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Cyrill D. entstammte einer Familie von armen Bauern, die an der ungarischen Grenze des Landes Mähren zusammenwohnten. Da der kümmerliche Boden nicht alle erhalten konnte, wanderten viele nach Amerika aus, kamen aber in späterem Alter zurück und bebauten den Boden weiter. Es gab in der Familie viel fanatisch fromme Katholiken, Väter, die sich für ihre Kinder, Brüder, die sich für ihre Schwestern aufopferten, aber auch viel Habsucht, Geiz, Jähzorn und andere Leidenschaften, die sich oft erst in höherem Alter zeigten. So hatte Cyrills Vater mit sechzig Jahren seine dritte Frau geheiratet. Diese Frau, obwohl selbst kinderlos, machte den Kindern aus früheren Ehen das Leben so schwer, daß der älteste Bruder Cyrills, Johann, der künftige Erbe des Hauses und der Felder, sich als Ackerknecht verdingte. Cyrill ging in die Stadt, um als Lehrling bei einem Tapezierermeister, einem entfernten Verwandten der zweiten Frau einzutreten, Mathias, der jüngste, wurde vom Pfarrer des Ortes wegen seiner besonderen Begabung und seines Fleißes zum geistlichen Stande bestimmt. Die zwei jüngeren Brüder kamen gleichzeitig in die Stadt. Der älteste Bruder, schwächlich von Gesundheit und durch den Kummer gebrochen, starb bald darauf. Als der Vater Cyrills im Alter von weit über siebzig Jahren die Augen schloß, fiel der ganze Besitz der Witwe zu, welche die Kinder aus den andern Ehen durch List und Niedertracht sogar um ihren Pflichtanteil gebracht hatte. Aber sowohl Cyrill als Mathias waren damals schon viele Jahre von Hause fort und konnten sich nicht wehren.
Cyrill hatte, damals schon Gehilfe und künftiger Nachfolger des Tapezierermeisters, ein Mädchen aus einem Nachbarorte kennengelernt, Fanny, das als Dienstmädchen in derselben Stadt diente, in der er lebte. Auch sie war sehr fromm und verbrachte ihre freie Zeit gern in der Kirchs. Ihre einzige Liebe war Cyrill. Aber ihre Ehe war nicht glücklich.
Sie war um zwei Köpfe größer als er, sie erdrückte ihn beinahe mit ihrer animalischen Schönheit, mit ihren dunkel glänzenden Augen, mit ihren dicken, schweren Haaren, und doch hatte sie vor ihm, dem kleinen blonden Mann, tiefe Angst. Sie vergaß nicht, sie dachte immer daran, obwohl sie nie davon sprach: nur aus Zwang, im letzten Augenblick hatte er sie zur Frau genommen, von Sorgen, gemeiner Not getrieben, wie sie selbst durch den ordinären Zwang des schweren Lebens zum Dienstboten getrieben war. Sie hatte an die Ehe wie an etwas Göttliches geglaubt, an die Trauung in der Kirche, die leere, einsame Kirche, die beiden goldenen Ringe, die hohe goldene Zeit.
Cyrills jüngerer Bruder hatte lange an der Universität studiert in der Hoffnung, es dann um so schneller zu hohen Würden zu bringen. Er hatte viel Geld gebraucht, für Bücher, für Wäsche, Kleidung, er trug einen Zylinderhut, während Cyrill, klein und abgeschabt, mit einer niedrigen, staubigen Sportmütze neben ihm einherlief. Beide waren schwächlich, aber der jüngere machte sich schwächer, als er war. Alle sollten ihm helfen. Er arbeitete viel, seine Studie über den Erzvater Moses im Evangelium Lukas erregte Aufsehen, doch davon konnte er nicht leben. Oft war er kränklich, Cyrill wollte ihm nicht zumuten, im Alumnat mit den anderen jungen Geistlichen zu wohnen, die Luft sollte dort erstickend sein, ohnehin hatte der arme Bruder Atembeschwerden und ebenso wie er selbst oft grauenhafte Träume.
Cyrill verdiente schon damals als Tapeziergehilfe etwas Geld, aber es war nicht genug. Die Eltern lebten nicht mehr. Cyrill lernte Fanny kennen; gequält von seinen Sorgen, erzählte er ihr von seinem Bruder. Fanny, das Dienstmädchen, hatte ein kleines Vermögen, sie war eine Waise, aber keine »ganz abgerissene Waise«, wie sie sagte; und da sie ihm das Geld immer wieder anbot, nahm er es schließlich mit abgewandten Augen. Daheim staunte er, es war viel. Der Bruder kam jetzt vorwärts, er bat, Cyrill solle nur nicht drängen. Bald feierte er das Primiziat. Er wurde einem Pfarrer zugeteilt. Bis zum Bischof, ja auch nur bis zum Vikar war es weit. Die Brüder sahen einander oft, alles Leid klagten sie einander. Cyrill hatte viel Mitleid. Wozu waren alle Mühen auf der Universität gut gewesen? Beide lächelten, aber Cyrill fühlte mit Freude das eine, daß der Bruder sich nicht überhebe, daß er nicht viel mehr sei als er selbst. Cyrill kehrte zurück. Er schämte sich, Fanny die Wahrheit zu gestehen: statt ihr das Geld heimzubringen, hatte er dem armen Bruder auch noch den letzten Wochenlohn gegeben. Er war Sonntags dort gewesen, nun hatte er nichts für die ganze Woche. Fanny sagte, er solle sich das nicht so zu Herzen nehmen, das Geld sei einmal dahin und verloren, es sei schon gut, ihre goldenen Pfennige hätte der liebe Gott zu sich genommen. Die selige Tante, von der sie geerbt waren, hätte sie ohnedies der Kirche weihen wollen. Sie selbst brauchte ja nichts, wozu denn auch? Sie pries lange ihre Herrschaft, das ruhige Leben, die viele gute Kost. Sie lachte jetzt über sich selbst, über ihre gar zu große Figur, vor der die Herrschaften erschraken, weil sie dachten, die Riesin würde zu viel essen, oder, wenn man sie allzusehr plagte, jemand mit der Hand erdrücken. Sie erzählte unaufhörlich, so sehr war sie bezaubert von Cyrills zarter Figur, seinen tiefliegenden Augen und ihrem Blau. Sie konnte sich von ihm nicht trennen, sich nicht sattsehen an ihm. Lange gingen sie vor ihrem Hause hin und her. Er war müde und hungrig. Ihre Herrschaft sei nicht zu Hause, meinte sie, er solle nur schnell mitkommen, am Gasherd werde sie ihm guten Kaffee kochen. Warum nicht auf dem Ofen, fragte er auf der Treppe. Die gnädige Frau sei so genau, sagte sie, sie käme zwar an Sonntagen erst spät in der Nacht, sie sitze bei Verwandten und spiele dort Karten, bis sie müde sei zum Umfallen, aber bevor sie sich niederlege, müsse sie erst den Ofen abfühlen, ob er nicht geheizt worden sei.
Cyrill ahnte etwas von Fannys Elend. Das Geld, angeblich von der Tante der Kirche bestimmt, hatte sie selbst bitter verdient. Er ließ nicht zu, daß sie vorher etwas koche, er drängte sie in ihr kleines Mägdezimmer, in dem auch die Badewanne stand. Taghell war es; die am Vormittag gebrauchte Brause tropfte schwer, jenseits der Mauer hörte er daheimgebliebene Mägde laut singen, dröhnender Lärm stürmte plötzlich von allen Seiten, dann Totenstille auf einen Schlag.
Nach einer Stunde ging er fort, ganz ohne Freude.
Drei Monate später sagte ihm Fanny, ganz ohne Erschütterung: »Ich bin doch in der Hoffnung.« Er wollte es nicht glauben. »Noch zwei Monate bleibe ich im Dienst«, sagte sie.
Gutmachen konnte man nichts mehr, aber jetzt mußte sie ihr Geld haben. Nur so blieb ihr das Aergste erspart: daß sie ins Findelhaus gehen mußte. Wenn sie dort auch unentgeltlich verpflegt wurde, hatte doch ihre Heimatgemeinde die Kosten zu tragen. Auf immer war sie dann in ihrem Zuhause, bei ihren Geschwistern »verredet und verschändet«. Der Mann wußte, man hätte ihr ein uneheliches Kind verziehen, aber daß sie nicht einmal die zur Geburt nötigen Groschen haben sollte, das niemals. Wozu war sie Dienstmädchen, hatte »umsonst« Essen, Trinken, Kleider, Heizung? Bei dem letzten Gedanken wurde er von dummer Wut ergriffen. Er hätte nie mit ihr hinaufgehen sollen, was sollte das Gerede vom Gasherd? Sollte er das sein Leben lang büßen? Er mußte Geld haben. Der Bruder war schon lange genug im Amt. Cyrill reiste zu ihm, deutete fein seine Notlage an, der Bruder tat, als verstünde er nicht. Cyrill wurde deutlicher, der Bruder sprach vom Beistand des Allmächtigen. Cyrill schrie endlich ganz roh, überschwemmt von plötzlichem Zorn: »Geborgtes Geld war es, nicht geschenktes. Bist du ein Bruder oder nicht?« Der Bruder sagte ihm, es sei alles gut, er werde das Geld aufbringen, er habe viel zu verkaufen, die Uhr, das goldene Kreuz, aber nur still, er solle nur ja nicht schreien. Der andere sagte, er lasse sich nicht das Maul verbieten, er wolle wissen, wann. »Bald bald!« sagte der Bruder. »Was, bald?« sagte Cyrill, »bald? Ja, wo ist denn dein Lohn hin?« Er wußte nicht, wie er die Einkünfte eines Geistlichen nennen sollte. »Du selbst brauchst nichts, hast nichts für Heizung zu bezahlen, das Essen hast du hier. Du ißt ja ohnehin so wenig. Das Ornat hast du umsonst, sogar den Meßwein!« Er versuchte zu lachen, obwohl er zitterte. »Sogar den Meßwein?« sagte der Bruder mit sonderbarem Lächeln. Dieses Lächeln empörte Cyrill, schon warf er sich auf den Bruder. »Das Kleid! Vergreif dich nicht am heiligen Kleid!« sagte der Geistliche. Cyrill trat zurück und sah den Bruder an, der weiß war wie die Wand, vor der er stand. Er bat ihn um Verzeihung, halb verzweifelt kam er heim. Er ließ Fanny warten. Sie war schuld an allem. Mit Ekel erinnerte er sich ihres Zimmers, ihres harten, jungfräulichen Körpers, vor dem noch jeder andere gewichen war, ihres weißlackierten Bettes, das sich in der hohen Zinkbadewanne gespiegelt hatte. Beinahe war ihr Zimmer ein Abort gewesen. Er weinte über den armen Bruder, den bleichen Schwächling, der sich pflegen mußte und eben jetzt nicht »bluten« konnte. Sie schrieb ihm nicht. Am nächsten Tage sandte ihm der Bruder das Geld, auch er schrieb nicht ein Wort, auch er hatte es auf ihn abgesehen.
Cyrill ging seiner Arbeit nach, holte sich am Samstag seinen Lohn, am Sonntag betrank er sich schon vormittags, er wollte endlich seine Freiheit genießen. Er wollte für sich arbeiten, nicht für den Bastard, nicht für sie. Aber der Wein bekam ihm schlecht. Er schrie, man hatte ihm den Rachen verbrannt, man hätte ihm Vitriolschnaps statt Wein gegeben, vergifteten Sprit, in »doppelter Mischung«. Schon begann er Lieder zu singen, ohne daß er es wollte. Heulend entrollten seinem kleinen Munde Melodien von Kirchenliedern. Er sah alte Weiber, hoch im Staub, sie stießen diese Lieder vor sich her, und auf ihnen, wie auf wirklichen Stangen, sah er seinen Bruder vorangetragen, einen Laib ungebackenes Brot auf beiden Händen, rückwärts im Zuge verbarg sich Fanny, aus der hohlen Hand Tapezierernägel einem kleinen Kinde über den Kopf rollend; schon türmte sich der Staub zu ihrem weißen Dienstmädchenzimmer und drang ihm in die Kehle. Doch schrie er auf, als er mitten durch den Staub, wie in der Sonne feurig beleuchtet, Fanny wieder sah, wie sie mit weißem Hammer etwas niederschlug, das nur ihr Kind sein konnte, zerknittert wie ein Blatt Papier, unter der Badewanne verborgen.
Bei seinem Schrei erwachte er. Er begriff, daß er betrunken war. Zorn und Wut taten ihm wohl. Das war gut, dachte er. Nun war er nüchtern, aber noch nicht ganz.
Schmerzen fühlte er nicht, zum Spaß schlug er seinen Kopf gegen die Wand, wurde tückisch gegen die andern Gäste. Er wurde hinausgeworfen, kam sehr schwer heim, schlief sehr tief.
Abends erwachte er, zog ein weißes Hemd an und ging zu Fanny. Sie war zu Hause. Er warf sich ihr zu Füßen, statt sie zu küssen, da er fürchtete, sie könnte den Weingeruch aus seinem Munde spüren.
Sie war sehr verlegen und begann zu weinen. Er wollte sie trösten, er wollte sie in das kleine weißlackierte Zimmer hineinschleppen, dorthin, wo sich das Bett in der Badewanne spiegelte. Aber sie ließ sich nicht zerren. Er trat beleidigt fort und wollte ihr schon mit giftigen Worten drohen, da erblickte er solches Grauen um ihren Mund, daß er ganz zu sich kam.
Nach vier Monaten wurden sie getraut, im dritten Monat der Ehe kam das erste Kind zur Welt und wurde auf den Namen der Mutter getauft.
Nach der Hochzeit zeigten sich sonderbare Eigenschaften an Cyrill; wie seinen Bruder plagten ihn schwere Träume. Während einer ganzen Nacht schrie er, warf sich schräg über die Kissen und lachte. Starrend blieben die weißen Reihen der Zähne geöffnet im matten Schwarz der endlosen Nacht. Seine Frau sah es mit Grauen. Am nächsten Tag erwachte er ohne jede Erinnerung und ging an die Arbeit.
Die Frau dachte daran, wieder eine Stelle als Dienstmädchen anzunehmen, damit es leichter für ihn würde, damit er aufatmen könne. Wohl liebte sie ihn, jetzt aber wäre es ihr genug gewesen, ihn einmal in der Woche zu sehen, beim freien Ausgang frei mit ihm zu sein, Sonntags von drei nachmittags bis zwölf Uhr nachts. Aber sie konnte das Kind nicht allein lassen, das arme Kind mußte gewartet werden. Der Mann trank nicht mehr; wenn sie Ausflüge machten, vertauschte er sein volles Bierglas mit ihrem leeren, denn er schämte sich seiner Schwäche. Viel Freude hatte er am Rauchen, selbst abends rauchte er noch im Bett. Die Frau, todmüde von der Arbeit des Tages, leergesaugt von dem ungewöhnlich starken, ewig hungrigen Kinde, wußte nicht, wie sie die Augen offen behalten sollte. Der Feuersgefahr wegen durfte sie nicht einschlafen. Endlich ließ er die Zigarre aus der Hand fallen. Sie aber, sich nochmals zusammenraffend vor dröhnender Müdigkeit, beugte sich mit schwer mütterlichem, weiß quellendem Leib aus dem Bett, raffte den Stummel auf, behielt ihn in der geballten Faust, bis sie ihn am Morgen auf einem frisch gehobelten Brett mit dem Zuckerhackmesser in kleine Stücke hackte für die Pfeife der Werkstatt. So ganz weich, so völlig willenlos gab sie ihm in allem nach, nie hörte er von ihr »ein anderes Wort«. Gerade das empörte ihn, er hätte sie zertreten mögen. Aber er konnte nichts tun als seine Wut in sich hineinschlingen, Schimpfworte gegen sie tückisch erfinden: »dreistöckiges Ludermensch, gefährliches Riesenaas«, nie aber wagte er, ihr diese Worte zu sagen. So viel Angst hatte er vor ihr, er dachte, sie, die Riesin, würde doch einmal nachts über ihn herfallen. Ihre Hände waren blutig gewesen bei der Geburt des Kindes. Mit dem Zuckermesser spielte sie gern, lauerte darauf, daß er aus Dummheit, zum Spaß seine Finger unter die Schneide bringe. In dieser Zeit wandte er sich an den jüngeren Bruder um Rat, aber der Geistliche antwortete nicht. Auch bei der Taufe des Kindes hatte er sich verleugnet, nur Geld geschickt. Alles, der heilige Bruder, der liebe heilige Herr in dem abgeschabten, schwarzen Gewand, durch das seine abgemagerten Hungerknochen im Traume deutlich zu sehen waren, das viele Geld, das sich im Traume vermehrte, dessen Scheine, wie Schienen der Länge nach aneinandergelegt, sich endlos zogen, von der Hütte des Bruders bis an Fannys Haus, alles schlang das Riesenmensch ein. In dem lustlosen, ungeheuerlich weit geöffneten roten Eingeweideschlund versank alles ohne Rettung. Der kleine Mund des Kindes war gar kein Kindermund, sondern nur ein kleines Abbild des Mutterschlundes, des unersättlichen. Ihm selbst nahm es jeden Hunger, wenn er sehen mußte, wie das Kind, ohne zu kauen, fast ohne zu atmen, mit geschlossenen Augen aus der Mutter ungeheure Massen von Lebensnahrung in sich hineingeiferte. Und während das Kind, wie gelähmt, mit lauem Atem, mit schlaff niedersinkenden Händchen wie tot zu schlafen begann, schien die Mutter statt entleert, nur noch doppelt gefüllt und von dem strotzenden Kind mit neuer Fülle und Gesundheit aufgeschwellt, so daß sie strahlte.
