Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Auch Hyman dachte aus einem ähnlichen Grund an Noel Wellby, wenn er auch seiner Sache nicht so sicher war wie Evelyn Dyke. Aber zwischen der verdammten Notiz, die den ganzen Staub aufgewirbelt hatte, und dem Wisch, der ihm gestern in später Abendstunde in seinem Klub zugestellt worden war, schien ihm ein gewisser Zusammenhang zu bestehen.

»Weshalb verleugnen Sie die ›Königin der Nacht‹?« hatte auf dem Zettel gestanden, und Hyman hatte ihn mit seinen dicken Fingern in winzige Stücke zerrissen und die Schnitzel mit peinlicher Sorgfalt in das Kaminfeuer gestreut. Die Sache begann ihm Unbehagen zu bereiten, und nachdem er unaufmerksam und schlampig gespielt und drei Schilling verloren hatte, war das Maß seiner üblen Laune voll. Er war dann die halbe Nacht in seiner Junggesellenwohnung, die ebenso massiv und unfreundlich aussah wie er selbst, wütend umhermarschiert, um zu einem Entschluß zu kommen, und befand sich jetzt auf dem Weg, ihn auszuführen. Irgend etwas mußte geschehen, wenn er bei dieser Geschichte nicht eins abbekommen wollte. Bisher hatte er geglaubt, allein damit fertig zu werden, aber nun drohten ihm die Dinge mit ihrer raschen Entwicklung plötzlich über den Kopf zu wachsen. Davon durfte jedoch niemand wissen. Auch der Mann nicht, bei dem er sich nach längerem Schwanken eben angesagt hatte, um Beistand zu suchen. Das heißt, zunächst wollte er sich einmal über die Angelegenheit aussprechen, soweit ihm dies eben gut schien, und die Meinung eines anderen hören. Clive Boyd sollte ein fabelhaft findiger Kopf sein, und er hatte in seiner Anwaltspraxis manches von ihm gehört, was dieses Urteil zu bestätigen schien.

Als er ihm eine halbe Stunde später in dem kleinen, sauberen Haus in Camden Town gegenübertrat, wurde er an diesem Urteil allerdings irre. Der elegante, liebenswürdige Herr sah nicht gerade gefährlich aus. Er hatte das frische, faltenlose Gesicht eines Jungen, der eben ein Morgenbad genommen hat, weiches, weißes Haar, das tadellos geschnitten und frisiert war. Er konnte fünfunddreißig oder auch fünfzig Jahre alt sein, aber Hyman interessierte das nicht weiter, sondern er machte Miene, sich in den Stuhl fallen zu lassen und sofort auf sein Anliegen zu kommen.

Aber Boyd hielt ihn mit einer etwas ängstlichen Geste zurück und betastete die Sitzgelegenheit vorher mit besonderer Gründlichkeit.

»Bitte, wollen Sie Platz nehmen, Mr. Hyman«, sagte er dann beruhigt. »Ich habe nämlich eben, bevor Sie mit mir telefonierten, meine Fliegen instand gesetzt, und da heißt es vorsichtig sein. Es kommt zuweilen vor, daß solch ein winziges Ding irgendwohin fällt und das größte Unheil anrichtet. Man muß dann gewöhnlich die Hose durchschneiden, um den Haken herauszubekommen.«

Der Chef des Cartwright-Konzerns verstand zwar nichts von der Fliegenfischerei und den Dingen, die man dazu braucht, aber er ließ sich doch mit einer Vorsicht nieder, die er sonst nicht zu beobachten pflegte.

»Ich komme wegen des Falles Morton«, sagte er kurz und sah den anderen aus seinen starren Augen so grimmig an, als ob dieser den Fall auf dem Gewissen hätte.

Aber Boyd lächelte sehr freundlich zurück und erlaubte sich nur eine kleine Ergänzung.

