Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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10

Mr. Jacob Fish war der erste, der bereits am nächsten Tag den gepflegten, weißhaarigen Herrn zu Gesicht bekam. Er saß plötzlich gemütlich im Reporterzimmer und tat so, als ob er hier schon seit undenklichen Zeiten zu Hause wäre.

Der ›Fliegenpilz‹ ließ sich aber dadurch nicht täuschen.

»Fish«, sagte er höflich und rückte den steifen Hut, den er nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten abzunehmen pflegte, mit zwei Fingern noch um einen Grad weiter in den Nacken. »Wohl neu eingetreten. Mr. . . .?«

»Boyd. Clive Boyd«, befriedigte der andere ebenso höflich Mr. Fishs Wißbegierde. »Jawohl. Das heißt, nicht so ganz . . .«

Der fünfundzwanzigjährige Jüngling zog verständnisvoll die spärlichen gelben Augenbrauen hoch.

»Aha. Weiß schon. Gelegentlicher Mitarbeiter. Auch nicht schlecht, wenn man die Sache versteht. Wellby hat auch so angefangen und ist dann hereingeschlüpft. Aber ich gebe nicht einen Schilling dafür, daß er nicht schon heute oder morgen wieder fliegt, und dann haben Sie Aussichten, nachdem Sie schon einmal hier sitzen.«

»Glauben Sie wirklich, daß er fliegt?« fragte der nette Herr mit begreiflichem Interesse.

Mr. Fish schob die Hände in die Hosentaschen und hob zuerst die rechte, dann die linke Achsel, womit er sagen wollte, daß die Dinge nicht so einfach lagen.

»Das ist so eine Sache«, meinte er bedächtig. »Eigentlich sollte er nämlich schon draußen sein. Sie müssen wissen, daß er es war, der uns das Kuckucksei der Morton-Notiz ins Blatt gelegt hat, wenn ich mich so ausdrücken darf . . . Nun frage ich Sie: Spricht man im Haus eines Gehenkten vom Strick und im Cartwright-Haus über das Gerede, das nach dem Tode von Sir Benjamin herumgegangen ist? Was mich nicht brennt, das lösche ich nicht, und wieso kommt ausgerechnet dieser aufgeblasene Affe dazu, plötzlich so ein Geschrei zu erheben, wo das doch die Sache von Mr. Hyman gewesen wäre oder meinetwegen auch von Mrs. Dyke? Fragen Sie ihn, was in ihn gefahren ist. Aber der Alte hat ihm den Kopf gewaschen, daß es sich gelohnt hat, und ich will nicht Jacob Fish heißen, wenn man ihm deshalb nicht doch noch den Stuhl vor die Tür setzt.«

Mr. Fish stellte diese Behauptung mit großer Gelassenheit auf, denn das Risiko war schließlich gering. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß es gar keinen Sinn hatte und eigentlich auch nicht seine Art war, so zwecklose und uneinträgliche Gespräche zu führen. Der Mann mit dem weißen Haar war doch neu und vielleicht sah bei ihm etwas heraus. Der tüchtige Jüngling zog nachdenklich die sommersprossigen Wülste über den Augen zusammen und starrte sein Gegenüber durchdringend an.

»Wissen Sie, Mr. . . .«

»Boyd«, kam ihm dieser beflissen zu Hilfe.

»Mr. Boyd, sehr richtig. In Namen bin ich zwar nicht so ganz sicher, aber sonst habe ich ein geradezu fabelhaftes Personengedächtnis. Ich wollte nämlich eben sagen, daß ich Sie schon irgendwo gesehen habe.«

»Das wohl kaum«, bezweifelte der freundliche Herr bescheiden.

Mr. Fish kramte eifrig in der Westentasche, und nachdem er die stets bereiten fünf Schilling rasch und unauffällig so sortiert hatte, daß die einwandfreien zuoberst und -unterst, die anderen drei aber in der Mitte lagen, stieß er die Rolle energisch auf den Tisch.

»Ich sage das nicht nur so, Mr. Boyd«, äußerte er entschieden. »Fünf Schilling, wenn's beliebt. Dann werden Sie sofort hören.«

Der weiße Herr zog bereitwilligst eine Handvoll Silber aus der Tasche, was den ›Fliegenpilz‹ vollends überzeugte, daß er es mit einem Gentleman zu tun hatte, bei dem man nicht erst aufpassen mußte, ob er nicht etwa eine Spielmarke dazwischenschmuggelte.