Durfte Cyrill nicht mit Geld knausern, durfte er, der halb vertrocknete, es nicht an Geld fehlen lassen für die zwei strotzenden Weiber, so hielt er mit Worten an sich, sparte sie sich am Munde ab, regte den Mund zu nicht mehr als achtzig Worten am Tag, und als das zu zählen zu schwer war, nur zu dreißig, die er bis zum Abend manchmal kaum erreichte. Er konnte darauf warten, daß Fanny ihm Vorwürfe mache, aber sie schwieg und fühlte nichts. Es gab Dinge, die ihm unerträglich waren, so der Geruch von Petroleum an den Händen oder Watte, die beim Zusammendrücken wie zusammengepreßte Zähne knirschte. Aerger als alles aber war ihre Stimme, die ihm das Herz abpreßte. Die Frau litt seit der Geburt des Kindes an Zahnschmerzen: er zupfte ihr die Watte schweigend aus den Ohren, drohte schweigend mit Schlägen. Aber das Kind, plötzlich erwachend, haschte mit teuflischem Lächeln aus zahnlosem Mund nach seiner Faust. Cyrill legte sich ins Bett, rauchte. Die Frau richtete die Petroleumlampe an ihrer Wand, knirschend rollte der Docht empor, denn nur im Hellen konnte sie die langen Stunden zu Ende wachen. Ihre Hände, die ihm vom Petroleum geradezu zu triefen schienen, in deren öligem Glanz sich das ganze Zimmer spiegelte, wischte sie an der Bettdecke ab. Wie die Bettdecke an dem Mann riß, erblaßte er, stierte seine Frau an mit einem Blick, nicht gut, nicht böse, aber grauenhaft, wie damals, vier Monate vor der Hochzeit. Das Zimmer war zu klein für diesen Blick. Die Frau verkroch sich unter die Bettdecke, in ein kleines Bündel ihren ungeheuren Leib zusammenpressend.
Der Mann stand auf, kleidete sich wortlos an, ging fort. Als der Mann weg war, dachte die Frau: ich bin gerettet, es ist nichts geschehen. Sofort aber fühlte sie, es war das Fürchterlichste geschehen. Gekrümmt blieb sie unter ihrer Decke, ihr Atem, zwischen den schweren Brüsten gleitend, machte die Leinwand rascheln, die sich um ihre Hüften spannte. Unbewegt blieb sie so die ganze Nacht.
Cyrill ging in einen Schnapsladen. Oft schon war er vorbeigestrichen, hatte die Männer beneidet, die sich vor dem Schanktisch drängten. Ein magerer Glatzköpfiger, fast zum Umfallen rücklings über einen Stuhl gestreckt, von zwei schweren Flaschen die beiden Hände herabgezogen, so daß sie den Fußboden streiften, schien ihm besonders herrlich, noch herrlicher aber die Flasche in der linken Hand, von einer Gasflamme obenher mit öligem Licht beträufelt, ein mattgeschliffenes, traubenartig gebauchtes Gefäß, die Glasgestalt eines dicken Mannes mit hohem Hut, dessen fetter Bauch bis oben zum kropfigen Halse mit rosarotem Schnaps gefüllt war.
Nun trat er ein. Die Verkäuferin, ein gutgenährtes Judenmädchen, wunderte sich, sehr selten wurden solche Flaschen gekauft, und jener magere Säufer hatte sie am ersten April erhalten, ein Geschenk, das man ihm spaßeshalber mit Weinessig gefüllt hatte. Es gab aber noch ein Gegenstück dieser Flasche für Cyrill. Seine Hände schienen ihm warm angehaucht von der heiser glucksenden Flasche, als er sich vor dem Schnapsladen auf eine Bank setzte. Die Bank war verrufen, denn der Besitzer des Geschäftes hatte sie für seine Kunden aufstellen lassen, damit sie sich nicht in ihrer Trunkenheit vor der Schwelle umherschmieren sollten.
Wie vor Zeiten glaubte Cyrill auch jetzt, er sei innerlich angebrannt, man hatte auch ihm, als verspäteten Scherz, Säure in seinen Rausch gefüllt. Aber dann schmeckte es so mild, eigentlich gar nicht nach Schnaps, eher nach Zuckerzeug, wenigstens jetzt hatte er die Süßigkeit auf der Zunge, wenn auch scharfe Eisen unabwendbar hinterher drohten.
Wohl rollte er seine Zunge wie eine Blechröhre rund um den guten Schnaps, der nach guten Kinderjahren schmeckte, die Bitternis kam doch, jetzt schon, viel zu früh.
Ein betrunkener Bettler tappte heran mit schweren Füßen, mit ganz platten Füßen, auf denen hätte einer stehen können, aber daran dachte der Bettler gar nicht, sondern er wollte vielmehr seine ins Ungeheure verbreiterten Füße auf Cyrills Schenkel legen, um dann durch ganz müheloses Rücken nach der Seite auch Cyrills Körper und sein armes Herz und seine müden Augen und seinen schweren Hals und seine abgearbeiteten Hände flach zu drücken, denn nichts anderes war der von Kot ganz hell lackierte, aus einem Loch triefende Schuh des Bettlers als die Badewanne, in Fannys Dienstbotenzimmer stehend, unsichtbar in der Finsternis, die sich jetzt nachts auf die Reise machte. Alle Gewalt nützte nichts, mit schrecklicher Freundlichkeit, mit einem wie Schnaps süßlichen Grinsen trat der betrunkene Bettler immer wieder von frischem an und drohte. Der Bettler versank unter die Erde, und doch schrie er zu ihm, leitete böse Drohungen durch den hohlen Laternenpfahl und schrie ohne Aufhören, wie Licht ohne Aufhören scheint.
Cyrill stand auf, tastete alles ab, die Augen vor Angst geschlossen, aber niemand war neben ihm, und plötzlich erkannte er sich selbst.
Ein Bahnhof war in der Nähe, Züge rollten ein, Dampfwolken wälzten sich gegen ihn. Nur durch die Zweige einer Platane, die neben der Bank stand, war er geschützt. War er geschützt, so durfte er weinen. Durfte er weinen, so war er noch da. Mit Liebe streichelte er den dicken Bauch der Flasche, sie war ja so gut, sie war so gut rot, nur der Kopf war durchsichtig, der Kopf der Flasche war wie Bernstein, aber der übrige Leib war rot. Nun erkannte er es klar, das war ja der arme Bruder, nun hatte er es, es war der einzige Bruder, der den Zylinderhut des jungen Theologen trug, o so blaß, so ohne Leben, ausgedürstet, am langen Kreuz verhungert, das übrige war rot, weil er geblutet hatte, um Fanny, der heimtückischen Frau, alles Geld zu geben. Das übrige war rot, weil er sich den roten Meßwein abgespart hatte, um Fanny, das elende kleine Kind zu füttern und wider Willen groß zu machen, bis es, der Mutter gleich, mit riesenhaftem, bösem Leib die arme Welt in der Hand zerdrückte.
Er rief die anderen zu Zeugen an, den Bruder: Bruder Matthias; die Flasche: rote Flasche auf der Erde, halb bernsteingelb, halb weiß, ganz ausgeleert; die Frau: Frau Fanny; er selbst: Cyrill, Cyrill zuerst, Cyrill allein, alle mußten her, alle mußten Zeugenschaft geben.
Er stand auf, eine fürchterliche Last klammerte sich an seine Brust, das war seine Frau, die sich über ihn wälzte. Zwar konnte er sie nicht fassen, denn in einem Knäuel gewunden, von der rauhen Bettdecke überall scheußlich umhaart, war sie nicht zu erkennen, und wenn er den Knäuel würgte, so erwürgte er nur ihr Fußgelenk oder des kleinen Kindes wütend zu Faustdicke angeschwollenen kleinen Finger, der ihn verhöhnte.
Aber plötzlich war alles vorüber: hier war der weite, winterliche Platz, die Wolken der Lokomotive, wie Milchglas ganz sein, die Schnapsbude geschlossen, der Bettler verschwunden, der Bruder gerettet. Die Pflastersteine glänzten, die ausgeflossene Schnapsflasche hatte alles überströmt, es hatte also sehr geregnet, er hatte also sehr viel geweint. Cyrill hatte ja so guten Willen. Wie hat Cyrill den Bruder gepflegt, als er krank war: »Cyrill, der einzige Bruder, mit bloßen Händen in der eiskalten Wasserleitung hat er mir stundenlang den Reis gewaschen, als ich am Magen so sehr litt. Ich werde es nie vergessen, daß Cyrill meinetwegen gehungert hat. Nicht ich, du bist der heilige Cyrill, den sie im Bette gekreuzigt haben, da du lang ausgestreckt liegst, während deine böse Frau sich quer über dich wälzt ...«
Cyrill stieg die Treppe hinauf und wieder herab, endlich hielt er vor seiner Tür, endlich sprach er im Zimmer mit der Frau zahllos viel Worte, so viel Worte, wie sonst in einem ganzen Tag, in einem halben Jahr.
Die Frau lächelte ihn sehr demütig an. Er überfiel sie mit Liebkosungen, zeigte beide Hände, er wolle sie mit Watte füllen, auch das Petroleum solle sie nur ausgießen, wie und wo sie nur könne, er brachte das Weihwasserkesselchen, auch dahinein, vielleicht auch in die Badewanne, auf einmal sei es zu viel, aber mit der Zeit? In die Kirche gehe er nie mehr. Er lebe nur für sie und das Kind. Er hätte sie ja noch für lange lieb, sie solle nur nicht weinen, wenn auch der Bruder ihretwegen zugrunde gegangen wäre, aber das hätte ja jeder voraus gewußt, er wäre so schwach gewesen, ich weiß selbst nicht wie, wir sind doch beide Menschen. Am Tage bin ich fleißig, aber nachts, ich weiß es nicht, warum bin ich ganz gestört? Aber du und ich, weil wir eins sind. Nein, nicht schlafen gehen. Es ist ein Tag in der hohen Woche. Eine Woche ist im goldenen Jahr.
Ein verrufenes Jahr ist im ganzen Leben. »Du«, er atmete auf, sein Gesicht war verzückt, aber ganz fremd, »so war es schön, da muß es sein, wie es war, roter König vom Himmel, damals, wie es war.«
Die Frau glaubte, er würde umsinken, aber er keuchte sich nur höher auf, umschlang sie. Von Grauen gepackt, gegen ihren Willen nahm ihn die Frau in sich auf.
Am nächsten Tage erwachte er, wußte nichts von dieser Nacht. In dieser Nacht wurde Slawa gezeugt.
Während der Kinderjahre der zweiten Tochter, des guten Kindes, lebte der Vater auf. Mit diesem Kind zusammen zu sein tat ihm wohl. Slawas schmale Augensicheln entzückten ihn. Das Kind war so zart, wie eine Linie gezogen, wie eine dunkle Ader im hellen Holz. Die Haare wuchsen dicht auf dem Köpfchen, oft schwitzte das Kind, dann rollten sie sich zu vielen dunklen Locken, die wie aus Horn gedreht waren.
Was sie tat, erfüllte ihn mit viel Glück.
Er dankte ihr, er liebkoste sie, denn in seinen Augen war sie wie er.
Daß er nur dem jüngeren Kinde Gutes gönnte, machte die Mutter böse. War Cyrill böse, warum dann nicht gegen alle? Oft trat er zutraulich zu ihr, sie stieß ihn zurück, nachts kam sie auf den Gedanken, sich die Hände absichtlich mit Petroleum einzuölen, sie tat es nicht, aber sie fühlte, daß auch sie selbst bösen Hauch von ihm annehmen könnte, und fürchtete sehr, sie müßte später Slawa hassen.
Wieder in den Dienst zu gehen, daran dachte sie lange nicht mehr; wohl wäre sie dort gut aufgehoben gewesen, selbst bei der strengsten Hausfrau hatte sie ihren Anspruch auf Bett, Speise, Abendlampe, in kurzer Nacht tiefe Ruhe. Aber auch bei ihren Kindern ließ man sie leben, ihr Mann war Meister und Besitzer des Geschäfts, sorgte für die Zukunft ihrer Kinder und wenn ihr doch noch etwas die Brust bedrückte, so konnte sie sich in die Kirche retten; oft lag sie da, den großen Kopf über den Steinfußboden der Kirche geneigt, die getürmte Last des Körpers lastend auf dumpfschmerzenden Knien, atemlos, mit geballten Gedanken, wie in schwerster Arbeit stumm, stumm wie einst, da sie Nachmittage auf den Knien verbrachte, eine große Wohnung mit dichter Bürste zu reinigen. Wie als junges Mädchen weinte sie oft, die Kinder fragten neugierig: »Mutter, was singst du?« Ihr Weinen klang zwitschernd, ihre Stimme beim Sprechen war tief und gurgelte heiser.
Selig war oft der Vater mit Slawa zusammen. Wie gern nahm er sie zu seiner Tapeziererarbeit mit, in neue Räume; abendlich glosten in den Winkeln vergitterte Koksöfen mattrot, hier war er mehr zu Hause als zu Hause; auf seiner Leiter stehend, war er ins Riesenhafte vergrößert, und wenn ihm Slawa in weißem Kleidchen mit dünnen Armen wie vom Ende von Zweigen Zeitungen entgegenreichte zu seiner Arbeit, entschwand er ihr in die Höhe. In seinem Munde fühlte er wie etwas Festes, wie eine verhärtete Knospe den Geschmack vieler Küsse, lautlos kam er herab, und mit dem rechten Arm unter ihren Kniekehlen hob er sie, eine weißwehende Hülle um etwas Unsagbares, Herzklopfendes, Atembestürzendes über sich, damit sie auf der Leiter reiten konnte, er schloß die Augen vor der Wölbung ihrer Knie, die, rot angeleuchtet von dem Koksofen, schimmerten im nächtlichen Haus.
Ohne Worte lebten Slawa und Cyrill nebeneinander viele Jahre. Jedes Jahr, glaubte er, würde er jünger, würde er ähnlicher einem Cyrill, der die ganze Zeit hindurch gewandert war, jenseits von Fanny groß und Fanny klein, nahe jedoch dem Bruder, dem heiligen, dem armen, dem schwebenden außerhalb der Stadt. Das böse Knirschen gab es nicht mehr. Denn mit Freude hatte er es gesehen, wie Slawas, der geliebten, winzige Kinderschuhe knirschend in gefrorene Wasserlachen traten, in Verzückung hatte er sich vor sie gekniet, um in seinen Händen die von Kälte beschlagenen Füßchen zu wärmen. Jedes Jahr freute er sich darauf, den ganzen Herbst. Einmal hatte ihn ihr Fuß aus Versehen getreten; als er ihn aber nochmals ergriff und mit seinen Augen ganz an ihren Augen hing, den sichelförmigen, da stieß sie ihn, nun nicht mehr aus Versehen, mit ganzer Gewalt auf die Brust, ihr Fuß entschlüpfte schlangengleich aus seiner Hand, etwas entschwebte, das nie wiederkam. Er strafte sie, seitdem wich sie ihm aus, er bot ihr Spielzeug, brachte ihr Blumen, sprach sie an und bat. Sie nahm nichts aus seiner Hand, er mußte alles auf einen Stuhl legen, von dort holte sie es sich lautlos spät nachts, wenn er im Einschlafen war.
Noch schwebte sie in der Mitte, noch schien sie ihm erreichbar, eine nahe Wiederkehr des wandernden Cyrill, ein glückliches Anstreifen des »zweiten« Cyrill des Bruders Kirchengeruch, den er immer noch wußte.
Am Morgen nach den im Schlafe fortgewehten Blumen aber fühlte er, der Bruder war vorbei, er selbst war vorbei für den Bruder, der Heilige hatte ihn ausgeschüttet wie ein Waschbecken mit gebrauchtem Wasser, mit grauem schmutzigen Wasser, und seine eigenen Schläfen waren grau wie Sand.
Die Frau war immer noch schön, sie war wie ein Haus, ganz aus unzerstörbarem Stein, aber sie fühlte sich jetzt schwer, oft nahm sie den Mann, mit zwei Händen umspannte sie ganz den weichen Raum zwischen seiner verengten Brust und den mageren Hüften, die ihr ganz verdorrt schienen. Sie nahm ihn an sich, da Beklemmungen, drohende Ahnungen in ihr waren. Als aber der Mann sich von ihr löste, löste sich nichts in ihr. Den Nachbarsfrauen klagte sie über Schmerzen in der »Herzbrust«, der linken, aber niemand verstand sie recht, sie glaubte, man lache heimlich hinter ihrem breiten Rücken.