»Wegen des Falles Morton-Cartwright.«

»Schön, meinetwegen«, gab der Anwalt etwas ungeduldig zurück. »Wollen Sie mir dabei behilflich sein? – Ja oder nein?«

»Nein«, sagte der liebenswürdige Mann mit dem weißen Kopf, und Hymans vierschrötiges Gesicht verriet Mißvergnügen und Verwunderung.

»Warum nicht?«

»Weil wir bereits Ende März haben und man ja nicht absehen kann, wie lange die Sache dauern würde«, erklärte der ehemalige Oberinspektor von Scotland Yard etwas zusammenhanglos, aber mit einer Selbstverständlichkeit, die den anderen einigermaßen verwirrte.

»Nun, darauf soll es nicht ankommen«, knurrte Hyman ungeduldig. »Meinetwegen können Sie sich auch bis zum Herbst damit herumschlagen.«

Boyd hob in rascher Abwehr eine seiner feinen Hände, und zum erstenmal zeigte sich in seinem verbindlichen rosigen Gesicht so etwas wie Entschiedenheit.

»Ausgeschlossen«, sagte er bestimmt.

Hyman bekam allmählich Knoten an den Schläfen und eine immer schlechtere Meinung von seinem Gegenüber. Das Frage- und Antwortspiel paßte ihm nicht, und wenn der Mann nicht wollte, so sollte ihn der Teufel holen.

»Sir, ich komme mit einem Geschäft«, polterte er vorwurfsvoll und wütend los, »und es ist an Ihnen, einen Preis zu nennen. Wir werden darüber rasch einig werden.«

Der Detektiv hob mit einem bedauernden Lächeln die Schultern.

»Es tut mir leid, Mr. Hyman, wirklich sehr leid, aber in der Forellenzeit bin ich für Geschäfte nicht zu haben.« Seine grauen Augen begannen zu strahlen, während er an den Fingern abzählte: »Mai, Juni, Juli, August.«

Der Anwalt schenkte ihm einen Blick, wie man ihn für einen halben Narren übrig hat, und schob den mächtigen Unterkiefer verächtlich vor.

»Deshalb lassen Sie eine solche Sache laufen?«

»Oh«, gestand Boyd etwas verlegen, »deshalb habe ich schon ganz andere Dinge laufen lassen. – Ich glaube, ich könnte heute einer der ersten Männer von Scotland Yard sein, wenn die Forellen nicht gewesen wären«, fügte er bescheiden hinzu.

Hyman hatte auch schon gehört, daß Boyd eine glänzende Karriere hätte machen können, wenn er gewollt hätte, aber er hatte bisher nicht gewußt, daß die Forellen daran schuld waren. Wenn der Mann einerseits die beste Spürnase von London hatte, so hatte er andrerseits offenbar auch den absonderlichsten Spleen dieser spleenigen Stadt. Aber das war dem Anwalt schließlich gleichgültig. Es lag ihm nicht so sehr daran, ob Boyd etwas ausrichtete, als daran, daß er die Sache übernahm. Mit Scotland Yard wollte er nichts zu tun haben, weil die Leute vom Yard gar zu neugierig waren, aber er konnte nicht tagelang nach einem Detektiv herumsuchen. Nachdem er schon einen kostbaren halben Vormittag geopfert hatte und hier saß, mußte er mit dem komischen Kauz irgendwie ins reine kommen. Er nahm sich daher zusammen und versuchte es mit dem Verhandeln.

»Fisch ist Fisch«, legte er dem besessenen Forellenangler nahe. »Wenn es Ihnen nur auf das Fangen ankommt, so suchen Sie sich eben heuer einmal solche Flossentiere aus, auf die man auch im Herbst ausgehen kann. Meinetwegen Haifische.«

»Haifische . . .«, stammelte der Privatdetektiv äußerst betroffen, und Hyman kam in diesem Augenblick zu der Überzeugung, daß in dem schneeweißen Kopf entschieden etwas nicht richtig war. Boyd saß wie eine Statue in seinem Sessel und sah mit einem leuchtenden Blick traumverloren in die Ferne.

