die Bäume, wohin ihm Franta in seiner Sanftheit folgte, obwohl ihm das Gehen im Schatten, auf den schlüpfrigen Trümmern verfaulender schwarzer Urwaldbäume schwerfiel ... Hell klang das Rufen des Rumänen von der Straße. Oft setzte die Kuh Kot und Wasser ab, blickte mit den großen, dunklen, feuchten Augen unruhig umher, und rührend war es, wie sie von Zeit zu Zeit in spiraliger Wendung den breiten Hals nach rückwärts wandte: lauschend nach dem Hinterleib, der sich gewaltig wölbte.
Plötzlich blieb sie stehen. Mit aller Gewalt konnte Franta sie nicht mehr vorwärts treiben. Er rief den Rumänen und machte ihm Zeichen, er solle warten. Eine Hütte in der Nähe, fast nur ein Dach im hohen Schnee, nahm den Rumänen auf, der sich wärmen wollte. Die anderen Tiere blieben beisammen, umwandelten langsam kreisend Frantas Tier, das nun ein weitgezogenes Brüllen schallte.
Nun stand es da, näherte die vier Gliedmaßen, niedrige Säulen, dem ungeheuer schwellenden Leib. Als ein hohes Gewölbe krümmte sich die Wirbelsäule, das Haupt senkte sich. Ein breitgetürmter Berg von Masse, zitternd in Schmerz, brüllte das Tier, leiser schon, in die Tiefe unter sich hin. Leicht waren die zarten Sprunggelenke gebeugt, das ganze Tier, wie von zwei Händen angepreßt, atmete weiße Nebel wie Elfenbeinhauer aus im schwarzen Wald.
Plötzlich ergriff ein ungeheurer Krampf die Muskeln. Zusammenreißen des Rumpfes in Erzstarre. Erschütternder Schrei des aufgerissenen Maules. Leises Schüttern der tief herabhängenden Zweige ringsum. In den dunklen Augen schmerzliche Wut. Im Schweigen erschlaffte alles. Franta, in Sorge, rief den Rumänen schnell zu Hilfe. Niemand kam. Er fürchtete, sein Tier könnte hier verenden, verdurstet oder vergiftet.
Aber zum zweitenmal, wie eine Faust in der höchsten Wut sich krümmt, krümmte sich das Rückgrat des Tieres, es fiel nieder, und vor seinen Augen sah Franta die Muskeln des Bauches wogen wie ein lebendiges Wasser. Er hörte einen brüllenden Schrei, und schon stürzte aus dem aufgerissenen, rot glosenden Hinterleib eine milchige Woge, rauchend in der Kälte. Weißes Fleisch, rosa hauchende Fetzen erschienen, Stücke von Tier, dunkle Augen, halb geschlossen, magere Vorderpfoten, ineinander verschränkt – und während das Rind, zum letzten gekrampft, sich ausbrüllte aus seitwärts hinfallendem Schädel, entfaltete sich milchfarben, still, ein ganzes kleines Tier, nackt und zitternd in seinem Zucken auf dem Schnee. Das junge Tier drehte den Kopf, die Gliederchen, gebeugt, schienen die Mutter zu suchen.
Noch lag die Kuh mit weit auseinandergebreiteten Gliedern; mit dem Kopfe und der langen, licht rosaroten, nassen Zunge kreisend suchte sie das neugeborene Kalb. Franta sah das junge Tier verbunden mit der Mutter durch eine silbern glitzernde, rot durchwirkte Schnur. Er schnitt sie mit seinem Soldatentaschenmesser durch, riß von dem Bande seiner Unterhose ein Stückchen ab, umwand damit die blutende Stelle und legte das junge Tier dem alten vor das erschöpfte Auge.
Er brach Brot ab und gab es. Beide Tiere bedeckte er gut mit seinem Zeltblatt, häufte noch kräuseliges Moos darunter. Mit der Hand fühlte er nach, und süße Wärme, tropfende Feuchtigkeit umströmte ihn.
Er ging in die Hütte, wo über zehn Personen gedrängt um einen Ofen hockten in fast schwarzer Luft. Der Rumäne schlief, die kalte Pfeife im Munde. Franta führte einen langhaarigen ruthenischen Bauer an der Hand zu dem Tier und übergab es ihm. Erst in der Dunkelheit brach er mit dem Reste der Herde auf.
Als Franta die Tiere dem Standort des Regimentes näher führte, sah er weither eine kleine Flamme leuchten. Die Hütten des Dorfes Wologda konnten es nicht sein, da noch drei Kehren der Serpentinen und der Weg über Turka zu gehen waren; brennende Dörfer gab es wohl in der Dämmerung zu sehen, rötlich glitzernd über den hartgezackten Baumwipfeln, aber dieses Licht schwankte in leichtem Bogen ihm entgegen und kam immer näher. Er hörte Pferdegetrappel, dann sah er einen hochbeladenen Wagen. Ein ausgemergelter Jude mit einer buschigen Pelzmütze lenkte zwei noch ausgemergeltere Pferde, deren Schweife dicker schienen als ihre Hinterkeulen. Eine in weißes Tuch gehüllte Frau hockte oben auf dem Wagen zwischen aufgeladenen Tischen und anderem Gerümpel, scheinbar hatte sie ein Bündel mit einem Kinde im Arm, und zwischen Frau und Mann, schwankend auf schwankendem Wagen, blinkte ein winziges Kohlenfeuerchen auf einem Messinggerät, obenher von der Frau gehalten. Ein Füllen, mager und rippenstarrend wie ein Windhund, trabte nebenher und stieß frierend mit dem spitzen Köpfchen zwischen die Schenkel des Handpferdes; hoch wie im Lachen wiehernd, beugte es sich doch kläglich von Zeit zu Zeit nach rückwärts – alles in dem gleichmäßigen Schwung des ermüdeten Trabes. So kam der Wagen an der Herde vorbei, die sich in den Straßengraben und an die Bäume drängte.