Das ältere Kind Fanny war ihr Einziges, der Liebling, das warme Herz. Während Slawa oft in einem dunklen Winkel um sich selbst kreisend tanzte, und hohes Lachen mühelos aus ihr brach, ein Lachen im Triller ohne Ende, drückte sich die Mutter mit dem älteren Kinde zusammen in den Rahmen des geöffneten Fensters. Damit niemand es höre, weinte sie das Kind an in dem engen Raum, dem erhitzten Fensterraum hinter den herabgelassenen Rolläden. In den langen Locken der Tochter ihre Hände zu verstecken, ihr Gesicht zu baden, das war ihr nie erfüllter Traum, da während einer schweren Erkrankung der böse Arzt und der bösere Vater dem Kind die Hände gehalten hatten, während sie selbst, die böseste Mutter, das reiche Haar dem wehrlosen Kinde fortgeschnitten hatte.
Jetzt war des armen Kindes sehr großer Kopf nur knollig bewachsen mit Büscheln fahlen Haares, aber noch konnte sich alles wenden, alles glücklich gerettet werden. Sie selbst war ja schon gerettet, da es ihr gegeben war von Gott, das geliebte Kind auf die Welt zu bringen; empfangen war es in einer heiligen Minute, an einem herrlichen Sonntag. Der böse Mann war damals nur durch besondere Gnade, durch auserlesenen Befehl zu ihr getreten, sonst aber kam er aus seiner Verfluchung nicht heraus. Es war nur Schein, daß er fleißig sich mit Arbeit abrackerte von früh bis abends, nur Schein, daß er, dem früher schon der kleinste, unschuldigste Tropfen das Böse herausgelockt hatte aus seiner zum Tode verurteilten Seele, nun alle Arten von Schnaps und sogar die stärksten Grade des schmutzigen Fusels in sich hineinsaufen konnte, ohne zu wanken. Erzählte man sich nicht, daß der scheinheilige süße Erdbeerlikör aus menschlichem Unrat hergestellt sei? Solchen Likör hatte sich der »Meister«, so nannte sie mit giftiger Zunge ihren Mann seit einer ihr selbst nicht mehr absehbaren Zeit, mit französischem Kognak gemischt, und er hatte die fuchsrot schimmernde »Abortlauge« in einem Zuge vor ihren Augen ausgetrunken, ihr zum Hohn, den armen Kindern zum Verderben, da die Flasche, aus der er trank, eine Glasgestalt eines fetten Mannes mit über dem Geschlecht gekreuzten Händen, doch nur aus der Fabrik des Teufels stammen konnte, der tausend solcher Cyrills, hunderttausend solcher Meister in der Arbeit hatte und sie durch Millionen solcher Flaschen verführte.
Während sie mit einem Atemstoß aus seufzender Brust die Rollläden vor sich bewegte, und heißer Hauch von den Brettchen der Rollläden auf sie zurückspiegelte, erkannte sie plötzlich mit eisigem Schauer das Unentrinnbare, sank in die Knie, und sie, die ungeheure Frau, erreichte an Höhe nur ihr Kind, neben dem sie wie hingeschüttet lehnte. Der Meister hatte, sie konnte es nicht vergessen –, Fanny, das arme Kind nach der ersten Krankheit nochmals wie mit Gewalt in eine neue Krankheit wie unter Wasser getaucht. Sah sie nicht, wie er mit viereckig gespitztem, kleinem, dunkelrotem Munde das Thermometer anblies, das sie aus der Achselhöhle der armen Fanny genommen hatte und das sofort die höchste Fieberhöhe zeigte, für die auf dem Thermometer überhaupt noch Platz war?
Nur des Meisters böser Wille zwang sie, gegen Slawa böse zu sein. Deshalb wich nie der Schmerz von ihrer schweren linken Brust, der Herzbrust, mit der sie das jüngere Kind gesäugt hatte. Schon damals, gleich nach der Geburt, hatte sie dem armen Wurm nur die unfruchtbare linke Brust dargeboten, vielleicht in der Hoffnung, an dieser Brust, an diesem verdorrten Stein würde auch das Kind verdorren, das nicht Fanny hieß.
Ihre Brust schmerzte, und nun erkannte sie es ganz glühend, es war die linke Brust, die an des Meisters Seite gelegen hatte Nacht für Nacht. An der rechten Seite war Segen, da war die Sonne, links war der giftige Mond. Lange hatte Fanny im kleinen Gitterbette an ihrer rechten Seite im Schlaf geträumt, immer, auch jetzt noch mußte sie zu ihrer rechten Seite ruhen, und da sie für das Gitterbettchen schon zu groß war, hatte sie nun das Bett der Mutter inne, während diese auf dem kalten Steinfußboden schlief.
Oft legte in schlaflosen Nächten die Mutter ihre linke Hand unter des Kindes Bett hin, faßte die Gurten in die Faust, spielte dann mit dem Fingernagel an den Sprungfedern, alles sehr leise. Mochte das Kind manchmal grüne Gesichtsfarbe haben, schwammige Lippen, ganz ohne Kraft zum Küssen, schmierig wie zerkochter Reis, – sie hielt doch ihre Hand, tief und völlig alles aufsaugend in ihrer Liebe, unter des Kindes Leib, wenn dieses schlief, und schützte es vor des Meisters bösem Hauch, in dessen Nähe nur eine Slawa leben konnte.
Sie wußte wohl, auch dieses Kind mußte dem Meister abgenommen werden, es sollte auf der andern Seite des Kinderbettes auf der Erde schlafen, sie, die Mutter, mußte gerecht sein gegen beide Kinder, beiden immer das gleiche schenken, denn beide mußten weiterleben über ihren Tod.
Fanny regte sich neben ihr. Beide standen auf, und bis abends sechs Uhr fühlte sie, ganz hingenommen von der Mühe ihrer schweren Arbeit, keinen Schmerz mehr in ihrer Brust.
Als es dämmerte, legte die Frau den Fußboden mit alten Fetzen aus, öffnete das Ofenrohr und holte eine Handvoll Ruß als Arznei für ihre wunde Brust heraus, wie es eine Nachbarin ihr geraten hatte. Wie einst, krümmte sie ihren ungeheuren Körper in ein verschlungenes Bündel und verbarg sich in der Ecke. Erhitzte Luft stand wie ein Brett in der Stube. Der Ruß war gute Arznei. Jetzt war Gott nahe, vielleicht kam er ganz über sie wie manchmal in der Kirche, wochentags, abends, wenn der Meßner schon umherging und mit den Schlüsseln drohte. Da in der letzten Minute, wenn sie sich erhoben hatte, aber noch nicht stand, im letzten Augenblick, als sie stand, aber noch nicht ging, da hatte sie Unbeschreibliches, eine herrliche Hand im Herzen gefühlt. Jetzt hielt sie den Atem an, aber nur vor Schmerz. Jetzt sagte sie auch: »O Gott!« aber das war nicht das richtige »O Gott«, sie riß sich auf vom Winkel, und drehte mit verzweifelt gekrümmtem Fuß – denn selbst in den Fuß, den armen, hatte wie ein Blitz ein Flammenbrand von Schmerzen geschlagen – sie schleuderte die Fetzen aus ihrer Nähe fort, dann aber wirbelte sie das Lumpenlager ganz und gar mit hohen Sprüngen durch die dämmerige, menschenleere Küche. Sie schrie, sie heulte umher, ergriffen von Schrecken vor sich selbst. Das Gebetbuch der Tochter riß sie heraus aus dem Kasten, das gute goldene Buch, gebunden in Elfenbein, mit Gold beschlagen. Es war kühl, so weich an ihrer harten Brust, und jedes Blatt so weiß, so offen für sie, wartete auf sie. Die trockenen Blätter mit dem Duft von Kirche lagen auf ihrem kalten, schwarzen Schweiß.
Die ersten zwei Blätter bedeuteten: sie hatte viel schon gelitten, sich viel geplagt, die Ehe war böser Dienst, acht Paar Schuhe hatte sie täglich mit ihrer ausgedörrten Zunge bespien, damit sie glänzten, war das nicht jedesmal wie eine Träne, hundert im Monat, tausend im Jahr? Der Staub, mühsam aus Kleidern, Möbeln, Teppichen herausgebürstet mit der Reißbürste, wie trockene Hagelkörner ihr die arme Brust zerfetzend, war das nicht jedesmal soviel wie eine weite Prozession?
Das dritte Blatt bedeutete: allen das Böse verzeihen.
Das nächste Blatt: dem Mann alles verzeihen. Er war bei »allen« nicht dabei.
Sie ging in sein Zimmer, dort war alles noch von ihm und seinem bösen Geist verräuchert, aber auch hier mußte Kirche sein. Als Dienstbote war sie oft auf den Boden gestiegen, um dort zu beten, um durch das Bodenfenster in der schwarzen Nacht den lieben Gott anzusehen.
Das letzte Blatt: sie gab sich ganz in Gottes Gnade, ohne Wort.
Sie legte sich in das Bett des Mannes und schlief.
Abends weckte sie der Meister. Der Schlaf war schmerzlos, aber das Erwachen war furchtbar, mitten in Schmerzen der Hölle. Hohe Kissen hatte sie vor der Brust, hohe Kissen hinter ihr, alles schwarz von Ruß, alles naß, mit Schweiß getränkt.
»Aufstehen!« Er wollte sie wachrütteln, faßte ihre rechte Hand. Die Hand bloß wollte er nehmen, der ganze Mensch rührte sich, wie ein großes Stück Stein. Die Augen waren offen und böse, fürchterlich.
Rechts und links fielen Kissen von ihr nieder, ein gelbes Elfenbeinbuch war eingepreßt in ihren schwarzgefärbten starken Leib, glitt heraus, und eine niedrige Grube in ihrer Hand glimmerte matt.
»Das hilft dir nicht!«
Sie packte ihn bei den Händen, plötzlich überragte sie ihn gewaltig. Ströme von feuchter Glut flossen zwischen ihm und ihr. Noch größer wurde sie, als sie ihn freiließ und nur, wie zum Hohn, ihn unter den Schultern angriff, aber auch so entrann er ihr nicht.
»Du bist verrufen, Cyrill, was dir kommt, kommt dir zum Fluch!
Stehe nur auf, knie nicht vor mir, rühre dich fort! Achtzehn Jahre habe ich geschwiegen. Einmal bin ich auf den Knien vor dich hingekrochen, aber aus Liebe nicht, aus Angst. Du weißt es selbst, du bist verflucht! Das weißt du selbst, daß du den ganzen Lohn noch nicht dahin hast. Du mußt dich noch bergreifen! Aber lieber will ich es sein. Einmal hast du dich vergriffen, deshalb bin ich gepeinigt für alle Lebenszeit, aber die armen Kinder sind meine armen Kinder. Du bist vielleicht nicht bei Verstand, der Böse haut dich nur so vor sich hin, wie einen Dreschflegel haut er dich her vor sich! Auch ich habe gefehlt, ich habe Sünde begangen, siehst du hier die Brust? Die hat geschlagen, deshalb wird sie geschlagen.«
Ihre Stimme wurde milder, sie beugte sich vor gegen ihn. Er wich zurück, höhnisches Lachen knirschte er durch den dichtgeschlossenen Mund. Sie schwankte ihm nach, und, ihre Hände aufstützend auf seine entschwindenden Schatten, sank sie auf die Knie, nur mit ihrem Blick hielt sie ihn, der, eine dürre Handwerkergestalt mit dem Sonntagshut zwischen den Fingern, sich an den Türrahmen drückte.
»Ich bin stark und werde mich vielleicht doch noch retten, du aber, du Stiller, der kein Wort redet, du aber, den Gott bis jetzt verschont hat, du bist im vorhinein mit Feuer verbrannt, du wirst ihr nicht entrinnen, und sie wird dir nicht entgehen!«
Bittere Galle füllte ihren Mund, und wenn sie die Flüssigkeit auf ihre gebeugten Schenkel ausfließen ließ wie kaltes Eis, so füllte sich ihr Mund mit neuer Qual. Denn die wilde Hand der höllischen Schmerzensglut stand mitten in ihrem Herzen mit fürchterlich kantigen Knöcheln, und wie ein gefangenes Tier wühlte in ihr der Schmerz.
Der Mann war entwichen. Sie öffnete sich die Tür mit ausgestrecktem Arm wie vor einem fremden Menschen; durch die dunkle Küche lief sie, faßte in jede Hand einen von den schmutzigen Fetzen, rieb auf dem kurzen Wege zum Vorplatz sich die Brust mit Speichel und Tränen vom Ruße frei.
Durch das Fenster im Treppenhaus lugte sie, und unten im Hofe, wie in einem Paradies, saß ihr Mann mit dem Hausbesorger Voyta, seinem alten Freund, zündete eben einen roten Lampion an, den letzten in einem ganzen Kranz. Fanny, die eben heimkehrte, brachte sie in die Wohnung zurück.
Die letzte Verzweiflung, das vollständig Unrettbare war ihr ein Trost, und sie lächelte, als sie mit Fanny zurückging in die Küche, wo sie gemeinsam die Fetzen aufsammelten und die Küche von Grund aus wuschen.
Der Arzt im Hospital fühlte am nächsten Tage leicht zu ihr hin, dann sagte er: »Sie bleibt hier.« Die Krankenschwester stand hinter der Frau und sagte ihr ins Ohr: »Unser Herr läßt keinen leiden!« Aber mit ganz anderem, drohendem Gesicht, drängte sie sich später an die Frau heran und verlangte ihre Kleider und die Wäsche, die sie aufbewahren wollte; bis ins innerste Blut schämte sich die Mutter, vor der geliebten Tochter sich zu entkleiden, und doch, ihr den Kopf wegzuwenden von sich, das gnädige Bild des geliebten Menschen auch auf einen Augenblick nur zu meiden, konnte sie sich nicht entschließen. Lange hielt sie ihr Hemd schwebend in der Hand, bevor sie es der Tochter übergab, damit nicht vielleicht durch die Ansteckung des Hemdes der böse Fluch höllischer Schmerzen sich über das Kind ergieße, und als sie, der riesige Mensch, ganz nackt sich reckte in dem Winkel der kleinen Krankenstube, rieselte an ihr, ein beklemmendes Glück, Kindheit herab. In Betäubung versank sie, ewig ihres Kindes Nähe in beseligtem Gefühl, selbst ein Kind, grabend und feiernd auf heimatlichen Feldern, in heimatlichem Herbsteswind, der ihre Brust schon von unten her umkühlte.
Die Aerzte ließen die Unheilbare nie mehr zurückkehren zu sich selbst, in Schmerzlosigkeit dämmerte sie lange, aber sie weinte doch.
Hörte sie die anderen Insassen des großen Saales nebenan in vollständigem Chore den guten Arzt am Morgen begrüßen, so konnte sie nicht mitrufen. Schon bei Lebzeiten wurde ihre Stimme ein dünner Span, von einem großen Holzklotz nur noch eine dünne Faser.
Zum Essen ließ man sie aufwachen, sie sah so herrliche Speisen, schwere Suppen mit eingekochten Pilzen, aber sie sah die Speisen nur, befühlte nur das weiße Brot, in ihrem Munde wurde alles Erde. Und wenn sie das Fleisch, das schon von der Schwester feingeschnitten war, in ihrer schwachen Wut von sich fortschleuderte, zerbröckelte es an dem weißen Mantel der Schwester ohne Spuren, krümelte wie Rieselsand an einer weißsteinernen Mauer herab, und sie erkannte, daß sie jetzt verloren war.
In ihrer Benommenheit dachte sie, das geliebte Kind sei immer noch bei ihr. Jemand bückte sich neben ihrem Bett, jemand fuhr mit der Hand unter ihr Kreuz, Vielleicht war es Fanny, die gleiche Liebe an ihr vergalt. Aber als sie mit nun hochgeschwollenen Händen dem Mädchen unter die weißgestärkte, zartgekrauste Haube tastete, da waren es zwar immer noch Fannys kurzgeschnittene Locken, aber sie wuchsen nicht mehr in Büscheln, es war eine geistliche Schwester, und erst jetzt erkannte sie, daß sie allein geblieben war.
Der Mann trat zu ihr, sie merkte es in der Nacht, er schob sich durch den Vorsaal durch, sie sah seine blauen Augen, wenn auch nur mit Mühe, in seinem ganz blau gewordenen Gesicht, sie merkte, daß er es erst bei allen anderen Weibern versuchte, über jede sich hinwälzte und sehr schnell wieder von jeder sich erhob und dabei, daran erkannte sie ihn ganz sicher, eine riesige Menge höhnischen Speichels hinter seinen roten Lippen gurgelte, bis er zu ihr kam, aber auch sie verließ er, und wie er sich von ihr abhob, blieb er mit dem Fuße hängen an dem Loch in ihrer Brust. Sein ungestilltes Geschlecht vor den entsetzten Augen, mußte sie sehen, wie er der geliebten Tochter mit bösem Willen entgegenstrebte.