»Kennen Sie Captain Mitchell Hedges?« fragte er plötzlich lebhaft.

»Nein«, gab der Anwalt schroff zurück. Seine Geduld ging zu Ende, denn es hatte offenbar gar keinen Zweck, weitere Zeit zu verlieren.

»Schade«, meinte der andere und begann sich zu begeistern. »Der einzige Mann, den ich bewundere und beneide. – Haben Sie sein Buch ›Kämpfe mit Riesenfischen‹ gelesen?« Er wartete die Antwort nicht erst ab, sondern eilte zu einem Regal und brachte ein Buch angeschleppt, das er seinem Besucher dicht vor die Augen hielt. »Meine Lieblingslektüre«, erklärte er. »Ich lese darin jeden Abend vor dem Schlafengehen. Man kann immer wieder von vorne anfangen.«

Hyman schielte unwillig auf ein buntes Bild mit einem unendlichen grünen Meer und einem unendlichen blauen Himmel, und mitten zwischen Wasser und Luft schnellte ein Riesentier, das einen Angelhaken von der Größe eines Ankers in seinem drohenden Rachen hatte.

»Das ist Mitchell Hedges«, begann der Privatdetektiv eifrig zu dozieren, ohne sich um das bedenkliche Gesicht seines Gastes zu kümmern, und deutete auf ein Bild. »Hier sitzt er mit seinem Gehilfen auf einem Korallenfelsen im Karibischen Meer und ißt Zwieback. Sehen Sie sich ihn genau an. Der gewaltigste Angler aller Zeiten und aller Länder.« Er begann in dem Buch zu blättern, daß die Seiten nur so flogen, und geriet dabei immer mehr in sportliche Begeisterung. »Hier haben Sie einen Sandhai von fast dreihundert Pfund, mit der Rute und einer gewöhnlichen Leine gefangen. Mr. Hedges pflegt so nette kleine Fischchen als Köder für Tiger- und Schaufelnasenhaie, für Stachelrochen und Sägefische zu verwenden. Länge vier bis neun Meter, Gewicht eintausendfünfzig bis fünftausend siebenhundert Pfund. – Können Sie sich das vorstellen? Ich habe einige Trophäen in der Britischen Seeangler-Gesellschaft gesehen. Was ist dagegen unsere ganze Fischerei, auch wenn man noch so erfolgreich ist! Ich habe volle vier Jahre den Lachsrekord mit einundachtzig Pfund gehalten – natürlich mit der Fliege. – Aber davon wollen wir lieber gar nicht sprechen.«

»Nein, davon wollen wir nicht sprechen«, stöhnte Hyman, der endlich genug hatte, und traf Anstalten, seinen gewaltigen Körper aus dem tiefen Klubsessel aufzuheben. »Hai- und Sägefische gehen mich nichts an, und ich wüßte nicht, welcher Zusammenhang zwischen diesen scheußlichen Bestien und dem besteht, weshalb ich hierhergekommen bin.«

Boyd sah den aufgeregten Koloß etwas verwundert und vorwurfsvoll an.

»Aber, Mr. Hyman, Sie haben doch selbst von den Haifischen angefangen«, stellte er fest. »Ich wäre, offen gestanden, nie darauf gekommen. Leider. Denn die Idee ist nicht schlecht; sie ist sogar großartig, und unter dieser Bedingung könnte ich mich vielleicht entschließen, ›ja‹ zu sagen.«

»Unter welcher Bedingung?« forschte der Anwalt überrascht und mißtrauisch, indem er halbaufgerichtet blieb.