Franta, sehr von Kräften und ausgehungert, sah dem Flüchtlingswagen nicht nach. Sein Auge wanderte seinen Füßen voran, um weichere Stellen für die schmerzenden Sohlen zu finden. Im letzten Schimmer des Wagens, der auf der nächsten Serpentine schon sich wandte, sah er auf dem Boden ein schwarzes, offenes Kästchen. Er bückte sich. Es war dünnes Riemenzeug darin, ein Würfel aus Leder, kinderhandgroß, und in diesem fünf Goldmünzen und einige erbsengroße Gebilde, die Franta Zlin sofort als Perlen erkannte. Schwer schritten seine Kühe vorbei, ein Huf verwickelte sich in die Riemen und trat auf den Boden unter die auseinanderrollenden Perlen; Franta sammelte sie und lief dann dem Rind nach, holte ihm aus der Höhlung zwischen dem gespaltenen Huf die letzte Perle hervor. Dann hielt er die Hände vor den Mund und schrie dem Wagen nach, der nun schon, fast unsichtbar in der Nacht, in eng gewundenen Ringeln die tieferen Serpentinen befuhr, von roten Wölkchen im Hauch bestrahlt. Niemand antwortete ihm. Ein Kind begann aus Müdigkeit zu blöken. Franta nahm Perlen und Geld zu sich. Bald sah er die ersten Häuser von Wologda vor sich. Ein Unteroffizier vom Regimentsstab kam ihm wütend entgegen, man hatte den ganzen Tag auf ihn gewartet: die Feldküche sollte wohl Steine und Holz abkochen? Er wurde angeschrien, gestoßen, sofort mit »Spangen und Anbinden« sechs Stunden lang, bedroht. Ein Tier fehlte? Niemand wollte glauben, daß es trächtig gewesen war. Und selbst dann hätte er es lieber notschlachten sollen, statt kaiserlich ärarisches Gut diesem Hundespion von Ruthenen in den Rachen zu werfen. Von Spangen und Anbinden wurde er zwar gnadenweise befreit, aber zur Strafe sofort in den Schützengraben, in die nächste Feuerstellung kommandiert, zwei Stunden weit von Wologda bergauf gejagt. Er ging. Er kam in einem solchen Zustand der Erschöpfung in den Unterstand, daß er nichts mehr von sich wußte.
Am nächsten Tage schickte man ihn als Schleichpatrouille mit zwei Mann und einem Einjährigen vor den Stacheldraht. Es ging ein starker kalter Wind, es staubte der trockene Boden, alles erschien ihm schauerlich.
Er dachte nach, und der Gedanke verließ ihn nicht, wie er sich doch erretten konnte. Er rollte die Perlen in der Tasche, fühlte den noch von früher her durch Blut versteiften Stoff und spürte plötzlich, wie seine Unterhose, deren Schnüre er gestern zerrissen hatte, raschelnd und feuchtigkeitsschwer an ihm niedersank... Franta wollte lachen, aber schon lag er am Boden, hörte, wehrlos vor Schrecken, ungeheures Getöse und fürchtete sich vor den Feuerflammen der Schrapnelle in der Luft. Es krachte neben ihm, der Einjährige stampfte auf und war sofort bis an die Augen in Blut gehüllt, aber auch Franta merkte, wie Blut in seine Stiefel rann. Zwischen den zusammengepreßten Beinen jagte der Schmerz zum erstenmal gegen das hoch aufzuckende Herz, und Franta verging, während er, rechtshin den Kopf beugend, ein langes Brüllen ausstieß in das weiße Schweigen der staubigen Ebene.
Franta Zlin hatte Fürchterliches zu erleiden. Sein Geschlecht war durch einen Schrapnellzünder ganz zerfetzt und der linke Knochen des Beckens zersplittert. Franta würgte an seinem Schmerz, er konnte sich seine Wut nicht Herausstampfen. Selbst zum Schrei fehlte ihm die Kraft.
Die Aerzte waren gut, sie wiesen stets beim Verbinden die Rote-Kreuz-Schwester hinaus, die sich neugierig vorgedrängt hatte. Aber durch diese Schwester wurden die anderen maroden Soldaten aufgehetzt, und den ganzen Tag hindurch unterhielten sich die Verstümmelten damit, ihren verstümmelten Kameraden zu necken. Man bat ihn, tückisch anspielend, um einen winzigen Zigarettenstummel, um ein kleines, abgebranntes Endchen, um »ein klein wenig Nichts«, einen »Tschik«.
»Tschik!« aus der hellen Ecke von dem stets sich erbrechenden Kroaten mit dem Bauchschuß, der lange zwischen Tod und Leben schwankte.
»Tschik!« von dem ungarischen Oberschenkelamputierten, der den widerspenstig gekrampften Rest seiner Gliedmaßen unter scheußlichen Flüchen niederzudrücken suchte.
»Tschik!« von dem italienischen Lungenkranken, der in der dunklen Ecke keuchte und Fliegen haschte, die es jetzt im Januar nicht gab.