Aber die Tochter erhob sich über die Gestalten der beiden Eltern. Es war ein unendliches Gefühl für die Mutter, der Tochter Fußsohle, weiß wie eine Krume frischgebackenen Brotes, auf ihrem Scheitel zu fühlen und die herabgekrümmten Zehen auf ihren Augenbrauen, während die Nägel, für sich belebt, wie kleine Wesen ein jeder, mit langsamem Wachsen, wie eine Blume wächst, sich verfingen in ihren Augenwimpern und sie niederdrückten zu tiefem Schlaf, während die Mutter an der immer mehr lastenden Schwere, an immer mehr sich füllendem Himmel erkannte, daß die ganze Gestalt der Tochter nun auf ihr, einem lebendigen Altare, thronte in Unschuld.
Am nächsten Morgen kam Slawa. Als sie die Mutter, in fürchterlicher Vernichtung entstellt, vor sich sah, jammerte sie auf, und grauenhaft zerriß ihr Schrei die Stille der leise atmenden Kranken.
Blaßviolette Blüten von Kartoffelstauden zu pflücken, ging die Mutter auf heimatlichen Feldern im Spätabendwind in immer mehr sich weitenden Kreisen, und die Blumen sammelten sich zu ungeheurer Zahl.
Von ferne her gerufen, ging sie in immer engeren Windungen wieder zurück den Weg in Frühmorgenstille; eine Blüte nach der anderen entschwand ihr, aber mit den letzten, die aufgeblüht waren zu gewaltigen Blumen, konnte sie ihr Kind Fanny krönen und die erwachenden Augen ihm schützen vor der grellen Sonne.
Fanny, die ältere Tochter, kam schon drei Tage nach dem Begräbnis der Mutter zu den Barmherzigen Schwestern ins Kloster. Slawa und Cyrill blieben allein. Unbegreiflich war ihm, wie alles in ihm wuchs. Erst dachte er, das schwarze Trauergewand, das neugekaufte, zwänge ihn so zusammen, treibe alles Blut, die ganze gute Natur nach innen; aber auch nachts, wenn es abgelegt war, auch im Werktagskittel fühlte er sich schwerer an Gewicht, im innersten Lebensstrom heißer, wie wenn er über sich selbst gestiegen wäre, seitdem die riesenhafte Frau ihn nicht mehr überragte.
Die Tochter sollte nicht mehr mit ihm im gleichen Zimmer schlafen. Er gab ihr den Raum, wo Fanny geruht hatte und ihr zu Füßen die Mutter. Auch er hatte versorgende Güte. Deshalb wollte er vor allem erst jedes Pünktchen Ruß von den Dielen entfernen, neu die Wände mit den feinsten Seidentapeten tapezieren, damit endlich der Totenrauch der früheren Zeit vergehe. Er wollte jeden Tag nach Feierabend diese Arbeit schaffen, bis dahin nur mußte das Kind bei ihm, dem guten Vater, verweilen.
In der dritten Nacht erwachte er von sehr heftiger Angst: ob nicht das arme gute Kind in der heißen Sommersglut sich aufgedeckt habe, das arme schöne Kind nackt daliegen müsse in der schweren, bleiigen Nacht?
Schwerer Geruch lag in der Luft, wie von Erde nach Gewitterregen. Die Hände beide über sie decken, sie schützen vor dem Nachtregen, der stundenlang schon, das merkte er jetzt, wie kochendes, sprudelndes Wasser aus dem offenen Fenster herüberprasselte, über die schlafende Slawa hin, die kindhaft schlafende, die nicht sah, daß er sie sah. Sie schlief so fest nach den vielen Tränen der letzten Zeit, daß er nahe an sie heranschleichen konnte. Aber er konnte auch aufstampfen, und sie merkte es nicht. Einen Fuß mit der Ferse auf das gefederte Sofa legen, ihn aufpressen in den Raum zwischen dem Leinentuch und dem Lederpolster; es war ihm unheimliche Seligkeit, jetzt den lauen Untergrund niederzudrücken, niederzudrücken das lebende Grab, das sie mit herrlicher Wärme erwärmte! Wie er die Federn des Diwans nachließ, wie ganz lebendig kam ihm ihr Gesicht mit den sichelförmigen Augen entgegen! Flach hielt er seine Hand ihr über die Augengruben, damit sie alles verdeckte. Nur ihre reinen Augen durfte er sehen.
Wie eine Tote schlief sie, und in wild überquellender Erinnerung erstand vor ihm zum zweitenmal die Mutter, die er am letzten Tag nur an der Hand gepackt hatte. Aber nur wie ein Stück Stein, wie ein Block Holz war sie gefolgt, die bei lebendigem Leib schon erstarrte.
Er aber und Slawa, das einzige Kind, waren am anderen Ufer, freuten sich beide auf »die umgekehrte Zeit«. Unüberwindbar strebte die unzerstörbare Natur in ihm, jünger zu werden mit jedem Tag und entgegenzuwandern der ins sommerliche Alter aufblühenden Tochter. Schon öffnete sie sich, die es in heißer Sommernacht nicht mehr hielt, und wenn sie auch zu schlafen schien, nur scheinbar lastete sie wie eine Tote in der Grube der alten Sofapolster, in Wirklichkeit aber war sie schon ganz in ihm und ganz war er in ihr.
Er liebte, das war gut.
Beugte er aber seine abwehrend auseinandergefalteten Hände über die hornförmige Biegung ihrer Hüfte, so schlug es ihn schon aus der Ferne zurück, mit grauenhaftem Schmerz, mit segensreichem Schmerz, mit gottesgnädigem Schmerz, da Hitzesströme ihrem weißen Fleisch entquollen, auf drei Meter Entfernung, mitten in der Nacht, dem schweren Regen zum Trotz, der, erkaltend zum Morgen, durch das offene Fenster herprasselte.
Noch war er in Versuchung, um nur das geliebte Mädchen vor Erkältung zu schützen, zum bloßen Schein, aber jedem Gutdenkenden durchaus verzeihlich, ja sogar großen Lobes wert, sich über sie zu werfen und dann, als ein guter Mann und ein nie zu verführender Vater, ja als ein zu jeder Unzucht leider völlig unfähiger Greis dieser Versuchung standzuhalten, aber das Wort der Mutter, das ihm keine Freude verhieß, und die Gestalt der Mutter, die alles schon vorher gewußt und verflucht hatte, machte ihn völlig starr.
Damit in seiner Gattin totem Munde diese Vorhersagung sich in plumpe Lüge verwandle, wenn schon jenes unselige, »ich bin doch in Hoffnung« vor soviel Jahren ihn ins Unglück gestürzt hatte, ermannte er sich zu dem stärksten Widerstand gegen sich selbst. Ohne Worte, mit wütendem Gebell, das wie dickes Metall ganz grell paukte, weckte er Slawa, rettete sie in höchster Wut. Mit roher Gewalt stieß er die vor dem Gebell hell Aufschreiende, noch tief Schlaftrunkene in die Küche, die von der Mutter noch mit Ruß getränkt und mit Fluch verpestet war.
Ihm war zum Lachen, ganz in gutem Rausch war er jetzt, mitten am Wege zur umgekehrten Zeit. Laut schrie er seinen Gesang zum offenen Fenster hinaus in die Dämmerung, lange Zeit. Völlig in Sicherheit, wie nach vollbrachter Tat, warf er das Federbett der Tochter sich über die Arme, trug in den leichten, lau erwärmten Kissen Slawas beseligende Last.
Wie Zweige streiften die Zipfel seine Knie, so schleuderte er alles der Tochter hin. Die Verführte, Genossene warf er hin zu Füßen der Unberührten.
Slawas Worte, ein so eisiger Klang, machten ihn schaudern. Das war nicht sie, sondern seine kalte Frau, Fanny, trotz aller Tode seine ewige Frau.
»Sich selbst zur Buße« verließ er sein eigenes Bett und legte sich, nun ganz bloß und klein wie ein mageres Kind, auf Slawas verlassene Lagerstatt, Slawas Bruder gleich, dem niegeborenen. So wärmte er sich an ihrer Wärme, die sehr schnell verging.
Cyrill träumte nun wachend, die Geliebte (namenlos jetzt und weder Tochter noch Frau) gehe wartend auf und ab vor den Fenstern, nicht in der Küche, nicht in der vergangenen Zeit, sondern im Regen, in der umgekehrten Zeit, und das erst sei seine wahre Jugend, da käme erst seine echte Manneskraft.
Es wartete in diesem Traum die Geliebte – ganz Gesicht und dann nur ganz Auge – auf ihn. Er näherte sich der flachen Sichel dieser Augen, um sie in »neuer Manier« wie ein Engel zu lieben, um von diesen Augen verzehrt zu werden ohne Zähne, ohne Bisse, ohne Zunge, ohne Schlund, und, nicht wie ein Mann, sondern wie eine nackte, geschälte Frucht einzufließen in sie als reine Süßigkeit.
Dann dachte er daran, Slawa, die sehr Geliebte, freizugeben, sie irgendwo, fern von sich selbst, anzusiedeln, beim geliebten Bruder sie in völliger Reinheit einzubetten, sie blau zu kleiden, da der Geistliche ihm in dieser Traumstunde in blauer Verbrämung von den Fingernägeln bis zu dem kahlen, mild beleuchteten Scheitel erschien.
Er selbst wollte, eben mit Hilfe der ihm geschenkten Frist, im ganzen Reichtum der umgekehrten Zeit in eine große Stadt wandern, neue Arbeit mit seinem Freund Voyta beginnen, eine »neue Flamme« besitzen, damit die neue Liebe nichts von dem schmutzigen Blut der alten Fanny hätte.
Aber schon am nächsten Abend, als er von Slawa die schweren und sehr langen Rollen der neuen Tapete heraufgereicht haben wollte, erblickte er in ihnen das schweinische Zeugnis der teuflischen Unzucht, die sich nach dem Fluche seiner hassenden Frau über die rußbeschmierten Wände ziehen sollten, ohne daß Besserung möglich war. Die Mutter war über ihm, als Cyrill von hoher Tapeziererleiter herab, dicht verengt, in jungfräulich kleinen Kreis gebannt, der Tochter ganze Gestalt erfaßte.
»Keine Angst, keine Angst!« flüsterte er auf sie hinab. Aber als er sich zu ihr beugte, fielen seine eigenen Haare, die silbergrauen, ihm von oben über die Augen, der fürchterliche Geruch seines ergreisenden Leibes durchdrang ihn und Angst vor baldigem Tod.
Nochmals stieg er die Sprossen empor, schwankte rittlings auf seiner Leiter wüst in der Irre umher, so daß Slawa fliehen mußte. Ihr hold gerötetes Gesicht entblühte dem schwarzgekräuselten Flor wie hold geröteter Schoß schwarzer Dunkelheit.
Daß alles über Cyrill stürzen sollte, daß er wie ein Hammer niederkrachen sollte, das war seine ganze Glut, deshalb jagte er, der plötzlich Gealterte, in jugendlich weiten Schritten auf den ohnmächtigen Stelzen immer wilder umher, und, indem er einen leise sausenden Pfiff ausstieß, drehte er sich und die Leiter in rasendem Wirbel um sich selbst, atemlos; alles ringsum durch immer gefährlicheren Schwung zusammenhaltend, hungerte er danach, daß das Letzte sich erfülle, und sei es im Tod. Er stürzte. Aber nur Schmerzen mußte er leiden, da die Tochter, die Hand zum Schutze emporgereckt, den Vater wider Willen in das weiche Fleisch unter dem Kinn getroffen hatte.
Ihr Weinen, ihr Bitten hörte er nicht. Es war ihm eine fremde Stimme, ein ganz unbekanntes Gesicht.
Er sank über die Sprossen der hingestürzten Leiter, bereit zum Vergehen. Aber er stand doch bald auf, und, aus einem halben Rausch erwacht, wollte er sich retten zu seinem alten Freund. Vorher aber ging er in sein Zimmer, sich zu waschen.
Slawa, seit dem Tode der Mutter ganz verstört, hatte große Angst vor dem Vater.
Sie floh in die Waschküche. In ein rotes Tischtuch zusammengeknotet, trug sie die schmutzige Wäsche, auch ihre eigenen Bettücher, die, von dem unheimlichen Vater auf der Erde umhergewälzt, fast schwarz geworden waren.
Die selten benutzte unterirdische Waschküche war unversperrt. Ein altes Fahrrad lag auf seinen zwei Rädern, schlaffe Gummireifen atmeten dumpfe Luft aus in schwüler Nacht, und wenn Slawa unermüdlich die Pedale drehte, mit der Hand die scharfen Zacken fassend, sauste kühler Wind rasend über ihr glühendes Gesicht.
Es regte sich etwas in einem Winkel. Den Vater glaubte sie aus der Ferne schleichen zu hören, aber es waren nur die Pferde des Spediteurs, die im Stall nebenan scharrten. Weich rieben sie sich hinter der Wand, unterirdisch wieherte es, und lauer Luftzug, Pferdedüngergeruch kam durch die grob mit Kalk beworfenen Mauern des Gewölbes.
Voytas, des alten Hausbesorgers nie gefütterter großer Hund, räudig, mit bläulichen, blanken Löchern im Fell, die wie gegerbtes Leder glänzten, näherte sich ihr. Seine ausgefressenen, an den Rändern eingerollten, trotzdem aber schleppenden Ohren legte er vor ihr, der strahlend Schönen, auf den Boden nieder, der Atem aus seinen entzündeten Nüstern stieg in schnell gestoßenen Strömen auf zu Slawa, die auf dem Wäschebündel tief atmend ruhte.
Des alten Vaters beängstigender Atem schien ihr da zwischen den zwei flachen Ohren des demütigen, aber doch aus halb geschlossenen Augen tückisch funkelnden Tieres aufzusteigen. Sie ängstigte sich, bei dem Hunde zu bleiben, aber er folgte ihr, wie gegen seinen Willen, mit widerspenstig nach rückwärts gestrecktem Kopf, als wäre in der blanken, von Räude körnig zerfressenen Biegung seines Halses eine zähe Kette zu ihr hingespannt.
Mit seufzenden Atemzügen leckte das Tier die Tropfen, als das Mädchen in der übersprudelnden Wasserleitung die Wäsche tränkte. Es suchte die Kühlung.
Aber als Slawa im Waschofen ein Feuer angelegt hatte, das die ganze Nacht hindurch brennen sollte, drängte das Tier seine eilig federnden Flanken der schnell erhitzten Ofenwand an. Es suchte die Hitze.
Slawa wollte fliehen, das Wasser für sich allein wärmen lassen, die gebrauchte Wäsche in der Wohnung oben einweichen, aber dann mußte sie zurück über den kleinen Hofplatz, und dort saß schon der Vater, in Ermüdung zusammengesunken, als hätte er sich seit einem Tage nicht von dort weggerührt, eng an den alten Voyta gedrückt, im Scheine einer Petroleumlampe ohne Schirm. Halb nur gedeckt durch Efeupflanzen, spielte er vorsichtig eine Karte aus seiner mit Karten ganz gefüllten Hand aus, legte dann die Karten auf den Tisch, hob mit beiden Händen, ungeschickt wie ein kleines Kind, eine Weinflasche und goß Voyta Wein ins Glas, flüsterte ihm etwas zu, wobei aus der Flasche immer noch weiter Wein floß und auf das Pflaster des Hofes plätscherte.
An ihrem eigenen Vater traute sich Slawa, vor einer Woche noch ein Kind, nicht mehr vorbei. Deshalb kehrte sie in die Waschküche zurück, wo das Wasser im Kupferkessel schon flaumig siedete, streute eine Handvoll Soda, als wäre es Erde auf das Grab der Mutter, nun über die Wäsche, die unter dem weißen Geriesel sofort Wolken dunklen Schmutzes in Schwaden entließ.
Sie fühlte Hunger. Draußen regnete es, es gab wieder ein Gewitter zur Nacht wie am gestrigen Tag. Der Hofraum war jetzt leer, als wäre nie ein Vater dagewesen; die Efeupflanze war ganz in den Winkel gerückt, an die Mauer verkrochen. Oben war die Wohnung ganz verlassen, alle Schränke verschlossen, nichts war für den Hunger zu finden, auch kein wärmendes Umschlagetuch für Slawas Schultern, wenn sie nun doch noch wieder in die Waschküche mußte. Bei Voyta, dem Hausbesorger, war noch Licht, aber dieser öffnete nicht; deutlich erkannte Slawa ihres Vaters blaues Auge, das sie aus dem Guckloch anstarrte, ohne daß sie auch nur das kleinste Stückchen Stirn mit den alten queren Falten sah, die sie so oft hatte ausstreichen müssen, dem Vater auf dem Schoße sitzend, während er mit haariger, kalter Faust ihre Hand umspannte und ihre Finger an der eigenen Stirn entlang führte. Und während sie noch von diesem Unbegreiflichen sich erholte, tastete wieder der räudige Hund mit seiner ganzen tierischen Wärme an ihr hinauf, zweibeinig, mächtig in die Höhe gereckt, rieb er bellend wie aus Freude seine fiebernden Flanken und den wie Leder knirschenden Leib an ihrer schwellenden Gestalt, die aufschauerte ins innerste Blut, sich aber nicht zu rühren wagte, gefangen von dem Blick des stummen Vaters, der hinter dem Guckloch, durch Glas geschieden, in sie hineinstarrte, und der Geruch des armen Hundes stand um sie.