»Unter der Bedingung, daß für mich dabei so eine Jagd auf Großfische herausschaut«, sagte der Privatdetektiv klar und bestimmt, und sein Gesicht hatte plötzlich einen sehr nüchternen und geschäftsmäßigen Ausdruck. »Ich will es ja gewiß Captain Hedges nicht gleichtun, sondern mir würden schon einige Monate am Panamakanal und der eine oder der andere Hai von dreihundert bis vierhundert Pfund genügen. Wenn man richtiges Anglerblut in den Adern hat, sehnt man sich danach, so etwas einmal mitzumachen. – Um hier angenehm zu leben und Forellen zu fangen, habe ich ja genug, aber für die andere Sache reicht es selbst bei meinen bescheidenen Ansprüchen nicht. Wenn sich mir daher eine Gelegenheit bieten würde . . . Sie verstehen mich, Mr. Hyman . . .«

Der Chef des Cartwright-Konzerns verstand plötzlich sehr gut und ließ sich befriedigt in den Sessel zurückfallen, weil er statt Fischwasser nun wieder festen Boden unter sich fühlte.

»Ich verstehe«, sagte er fast zuvorkommend, »und darüber läßt sich reden.« Der Anwalt war ein Geizhals, solange es um Schillinge ging, aber er konnte auch großzügig sein. »Wir schicken Reporter um die ganze Welt und werfen drei Viertel von dem, was sie zusammenschmieren, in den Papierkorb, weil es nicht zu gebrauchen ist. Da macht es wirklich nichts aus, wenn wir Sie auf ein Jahr nach dem Panamakanal zu Ihren Haifischen gehen lassen. Machen Sie mir eine Aufstellung.«

Boyd war schon auf dem Weg zu seinem Schreibtisch und kehrte strahlend mit einem Bogen Papier zurück.

»Ich habe mich mit der Sache bereits seit langem beschäftigt«, gestand er etwas verlegen. »Es war so eine Art Steckenpferd von mir. Sie finden hier jeden einzelnen Posten. Zuerst die Spezialausrüstung nach dem Katalog von den Gebrüdern Hardy . . .«

Mr. Hyman hörte nicht zu, sondern wandte das engbeschriebene Blatt um und sah nach der dick unterstrichenen Endsumme.

»Ich runde den Betrag noch um zweihundert nach oben ab«, erklärte er kurz. »Sind wir einig?«

Er sah Boyd wieder mit seinem gewöhnlichen starren, ausdruckslosen Blick an, und dieser nickte gelassen.

»Abgemacht.«

»Dann werde ich Ihnen also jetzt sagen, worum es sich handelt«, begann der Anwalt nach einigem Räuspern, aber der rosige Herr mit dem weißen Haar unterbrach ihn höflich.

»Um den Fall Cartwright-Morton. Sie haben mir das ja schon mitgeteilt. Das genügt mir. Ich möchte mich vorläufig nicht durch subjektive Darstellungen beeinflussen lassen. Es ist mir bereits einiges bekannt, und das andere werde ich mir schon zusammentragen. Sie können sich ganz auf mich verlassen. Nur um die Erlaubnis möchte ich Sie bitten, im Cartwright-Haus ungehindert ein und aus gehen zu dürfen. Ich werde nicht viel Aufsehen erregen, denn man dürfte mich kaum persönlich kennen.«

Hyman nickte zustimmend. Er war zwar sehr erstaunt und skeptisch, weil der andere die Sache so leicht nahm, aber eigentlich war er damit gar nicht so unzufrieden. Er hatte nun seine Pflicht und Schuldigkeit getan, ohne der einen oder anderen peinlichen Frage ausgesetzt gewesen zu sein.

Boyd geleitete seinen Besucher höflich zur Tür, und der Anwalt war schon in dem kleinen Flur, als er noch aufgehalten wurde.

»Nur der Ordnung halber, Mr. Hyman: Bleibt es auch bei unserer Vereinbarung, wenn es mir gelingen sollte den Fall noch vor Beginn der Forellensaison zu erledigen?«

»Selbstverständlich«, schrie der Koloß ungeduldig zurück, und als er in sein Auto kroch, ließ er einen halblauten Fluch los. Der Teufel mochte sich in diesem Gemisch von Narr, Komödiant und Sportsmann auskennen.


 << zurück weiter >>