Fürchterliches erlebte Franta. Nachts erwachte er noch nach Wochen mit grauenhaften Schmerzen, in schrecklichster Not. Er schämte sich, nun infolge der Verwundung seine Notdurft wie ein Weib verrichten zu müssen – aber war dann alles vorbei, dann hob er das immer schwer lastende Deckbett mit beiden Händen fort vom zertrümmerten Unterleib, und seine Hände, ineinandergefaltet, fühlten Wärme, warm hauchende Feuchtigkeit, das seidige Knistern des weich sich spannenden Verbandes.
In seiner Verzweiflung dachte er nur noch daran, wie er sich doch erretten könne. Seine Kleider hingen an einer Eisenstange, mit Riemchen umschnürt, am Kopfende des Bettes, aber noch durfte er nicht mit den Händen hinlangen, durfte nicht seine letzte Rettung, das gefundene Goldgeld und die Perlen berühren. Beim Verbinden war er geduldig und bezwang sich sehr; er sollte die Wunde nicht sehen, deshalb hielt ihm der Wärter seine nach Zigarettentabak riechende Hand vor die Augen. Die Nachbarn wechselten, viele starben, fast immer nachts, andere wurden abtransportiert. Der Wärter und die Schwester waren die einzig bekannten Gesichter. Aber auch der Wärter grinste, als »völliger Satan«, nach der ärztlichen Visite und pfiff, an seinen von Zigaretten gebräunten Fingernägeln schnuppernd: »Du, Franta, hast du vielleicht einen Tschik?« Die Schwester, voller Hohn zu Franta: »Sie armer Soldat, haben Sie denn schon Ihrer bemitleidenswerten Frau geschrieben?«
Franta, der, sanften Herzens, früher immer gesprächig gewesen war, verstummte ganz. Bloß beim Essen öffnete er den Mund.
Im Frühjahr 1915 wurde er nach Linz zurückgeführt und im Sommer als »zu jedem Landsturmdienst ungeeignet, dauernd invalid« in Wien vollständig aus dem Militärverband entlassen.
Franta hatte Mascha, seine schöne junge Frau, nicht wiedersehen wollen.
Am Vormittag des 11. Juni erwartete sie ihn, durch andere verständigt, vor dem Lazarett »Radetzky-Kaserne« im sechzehnten Bezirk in Wien und nahm ihn in einem einspännigen Wagen mit nach Hause. Es war kein Wort aus ihm herauszubekommen. Die Frau war durch sein strenges Wesen tief erschreckt, etwas war »in ihr gerissen«, als sie ihn so sah, so fürchterlich wiedersah. Sie war so erschüttert, daß sie nicht einmal weinte.
Er ging am nächsten Tag schon in die Arbeit zu seinem früheren Herrn, einem Goldschmied in der Mayerhofergasse im vierten Bezirk. Es gab wenig Arbeit, der Meister nahm ihn nur aus Mitleid. Aber Franta war bald ganz verlassen. Er hatte auf jede Frage wütend die anderen Gesellen angezischt; als man jedoch bemerkte, daß (infolge der fürchterlichen Verwundung) auf seinen Schemelsitz immer Feuchtigkeit aus ihm sickerte, da stichelten alle gegen ihn mit äußerster Bosheit. Franta mußte fort. Er gewann aber durch eine grauenhaft geballte, teuflisch freudige Willensanstrengung die Herrschaft über seinen Körper, und in der neuen Werkstatt merkte man nichts von seinem Leiden. Daheim war er still, lieferte den Lohn ohne Rest ab, war nur unheimlich freundlich, sein Lächeln blinkte wie vergiftet, sein Mund war so in bösem Willen erstarrt, daß die Frau sich oft abends zu ihrer Mutter flüchtete und tränenlos über ihr begrabenes Leben klagte.
Franta sagte von seiner Verstümmelung kein Wort; Perlen und Geld hatte er verborgen, trug sie in ein noch von der Schlacht bei Rawaruska her blutgetränktes Sacktuch eingehüllt. Die Perlen wurden etwas rötlich; als er sie aber zwischen Zunge und Gaumen rollte (unsagbares Zittern durchrann ihn wie einstige Entzückung), kamen sie weiß, wie neugeboren wieder heraus. Auch von ihnen hatte er seiner Mascha nichts erzählt, eher ließ er die Frau, da die Not sehr drückend wurde, eine Stelle als Bedienerin über Tag annehmen. Die Stelle war im zwanzigsten Bezirk, bei unvermögenden Leuten, die den Monatslohn nie zahlen wollten und »Ratenzahlung in einiger Zeit« vorschlugen. Für den Weg brauchte man eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Nachts, so müde die Frau war, ließen Sorgen sie nicht schlafen. Auch der Mann verfiel von Tag zu Tag, und sein Blick, tief gesenkt aus fast schwarzen Höhlen, machte sie den Mund aufreißen vor Schmerz. Sie verkaufte zuerst ihr eigenes Bettgewand, Polster und Decke, um für das Geld Schweineleber und andere billige Speisen für ihn und sich zu kaufen, aber es reichte nur für drei Tage. Im Winter ließ sie sich das schöne Haar schneiden, das der Friseur immer als »wunderbar eleganten Schatz« bewundert hatte, und verkaufte es, aber das Unglück hatte sich ihr aufs Genick gesetzt: das Geld wurde ihr aus der Lade im Küchentisch gestohlen. Tückisch sah ihr Franta zu, wie sie es morgens in äußerster Ungeduld suchte, denn längst sollte sie schon bei ihrer Herrschaft sein. Aber es blieb verloren, da Franta selbst das Geld der wie tot Schlafenden entwendet hatte.