Sie schlich mit dem unentrinnbaren Hunde in die Waschküche zurück, trieb die Holzscheite und Kohlentrümmer mehr auseinander, damit sie den ganzen Kessel von unten umstellten, der in seiner niedrigen Wölbung, in seinem matten Schwarz, in der aushauchenden Hitze sie an des Vaters stürzende Gestalt erinnerte. So war er, in eine heiße, schwarze Kugel geballt, heute abend vor ihre Füße hingeschleudert.
Wohl wäre sie gern aus dem unheimlichen Heimathause fort, da aber die Mutter ihr nie Freundinnen erlaubt hatte, wußte sie nicht, wohin sie zum Uebernachten gehen sollte. Deshalb zog sie den Riegel in der Waschküche vor, kauerte sich, plötzlich nun doch sehr fröstelnd, an den warmen Stein des Ofens, schlug die Röcke bis über den bloßen Hals, um sich selbst anzuatmen und mehr Wärme zu haben.
Mitten in der Nacht glaubte sie den Vater flüstern zu hören, aber nur die Wäsche zischte leise beim Sieden und stieß Blasen aus.
Am frühen Morgen glaubte sie den Vater hereinschielen zu sehen bei der Fensterluke, aber Sterne schimmerten, silberne Flimmer, in Vierecke geteilt durch das Gegitter des kümmerlichen Efeuspaliers.
Noch einmal, schon bei Tageslicht, erwachte sie mit lautem Schrei, nun war der Vater über ihr, stürzte nochmals von der Leiter, aber jetzt ihr mitten ins Gesicht, mit Gewalt zog er die Säume des Rockes vom Hals herab auf die Höhe der Brust, aber nur der Hund war es, der im Erwachen sich voll Liebkosungen auf sie gestürzt hatte, und seine ausgebleckte Zunge schien ihr, der jämmerlich Zitternden, nichts anderes zu sein als ein drittes, vom Rande ausgefressenes Ohr, ein am Rande eingerolltes Stück vertrockneten Leders, mit dem er ihr fürchterlich drohte, während er sie liebkoste.
Es war Tag, sie ging mit der nassen Wäsche in die Wohnung. Der Vater war fort, die Schränke verschlossen, sie übertäubte den Hunger durch viel Arbeit, Wringen und Plätten bis über die Mittagszeit.
Gegen zwei Uhr schellte es. Sie dachte, es wäre der Vater, obwohl er sonst um diese Zeit nie die Arbeit verließ.
Trotz ihrer Angst zog sie den Riegel zurück. Ein sehr dicker kleiner Mann in schwarzer Kleidung, mit bittendem Gesicht, eine bauchige Tasche in der Hand, stand draußen. Als er zu sprechen sich nicht traute, sagte sie, während sie mit der linken Hand ihre aufgegangenen schönen dunklen Haare sammelte: »Wir haben nichts.« Er lachte nur. Slawa hatte sofort Vertrauen zu ihm. Es war kein Bettler, er war Pächter eines »geistlichen Grundgutes«, er wollte den Vater sprechen.
Als er sich schon verabschiedet hatte, ließ Slawa nach einem zarten Zögern ihre schweren Haare wieder los, lief dem Herrn nach und bat ihn um ganz wenig Geld, das ihr Vater sicher zurückzahlen würde. Der Herr lachte noch immer, gab ihr Geld, für das sie sich sofort Nahrungsmittel kaufte.
Als Cyrill abends von seiner Arbeit heimkehrte vor seiner geschlossenen Tür lauschend, Slawa ein langgezogenes, schmachtendes Lied singen hörte, hielt es ihn nicht mehr. Die Türklinke, die im hellen, schräg durchs Treppenfenster rinnenden Licht weiß strahlend erschien, drückte er nieder, als wäre es seiner Slawa weiß strahlender Schenkel, der weich gekantete Bug der Klinke erschien ihm wie Slawas Knie, in erregter Bewegung an sich gezogen, und in unerhörter Beseligung fühlte er das kindliche, runde Knie zwischen seinen Fingern vorsprießen, er hatte es schon mit der Rechten von obenher umfaßt, zwischen seinen Händen zitterte es in Erwartung.
Aber kurz vor ihrem Tod, im allergefährlichsten Augenblick hatte seine verhaßte Frau den schrecklichen Schein ihres fahlen Gesichtes in ungeheurer Drohung zu ihm in den Hof hinabgefunkelt, als er unten saß, bei dem guten Freunde Voyta, ohne Dach, nur halb geschützt von den schwankenden Lampions.
Noch einmal flüchtete er hin zu Voytas Gelaß, war aber sicher, daß ihm die Tat bevorstehe, ihm nie mehr entgehen könne, ob er wolle oder nicht, wenn er sie nur erlebe. Den Rest seines Lebens, den er vor dem Todesfall der Frau auf Jahrzehnte geschätzt, in der letzten Nacht aber, in der »umgekehrten Zeit« noch als unabsehbar empfunden hatte, – nun gab er ihn, das war der ungeheure Lohn für eine noch von keinem Menschen erlebte, ihm aber beschiedene Freude, für ein paar Tage, oder, wenn es heut nacht ihm beschieden war, für diese drei bis vier Stunden hin.
Bei Voyta war Besuch, ein schwindsüchtiger »Herr vom Gericht«, der bei Voyta immer seine Versatzscheine loswerden wollte. Er hatte eine schöne, noch minderjährige Braut. Oft erzählte er prahlend mit stockendem Atem, mit singenden Tönen von ihrer südlichen Schönheit, von ihren berauschenden Liebkosungen. Nun wollte er von Voyta, dem Witwer, der doch für sich nichts mehr brauchte, für »billigstes Geld« ein Kaffeegeschirr, um es seiner Braut zum Geschenk zu bringen.
»Du kennst sie?« fragte Voyta seinen Freund Cyrill flüsternd, und ohne eine Antwort abzuwarten, machte er mit den Händen eine Bewegung, als ob er ein schwerbusiges Weib von vorn betaste und zusammendrücke, und je mehr sich Voytas Hände näherten, desto teuflischer schielte sein Blick, das mußte auch Cyrill sehen, der den alten Voyta bis jetzt wie einen Bruder geliebt hatte! Voytas Mund, dem er selbst die falsche Zahnreihe entnommen hatte, öffnete sich, wie es Cyrill schien, wider den Willen des Greises, vielleicht auf des Bösen Gebot, und entblößte einen fürchterlichen Schlund.
Das Zimmer, früher von Voytas armer Frau, seinen sieben Kindern aus beiden Ehen und ihm selbst bewohnt, war jetzt so dumpfig, obwohl der Witwer allein darin hauste, finster war es im hellen Sommerabend, brennend trocken, obwohl von dem eben begossenen Efeu vor dem Fenster noch Tropfen rieselten. Cyrill ließ Voyta und seinen Freund beisammen. Die beiden hatten sich ohnedies, als wären sie miteinander allein, zum Fenster hinausgebeugt. Trotzdem war das Zimmer verengt, das nun ganz finster, wie unter der Erde dalag, bloß durch das Guckloch vom Vorraum aus mit stabförmigem Lichtstrahl beleuchtet. Von hier mußte man entfliehen.
Cyrill wanderte sehr schnell von dem Hause fort, an seiner Werkstatt vorüber, und während er mit dem Spazierstock über die herabgelassenen Rolläden einer ihm ganz fremden Geschäftsgegend rollend hinstrich, schien es ihm plötzlich als höchster Wunsch, die Tochter doch nicht zu verderben, schuldlos zu bleiben, seine Frau zu betrügen um ihren Fluch!
Da der Gerichtsbeamte in seinen hohlen Wangen alle Anzeichen der Auszehrung trug und da, nach den Versatzzetteln zu schließen, seine Geldverhältnisse sehr elend sein mußten, wollte Cyrill sich lieber an seine Braut, die üppige Baruschka, heranmachen, sie an Slawas Statt zu sich nehmen. Slawa aber sollte Fanny werden. Die Hälfte der jungen Fanny war sie ohnehin, da zur Hälfte und ihnen beiden zum Verderben, ihnen beiden zum fast schon vollendeten Untergang, der Mutter verfluchtes Blut in ihr kreiste.
Mochte sie nur ihn fliehen, nicht nur in die Waschküche, selbst ins Kloster durfte sie ruhig wandern, sich verkriechen in die Einöde am anderen Ende der Welt; er aber, der ewig Unzerstörbare, wollte sie alle überleben. Alles Glück erwartete ihn vielleicht bei Baruschka, der jungfräulichen, die er nicht einmal mit einem Traum berührt hatte.
Gottvater war ihm wohlgesinnt, auch der Erzvater Moses, vom Bruder unter die Heiligen des Jesustestamentes aufgenommen, war ihm wohlgesinnt. Als herrliches Zeichen sah er in nächster Nähe ein hohes Hotel vor sich. Es stand fast außerhalb der Stadt wie in einem Dorf.
Es hieß Hotel Lombardia. Der Portier und der Zimmerkellner hatten sich ein abgehobeltes, aber sehr schmutziges Tischchen quer vor den Eingang geschoben, den Eintritt und das Verlassen des Hotels überwachend, und spielten Mühle. Ihre Knie berührten sich, ihre Köpfe, kahl und ebenfalls sehr schmutzig, lehnten aneinander, bloß ihre Fingernägel waren sauber, glitzerten auf dem spiegelnden Brett, auf dem sie die Züge der Mühle verschoben. Ein eng aneinandergeleimtes Paar, das, wie Cyrill dachte, auch nachts beisammenklebte. Er wurde von ihnen begrüßt, erhielt sofort einen großen Schlüssel mit noch größerem, gezacktem Ziffernschild, dessen spitzige Zacken die Gäste in der Tasche belästigen, an die Rückgabe mahnen sollten.
Als die Kellner schon aufstanden, aber, immer noch gefesselt von ihrem Spiel, wie sich gattende Fliegen aneinanderhingen, schoß eine sehr langgestreckte, fuchsige Katze mit runden, leuchtenden Augen zwischen ihren Füßen hervor.
Cyrill begab sich ohne Verzug auf sein Zimmer, dachte hier sehr ruhig zu schlafen. Am Morgen wollte er Slawa einen Zettel schicken, sie solle fort von ihm, dem Vater, sie solle zur Schwester in das Kloster am anderen Ende der Welt.
Er fühlte sich sehr jung, eigentlich viel zu schade für dieses verrufene Hotel. Das Zimmer war in sehr schlechtem Zustande. Kaum konnte er einen Augenblick ruhen, da meldete es sich schon unter seinem Nacken, der, feucht von Schweiß, auf dem schon gebrauchten Kissen lag. Er stand auf, es war noch sehr hell, fast wie in der Morgensonne.
Unter seinem Nacken erblickte er eine Spinne. Doch nicht eine lebende Spinne war es, sondern nur dunkle Haare von seinem Kopf, in der Mitte zu einem Knäuel verstrickt.
War das ein Zeichen seiner immer noch schwarzen Haare, seiner nie vergehenden Manneskraft?
Freilich, ganz sicher war nichts, selbst der Boden, worauf er stand, schien abschüssig. Er nahm die Wasserkaraffe, die der frühere Bewohner des Zimmers zum Scherz mit Seifenwasser gefüllt hatte, goß sie auf den Fußboden aus, der wie ein Höllenschlund »abgründig« war, denn nach der linken, der bösen Seite, entrieselte das Wasser.
Plötzlich war es, als hätte das Wasser, in die linke Ecke vergleitend, auch alles Licht mit sich genommen. Das freie Feld vor dem Fenster war vom Sturm wie an allen vier Kanten aufgehoben. Er mußte ins Bett, da es ihn aber vor Schwäche nicht mehr ins Bett trug, lagerte er sich auf den feuchten Fußboden.
Gegen seinen Willen, um nicht hängen zu bleiben an dem rissigen Fußboden, breitete er seine Hände unter den Kopf, so daß er von eigener Hand die Lehre erhielt, sein Schädel sei kahl bis in den Nacken, und nie mehr würden glückliche Spinnen ihm entsprießen.
Cyrill dachte an seinen Bruder, den heiligen, an dessen kahlen Scheitel, den blauverbrämten.
Plötzlich hob ihn im Schlafe eine hold vertraute Gestalt, aber den Namen wollte er nicht wissen. Cyrill schwebte über seiner eigenen Verkörperung, nach allen Seiten wie ein Vogel mit langem Hals seinen Kopf wendend, langsam beugte er seinen Mund, der voll von Küssen war, aber immer tiefer unter ihn sank der ersehnte Gegenmund, schon erblickte er auf tintenfarbigem Fußboden: sich allein.
Da ihm für alles je und je Geliebte jetzt nur ein Name kam, sagte er: »Dein einziger Bruder bist du, Cyrill.«
Am nächsten Tage wagte Cyrill sich nicht in die Werkstatt, auch von seinem Hause hielt er sich fern. Er war am ganzen Körper kalt, so tief in ihm wütete die »rauschende Hitze«.
Heute nacht mußte es kommen, die große Hochzeit, der »goldene Tag« im Leben.
Tagsüber war Cyrill nirgends zu finden, er mußte sich reinmachen, sich von seiner Frau Krankheitsruß und Totenrauch säubern, deshalb war sein erster Weg ins Bad. Im Charlotteubad verbrachte er den ganzen Tag. Er ließ die Leute pochen, ihn ergötzte das aufgeregte Klingeln, spät abends erst schlich er fort.
Man entließ ihn durch einen schmalen, sehr dunstigen Ausgang, da das Hauptportal längst geschlossen war. Dicke Heizschlangen mit Krusten von Staub, glühend, geschwollen von heiser glucksendem Wasser, wanden sich am niedrigen, wie zum Einsturz errichteten Gemäuer: das war das frühere Leben, die Nacht am Bahnhofsplatz, das Zimmer der Frau, der Dienstbotenraum, wo alles Unheil neben der Badewanne in schwül tropfender Glut, aus überfüllten Adern entstanden war.
Jetzt aber war er ins Freie gerettet, war wie ein Flieger gelandet in dem schönen Park hinter dem Theater, dessen prunkvoller Balkon, ganz verlassen, als hohe Balustrade schimmerte, von elektrischen Kandelabern umflammt. Zwischen den Baumstämmen, in einer Wolke von Akazien, eilten zwei schöne Damen mit wehenden Schleiern zum bestellten Fest.
So kam er in seinem Hause an. Slawas verweintes, hochgeschwollenes Gesicht war das erste, was er sah. Er fühlte Mitleid mit ihr, es wurde ihm schwer, sie an Baruschkas Statt zu nehmen, ja selbst die beiden Damen im feuchten, dufterfüllten Park schienen ihm jetzt unvergleichlich.
Das ihm dargebotene Essen verschmähte er. Und um das arme Kind zu trösten, zog er es durch das dunkle Zimmer ans Fenster, hockte mit ihm in dem schmalen Raum vor den Rolläden, die trotz des späten Abends noch starke Hitze ausströmten. Da wurde sein Atem ruhiger, und er entschlief auf Augenblicke traumlos.
Slawa hatte ihn viermal in der Werkstatt gesucht, um ihm die Botschaft auszurichten, die der junge Mensch vom Lande, des Bruders geheimer Sendbote, überbracht hatte: Der Geistliche war zum Bischof ernannt worden. Er hatte sich gelobt, seinen Bruder Cyrill wiederzusehen, ihm zu danken, aber erst im bischöflichen Ornat.
Aber das Schweigen des Vaters war so unheimlich, daß sie kaum etwas zu sagen wagte. Er schlief nicht mehr; wachend, aber unbeweglich lehnte er mit dem Rücken an das Fensterbrett. Sie wollte ihm entkommen, mit beiden Armen umfaßte sie ihre Bettstücke, wollte hinab zur Waschküche. Das war jetzt ihr Zufluchtsort, bis der herzensgute, immer lustige Gutspächter kam, der ihr heute morgen baldige Hochzeit versprochen hatte. Er hieß Ferda.
Aber es gelang ihr nicht, zu entkommen.
»Slawa!« rief ihr Vater.
Sie mußte nun doch zu ihm; sie ließ ein Bettzeug nach dem anderen hinter sich gleiten, sie betete, er möge nichts von ihrer Absicht merken, nicht aufgereizt werden zur Wut.
Daß das, was da hündisch am Fenster hockte, kein Vater war, wußte sie seit heute.
Schon kam er in katzenhaft lautloser Flucht hinter ihr her. Mit vorgeschobenem Kopf, nur durch die Kraft seines dunklen, bohrenden Körpers schob er die vielen Polster vor sich her, und schon hob er Slawa mühelos auf den geballten Haufen, kauerte hinter ihrem Kopf und floh vor ihrem suchenden Blick und ihrem Flehen. Gekommen war er um acht Uhr abends, jetzt war es tiefe Nacht, und er sprach noch nicht.
Endlich tastete er doch nach ihr, aber nicht nach ihren Haaren. Zart streichelte er ihr die Haut hinter den Ohren, sehr vorsichtig drehte er ihr Gesicht dem seinen zu. Sie mußte ihren Körper wenden. Nun auf dem Leibe liegend, atmete sie ihn aus größter Nähe an, zitterte vor ihm, wie gefangen.
»Weine nicht! Slawa, weine nicht!« sagte er. »Bei Cyrill bist du. Kennst du mich nicht?