»Also«, sagte Mr. Fish, indem er völlig in Gedanken beide Rollen in allernächste Greifweite zu sich heranzog und die Stirn in dicke Falten legte, »wir werden es gleich haben . . . Wir haben uns bereits gesehen . . . Das heißt, ich habe Sie gesehen« – er starrte in die Luft, als ob es dort geschrieben stünde –, »jawohl, am 12. Dezember in der Untergrundbahn . . .«

»Allerdings«, erinnerte sich nun auch Boyd und sah Mr. Fish mit dem fabelhaften Gedächtnis staunend an, aber dieser hatte bereits das Geld eingestrichen und wehrte die Bewunderung bescheiden ab.

»Na ja, es ist ja einigermaßen überraschend«, meinte er leichthin, »aber nichts als Training des Gehirns. Unsereiner braucht das. Sie werden es auch noch lernen. Und wenn ich Ihnen in der ersten Zeit irgendwie behilflich sein kann . . .«

»Ich wäre Ihnen sehr verpflichtet«, beeilte sich der nette Herr zu versichern. »Vielleicht machen Sie mir einmal das Vergnügen, mit mir ein einfaches Abendbrot einzunehmen.«

Der Jüngling dachte angestrengt nach. »Das wird sich machen lassen. – Sagen wir heute. Da habe ich gerade nichts Besonderes vor. Und wenn ich Sie ansehe, weiß ich, daß Sie nur im Cecil- oder Princes-Restaurant speisen. Dafür habe ich einen Blick. Also, sagen wir um neun Uhr im ›Princes‹. Sie werden staunen, wenn ich mit meinem Frack anrücke. Ein Prachtstück. Gebaut für einen Lord, der genau meine Figur hatte. Und ganz auf Seide natürlich. Also, vergessen Sie nicht: heute um neun Uhr«, schloß er nachdrücklich. »Ich pflege pünktlich zu sein«, versicherte er, und um Mr. Boyd seine besondere Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, zog er den etwas löchrigen Handschuh ab, bevor er dem netten Herrn umständlich und kräftig die Rechte schüttelte.

Da er noch eine Weile Zeit hatte, nahm Boyd an einem der kleinen Tische in der ausgedehnten Halle Platz, um sich das interessante Getriebe im Cartwright-Haus einmal ein bißchen näher anzusehen. Die Drehtür kam keinen Augenblick zur Ruhe, denn mit den Angestellten kamen und gingen ununterbrochen alle möglichen Leute, die in den Redaktionen oder den Verwaltungen der Konzernblätter irgend etwas zu fragen oder zu bestellen hatten, und auch rings an den Tischen saßen Vertreter der verschiedensten Berufsklassen, die aufmerksam in dicken Bänden blätterten oder über einer Anzeige brüteten.

Der gelangweilt und griesgrämig dreinschauende Mr. Coppertree ließ, würdevoll an seine Loge gelehnt und das eine Säbelbein über das andere geschlagen, den Menschenstrom gleichgültig an sich vorüberziehen, und nur hie und da hob er gnädig einen Finger an seinen Kappenschirm. Einmal schnellte er sogar blitzschnell auf beide Beine und legte drei Finger mit weit ausgespreiztem Ellbogen ehrerbietig an die Mütze, dann versank er jedoch sofort wieder in seine erhabene Gelassenheit und in seine Gedanken, die, wie der aufmerksame, rosige Herr schloß, nicht sehr heiterer Art sein mochten. Tatsächlich beschäftigte sich Mr. Coppertree eben wieder mit Mrs. Nettie, die dafür sorgte, daß sie ihm nicht aus dem Gedächtnis kam. Ihr Auge über der großen Warze schimmerte nun rot, gelb, grün und blau, und wenn er zu Hause war, vergingen nicht fünf Minuten, ohne daß sie nicht vorwurfsvoll auf dieses unschöne Auge getippt und ihn mit einem Schwall von Unliebenswürdigkeiten überschüttet hätte, die regelmäßig mit ›Lump‹ und ›Wüstling‹ begannen und mit ›krummer Hund‹ und ›gemeiner Mörder‹ endeten. Aber alles das hätte Pat geduldig über sich ergehen lassen, wenn Mrs. Nettie nicht auf den geradezu teuflischen Einfall gekommen wäre, Lolas verhängnisvolles Hemd selbst anzulegen und nun darin vor ihm unausgesetzt herausfordernd auf und ab zu spazieren. Diesen Anblick vertrug Mr. Coppertree nicht, und wenn er, wie eben jetzt, daran dachte, sah er aus wie ein Mann, der einen sehr unangenehmen Geschmack im Mund hat.