Das Zimmer war kahl, elend, zum Frieren kalt. Bilder und Photographien an der Wand waren nichts wert, von dem »besseren« Kruzifix wollte die Frau nicht lassen. Abends holte Mascha aus der Hängelampe zwei Hände voll Schrot, die in der Aufhängekugel der Lampe lagen, und verkaufte sie. Sie erhielt zwei Kronen achtzig Heller. Aber als sie mit einem Stück Primsenkäse und Brot heimkam, fiel die Lampe, der das Gegengewicht fehlte, rasselnd herab, und das Petroleum verschmierte alles, die Scherben bedeckten den Fußboden, und die Unseligen wußten nicht, wie sie nächtigen sollten. Die Frau sagte, indem sie mit den Händen durch ihre kurzen Haare fuhr, »ich weiß schon gar nicht mehr«. Sie war sehr still, sehr gut, und selbst das äußerste Elend machte sie nicht böse.
Der Mond schien in das Zimmer. Sie legten sich beide auf den Boden, jedes nur eine dünne Matratze unter sich. Franta spürte nicht die Härte des Lagers, denn er dachte, »er würde sich nun bald erretten können, sich allein«, die Frau wachte lange, sie warf sich hin und her, und mit Freude sah Franta im Mondlicht, wie sich Maschas Kopfhaut an der Wurzel der blonden Haare schwärzlich färbte. Dennoch schlief Mascha ein, getröstet durch den Gedanken, daß ihr Franta bei ihr war, oder bloß dadurch, daß sie doch noch lebte.
Drei Wochen später mußte sie sich täglich vor dem Antritt des Dienstes bei der Herrschaft bei einer »Auskocherei« anstellen, wo sie Pferdegeselchtes und erfrorene süße Kartoffeln auf Anweisung des Wiener Magistrats umsonst bekam. Sie wanderte schon um drei Uhr morgens in die Gasse, andere warteten aber schon seit Mitternacht, saßen auf Stühlchen, hatten sich in haarige Kotzen eingemummt, trugen Muffe aus Zeitungspapier um die Hände gerollt. Mascha nahm ihre Matratze mit und schlief am Donnerstag und Freitag jedesmal zwei Stunden am Boden vor der Auskocherei, am Samstag gab es nichts, Sonntags aber wurden ihr bei dem ungeheuren Ansturm fast die Brüste abgestoßen, und ein zwölfjähriger Knabe rannte mit der Matratze davon gegen die Ettenreichgasse, während sie, eingekeilt, nicht aus der Menschenmasse hinaus konnte. Mascha fürchtete sich, jetzt ohne Matratze und ohne Fleisch zu ihrem Mann zu kommen, sie ging in die Kirche, nachmittags in den Prater, in die Auen, kurz vor zehn Uhr kehrte sie zurück. Das Zimmer war wie heilig.
Innerlich war Mascha wie ausgestorben, sie konnte sich kaum noch erinnern, daß Franta sie geliebt hatte. Aber sie erinnerte sich doch weißer Blumen, nachts schimmernd auf einer Wiese bei Hütteldorf, und daran, daß Rehe vom Waldrand nahe zu ihnen gekommen waren, eine Woche vor dem Kriege, im schönsten Sommer. Manchmal dachte sie, alles müßte doch noch da sein, nur jetzt in der Kälte eingegraben, sie müsse sich nur noch bis zum Sommer erhalten. Sie kam auf ihren Mann zu, streichelte ihn lange, rief ihn süß an, gab ihm die Hand unter das Kreuz, damit er weicher liege, und dachte so tief an ihn, daß ein Toter hätte erwachen müssen in seiner ersten toten Nacht; jetzt aber war es, als sei ihr armer Franta schon lange weg und dahin, nichts mehr von ihm auf der Welt, und sie weinte lange auf sein unbewegtes Gesicht, das aber nicht schlief. Im Morgengrauen erhob sie sich. Ihre magere Hand war starr und blau, erfroren und verödet und mit einem Wundmal von dem harten Knopf der Matratze verwundet. Sie ging in die Küche und wusch sich das Gesicht unter der Wasserleitung; das Wasser, das durch die kurzen Haare auf die Kopfhaut floß, war ja wie Stein, nicht kalt, sondern siedend heiß, und die Frau weinte lange, da sie nichts zum Abtrocknen hatte außer altem Zeitungspapier, das ihnen beiden nun schon zu allem möglichen diente, als Tischtuch, als Kohle, als Kissen für die Nacht. Die Herrschaft im zwanzigsten Bezirk merkte ihre Verstörtheit, fragte aber nicht, da es schon zum Ende des Monats ging und doch kein Geld für Lohn da war. Die Frau machte ihre Arbeit bis drei Uhr, erhielt auch einen Teller gekochter Rüben, recht heiß, damit es mehr Kraft gäbe.
Am nächsten Tag kam sie nicht in den Dienst. Aber die Herrschaft bemerkte, daß drei Bettüberzüge fehlten. Mascha hatte sie gestohlen und sofort im Versatzamt Dorotheengasse versetzt. Sie glaubte, man würde sie nicht finden. Sie bekam am gleichen Tag bei einer anderen Herrschaft einen guten Posten, dreißig Kronen Lohn, ganze Verpflegung, sollte aber auch die Nacht dort zubringen. Sie war einverstanden, nur diese eine Nacht noch wollte sie bei Franta bleiben.