Ich werde es dir offenbaren. Zur Strafe bin ich dein Vater.
Slawinka, schläfst du? Höre mich! Ich liebe dich nicht wie mein Kind.
Wie wenn der liebe Gott dich mir in die offene Hand heruntergeregnet hätte, so liebe ich dich.
Wäre es Sünde?
Slawinka wird mir an der Brust liegen, nichts sagen, nichts tun, das ist ihre Hochzeitsnacht!«
Er faßte seine eigene linke Hand, an der noch die zwei Eheringe glänzten, schwer ließ er sie wieder fallen. »Ist das Cyrill? Warum hast du nicht gewartet, auf die da gewartet?! Dein Leben, dein ganzes Leben! Hilf mir nicht, Slawinka, was ist zu helfen?«
Mit verzückter Hand schwebte er über die liegende Erscheinung, die wachend in tiefster Ruhe ausgebreitet war vor ihm.
Aber nicht Beseligung, sondern Winter, Wind und Frost ging aus von ihr und Tod.
Er schlich in die Küche, suchte nach Waffen. Bloß das große eiserne Messer zum Zerhacken der Zuckerhüte sah er.
Viereckig, zehn Pfund schwer, bewegte es sich an einem Strick in leiser Drehung um sich selbst und schaukelte aus eigener Kraft in seine Hand.
»Das ist für mich, das ist für dich, für uns beide.
Daß Blut wird fließen müssen, das hat deine Mutter gewußt! Nimm es in die Hand, Cyrill!«
In seiner schaudernden Hand hielt er das viereckige Eisen lange, fühlte es schwingen auch bei geschlossenen Augen. In ermüdeter Hand, wie einen Dreschflegel auf heimatlicher Tenne einst, vor der kommenden Nacht.
Er fühlte Müdigkeit wie nach gestorbenem Tod.
In Trauer hielt er, wie man einen kleinen Sarg hält, das viereckig schwere Messer auf beiden Unterarmen.
Er bat Slawa nicht mehr, versuchte sie nicht.
»Das ist Cyrills Begräbnis«, sagte er, ruhend in trauriger Verzückung, wie aus Wolken.
»Ich bin noch so jung«, sagte sie, ganz entrückt aus sich selbst.
Voyta wußte alles. Slawa, mit einem »neuen Bräutigam« hinter dem Rücken des Vaters verbunden, vielleicht von ihm schon um ihren »Schatz« gebracht, wollte nicht im Guten gehorchen? Da kannte er, Voyta, gar viele Mittel und Wege, – vielleicht als letztes, als letzten Versuch im guten müßte man sie in das Hausmeistergelaß herunterlocken, ihr daselbst etwas Berauschendes zu trinken geben, am besten nicht Wein, sondern mit etwas Gutem, etwas Süßem vermischt. Er habe noch Marmelade von seiner Frau her. Sie sei zwar etwas gegoren, aber gerade das sei fein, da die Kleine dann den Weingeist nicht gleich herausschmecke, und wenn sie erst gekostet hatte, ein ganz klein wenig gekostet hätte, dann schlucke sie alles in sich hinein, denn Süßes lieben die Mädchen, dann wollte sie es jeden Tag, und mehr als einem lieb ist, einem einzigen.
Aber dann wird ja dazu immer der alte Voyta da sein, eine kleine Belohnung, vielleicht heute schon?
Es kommt nichts davon hinaus in die Welt, alles bleibt zwischen uns, in der kleinen Familie, im anständigen Haus. Die Kleine trägt nichts aus dem Haus, denn es wäre ihre eigene Schande. Oder Ehre und Schönheitspreis?
Voytas Augen glitzerten in äußerster Niedertracht, er hatte seine falsche obere Zahnreihe nach unten fallen lassen, so daß er auf einen Augenblick wie ein Drache mit zwei Reihen kalkweißer Zähne erschien. Doch bald brachte er alles in Ordnung, schnitt mit einem kleinen weißen Kämmchen eine Stange nach Rosen duftender Pomade entzwei und mit dem gründlich gefetteten Kamm bürstete er den Schnurrbart in die Höhe.
»Keine Angst, keine Angst«, flüsterte er jedesmal, wenn er mit seinem Kämmchen durch das dürre Gestrüpp seines Bartes glitt. »Ich nehme alles auf mich, ich lasse meinen Freund nicht im Stich. Wenn die vom Gericht mich fassen, und leicht werden sie mich wahrscheinlich nicht fassen, denn ich kenne die Herren vom Gericht, nicht von oben kenne ich sie, sondern von unten her, so,« er machte eine schamlose Gebärde, »aber wenn sie mich auch fassen, ich werde mich nicht fürchten, denn, Gott zum Lohn und Dank, ich bin schon alt, und ob sie mir den Kopf abhacken, oder ob er mir von selbst abfault, wie meinem lieben Hunde da,« das Tier stand hinter ihm, schmiegte sich aber vor seinem Blick wie ein Blatt auf den Boden und atmete kaum, » das sollte einen Voyta schrecken? Oder dich, Cyrill?« Zum ersten Male sagte er zu Cyrill du. »Halt! Bist du mein Herzensbruder? meinem Herzensbruder tu ich alles zuliebe.«
Er nahm Cyrills Gesicht in unnatürlicher Zärtlichkeit zwischen seine bitter riechenden, sehr warmen Hände. »Nun, Cyrill, nun?«
»Sie kommt nicht herunter,« flüsterte Cyrill, »sie wird nicht.«
»Wird nicht? Halt! Auf den Augenblick! Auf dem Kopfe gegangen, die Treppen herab, und wie der Wind! Du machst den Bräutigam, ich rufe es ihr hinauf, halt! Da kommt sie im Augenblick!« Hinter Cyrills Schulter wisperte Voyta, und der Rosenduft seiner Bartpomade berührte Cyrill zauberhaft.
»Aber dann – wo?«
»Das laß meine Sorge sein. Aber Weine muß ich haben. Gute! Starke! Ungarische!« Und als drei Flaschen dastanden: »Halt! Noch zwei, noch drei, auf Vorrat! Es wird uns allen schmecken. Auf Vorrat!«
Cyrill brachte alles. »Recht so, gut so. Ich habe es jetzt auch schon heraus, so muß es gehen. Warte, eine kleine weiche Matratze müssen wir noch haben, die werden wir auf den kleinen Platz vor der Bodentür niederlegen, jetzt abends darf kein Mensch auf den Speicher, dort ist es ganz finster, bis dorthin geht sie dir ruhig mit, dort sind keine Winkel zum Verstecken, und die Eisentür ist ganz nah. Warte, du mußt nur darauf achten, daß sie keinen Laut von sich gibt, darauf mußt du achten, und wenn es vorbei ist, dann komme ich! Dann ich, der Herzensbruder! Denn das tue ich für dich! Warte dort, wo es ganz dunkel ist, da kann es niemand wissen, wer es war, ein Landstreicher oder Einbrecher, der da eingebrochen hat, oder meinetwegen ich, aber auf dich wird niemand raten, wer sollte auf dich raten, da es nicht in deiner Wohnung ist?
Nur trinken muß sie, trinken wie ein Rauchfangkehrer oder eine Rauchfangkehrerin, damit sie am nächsten Tag nichts mehr weiß. Dann geht sie in einem Jahr oder wann es der Vater der Tochter erlaubt, zur Hochzeit mit ihrem Ferda, und niemand weiß etwas. Das kenne ich schon, mein Cyrill, bin nicht umsonst alt geworden und grau.« Mit feurigen Zinken fuhr ihm das Kämmchen durch den Schnurrbart und zischte. Wohl sah Cyrill in Voyta den Bösen in unverhüllter Gestalt, das war jedem ohne Mühe erkennbar, aber er ließ alles geschehen, wunderte sich bloß, daß Slawa sofort kam, und daß sie ohne viel Gerede an Ferdas Besuch glaubte und, mit beseligtem Blick durch das Guckfenster starrend, sich ohne Widerstand von dem geschickten Voyta den Mund mit vielen Löffeln schwer weingetränkter Marmelade anfüllen ließ. Daß sie von dem höllischen Trunk süß rosenfarbene Wangen und Hals bekam, das erkannte der Vater als letzte Wohltat, als letzten Gang des »Zaubermahles«, das Voyta ihm und der armen Slawa darbot.
Noch rührender, noch aufreizender zur Lust wurde ihr armes Gesicht, als Voyta das Licht ausgedreht hatte. Cyrill wagte nicht, das Kind zu berühren, das, leise schon berauscht, ohne Atemholen fast, sanfte Melodien vor sich hersummte und sich willenlos die Treppe hinaufführen ließ.
Als sie das richtige Stockwerk streiften, zuckte zwar Slawa hin zu der gewohnten Tür. Aber der Vater wurde von Voyta, der auf Filzschuhen hinterherschlich, weitergestoßen, seine Hand fing den Stoß auf und fand sich mit einem Male an Slawas Nacken.
Slawa überbog in unschuldiger Wollust ihren Kopf, preßte ihres Vaters Hand in zart schaudernder Glut zwischen ihren kühlen Nacken und die schwer gebauschten Haare, die Augen geschlossen, den Mund wie eine kleine Mauer aufragend, duftend nach Marmelade und Wein, wartete sie auf einen ersten Kuß, unterbrach auf kurze Atempausen den Gesang, der ihrer Brust willenlos entströmte.
Schon glitt sie auf die Matratze, die vor die Bodentür gewälzt war, schon empfing Cyrill von Voyta den letzten Gnadenstoß, der ihn auf die Knie warf, vor sie, die schlafend Bewußtlose.
»In einer halben Stunde«, zischte Voyta, »halt! Stunde! Stunde!« Er schlich zurück.
Mit verkrampften Augen entflammte sich Cyrill in der Dunkelheit. Aber zu seinem Entsetzen erhob sich die massige, schwere, fahle Gestalt seiner Frau vor ihm, die nackte Riesin. Während langer tatenloser Minuten mühte sich Cyrill, das Bild seiner toten, aber noch immer auflebenden Frau zu zerstören, ihre verhaßte Liebesgier in dem teuer erkauften Augenblick abzuweisen. Slawa, eines Fingers Länge von ihm entfernt, war nicht in seiner Nähe, war nicht auf der Welt für ihn, und schon war »die Stunde« abgelaufen, zu Ende war das Zaubermahl vor dem ersten Bissen, denn es schellte viele Male unten im Hausflur.
Cyrill kämpfte noch gegen seine tote Frau, in wilder Beschwörung wollte er sie bannen, und es gelang, und Slawa erwachte nicht.
Aber jetzt rief unten eine Stimme, als wäre es der von seiner Frau zugesandte Fluch: »Cyrill!« Jetzt war Slawa nicht mehr zu halten, sie hatte den Ruf gehört, sie war erwacht.
»Cyrill? Hier ist keiner.« Voyta zischte es durch das ganze Haus. Das spitze Licht seiner Laterne drang durch das Treppengeländer hinauf zu Slawa und Cyrill. Slawa hockte halbaufgerichtet auf ihrer Matratze und starrte ihren Vater an, der sich vergeblich unter einem aufgehobenen Zipfel des Polsterzeugs zu verbergen suchte. Das Licht flammte in heller Glut von unten durch das Treppenhaus.
»Keiner? Aber, ich ...«
»Nun, Sie? Kommen Sie morgen!« sagte Voyta.
Unter Lachen antwortete Ferdas Stimme unten: »Gern – morgen!« »Meinetwegen, du ...!« schrie Voyta und schlug das Haustor zu.
»Hier ist ... es kühler ... nicht so wie unten ... im Zimmer«, stammelte der Vater.
Slawa fragte nicht.
Der Vater stieß das Mädchen fort, wütete, daß alles vergebens war und er vergebens Voyta eingeweiht, vergebens ihm einen Teil der sündhaften, verfluchten Wollust versprochen hatte. Und nicht ohne Grund hatte Voyta so viel vom Gericht gesprochen und sich der Bekanntschaft mit den Herren dort gerühmt.
Voyta, ebenfalls in toller Wut, hörte ihn die Tür zuschlagen, bald darauf schlich sich das Mädchen mit ihrer Matratze an seiner Pforte vorbei, sie begab sich in die Waschküche, ihren Zufluchtsort, wo sie den Rest der Nacht verbrachte.
Schlaflos aus Zorn und Tücke, machte sich der Hausmeister noch in später Nachtstunde von seinem warmen Bett los, stieg zu Cyrill hinauf, weckte ihn: »Was haben Sie getan? Jetzt kommen die vom Gericht!«
Cyrill, halbnackt, frierend, lauschte im Dunkeln hinter der Tür, sagte aber nichts.
Drohend schrie Voyta, so daß alle Mieter in den oberen Stockwerken ihn hören konnten: »Sie werden kommen, mit Handschellen werden sie ganz sicher kommen!«
Da Cyrill das Mädchen »nach Recht und Gesetz« auch nicht mit dem Finger berührt hatte, eine Untersuchung vor Gericht bei ihm nichts Schweres ergeben konnte, verbrachte er die Nacht in ruhigem Schlaf.
Morgens, in halbem Erwachen, war ihm zwar, als ob Frau Fanny in der Küche herumwirtschafte, er erschrak, als wäre er selbst gestorben: denn jenseits des Todes wartete sie, sie war das richtige Gericht, die furchtbarste Macht, drei Richter in einen riesengroßen Leichnam getürmt, schwarz im Talare, gefärbt mit dem Ruße ihrer Krankheit.
Aus dem ersten Leben gab es noch Rettung, da die Friedhofserde über ihren wachsamen Augen meterhoch lag, aber aus dem zweiten Leben gab es keine Flucht und keine Rettung. Aber noch hatte er sich an Recht und Gesetz gehalten, die Sünde nicht begangen.
Schon öffnete sich in voller Sonne die Tür, Slawa trat ein, vielleicht ohne Erinnerung an die letzte Nacht, wenn sie auch noch verstört war. Ringe liefen blauschwarz unter den sichelförmig zauberhaften Augen, schmutzig war der schmale, jungfräuliche Nacken, ihre schönen, schweren, weichen, schwarzen Haare waren zerrauft und mit grauen Fäden struppig durchwachsen von der unordentlichen Lagerstatt.
Aber sie sagte nichts, willig brachte sie das Frühstück, das zwar nicht sehr einladend war und nur zu sehr nach verbrannter Milch schmeckte, aber es war doch nicht das Gericht, das, Voytas Drohung folgend, sofort mit Handfesseln gekommen war. Er redete versöhnt mit der Tochter und versprach, zu Mittag zurück zu sein.
In seiner Werkstätte war er froher Laune, sonnte sich lange im warmen Schatten, nahm dann dem Gesellen Hammer und Lederflecke aus der Hand und arbeitete an einem Lehnstuhl bis gegen Mittag, dann stieß ihn, der, ganz in seine Mühe versunken, dem Bilde der allzusehr geliebten Tochter fast entronnen war, der Lehrjunge scheu an: »Vom Gericht ein Herr.«
Starr vor Angst erhob sich Cyrill: So war der Fluch der verfluchten Frau doch in die Wirklichkeit hineingeflucht!
Noch wollte er Zeit gewinnen, die gestrige Untat ableugnen, es war der Tochter doch nichts geschehen! Er rollte den Lehnstuhl in einen dunklen Winkel, er wollte doch das hohe Gericht nicht in »dieser Mißwirtschaft, dem liederlichen Hauswesen« empfangen. Sofort aber drängte sich der Bote vom Gericht, der schwindsüchtige, abgemergelte Beamte herein, trotz der Hitze bis hoch zum Halse in eine dicke, blaue Tuchuniform gekleidet, ohne Ketten und Handschellen, bloß einen gelben Brief in der Hand.
Cyrill las die Überschrift: »Vormundschaftsgericht. An Herrn Cyrill D. hier.« Oeffnen wollte er den Brief nicht. »Es ist richtig«, flüsterte er.
»Unterschreiben! Sie müssen unterschreiben!« sagte der Bote und hielt ihm ein Buch hin.
»Bald! Später!« sagte Cyrill.
»Was, später? Allsogleich!« sagte der Beamte, einen gespitzten Bleistift zwischen den blaßroten Lippen befeuchtend. Deutlich ergoß sich Schnapsduft aus seinem Munde, vermischt mit dem Obstgeruch der Schwindsüchtigen.
Es erschien Cyrill, der unter dem Gefühl seiner Schuld in Schweiß ausgebrochen war, als einzige Rettung, den Empfang dieses Galgenschreibens hinauszuschieben und möglichst spät die Unterschrift zu leisten. Er lud daher den Beamten zu einem Gläschen ein, das dieser, am Ende seiner Botengänge, nicht ablehnte.
Auf dem Wege zu dem Schnapsladen vor dem Bahnhof überlegte Cyrill, ob es nicht möglich wäre, dem keineswegs listigen Beamten, den er für das ganze Gericht nahm, Irrsinn vorzutäuschen, sich dadurch für den Augenblick der Vorladung zu entziehen, damit er später, unter dem Dache dieses falschen Irrsinns, straflos seine Sünde »genießen könnte, der Alten zum Hohn«.