In dieser Verfassung auch noch den Anblick Noel Wellbys ruhig hinzunehmen, konnte man von dem armen Pat nicht verlangen, und er hatte daher die Gestalt des Reporters kaum in der Eingangstür erblickt, als er sich auch schon blitzschnell um seine Achse drehte und den Kopf tief und geschäftig in seine Loge vergrub. Seit der stürmischen Nacht in den ›Freundlichen Winden‹ hielt er es immer so, und sein Unbehagen schwand stets erst dann, wenn der gewisse Instinkt, den er sogar in seinem breiten Rücken hatte, ihm verriet, daß der unangenehme Mensch vorüber war.

Heute wollte sich aber dieses befreiende Gefühl lange Zeit nicht einstellen, und als Mr. Coppertree endlich mißtrauisch und äußerst vorsichtig den Kopf aus der Loge zog und ein ganz klein wenig zur Seite wandte, um zu ergründen, was da eigentlich los sei, blickte er mit einem Auge wirklich gerade in das gebräunte Gesicht des Reporters. Er fuhr zwar sofort wieder herum, aber das hatte keinen Zweck mehr.

»Mr. Pat«, sagte Noel Wellby harmlos, aber so laut, daß es mit Boyd alle Leute ringsum deutlich hören konnten, »Sie sind ja, wie ich mir sagen ließ, eine alte Themseratte. Halten Sie es für möglich, daß einer bereits um diese Jahreszeit ein Bad im Pool nimmt? Man hat mir das erzählt, aber ich kann es nicht glauben. Der Bursche müßte geradezu die Haut eines Walrosses haben, um das auszuhalten.«

Pat fand es unter seiner Würde, auf so eine alberne Frage eine Antwort zu geben, und der Reporter mußte mit einem verwunderten Achselzucken über diese unbegreifliche Unhöflichkeit seines Weges gehen.

Als sich Mr. Coppertree endlich wieder umwandte, war sein Bart nach allen Richtungen gesträubt, und der Herr mit dem weißen Haar sah in ein Paar wütend blitzende Augen, die ihm zu denken gaben.

Er erhob sich gemächlich, schlüpfte durch die Tür ins Freie und schlenderte zunächst einmal die Front des Hauses ab. Er war ganz in das riesige Blatt vertieft, das er eben gekauft hatte, aber seine Blicke suchten dabei Schritt für Schritt die gegenüberliegende Straßenseite ab, wo er anscheinend irgend etwas zu sehen erwartete. Einmal machte er für einige Augenblicke halt, suchte in seinen Taschen umständlich nach einem Bleistift und strich mit wichtiger Miene eine Stelle in der Zeitung gründlich an. Nach etwa hundert Schritten betrat er einen Tabakladen, kaufte einige Zigarren, von denen er eine sofort in Brand setzte, überquerte dann die Straße und kam auf der andern Seite ebenso langsam zurück.

Clive Boyd kannte die Verbrecherwelt Londons unbedingt wie kein zweiter. Nicht nur die einzelnen Köpfe, sondern auch deren Anhang bis zum letzten ›Schlepper‹ und Schmierensteher, und er wußte aus dieser Wissenschaft sehr wertvolle Schlüsse zu ziehen. Auf dem kurzen Weg, den er eben zurückgelegt hatte, war er an vier unscheinbaren Passanten vorübergekommen, die gewiß nicht der Zufall zusammengefegt hatte. Er wußte genau, wohin sie gehörten, und wunderte sich einigermaßen über das Interesse am Cartwright-Haus, da es für das Metier des ›Professors‹, ihres Herrn und Meisters, hier doch kaum Arbeit gab.

Aber schwerwiegender als alle Logik und alle Schlußfolgerungen waren für Boyd seit jeher feststehende Tatsachen, und er erkannte die Notwendigkeit, der Paradies-Bar einen Besuch abzustatten. Am liebsten hätte er dieses Geschäft bereits heute besorgt, aber es fiel ihm rechtzeitig ein, daß er Mr. Fish im Princes-Restaurant zu Gast hatte, und er machte sich daher auf den Heimweg, um neben dem auf Seide gearbeiteten Frack nicht allzu unvorteilhaft abzustechen.


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