Mit dem Geld und den Nahrungsmitteln kam sie nach Hause. Franta traf sie an, wie sie mit einer Brennschere, auf Papier erwärmt, sich die kurzen Haare kräuselte. Sie kam so weich zu ihm, küßte ihn mit solcher Liebe, daß sie schon glaubte, sie hätte ihn wieder aufgeweckt. Er war auch gar nicht böse, hatte ein besseres Gesicht, wie ein Kind, ein kleiner Junge. Er wollte jetzt auch Heimarbeit machen, zeigte einen »spanisch eingelegten Damenrevolver«, an dem die in Stahl eingesprengten Goldfäden ausfallen wollten und den er zu reparieren vorhatte. Sie hörte ihm gar nicht zu und machte alles mit ihm wie mit einem Kind. Sie standen nebeneinander beim Fenster, als sie mit fürchterlichem Erschrecken die frühere Herrschaft mit zwei Polizisten auf das Haus zukommen sah. Sie erkannte sogleich, daß jetzt alles aus war, und ließ von ihm ab. Der bessere Ausdruck in seinem Gesicht war auch schon fort. Der eintretenden Herrschaft, die schreiend schimpfte, küßte sie die Hand und gab sogleich den Versatzschein ab. Trotzdem mußte sie und ihr Mann sofort zum Polizeikommissar, wo alles in ein Protokoll aufgenommen wurde. Während der acht Tage bis zur Verhandlung sprach Franta nicht zu ihr.
Am 6. Januar 1916 war die Verhandlung. Mascha sagte, sie hätte drei Monate Dienst bei der Herrschaft gemacht und ihr treu gedient, obwohl es Juden waren, aber im ganzen nicht mehr als siebzehn Kronen Lohn bekommen.
Der Richter: »Deshalb durften Sie doch nicht stehlen.«
»Ich wollte mich bezahlen. Ich bitte um Verzeihung.«
Der Richter fragte die Herrschaft: »Hat die Marie Zlin nicht mehr als siebzehn Kronen Lohn bekommen?«
Die Herrschaft: »Das müssen wir erst in den Büchern nachsehen.«
Der Richter: »Ach was, das werden Sie schon wissen! Was für Bücher führen Sie denn? Bestehen Sie auf der Verurteilung?«
Die Herrschaft sagte: »Ja, sie muß bestraft werden, und die Bettüberzüge muß sie auch auslösen.«
Der Richter: »Sie, Marie Zlin, können Sie die Bettüberzüge auslösen und der Familie den Schaden ersetzen?«
Mascha schwieg und sah ihren Mann an.
Franta sagte: »Zahlen kann sie nicht.«
Mascha wurde zu sieben Tagen Arrest verurteilt, durfte aber noch nach Hause gehen. Am nächsten Tage verließ auch Franta die Wohnung nicht.
»Warum gehst du nicht in die Arbeit, Franta?«
»Es gibt keine Arbeit, ich habe gekündigt bekommen.« – Nachher sagte er ihr, sie solle sich anziehen, sie würden in ein Volkskaffeehaus gehen und Tee trinken. Sie solle das Brot mitnehmen. Sie ging gleich mit ihm fort, er führte sie aber durch die Stadt über die Linzer Straße nach Hütteldorf in einen Wald bei einer Wiese. Dort blieb er stehen und riß an den Aesten der Bäume herum. Ob das vielleicht einen Menschen trägt? fragte er für sich, und nahm einen Strick aus der Tasche.
»Jesus Maria, was fällt dir ein?« sagte Mascha. Er sagte nichts, sah sie nur so an, daß sie merkte, es war für sie. Sie konnte aber nicht, sie hatte gar keine Kraft. Sie wußte, daß es sein mußte, konnte aber nicht. Sie gingen dann um die Wiese herum und wieder in die Stadt zurück.
Am 9. Januar, drei Tage vor dem Strafantrittstag, kam Mascha freudestrahlend zu Franta. Sie hatte von ihrer Mutter trotz der großen Armut vierunddreißig Kronen bekommen; die Mutter hatte ihre schöne »Straußenboa«, die sie noch aus besseren Tagen hatte, sowie einen Korbsessel verkauft, damit die Tochter den Schaden des Diebstahls gutmachen könne und nicht ins Kriminal müsse.
Franta erschrak, als er Mascha so sah. Franta fürchtete sich vor Mascha, da sie mitten in ihrem Elend so schön war. Sie stürzte sich über ihn: »Ich bin so selig, ich bin so glücklich! Da ist das ganze Geld, jetzt werfe ich es ihnen hin. Dann bin ich frei, auch die neue Herrschaft war mit mir so freundlich, ich bekomme den Lohn im voraus, ich soll nur erst einstehen.«
Franta nahm das Geld zur Aufbewahrung. Die Frau lieh sich eine Wetterpelerine von der Nachbarin und ging noch schnell zu der neuen Herrschaft. Abends kam sie zurück. Das Zimmer war ganz verwandelt, ein rosa Seidenpapier um die zerbrochene Lampe gewickelt, auf dem Fensterbrett standen Sardinenbüchsen, ein ganzer Berg Orangen, auch geräucherter Speck, Zuckerzeug, eine Flasche Wein.