Der Beamte hatte zwar Gewissensbisse. Er trank ordentlich, war indes nicht zum Sprechen zu bewegen. Doch war er nach der zweiten Flasche süßen Likörs schon so im »Schwung«, daß er Cyrill einen offenen Kuß auf die Wange drückte. Nun war der Augenblick da, nun durfte der Beamte keinen Tropfen mehr bekommen, denn er sollte ja »Protokoll führen und berichten bei den anderen Herren«.
Deshalb mußte ihm als tiefes Geheimnis, damit er es den »Brüdern dort« nur ja recht genau wiedererzähle, der Bericht über die Zeugenschaften übergeben werden.
Cyrill stellte sich hinein ins Gericht: der gelbe Galgenbrief, breitbeinig auf die Tischplatte hingefaltet, das war der Vorsitzende. Die Anklage lag da.
Die Zeugenschaften lagen gegenüber, der große Schlüssel, mitgenommen aus dem verrufenen Hotel, mit fünffachem Schild, fünf Zacken, die Cyrill schützten und schirmten.
Erste Zacke, erstes Schild, erste Zeugenschaft: Fanny, die Erstgeborene.
»War ich, Wahrheit mußt du sagen, Dir jederzeit allenorts ein guter Vater?«
»Du warst, Wahrheit muß sein, immer ein guter Vater.«
Zweite Zacke, zweites Schild, zweite Zeugenschaft: Fanny, Cyrills Gattin, tot, aber lebendig. »War ich, Wahrheit mußt du sagen, jederzeit allenorts ein guter Mann?«
»Warst, Wahrheit muß sein, ein guter Mann.«
Dritte Zacke, drittes Schild, dritte Zeugenschaft, die heilige: Matthias, Bruder des Cyrill, Erzbischof und Gottespriester.
»War ich, Wahrheit wirst du sagen, immerzeit allenorts ein guter Bruder, bis zum letzten Blut?«
»Bis zum letzten Blut, ein Bruder!«
Vierte Zacke, viertes Schild, vierte Zeugenschaft: Cyrill selbst.
»Hast du die Sünde genossen?«
»Nein.«
»Kannst du schwören und beeiden?«
»Ja.«
»Bei dem Leben deiner Tochter?«
»Bei dem Liebsten, was ich habe.«
In heiseren Gesängen hatte Cyrill dies vor sich hergesungen. Der Beamte, sichtlich von Müdigkeit belastet, von Husten gereizt, verstand ihn nicht. Er hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Cyrill mußte eilen.
»Slawa, meine letzte Tochter, du mein einziges Kind, gibst du mir schuld? Läßt du mich frei? Bin ich schuldig an dir, ich, Cyrill, meiner Liebe wegen?« Den Beamten bedrängte fürchterlicher Husten. »Warte,« flüsterte Cyrill, »warte, gleich spricht sie mich frei. Glaubst du es? Ich bin es nicht, ein Verbrecher bin ich nicht. Ich schwöre,« er reckte sich, empor, »verbrennen will ich in der ewigen Glut, ewig in die Hölle hinunterkriechen zu meiner Frau, der verfluchten, aufgehen zu nichts, wie der Lumpen Papier da,« er hatte den Galgenbrief an einem Zündhölzchen entflammt, »in mir ist keine Sünde. Ich habe sie nur geliebt. Das ist die fünfte Zeugenschaft,« indem er den gezackten Schlüssel in einen Winkel warf, »die letzte!«
Der Beamte krächzte in endlosem Husten.
Ohne Barmherzigkeit schleuderte Cyrill die Flasche vom fuselgenetzten Tisch: »Die letzte!«
Die Verkäuferin erwachte durch das Klirren zu mürrischem Brummen, der Beamte, grün vor Schwäche und Rauchvergiftung, klammerte sich vergebens an Cyrill, der jetzt frei war: das Gericht war geschlossen, der Galgenbrief aufgegangen in Feuer und in Flammen.
Cyrill ging; der Beamte, schwer über den Tisch gebeugt, gab rotes Blut und roten Schnaps in endlosem Stöhnen von sich.
Es war hellster Sommerabend. Alles im Freien flimmerte wie Glas.
In großer Beglückung, freigesprochen vom offenen Gericht wanderte Cyrill auf der Straße, die von aber Tausenden Menschen wimmelte. Auch der Park war dicht besetzt, doch fand er eine kleine Bank leer, mitten unter Bäumen. Er rüttelte an einem harten, heißen Stamme. Wolken von hitzegetränkten, scharf duftenden Blättern und Blütentrümmern sanken über ihn herab, der bald in Schlaf verdämmerte.
Er erwachte spät am Abend. Frei wie ein Bräutigam, von Freude wie eine Saite gespannt, eilte er durch die Straßen und Alleen, Haustor und Treppe, »seiner Slawa« entgegen. Er stieß an die Tür: »Ich bin es, ich.« – »Vater?«
»Kein Vater, Cyrill. Ich!«
Sie ließ ihn ein, fragte ihn, ob sie Abendbrot richten sollte, aber er schüttelte den Kopf und huschte an ihr nahe vorbei in die Küche.
Als Slawa mit zitternden Händen sich mühte, Licht zu entzünden, stand der Alte, als ob er aus der Höhle im Ofen hervorgekrochen wäre, lautlos vor ihr, einen Laib Brot trug er wie ein Kind auf den Armen, ihm zur Seite schaukelte an dünnem Strick das schwere, viereckige Zuckerhackmesser.
»Mit einem solchen Messer kann ich dir nicht Brot schneiden.« Hilflos in ihrem verstörten Lächeln, wehrte sie den immer wieder Vordrängenden ab.
Er ließ sich zurückdrängen, schlich fort, wie um ein anderes Messer zu bringen. So groß war das Mitleid Slawas mit dem Hunger des Vaters, daß sie auch jetzt nicht das Zimmer vor ihm versperrte.
Schon kam er wieder, schleppte die ganze Tischlade, vollführte mit den metallenen Geräten einen fürchterlichen Lärm, ähnlich dem Gebell, mit dem er sie vor wenigen Tagen aufgeschreckt hatte aus herrlicher unbewußter Jugend.
Noch gab sie sich nicht verloren. Da schleuderte er die schwere Tischlade mit den rollend niedersausenden Geräten hinter sich und sprang vor Slawa hin. Mitten durch den Tumult tönte die Schelle am Haustor. Aber kaum hatte sich Slawa in halber Wendung zur freien Tür gedrängt, da stolperte sie über das ihr in Tücke vorgehaltene Bein des Alten.
Schütternd dröhnte sie hin auf den Estrich. Kaum daß die schwere Haarkrone, die sie dem Geliebten, Ferda, zu Ehren in besonders dichten Knoten geflochten, sie vor tödlicher Verwundung schützte.
Der Vater hatte sich schon über sie geworfen und stillte seines ganzen Lebens gedrängte Wollust in weinendem Krampf.
Dieses Weinen empfing die grauenhaft erwachende Tochter als erstes. Dann erschienen graue Haare auf dürrer Haut vor ihren Augen, schimmernd im eben aufsteigenden Mond, der durch das Fenster brach. Dann fühlte sie in unbeschreiblichem Aufzucken höllische Schmerzen glühend in ihren Gliedern. Sie sank in Ohnmacht zurück. Wie ein Tier erlitt sie die entmenschte Liebe des Vaters.
Als Slawa die Augen öffnete, lächelte ihr der Vater lüstern entgegen. Vergebens wehrte sie sich gegen ihn. Er hielt sie nur immer fester umklammert. Sie konnte sich nicht anders helfen. Sie ergriff das Messer, das neben ihr lag, faßte die stumpfe Schneide in ihre Hände. Den schweren, kantigen Griff stieß sie dem Vater dumpf pochend ans Herz.
Er sank zurück, entrollte der Umarmung. In seine Kleider wie eine Puppe gewickelt, lag er auf dem Rücken, kaum noch röchelnd.
Ein Augenblick nur war vergangen, die Glocke im Hausflur klirrte noch nach. Slawa aber, aufgekniet, faßte noch einmal, stieß ihm den eisernen Griff auf die Brust. Ein dumpfer Schlag auf die gespannte Wand – und Stille. Kein Atem, kein Sprechen. Sie beugte sich über den Vater, sah ihm ins Auge. Es war offen. Der ganze Mond, die weiße Kugel, rund, silbern, mit vielen kleinen Ringen: ihres Vaters Auge gebrochen.
Des Vaters Auge vergoldet: Kerzenlicht links, Kerzenlicht rechts. Menschen ringsum.
Noch lebte der Alte.
Es erhob sich seine Seele über seinen liegenden Körper, der im Mondlicht gleißte.
Er sah sich selbst, den Scheitel wallend umwachsen von schwarzem Gelock, urkräftig mit Millionen schwarzer Haare, ungebleicht war seine Kraft. Seine Haare wurden ein ehern glitzernder Heiligenschein, er selbst war der Erzvater Moses, den sein Bruder in die christliche Kirche hineingeführt hatte.
Hilfe erkannte er sich zur Rechten: des mächtigen Erzvaters eherne Stärke.
Hilfe stand ihm zur Linken: des geliebten Bruders blauverbrämte Gestalt, sein silbern in Milde leuchtendes Gesicht, Matthias, ihm demütig beigesellt wie ein Geselle, ihm, dem Aelteren zu Füßen, ihm zu Füßen ausatmend den Duft alter heimatlicher Behausung, Kindheitsglück der Brüder Bett an Bett, Nacht für Nacht. Silbern wie heiliges Wasser murmelte die Stimme des Bruders die heiligen Litaneien, Beruhigung sprach das liebe Bruderherz und schönen Traum.
Von dienenden Kerzenträgern umgeben, war der Bischof zu Cyrill gekommen. Den Sterbeablaß zu geben, kniete er jetzt neben ihm.
Ueber dem Sterbenden, in ihrer Glieder sternartiger Verzweigung, stieg auf und senkte sich, ganz Auge wie einst und ganz Geschlecht: seines Lebens letzte freudige Gestalt, Slawa.
Die Tochter, in ihrer Schändung sprachlos aus Scham, gemieden von Ferda, tückisch umzüngelt von Voyta, floh auf die Straße. Aber Voyta holte sie ein, er krallte sich an sie, brachte sie zurück ins Angesicht des Vaters.
Jetzt erst sahen alle Cyrills Brust gerötet von dem mörderischen Schlag.
So sehr auch der Bischof für seine Nichte Fürsprache einlegte und alles nur als Katastrophe, Gottes Schickung und Ratschluß deuten wollte, Voyta bestand auf Gericht und Kriminal. Sein bester Freund sei tot, seine einzige Stütze im Alter ermordet.
Am gleichen Abend, bevor die Polizei gekommen war, stellte sich Slawa aus freiem Willen dem Gericht.
Sie hatte keine Träne geweint.
Slawa, die Neunzehnjährige, lebte wegen Verdachts des Mordes am eigenen Vater im Untersuchungsgefängnis, gesperrt in eine Einzelzelle.
Während der ersten drei Tage und Nächte war es ihr schwer, dies zu glauben. Nachts umdröhnten Träume die des Träumens Ungewöhnte.
An Arbeit war sie gewöhnt, Ruhe schreckte sie auf.
Nacht für Nacht erschien der Vater im Traum, lieber die Wendeltreppe des Gefängnisses näher kreisend, stieg er zur Zelle, viele Male wurde er vertrieben, aber nicht ganz tödlich getroffen. Mit den Knöcheln der Faust, waffenlos nur preßte sie ihn von sich, wollte sich und ihn bewahren vor der gefährlichen Waffe. Sie war jung, überkräftig, Waffen nahm sie nicht aus eigenem Willen, hatte sie sie aber in der Hand, dann war Gefahr.
Aber nichts schreckte ihn. In unbeschwichtigter Wut erschien er ihr von neuem.
Sie wollte gern sich alle Strafe gefallen lassen, aber nur endlich von ihm befreit sein. Er hatte keine Gnade, kein Erbarmen: schaurig bedrohte er sie in dem Traumgesicht der letzten Nacht.
Was konnte sie tun, als schweigen, wenn sie auch wußte, nur Schreien, Rufen könne sie retten.
Drohte er wiederzukommen, dumpf aus der Tiefe murmelnd, machte sich Slawa mit Gewalt wach. Licht, Helle hatte ihr sehr wohlgetan.
Licht war nachts in der Zelle verboten. Nur ein kleines Viereck, von der Oeffnung in der Tür, war beleuchtet auf dem Estrich, kaum so groß wie ein Mädchentaschentuch. Dieses Licht aufzufangen, mußte sie aufstehen und mußte, obgleich frierend, sich gerade in der Mitte der totenstillen Zelle hinstellen und starren.
In der dritten Nacht, der ärgsten, tat sie das fünfmal, dann verschwand das böse Gesicht und kam in der nächsten Nacht nicht wieder.
Das war ihre erste Freude.
Nun suchte sie sich Arbeit. In der Zelle schien es nur auf den ersten Blick sauber. Sie bat daher die Gefängniswärterin um einen Kübel mit warmem Seifenwasser, den sie erst am nächsten Morgen brachte, da sie die Erlaubnis des Oberbeamten haben mußte.
Von acht bis elf wusch sie, nachdem sie mit großem Eifer das Pflaster ausgemessen und sich das bißchen Arbeit eingeteilt hatte, dann bekam sie ihre Mahlzeit. Für den Nachmittag behielt sie den Blechlöffel, ihr einziges Eßgerät, zurück, um mit dem Stiel desselben die Ecken des kleinen Raumes, die hölzernen Randleisten zu säubern: das Zimmer blieb feucht, dunstig, aber diese Arbeit, diese Reinheit, diese Ruhe waren ihre zweite Freude.
Am vierten Tage kam sie zu dem Untersuchungsrichter, um verhört zu werden. Man hatte bei Gericht vorerst an einen bloßen Unglücksfall gedacht, da für ein so fürchterliches Verbrechen keiner der gewöhnlichen Beweggründe zu finden war. Auch traute man dem schönen, jungen Mädchen einen gemeinen Mord nicht zu. Aber die Beschauung der Leiche ergab stumpfe Gewalt, Tod durch fremde Hand.
Während Slawa auf die Fragen nach Namen, Alter und Stand, Geburtsort, Vorstrafen und Schulbildung antwortete, beschloß sie in ihrem Gefühl der Schuldlosigkeit, von dem tierischen Angriff des Vaters nichts zu sagen. Sie dachte, die Tat sei dann beinahe ausgelöscht. Sie hätte auch niemals vor den fremden Menschen die Worte für das gefunden, was der Vater mit ihr getan hatte.
Sie war sehr befreit, als der Richter nach ihrem langen Schweigen über die Gründe der Ermordung hinwegging.
Dieses Verschweigen war ihr drittes Glück.
Damit war das Fürchterlichste überwunden. Sie kam auf Antrag ihres Offizialverteidigers zur Untersuchung ihres Geisteszustandes in das Inquisitenspital. Hier mußte sie zwar anfangs zu Bett liegen. Da aber die Wärterin ihre Hilfe gern annahm, stand sie schon nachmittags auf, machte sich ans Fußbodenwischen, was bei dem glatten, warmen Asphalt sehr leicht vor sich ging. Sie durfte Geschirr reinigen, Kranke mit feuchtem Umschlag und lauem Fußbad pflegen. Zur Nacht durfte sie baden, das tat ihr sehr wohl. Als sie aus dem Wasser herauskam, dachte sie: »Jetzt ist der lange Todestag vorüber.« Die letzten Tage, von dem Tod der geliebten Mutter bis zum Mord und dann die Nacht und das Gefängnis und die Träume und das Stillestehen auf der eiskalten Fußbodenplatte, alles war der Todestag.
Der Professor für Geisteskranke fragte sie aus, sagte ihr, sie solle irgend etwas schreiben. Sie schrieb: Slawa.
»Weiter!« sagte er.
Sie schrieb: Cyrill.
»Weiter!« sagte er. Sie schrieb: Hilfe.
Der Professor konnte alles lesen, aber er verstand die Worte nicht. Er sagte: »Ich verstehe nicht, daß ich das nicht verstehe. Aber geistig krank ist sie nicht.«
Der Gefängnisgeistliche kam. Slawa erschrak vor ihm, denn sie dachte, er käme nur vor dem Todesurteil. Aber der Gedanke an ihre »drei Glücke« brachte ihr im gleichen Augenblick Frieden. Als der Priester sie fragte: »Wollen Sie beichten, mein Kind?« sagte sie: »Beichten? Jetzt? Ich?«
Sie nahm das Abendmahl in Erinnerung an die arme Mutter, und wenn sie weinte, weinte sie um ihre Mutter.
Die Wärterin bat, man möge Slawa noch bei ihr lassen, obwohl ihre geistige Gesundheit offenbar war und sie nicht in das Spital gehörte.
Alle Richter des Hauses bis zum Präsidenten beobachteten sie, teils offen, teils insgeheim, man stellte ihr Fallen, ließ zum Schein das Spitalstor offen, um zu versuchen, ob sie fliehen würde.