»Jesus, das alles!«
»Du hast mir doch das Geld gegeben!«
»Ich muß mich doch bei Gericht auslösen!«
»Ich habe was zum Essen gekauft!«
»Aber Franta, doch nicht für das ganze Geld?«
»Hier ist die Rechnung, ich habe nichts gestohlen.«
»Jetzt bin ich ganz hin.«
Sie ging ganz verstört im Zimmer umher, faßte den Revolver an, der in einer Ecke lag.
»Er ist so schwer«, sagte sie.
»Ich bin kein Dieb«, sagte er.
Sie merkte, daß der Revolver geladen war, und als sie ihn ansah, wußte sie, daß er nur für sie Patronen gekauft und sie schon lange abgeurteilt hatte. Sie war so vernichtet, daß sie nicht mehr reden konnte. Aber sie begann zu essen da es ihr Geld war, und weil sie erst jetzt so ihren Hunger fühlte. Er sah ihr nur zu und aß nichts. Dann mußte sie beten. Er lehnte da, so starr, so böse in seiner Ecke, schief mit gezückten Händen, wie ein Teufel. Sie kniete nieder; sein Gesicht konnte sie nicht sehen.
»Knie nieder!« schrie sie ihn an. »Nieder!« noch einmal, sehr stark. Er kniete nieder, und sie betete lange ohne Worte und beichtete ohne Priester. Er kniete ihr gegenüber. Nach zwei Stunden stand sie auf, fiel aber gleich aus Schwäche zusammen. Er gab ihr seine Matratze und legte sich auf den bloßen Boden hin. Um Mitternacht erwachte sie, ihr war so leicht, sie glaubte, jetzt könne sie es tun. Er schlief, als sie sich aber den Revolver in die Schläfe geschossen hatte, erwachte er: »Was hast du getan, Mascha?«
»Sei still, es hat niemand gehört.«
Sie hatte keine Schmerzen, wußte nicht, ob der Revolver überhaupt losgegangen war. Nur »Wasser weinte über sie«. Von oben rann ihr Wasser in die Augen, warm. Franta rief die Nachbarin, aber so leise, daß niemand kam. Er machte ihr einen kalten Umschlag auf die Stirn. Sie schlief ein.
Als sie erwachte, fühlte sie sich sehr schwach. Er kniete vor ihr und glänzte mit seinen mörderischen Augen. Das Licht brannte mit einer rosa Flamme. Auf ihre Brust hatte er Kruzifix und Heiligenbilder gepackt. Sie konnte kaum atmen, ließ aber die Heiligenbilder liegen. Er wollte aufstehen, sie faßte seine Hand und sagte: »Bleib bei mir, ich muß sterben.« Um acht Uhr morgens war sie tot. Er kniete noch neben ihr, sah auf ihre schönen großen Brüste hinab und glänzte sie an mit seinen mörderischen Augen.
Jetzt fühlte Franta sich errettet. Die Nachbarin wachte an der Leiche. Sie hatte Maschas entblößten Oberkörper aus Mitleid mit ihrer Wetterpelerine bedeckt. Franta ging aus zu seiner Arbeit, voll Freude auf die Nacht. Endlich keine Angst mehr um das zerstörte Geschlecht. Keine Scham wegen der Verstümmelung. Das Goldgeld, die dicken Münzen, die herrlichen Perlen, endlich alles ihm allein!
Noch wußte er nicht, was damit beginnen, aber bloß die Perlen ansehen, sie auf der bloßen Hand rollen lassen, wie kleine Schrotkörner so schwer, sie in den Mund nehmen, zum Zittern in seiner Wollust: Wieder waren sie rötlich umhaucht, stärker als früher, und blieben ein wenig gerötet auch nachher. Er verglich sie mit Perlen in den Auslagen der Juweliere und schätzte die größte Perle auf zehn Tausend, die kleineren auf je drei bis vier Tausend.
Zu Hause war die Leiche schon fortgeschafft zum Gericht, und der Wachmann wartete auf ihn. Franta war klug geworden. Er bat, frische Wäsche nehmen zu dürfen, und warf das Taschentuch mit den Perlen zu dem schmutzigen Zeug. Die Wohnung wurde versiegelt, Franta kam ins Gefängnis. Er blieb dort drei Tage allein. Tief schlief er die ganze Zeit, hatte keine Gedanken an das Frühere. Beim Verhör fragte man ihn, wozu er den Revolver gekauft hätte. Er sagte: »Waffen werden jetzt gebraucht.« Man konnte ihm nichts nachweisen. Er sagte: »Meine Frau hat sich zu sehr vor dem Kriminal gefürchtet; sie war auch in großer Not, ich war im Krieg, bin schwer verwundet.« – Er wurde freigesprochen und empfing sogar eine kleine Entschädigung für Arbeitsentgang vom Gericht.
Im Jahre 1916 kam der Frühling sehr spät, Anfang April war noch Eiseskälte überall. Trotzdem wucherte in Franta eine schwüle Glut, oft zitterte er. Der Schlaf war nachts schwer, mit wüsten Träumen. Franta Zlin hämmerte sich in viel Arbeit ein, aber das Sitzen auf dem Arbeitsschemel, gepreßt zu einem Bündel Fleisch, das sich selbst erhitzte und von trockenen Fetzen rings umgeben war, machte ihn wild. Abends ging er in ein Kino, konnte aber nichts deutlich sehen, Die Luft war wie über einem Koksofen, wie sie auf den Straßen stehen, hoch im Sommer, wenn der Asphalt geschmolzen wird, ein Eisenkorb, gefüllt mit farbloser Glut, und die Luft zitterte darüber wie kochendes Glas. Er hörte die Musik, es begann ihn zu würgen. Auch die Nachbarn, die vielen Leute im Kino keuchten heiße Seufzer; als er heimging, war er wie berauscht. Am nächsten Tag sagte er die Arbeit beim Goldschmied auf. Es gab fast kein Gold mehr bei den kleinen Juwelieren, da alles von Staats wegen eingeschmolzen wurde. Er fragte nach ungelernter Arbeit. Man sagte: In der Gasanstalt.
Dort arbeiteten viele Russen, aber auch Wiener, junge und ältere. Franta arbeitete bei der dritten Destillation. Neben ihm war ein dicker, großer Russe, Wassily. Bis zum Sommer fühlte Franta sich gut und glücklich. Perlen und Geld behielt er. Er wollte sich ein kleines Haus kaufen, bei Wien oder, wenn der Krieg vorbei war, im Walde bei dem Passe von Turka, zwischen den drei Serpentinen. Daran dachte er oft.
Die kriegsgefangenen Russen in der Gasanstalt verstanden es, durch Bestechungen freien Ausgang zu bekommen. Wassily schenkte oft dem Wachkorporal Zigaretten und bares Geld. Er hatte einige Worte Deutsch gelernt, besonders die Worte: »Haben Sie gerne?« In einem Zivilgewand oder in einem österreichischen Militärmantel verließ er abends die Gasanstalt und nahm Franta zum Schnapshändler mit. Bei dem dritten Glas Rum überfiel Franta fürchterliche Glut. Begierde, nicht mehr allein im Leib, auch in den Händen, in den Augen, alles zitterte in unbegreiflichem Wunsch, verlangte in furchtbarem Hunger nach Lust. Wassily schien sogleich zu verstehen, denn er zahlte in Eile, nahm Franta mit, indem er mit schmutzigem Lächeln sein »Haben Sie gerne« wiederholte.
Aeltere Mädchen, grell geschminkt, wie lebendige Leichen so starr, mit unheimlich schleppenden Kleidern, wandelten vorbei. Es war elf Uhr nachts, die Stadt immer noch ein Glutofen. Vor den älteren Mädchen fürchtete sich Franta, aber da schlüpfte etwas Zartes, Weißes vor ihnen her, in lichtem Kleid, mit nackten Beinen, in Leinwandschuhen. Rings war schon freies Feld, der nächtlich leere Exerzierplatz, die Schmelz.
»Suchst du die Vicky?« zwitscherte die Stimme der Weißen. Franta keuchte. Wassily war schon verschwunden in den Schützengräben, die die Soldaten zur Uebung ausgehoben hatten am Rande des Platzes.
Das Mädchen nahm Franta an der Hand, führte ihn mit Vorsicht den Häusern am andern Ende der Schmelz entgegen: Franta zog die Hand fort. Lust, Begierde brannte unheimlich, aber nur schrecklich, nur eine Angst, nur ein Wüten.
»Wo ist die Vicky?«
»Da drüben siehst du schon das Hotel«, zwitscherte die Stimme. Schon war Vicky in den rot beleuchteten Eingang des Hotels geschlüpft, hatte eine Zimmertür geöffnet, schon das Hängerkleid heruntergerissen.
»Die Vicky?«
»Wie alt bist du?« Sie schimmerte so zart, ein wehender weißer Schein im dunklen Zimmer.
»Zwanzig Jahre.«
Er fühlte an ihrem Gesicht entlang. Es schien ihm zwölf Jahre alt zu sein oder sechzehn. Sie lachte. Spitze, weiße Zähne, lang in dem hohen ovalen Mund, wie ein kleines weißes Feuer. Das Zimmer war nicht ganz dunkel, es erhellte sich mit jedem Augenblick mehr, auch Vicky schien ihn jetzt deutlich zu sehen.
»Du herziger Mann!« sagte sie. Er sah ihre schwarzen Haare an: »Schwarz, schwarz, das ist schön.« – Sie flog so leicht an ihm empor, ohne Schuhe flatterte sie auf. Er hob sie, trug sie wie ein Bild auf beiden Händen, daß sie hoch kichernd lachte. Sanft faltete er die Hände auseinander. Wie sie sich schmiegte in die Höhlung seiner geweiteten Arme! Glühend wogte er zwischen ihren Gliedern. Der gespaltene Huf des Tieres, zwischen dessen Höhlung er die Perle gefunden hatte, einst, einst.
Nieder! Unaussprechlich erfüllte ihn Mitleid mit sich selbst.
Unaussprechlich erfüllte ihn glühende Wut, namenlose Gewalt. Was riß an ihm, nahm seine Hände vor? »Schnell, schnell!« schrie er. Er hatte Vickys Körper, so leicht, so schmelzend, schon an den Beinen angefaßt, in betäubenden Hieben schleuderte er den Körper an die Erde, schlug ihn hämmernd nieder, in tierischer Teufelei hämmerte er die Schreiende nieder. »Schrei nicht! Schrei nicht!« heulte er die Schreiende an, in dem Zittern vor der Erfüllung keuchte er sich empor.