Ihr Verteidiger, ein junger Advokat, der sehr klug war, alle Menschen durchschaute und alle ohne Ausnahme verachtete, warnte seine Klientin vor diesen plumpen Fallstricken und beschwerte sich höherenorts über diese »Kunststückchen«. Aber das Gericht wies ihn an seine Pflicht und seine Befugnis, Slawa beruhigte ihn: »Ich fürchte mich nicht.«
Er sah sie, das Bild blühendster Schönheit auch jetzt in ihrem Elend, lange an, sprach aber weder Hoffnungsworte noch Befürchtung aus.
Slawa war unberührt von Tod wie von Zeugung.
Schreckensblaß wurde die vielerfahrene Arrestantenwärterin, als sie Slawa eines Abends im Herbst, kurz vor der Verhandlung, in einem Winkel des von kranken, bösen Menschen erfüllten und vergifteten Raumes kreisend um sich selbst tanzen sah und lachen hörte. Triller ohne Ende brachen aus ihr, der Mörderin.
An einem Montag, Anfang Oktober, führte man Slawa zur Hauptverhandlung vor das Schwurgericht.
»Bekennen Sie sich schuldig?«
»– –«
»Sie müssen antworten.«
»Ich bin nicht schuldig.«
»Daß Ihr Vater keines natürlichen Todes gestorben ist, das wissen Sie. Erzählen Sie uns den Hergang!«
Slawa schwieg, obgleich ihr der Vorsitzende Vertrauen einflößte. Es waren aber viele Menschen im überfüllten Saale, auch Frauen, vor denen sie sich besonders schämte.
»Geben Sie zu, daß Ihr Vater durch Schläge oder Hiebe mit diesem Zuckerhackmesser da ums Leben gekommen ist?«
»Ja. Ich gebe das zu.«
»Sie sagen das so ruhig. Sie haben doch nur einen Vater gehabt. Nach dem Hinscheiden Ihrer Mutter und dem Abgang Ihrer Schwester ins Kloster waren Sie ja vollständig auf ihn angewiesen. Jetzt sind Sie ganz verlassen. Das kann Ihnen doch unmöglich gleichgültig sein. Selbst das wildeste Tier ist nicht wild seinen Eltern gegenüber. Sie müssen diese furchtbare Tat aufklären. Ist ein Streit vorausgegangen? Eine Aufregung? Hat man Sie irgendwie zum Zorn gereizt? Sie sollen öfters außer dem Hause, oder wenigstens außerhalb der Wohnung, genächtigt haben. In der Waschküche? Im Bodenraum? Sie verbargen sich, fast scheint es so, vor Ihrem Vater. Hatten Sie Angst vor Strafe? Hatten Sie vielleicht einen verbotenen Verkehr?«
Slawa antwortete nicht.
»Haben Sie mit Vorsatz gehandelt? Das heißt, haben Sie die Absicht gehabt, ihn zu töten?«
»Ja. Er ist gleich gestorben.«
»Ja, gewiß, Sie haben ihn getötet, aber das lag vielleicht vorerst gar nicht in Ihrer Absicht?« Der Vorsitzende sagte zum Verteidiger: »Haben Sie die Angeklagte dahin aufgeklärt, daß sie uns antworten muß, in ihrem eigenen Interesse, und daß sich das Delikt als Mord darstellt, begangen an Verwandten der aufsteigenden Linie, und daß es im Falle der Verurteilung nur durch die Todesstrafe zu ahnden ist?«
»Sie wurde aufgeklärt.« »Ich bitte also die Angeklagte, uns den Hergang einfach zu erzählen ... Nun, da sie verstockt schweigt, werden wir die Zeugen rufen. Die Schwester, Fanny. Wollen Sie aussagen?«
Die Schwester, wachsbleichen Gesichts, war mit der Priorin des Klosters erschienen.
»Darf ich aussagen?« fragte sie die Priorin.
»Wie Sie wollen, mein Kind.«
»Ich will aussagen,« sagte Fanny.
»Dann werden wir Sie vereidigen. Legen Sie die Finger an das Kreuz, sprechen Sie die Schwurformel nach ... Können Sie etwas über das Benehmen der Schwester dem Vater gegenüber und umgekehrt aussagen?«
»Der Vater hat an der Slawa immer sehr gehangen.«
»Gab es manchmal dennoch Streit?«
»Streit nicht. Aber ...«
»Aber?«
»Einmal hat die Slawa den Vater mit dem schmutzigen Absatz des Stiefels auf die Brust geschlagen.«
»Wann war das?«
»Das ist schon eine Zeitlang her.«
»Nun, Jahre oder Monate?«
»Jahre.«
»Noch zu Lebzeiten der Mutter?«
»Wissen Sie die Ursache? Gab es sonst Zwistigkeiten in dem Hause? Etwa zwischen Vater und Mutter?«
»Streitigkeiten gab es nicht. Nur viel früher, weil der Vater stark getrunken hat. Später hat er nicht mehr so viel getrunken.«
»Wissen Sie, warum Slawa den Vater auf die Brust geschlagen oder getreten hat? Vielleicht nur, da sie ein Kind war, aus Spaß?«
»Nein, im Ernst. Denn er ging so verstört umher, und die Mutter hat ihm Umschläge gemacht. Doch hat er ihr Blumen gekauft.«
»Wem? Der Mutter?«
»Nein.« Mit gesenktem Blick: »Ihr.«
»Haben Sie noch etwas zu sagen? Können Sie sich einen Grund für diese Handlung vorstellen?«
»Ja! Aus Niedertracht!« Die Priorin packte sie beschwichtigend am schwarzen Ordenskleid.
»Und haben Sie sonst noch Züge von Bosheit an Ihrer Schwester bemerkt? Sie müssen nicht aussagen, wenn es ...«
Die Schwester: »Höhnisch hat sie gelacht, als unsere Mutter schwerkrank war, wie eine Besessene in der Ecke getanzt und sich herumgedreht –, die Mutter hat sehr leiden müssen. Sie hat sich auch bitter beklagt. Ich bin gleich von zu Hause fortgegangen, als die Mutter nicht mehr zurückkam. Ich bin jetzt im Kloster, ich weiß sonst nichts.«
»Damit ist die allerdings sehr bezeichnende Aussage abgeschlossen. – Der Bruder des Getöteten oder, wie wir schon sagen dürfen, Ermordeten, der Herr Bischof, hat seine Aussage kommissarisch zu Protokoll gegeben, es geht daraus nur hervor, daß er den Bruder nicht mehr bei Bewußtsein angetroffen hat. Er schildert ihn als sanft, schwächlich von Kräften, fleißig, gutmütig, er hat von ihm in jungen Jahren Geldbeträge, für den Geber sicher ein Opfer, erhalten. Er stellt ihm menschlich ein ehrendes Zeugnis aus.«
Die Vernehmung der Gesellen ergab nichts, sie sagten, der »selige Cyrill« habe am letzten Tage fleißig gearbeitet. Dann sei ein Gerichtsbote gekommen vom Vormundschaftsgericht, mit diesem sei er fortgegangen. Der Gerichtsbote lag an Lungenblutung krank und konnte nicht vernommen werden. Als letzter Zeuge kam Voyta.
»Was haben Sie zu sagen?«
»Sie ist nach ihrer Schlechtigkeit gleich davongelaufen, auf der Straße habe ich sie abgefangen.«
»Der Polizei hat sie sich aber freiwillig gestellt.«
»Sie hat sich aus dem Schubfach in der Küchenkommode eigens das Messer ausgesucht. Das Schubfach lag auf dem Boden, Messer und Gabeln durcheinander ...«
»Wissen Sie noch etwas?« »Ich weiß nichts, glaube aber manches.«
»Wissen Sie etwa von Bekanntschaften?«
»Nein, nur von Ferda.«
Ferda wurde vorgerufen, er hatte nichts zu sagen, als daß er die Angeklagte habe heiraten wollen, davon aber abgekommen sei. Man lachte. Er trat ab.
»Aber sie hat doch gestohlen!« zischte Voyta aus zahnlosem Munde, denn sein falsches Gebiß hatte er in der Aufregung zu Hause gelassen.
Bewegung ergriff den Saal.
Bloß der Verteidiger, tief und wie ohne Gedanken versunken in den Anblick Slawas, zeigte keine Erregung.
»Gestohlen bei Tag! Gestohlen bei Nacht! Schlafen? Bei Cyrill darf eine Diebin, eine diebische, nicht schlafen! Deshalb heraus mit der Diebin! Hinauf zum Dachboden, oder in die Waschküche mit der Diebin, dort soll sie schlafen, wo die Katzen schlafen.«
»Was sagen Sie dazu, Angeklagte?«
»Gar nichts sagt sie, denn das war der Grund von ihrer Schlechtigkeit! Schon einmal hat er sie ertappt, da ist sie mit der linken Hand, der diebischen, ihm in die Hosentasche bei Nacht, aber er hat sie noch erwischt und davongejagt! Rachsüchtig war sie, das reine Gift! Schon einmal hat sie ihn umbringen wollen, blutig geschlagen war er, der Arme, in dem weichen Fleisch unter dem Kinn, und nur sie hat ihn geschlagen!« Slawa, von der giftigen Bosheit Voytas umzischt, weinte wie ein großes Tier. Laute, lange Schreie stieß sie aus, Tochter ihrer Mutter.
Was Cyrill in schlafloser Nacht ihr, der vor ihm Hingegossenen, nicht hatte offenbaren können, nun war es offenbar, nun mußte sie es begreifen: Schaudern vor der Welt!
Mit seinem Bleistift klopfte der Verteidiger auf seinen Tisch: »Bleiben Sie ruhig, Slawa, Sie sind nicht schuldig. Seien Sie ruhig, Voyta; Ruhe!«
»Das Verhör ist noch nicht abgeschlossen, ich bitte, Herr Verteidiger ...«
»Herr Präsident!« Und als einen Augenblick lang völlige Stille war, sagte er, wie hinter dem Rücken der immer noch schönheitstrahlenden Slawa: »Sehen Sie nicht, daß die Person von dem Vater schwanger ist? Vatermord? Nein! Notwehr! Ein fürchterliches Schicksal.«
Schütternd brach sie zusammen. Auf der Kante ihrer Bank schlug sie ihre mädchenhafte Stirn blutig.
Am nächsten Tage wurde Slawa aus der Haft entlassen. Sie kehrte nicht mehr in die väterliche Wohnung zurück, denn dort hatte sich Voyta bereits angesiedelt, hatte von allen Einrichtungsgegenständen Besitz ergriffen, war mit Baruschka, der Braut des sterbenskranken Gerichtsbeamten, bereits in der Kirche zweimal aufgeboten und sollte in wenigen Wochen heiraten.
Nicht Slawa allein fühlte sich gerettet, sondern auch der Anwalt, bis zu diesem Tag Anwalt jeder Tücke, Schutz und Schild jeglicher Gemeinheit, die, bereichert am Verbrechen, sich hinter seinen Advokatenkniffen nachher decken wollte.
Er brachte sie noch am gleichen Tage zu seiner Mutter aufs Land.
Ein steinalte, schwarzvertrocknete Greisin empfing Slawa, die immer noch sommerlich Strahlende. Das Haus war ärmlich, da der Sohn die Alte nicht durch das böse Geld zu Geiz und Härte und Speichelleckerei verderben wollte.
Das einzige bewohnbare Zimmer war mehr eine Tenne als ein Gemach, gestampfter Lehm der kalte, staubige, höckerige Fußboden. Wusch sich Slawa am ersten Morgen in einem Becken, das auf strohgeflochtenem Stühlchen, dem Herde benachbart, stand, so verrann das verspritzte Wasser in lehmige Gruben. Und wenn sie vormittags beim Kochen an den Herd trat, versank ihr Fuß in dem aufgeweichten Lehm. Deshalb wusch sie sich am nächsten Tage vor dem Hause am Brunnen, am dritten Morgen aber, so wie es die alte Frau und die Stallmagd taten, im Stalle, denn da lag von der schweren Kuh trotz der dünnen Wände etwas dunstige Wärme verbreitet.
Slawa ging der Magd bei jeder Arbeit an die Hand. So lebte sie. An den Vater, den geschlagenen, den toten, an Fanny, die wachsgesichtige, an Voyta, den verderbten, höllischen Geist dachte sie ohne Groll.
Ihre Mutter schien ihr manchmal dazustehen, mit ihr zu sprechen, hinter ihr zu gehen, ihr bei der Arbeit, bei dem Weg über den Brückensteg nachzukommen, sie glaubte oft, die Mutter hätte sich nachts beim Schlafen hinter sie im Bette längs gelegt und etwas gekrümmt, damit sie, die allzu Große, doch mit ihrem Hals den Kopf, mit ihren Zehen, sanft abgeschrägt, die Ferse der Tochter die ganze Nacht hindurch berühren könne. So lebte Slawa jetzt in ihrer Seele immer mit ihrer Mutter.
Slawa scheute vor keiner Arbeit zurück, sie zog neben dem trägen Rinde am Geschirr, legte sich mit aller Kraft in die Lederlaschen, beide zogen an, gelenkt von der Stallmagd, eine Furche schreitend nach der anderen. Die Stallmagd erzählte dies, zum Spott über die Dummheit Slawas, aber die Alte nahm für Slawa Partei, entließ die fremde Magd und nahm an ihrer Statt Slawa an und gab ihr deren Lohn.
Sie teilte mit Slawa alle Arbeit. Trotz harter Mühe und trotz des schwerer werdenden Leibes atmete Slawa in Ruhe, sie war getröstet.
Sie wußte nicht, ob sie den Anwalt liebe, aber sie versprach ihm, als er warb, ihn zu heiraten. Die Alte, wortkarg und mit oft zum Fürchten bitterem Blick, war gegen Slawa so wie am ersten Tag, nicht milder, nicht böser. Der Sohn bezwang sie durch Ruhe.
Er war im Herbst geboren, der Winter war seine eigentliche Zeit. An gute Menschen hatte er nie glauben können, das warf er seiner Mutter vor. Menschen ohne Niedertracht hatte er nie gesehen.
Daß Slawa, eine Vatermörderin, die Mutter eines im voraus verfluchten Kindes, in Freude leben konnte, war für ihn das erste Wunder. Noch während der letzten Eisenbahnfahrt in seine Heimat hatte er an Slawa gezweifelt. Er hatte nur als Lüge und Verlockung, um ihn zu belügen und ihn zu verlocken, ihren Frieden, ihre Freude gesehen. Als er aber heimkam, unerwartet, und im Zwitterlicht des Abends Slawa sah: vor dem flackernden Herde hingestreckt, beide Hände voll von Gerstenkörnern für trippelnde Hühner, den hohen Leib, von Lumpen befreit, angestrahlt vom Herdfeuer, angestrahlt auch ihr blühendes Gesicht, – ihre ganze Gestalt umfriedet, – da fühlte er zum erstenmal eine friedensvolle Gottheit als Gegner alles Bösen. Er wußte, es war möglich, trotz allem in Glück zu leben.
Einige Wochen nachher entband Slawa. Die alte Frau war in Eile fort nach dem nächsten Dorf zu der einzigen Hebamme der Gegend. Der Anwalt, der auf Bitten Slawas die unterbrochene Berufstätigkeit in der Stadt wieder aufgenommen hatte, war nicht erreichbar, Slawa ganz allein.
Unter zerfleischenden Krämpfen wälzte sie sich erst im krachenden Bette, dann auf dem stummen, erdigen Boden, die Beine angestemmt gegen die warme Ofenbank in kühler Vorfrühlingsnacht. Tag, Dämmerung, Dunkelheit, Schrei und Schweigen. Blut rann von ihr in heißem Strom.
Sie glaubte, das letzte Leben ginge von ihr. Beide Hände hielt sie vor den untenher wie eine Wunde aufgerissenen Leib.
Da wuchs, und mit jedem krampfhaften Schmerz wuchs näher und wirklicher ein heißes, leicht geranktes, wie von Tränen feuchtes Fleisch ihr in die aufgehaltenen Hände.
Sie fühlte Knochen, wie Scherben beweglich, aber durch lebenden Atem gespannt. Sie fühlte die Einbuchtung schmaler, sichelförmiger Augen ins Innere eines Köpfchens, um ihren Finger geschmiegt spürte sie einen kleinen saugenden Mund.
Noch ein Atemzug seufzte aus ihrer schmerzgequälten Brust, und nun hielt sie, unter den zarten Schultern ihres Kindes Rippen umfassend, das neue Leben wonnevoll in ihrer mütterlichen Hand. Atemlos blieb sie, in den umarmenden Händen ihr Kind, das sich mit winzigen, krallenden Füßen anstemmte gegen ihren blutbefleckten Schoß.
Noch schwieg es vor seinem ersten Schrei, aber es atmete schnell aus und ein in weichem Schwingen, und so stand Slawa, ihrer Mutter Tochter, gesegnet still für die Zeit, sie ruhte im Wirbel jagender Dämonen, rettete sich vor aller Gewalt.
Die Schlafende betreuten die Alte und das dienende Weib. Das Neugeborene war ein schöner Knabe. Slawa nährte ihn aus ihrer Fülle. Mit diesem Kinde auf dem Arm ging sie zur Hochzeit. Das Kind wurde getauft auf den Namen des Vaters: Cyrill.
Es war Segen und Sommer über Cyrill und über den anderen Kindern dieser Mutter.