Als sie schon still lag, nicht mehr schrie, nicht mehr zu atmen schien, riß er sich selbst die Kleider ab. Sein verstümmelter Leib erstand zum erstenmal vor seinem Blick. Tief beugte er das Haupt zu sich nieder. Tränen. »Da, sieh her, so war ich nie! So war ich nie! Da, sieh her, Vicky! Alles hat es herausgehaut aus mir. Franta! Alles hat es herausgehaut aus dir!« – Langsam, mit zarten Händen legte er die Bewußtlose aufs Bett, kniete noch lange vor ihr. »So hast du deine Frau erschlagen«, sagte er, »so hast du sie langsam zu Tode gewürgt! Franta! Nicht zu retten mehr! Fürchterliche Tränen. Fürchterlicher Tod!« – Pochen an der Tür erweckte ihn. Kaum konnte er sich selbst wie ein Tuch über das liegende Mädchen stürzen, schon stand der Russe gewaltig in der Tür, lächelnd mit bösem Gesicht: »Haben Sie gerne?« Der linke Fuß des Mädchens gleißte im Laternenlicht.
Franta erhob sich: Mörder, der umsonst gemordet hat. Ungesättigt das wütende Geschlecht! Aber er mußte auf und fort, fliehen außer Land. Der Russe griff ihn an der Hand, beide schlichen sich schnell hin, leise die Treppe hinab, rannten dem Bahnhof zu, dessen Uhr in der Nähe durch die leere Straße leuchtete.
Das Mädchen, betäubt von gräßlichen Schlägen, erhob sich bald, sie weinte. Der Mann hatte ihr trotz allem gefallen. Nun war er fort und hatte nichts gegeben, auch kein Geld fürs Zimmer. Flink zog sie sich an, glitt über die Treppe. Am Ende der langen Straße sah sie Franta mit dem Russen flüchten, sie konnte ihn aber nicht mehr erreichen.
Am Fahrkartenschalter zog Franta das noch von der Schlacht bei Rawaruska blutige Tuch mit dem Goldgeld hervor. »Kaputt?« fragte der Russe mit bösem Lächeln. Franta antwortete nicht, stieß den Russen beiseite, wollte eine Karte lösen und mit Papiergeld bezahlen. Wassily, außerhalb des Eisengeländers, das zum Fahrkartenschalter führte, winkte ihm, machte Zeichen: zwei! zwei!
Franta wußte, daß er mit dem Russen nicht allein bleiben dürfe, sonst würde er von ihm erschlagen.
Sie fuhren dichtgedrängt mit vielen Soldaten und Zivilisten die Nacht hindurch und den nächsten Tag. Abends kam Militärpolizei, um die Reisedokumente zu revidieren. Trotzdem sie den Waggon von beiden Seiten bewachte, floh Franta in den kleinen Abraum. Wassily folgte gleich nach. Grauenhafte Angst erfüllte Franta, als er neben sich die groben, gutmütigen Züge des Russen sah, und unter ihnen den Mörder, sein Ebenbild. Aber er schrie nicht, sondern lachte, wiehernd, dröhnend, bis ihm der Russe den Mund zuhielt. Nun schwieg er, bald war die Gefahr vorüber, denn auf Pochen und Rütteln öffneten sie nicht. An der nächsten Station, Sankt Anton in Vorarlberg, verließen sie den Zug, der hier nicht hielt, sondern nur sehr langsam fuhr. Schwerer Wald war dicht dabei, sie gingen einen schönen Weg entlang unter Tannen. Die Sterne schienen zwischen den Bäumen. Gegen Mitternacht legte sich Franta auf den Boden. Er mußte schlafen. Er wollte vorher noch die Perlen und die fünf großen Goldmünzen dem Russen aus freier Hand ausliefern, um sich zu retten. Aber die letzte Regung des Geizes ließ seine Hand nicht los, die sich in der Tasche um die Kostbarkeiten spannte.
Ein hoher Wagen, schwer bepackt mit umgekehrten Tischen, altem Gerümpel, schwankte ihm entgegen. Ein ausgemergelter Jude lenkte mit knitzender Peitsche zwei noch ausgemergeltere Pferde. Ein kleines Feuerchen glitzerte warm. Ein Fohlen, hellfarbig, klapperte mager nebenher, hoch wiehernd. Kühe mit weich gesenktem Haupt umwandelten ihn, zutraulich kreisend. Die junge dicke Judenfrau, nicht mehr im Wagen, suchte auf dem Boden zwischen den gespaltenen Hufen der wandernden Tiere, griff plötzlich auch Franta – er lag gelähmt in rosarotem Licht – in die Weichen. Ihr Gesicht, oval, weiß, schwer von lichtem Fleisch, näherte sich ihm, und mit einem Male war Franta ganz hoch beseligt, ganz steil getürmtes Geschlecht, ganz kreisend geballter Mann, hineingewühlt in die weiche Fülle des Fleisches, gute Flut wie weiße Elfenbeinhauer ausatmend in wogender Nacht.
Wie ein Tier hatte er sich nur eingeworfen, nicht mehr bewegt. Starr gefesselt, glücklich unbewegt, in Ewigkeit gebadet, war er umgeben rings von der letzten befreienden Erfüllung bis zu tiefst gesättigter Lust. Mit seiner Hand, wie unter das liegende Muttertier einst, fühlte er vor, sein eigenes ausströmendes Blut empfand er als ausblühende Glut, als Befreiung ohne Schrei, und in stärkeren Kreisen löste er sich ganz in der niederfließenden Ueberwältigung.
Der Russe floh nach dem Morde über die Schweizer Grenze. Franta Zlin wurde am 20. Juli des Jahres 1916, zwei Jahre nach Beginn des Weltkrieges, in Sankt Anton in Vorarlberg als Unbekannter, von Unbekannten ermordet, begraben.